Denn gegen die Liebe gibt es kein Heilmittel, kein getrunkenes, kein gegessenes, kein in Zauberformeln gesprochenes. Es hilft nur Kuss und Umarmung und Zusammenliegen mit nackten Körpern.
Longos (2. Jahrhundert), Dáphnis und Chlóe 2,7,7
Für Radfahrer ist die schmale, kurvenreiche Straße entlang der pittoresken Küste der bezaubernden Halbinsel ein Vergnügen der Sonderklasse – solange sie nicht von einem Auto über den Haufen gefahren werden. Manche Autofahrer fühlen sich hier leider überfordert. Besonders wenn sie nicht mehr ganz nüchtern sind.
Die Halbinsel selbst ist ein wