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Eine tolle Frau

Es war der 18. August 1991.

Ich landete am Flughafen von Dublin, fuhr mit dem Bus zum Bahnhof Heuston in Dublin und von dort mit dem Zug nach Carlow, einer kleinen Stadt südlich von Dublin. Dort verbrachte ich eine Nacht im Bahnhofshotel und fand tags darauf ein Untermietzimmer, das mir an und für sich gut gefiel. Es hatte nur einen Nachteil: Damenbesuche waren nicht erlaubt.

Ich hatte eben erst mein Englischstudium abgeschlossen und mich für ein Jahr als sogenannter Sprachassistent für Deutsch an eine Schule in Irland schicken lassen, ehe man mich daheim in Salzburg als Englischlehrer auf die Schüler loslässt. Ich wollte mir einfach noch mehr Praxis aneignen. Nun, ich wurde einer „secondary school“ namens St. Mary’s Academy CBS in Carlow zugeteilt. Nebenbei trug ich mich mit der geheimen Hoffnung, in Irland endlich einmal die Chance zu haben, eine tolle Frau kennenzulernen, um meinem bisher eher lahmen Gefühlsleben ein wenig Auftrieb zu verleihen.

Als Erstes suchte ich die Direktionskanzlei dieser Schule auf und wurde dort von einem freundlichen Herrn begrüßt, der mich zunächst nach Strich und Faden ausfragte. Er wollte sogar wissen, ob ich ledig oder verheiratet sei, und war sichtlich erfreut, als ich sagte, ledig. Eine herbe Enttäuschung war es allerdings für mich, als ich hörte, dies sei eine reine Knabenschule.

Zuletzt hatte ich selbst eine Frage an ihn: Was denn die Abkürzung CBS im Namen der Schule bedeute.

„CBS? Das bedeutet Christian Brothers Secondary School.“

Und darauf folgte ein längerer Vortrag zum Thema Congregation of Christian Brothers.

Schließlich erhob er sich, um mich durch die Räumlichkeiten der Schule zu führen. Aber in Wirklichkeit führte er mich in einen einzigen Raum. Er nannte ihn Deutschklasse.

„Deutschklasse?“, wiederholte ich verblüfft.

„Wissen Sie, anders als auf dem „continent“ haben in Irland und Britannien nicht die Schüler, sondern die Lehrer einen eigenen Klassenraum. In ihm bleiben sie den ganzen Tag über. Sie richten ihn nach ihren eigenen Vorlieben ein und haben alle nötigen Materialien stets an Ort und Stelle. Der Unterricht beginnt um neun Uhr und dauert bis vier Uhr Nachmittag. Mit einer Mittagspause zwischen zwölf und ein Uhr.“

Was er danach sagte, muss ich im originalen Wortlaut zitieren: „Our English teacher's name is June O’Loughlin.“

Der Vornamen June war mir neu. Und natürlich nahm ich als gegeben an, dass in einer von katholischen Laienbrüdern geleiteten Knabenschule auch die Lehrerschaft der männlichen Hälfte der Menschheit angehört.

Wer beschreibt daher meine Überraschung, als am 29. August die Eröffnungskonferenz stattfand. Da präsentierte der Direktor mich als Assistenten für den Englischunterricht der versammelten Lehrerschaft im Allgemeinen und für den „teacher June O’Loughlin“ im Besonderen. Dieser „teacher“ stellte sich nämlich als noch relativ junge Dame heraus.

Nach dem Ende der Konferenz kam Mrs. O’Loughlin auf mich zu und begrüßte mich so nett, dass ich mich in ihrer Gesellschaft sogleich ausgesprochen wohl fühlte. Und das freute mich sehr. Immerhin würde ich ja die meiste Zeit in dieser Schule mit ihr zusammen verbringen. Und da ist es klarerweise ungeheuer wichtig, dass man harmoniert. Sie lotste mich unverzüglich in ihre Deutschklasse, zeigte mir deren Einrichtung und erklärte mir, wie der Unterricht vor sich geht.

„Was Sie vielleicht noch wissen sollten“, und dabei machte sie kein sehr glückliches Gesicht. „Das Wichtigste an unserer Schule und nicht nur bei uns sind Sport und Religion. Irland ist ein ausgesprochen katholisches Land. Die Iren sind außergewöhnlich fromm, bestimmt frömmer als alle anderen europäischen Völker. Freidenkende Menschen sind bei uns eher die Ausnahme.“

„Und Sie sind offenbar eine dieser Ausnahmen“, sagte ich und fügte rasch hinzu: „Ich wär’s sicher auch, wenn ich ein Ire wäre.“

Worauf sie mich lieb anlächelte und gleich wieder ein wenig glücklicher dreinschaute.

 

Während ich also mit der übrigen Lehrerschaft kaum Kontakt hatte, sah ich mich mit Mrs. O’Loughlin den ganzen Tag quasi zusammengespannt wie ein Pferdegespann, oder sagen wir vielleicht besser wie ein Ehepaar. Und wie ich von allem Anfang an vermutet hatte, harmonierten wir ausgezeichnet. War dies vielleicht die Chance, auf die ich gehofft hatte? Tatsächlich war nicht zu leugnen, dass sich zwischen uns allmählich eine gewisse elektrische Spannung aufbaute.

Aber: Sie war ja verheiratet und hatte einen achtzehnjährigen Sohn. Das wusste ich schon bald. Genaueres erfuhr ich erst nach und nach: Sie sei unglücklich verheiratet und hätte sich am liebsten schon längst scheiden lassen. Aber das sei in Irland unmöglich. In Irland gebe es noch immer kein Scheidungsrecht. Ein Lichtblick sei es, dass ihr Mann nicht viel zu Hause ist. Er arbeite als Vertreter einer Versicherungsfirma und sei darum die meiste Zeit im ganzen Lande unterwegs.

Während sie dies erzählte, wurden ihre Augen feucht, sodass mir klar wurde,wie sehr sie unter diesem Zustand litt. Da wurde ich von plötzlichem Mitleid übermannt und legte meine Hand tröstend auf die ihre. Sie seufzte und legte ihre Hand auf die meine.

„Sie sind so lieb“, flüsterte sie. „Darf ich Sie Henry nennen?“

„Mit dem allergrößten Vergnügen. Dann darf ich Sie June nennen, ja?“

Und schon hatten sich unsere Lippen gefunden, und wir küssten uns, freilich nur ganz kurz, denn wir mussten jederzeit damit rechnen, dass wir unverhofft Besuch bekommen. Und vor allem beherrschte uns noch immer eine gewisse Schüchternheit.

„Ich bitte um Entschuldigung“, flüsterte June.

„Ich bitte um Entschuldigung“, flüsterte ich.

Worauf wir gleichzeitig in befreiendes Lachen ausbrachen und uns erneut küssten, aber auch diesmal nur kurz. Die Angst, wir könnten uns verraten, saß uns in den Knochen. Denn all dies geschah in einer Mittagspause. Und tatsächlich dauerte es danach nur wenige Minuten, bis die Tür aufgerissen wurde und die ersten Schüler hereinstürmten.

„Ich nehme an“, flüsterte sie nach dem Ende des Unterrichts, „du wohnst in Untermiete?“

Ich nickte, und sie fuhr fort: „Dachte ich’s mir doch. Und ich …“

Sie brach ab und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Ich küsste sie ihr weg.

„Besitzt du eigentlich ein Fahrzeug?“, fragte ich sie dann.

Sie lachte. „O ja. Ein Fahrrad. Mein Mann hat natürlich ein Auto. Aber mit dem darf nur er selber fahren. Wie es sich halt gehört in einer anständigen irischen Familie.“

„Aber wie wär’s“, sagte ich nachdenklich, „wenn ich mir ein Auto kaufen, oder sagen wir, mieten würde?“

„O ja, das wäre wunderbar.“

„Aber sag, kommst du eigentlich per pedes in die Schule? Oder per Fahrrad?“

„Meistens per pedes. So wie auch heute. Ich habe es ja nicht weit.“

„Aha. Darf ich dich dann wenigstens ein Stück begleiten?“

„Ach, besser nicht“, sagte sie bedauernd. „Da zerreißen sich gleich die Leute das Maul über uns, und wir kommen ins Gerede. Was glaubst du, Carlow ist immer noch das reinste Dorf. Und am Ende erfährt mein Mann davon. Na, mehr brauche ich nicht.“

„Ist dein Mann ein Othello und erdrosselt dich? Und mich gleich dazu?“

June lachte herzlich. „Nein, ganz so arg ist es nicht mit ihm. Aber ein schönes Leben hätte ich dann nicht mehr.“

Die Idee, mir einen Wagen anzuschaffen, fand ich umso interessanter, je länger ich darüber nachdachte. In einer Autovermietung ließ ich mich ausführlich beraten und mietete schließlich einen bescheidenen Citroën 2CV, bei uns auch Ente genannt, den ich auf der Stelle ausprobierte. Der Linksverkehr, der auch in Irland gilt, war anfangs ein bisschen ungewohnt für mich, und ich chauffierte den Wagen nur langsam und besonders vorsichtig. Aber schon nach zehn Minuten hatte ich kaum mehr Probleme damit.

Von meiner „bescheidenen“ Neuerwerbung erzählte ich June ganz stolz sogleich am nächsten Morgen. Sie jubelte auf, fiel mir um den Hals und flüsterte mir ins Ohr: „Gib zu, das hast du für mich getan. Genauer, für uns beide, damit ich dir die Schönheiten Irlands zeigen kann. Hab ich recht?“

Ich lächelte, nickte und küsste sie.

In der Mittagspause nahm ich mein momentanes Lieblingsthema wieder auf. „Und? Wo darf ich dich abholen? Ich nehme an, nicht direkt vor der Schule oder vor deinem Wohnhaus?“

„Ganz richtig.“

Sie dachte ein Weilchen nach und nannte mir dann eine bestimmte Stelle in der Stadt, wo es für sie wahrscheinlich relativ ungefährlich sei, in ein von einem männlichen Wesen gelenktes Fahrzeug zu steigen.

„Also gut. Und du bestimmst, wann und wohin unsere jeweilige Reise geht.“

Sie küsste mich, dachte nach und sagte dann, wie zumeist, im Flüsterton: „Weißt du was? Nächster Montag ist der 28. Oktober und damit „October Bank Holiday“. Und danach haben wir drei Tage schulfrei, bis zum 1. November. Mit dem Sonntag davor sind es sogar vier Tage.“

„Heißt das, der 1. November ist kein Feiertag?“

„Nein, da ist wieder Unterricht. Aber bis dahin können wir nach Herzenslust Ausflüge machen. Es kommt halt immer darauf an, ob mein Mann daheim ist oder nicht. Das weiß ich leider nie im vorhinein.“

 

Weder am October Bank Holiday selbst noch am Sonntag davor war ein sogenanntes Date in der Stadt oder ein gemeinsamer Ausflug möglich. Aber am Tag danach, da war der Ehemann wieder unterwegs auf seinen Geschäftsreisen. Obendrein herrschte herrliches, warmes Wetter. Und das bedeutete: Ich durfte June an der ausgemachten Stelle mit meiner „Ente“ abholen und war schon neugierig, welches Ziel sie für unseren ersten Ausflug vorschlagen würde.

Nun, ihr Vorschlag lautete: Glendalough. Und sie zeigte es mir auf der Straßenkarte, die sie mitgebracht hatte. Ich erkannte, dass dieser Ort inmitten eines kleinen Gebirges liegt, gar nicht besonders weit von Carlow entfernt, und wusste sofort, dass dies ein hochinteressanter Ausflug wird. Wie interessant, ahnte ich allerdings noch nicht.

Während der Fahrt erzählte mir June alles Erzählenswerte. Das Gebirge, dem wir entgegenfuhren, heiße Wicklow Mountains. In ihrer Mitte liege Glendalough. Und das bedeute „Tal der zwei Seen“. Das sei jedoch keine Stadt, nicht einmal ein Dorf, sondern eine bedeutende frühchristliche Stätte. Hier liegen, weltabgeschieden in einem engen Tal, auf allen Seiten von dreitausend Fuß hohen Bergen umgeben, entlang zweier kleiner Seen, eines „Unteren“ und eines „Oberen Sees“, die eindrucksvollen Überreste einer frühmittelalterlichen klösterlichen Ansiedlung. Gegründet wurde sie im 6. Jahrhundert vom heiligen Kevin.

Für uns hatte das den unbestreitbaren Vorteil, dass die Besichtigung in Form eines landschaftlich überaus reizvollen Spaziergangs vor sich ging. Und dass wir eng umschlungen spazieren und uns gelegentlich umarmen und küssen konnten, ohne Angst haben zu müssen, dass uns missgünstige Augen beobachten und eventuell verraten. Nach einem Rundgang um den Unteren See erreichten wir das Ufer des Oberen Sees. Und damit war die Besichtigung auch schon zu Ende. Denn die wenig bedeutenden weiteren Sehenswürdigkeiten, erklärte June, wären nur entweder durch eine Klettertour entlang dem felsigen Ufer oder durch eine Bootsfahrt zu erreichen.

Hier biegt der bisher einigermaßen eben dahinführende Pfad unvermittelt ins Gebirge um und wird ausgesprochen steil.

„Hättest du vielleicht Lust, noch ein Stück da hinaufzusteigen?“, sagte June. „Weißt du, nur wenige hundert Meter weiter wäre ein sehenswerter Wasserfall zu bestaunen.“

„Aber ja, Liebste, mit dem allergrößten Vergnügen.“

Nun betraten wir ein wahres Märchenland: dichten Tannenwald, der Boden überall mit einem tiefgrünen Rasenteppich bedeckt. Unter uns rauschte ein schäumender Gebirgsbach wie in den Alpen. Und als Höhepunkt tauchte vor uns schließlich der Wasserfall auf. June hatte nicht übertrieben: Ein höchst sehenswertes Naturschauspiel.

Nachdem wir einige Zeit weiter steil himmelwärts gestapft waren, erreichten wir eine Stelle, wo der Hang eine Art Stufe bildet und der Weg auf ein kurzes Stück fast eben verläuft. Da blieben wir stehen, um zu verschnaufen.

„Weißt du“, sagte ich, „wozu ich jetzt Lust hätte? Hier, wo der Boden mehr oder weniger eben ist, den Rasenteppich auszuprobieren.“

Er war tatsächlich genauso weich und angenehm zu begehen, wie er aussah. Halt machten wir erst, als die bisher fast ebene Fläche zu Ende war und in den Steilhang überging.

Wir wandten uns einander zu und schauten uns gegenseitig staunend an. Worüber staunten wir? Wir wussten es nicht. Wir spürten nur, dass uns die Lust beherrschte, einander zu berühren, und nicht bloß mit den Lippen.

Ja, mit den Lippen berührten wir uns sogleich. So leidenschaftlich berührten wir uns mit den Lippen wie noch nie. Und so leidenschaftlich pressten wir unsere Körper aneinander, dass wir alsbald, quasi in einem Stück, auf dem weichen Rasenteppich landeten. In rasender Leidenschaft entkleideten wir uns gegenseitig, soweit es notwendig war. In rasender Leidenschaft vereinigten wir uns. In rasender Leidenschaft seufzten, stöhnten, schrien wir. Wir wussten ja oder hofften zumindest, dass es weit und breit keine Zuhörer gibt außer den lieben Vöglein des Waldes, denen wir damit ein bestimmt noch nie gesehenes, noch nie gehörtes Schauspiel boten. Nur langsam verstummten wir wieder, die Leidenschaft verebbte, und zurück blieb pures Staunen. Nein, noch etwas blieb zurück: Tränen auf Junes Gesicht.

Lange schwiegen wir, blickten unverwandt einander staunend an.

„Liebster, was hast du bloß gemacht mit mir?“, flüsterte June.

Meine Zunge war immer noch gelähmt. Daher fuhr sie fort: „Ich schwöre dir, so etwas habe ich noch nie erlebt.“

Ungläubig schüttelte ich den Kopf und stammelte: „Wirklich?“

„Aber ja. Alles, was ich bisher erlebt habe, kann sich mit dem jetzt nicht vergleichen. In keiner Weise.“

Wieder schüttelte ich den Kopf und murmelte: „Warum …“

„Warum ich geweint habe? Weil es so schön war. So schön … So schön habe ich’s noch nie erlebt. Darum.“

Ich spürte die Feuchtigkeit des Grases und murmelte: „Du, mir kommt vor, dass wir nass geworden sind.“

Ich erhob mich. June sprang auf wie ein junges Kätzchen und fiel mir um den Hals. „Gott sei Dank scheint die Sonne. Wir können nur hoffen, dass meine Wohnung irgendwann in den kommenden Tagen frei von Mann und Kind sein wird.“

Tatsächlich, zwei Tage später hatte June eine sturmfreie Bude. Weder Ehemann noch Kind waren da, beide blieben sogar über Nacht außer Haus. Und da feierten wir unsere Liebe endlich in ihrer Wohnung, zuerst auf dem Wohnzimmerteppich, weil wir es vor rasender Leidenschaft nicht mehr bis ins Schlafzimmer geschafft hatten, und dann eben noch einmal im Ehebett.

 

Der Nationalheilige Irlands ist der heilige Patrick. Er war kein Ire, sondern ein um 385 in Britannien geborener Römer und hieß in Wirklichkeit Patricius, wohlgemerkt, noch in der klassischen lateinischen Aussprache Patrikius. Er christianisierte die Iren und soll an einem 17. März in einer nordirischen Stadt gestorben und begraben worden sein, die ihm zu Ehren Downpatrick („Burg des Patrick“) heißt. Deshalb gilt seit undenklichen Zeiten der 17. März als Nationalfeiertag Irlands. Er wird mit prächtigen Paraden und vielfältigen Aktivitäten begangen, die ihn zu einem bunten Volksfest machen. So erzählte es mir June, als der St. Patrick’s Day des Jahres 1992 bevorstand.

„Und da beabsichtigt mein Mann, mit der ganzen Familie nach Downpatrick zu fahren. Wo doch unser Sohn Patrick heißt. Er will dort sogar übernachten und erst am nächsten Abend zurückzukehren, um nicht erschöpft und sturzbetrunken mitten in der Nacht heimfahren zu müssen. Weißt du, momentan ist zwar Fastenzeit. Aber am St. Patrick’s Day sind die diesbezüglichen Beschränkungen aufgehoben, und der Alkohol fließt in Strömen.“

„Heißt das, wir zwei können schon wieder nicht zusammenkommen?“, flüsterte ich, ehrlich entsetzt.

„Aber nein“, flüsterte sie und streichelte mir tröstend über die Wange. „Ich werde mich standhaft weigern, nach Downpatrick mitzufahren. Es ist doch eine weite Strecke. Und er weiß, dass mir auf langen Autofahrten leicht schlecht wird.“

„Ha, soll das heißen, du hast dann eine sturmfreie Bude?“

„Ganz richtig. Da können wir’s uns endlich wieder einmal zusammen gemütlich machen.

  

Wie sich allerdings herausstellte, war Junes „Bude“ am zweiten Tag doch nicht völlig sturmfrei. Denn es war erst Nachmittag, und wir wälzten uns gerade in rasender Leidenschaft auf ihrem Bett und stöhnten möglichst leise, aber vermutlich trotzdem unüberhörbar, zumindest innerhalb der Wohnung. Da wurde die Schlafzimmertür aufgestoßen, und Patrick, nicht der heilige, sondern quasi der „unheilige“, streckte seinen Kopf herein. Und hinter ihm streckte Liam, Junes Herr und Gebieter, seinen Kopf herein. Sein Gesicht verwandelte sich binnen Sekunden in eine blutrote Teufelsfratze, und sein Mund stieß unartikulierte Schreie aus, als würden ihm die Daumenschrauben angelegt.

Liams Schreie wurden allmählich artikuliert und bereicherten mein Englischvokabular um eine ganze Reihe hochinteressanter Ausdrücke. Würde der Wüterich seinen Beschimpfungen Taten folgen lassen? Würde er auf mich oder June mit seinen Fäusten oder gar mit einem Messer losgehen?

Gottlob, nein, Gewalttäter war er keiner. Er beließ es mit einer Schimpfkanonade und beendete sie mit der freundlichen Aufforderung an mich: „Zieh dich an, du stinkender Falott und verschwinde aus meiner Wohnung! Und lass dich nie wieder blicken!“ Worauf er sich, weiterhin fluchend wie ein Stallknecht, gemeinsam mit Patrick zurückzog und die Tür hinter sich zuknallte, dass die Wände wackelten.

Von da an war es still. Nur June hörte ich leise schluchzen. Ich schluchzte zwar nicht, doch hatte es mir die Rede verschlagen. Ich konnte nur versuchen, June durch hilfloses Streicheln ihrer nassen Wangen und zaghafte Küsse ein wenig Trost zu spenden. Erst als ich mich von diesem Schock einigermaßen erholt hatte, murmelte ich: „Sehr schlimm?“

June nickte.

„Wird er sich jetzt scheiden lassen?“

June schüttelte den Kopf. „Es gibt in Irland keine Scheidung. Sonst könnte ich dich ja heiraten.“

„Aber glaubst du, fühlt er sich bemüßigt, dich zu bestrafen?“

„Ach, bestimmt.“

„Aber Gewalttäter ist er keiner, kommt mir vor. Sonst hätte er sich über mich hergemacht.“

„Nein, gewalttätig ist er nicht. Aber es gibt bekanntlich noch andere Arten, eine untreue Ehefrau zu bestrafen. Auch wenn sie bisher immer treu gewesen ist. Aber weißt du, was für mich die größte Strafe ist? Wenn ich dich nicht mehr lieben darf. Und so wird es sicher kommen. Ab sofort wird er mit einem Habichtsauge auf mich schauen.“

„Aber wenn er oft tagelang nicht daheim ist?“

„Na, dann wird halt mein Patrick für ihn Spionsdienste leisten.“

Während ich mich später aus der Wohnung schlich, war ihr Mann zum Glück weder zu sehen noch zu hören. Desgleichen Patrick.

 

Doch wie es sich nur allzu bald herausstellte, waren weder Patricks Spionsdienste nötig noch auch Liams Habichtsauge. Denn binnen kürzester Zeit wusste der Schuldirektor von unseren ehelichen Verfehlungen. Und der Erfolg war, dass wir beide, June und ich, fristlos gefeuert wurden und ich praktisch gezwungen war, Irland unverzüglich zu verlassen.

June war untröstlich. Ich war untröstlich. Ich hatte mir eine tolle Frau gefunden und wieder verloren. Aber, so versuchte ich mich – mit wenig Erfolg – zu trösten: Meine Chance habe ich gehabt. Und darüber sollte ich froh und dankbar sein.

Man beachte auch diese Neuerscheinung aus der Feder desselben Autors:

 

 

 

 

 https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-liebesidyll-zu-viert/

 

"Ein Lesegenuss" (Maria)

"Ein delikates Lesevergnügen" (Franck Sezelli)

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: Saint Kevin's monastery at Glendalough. By Schcambo at English Wikipedia, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4291694
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2022

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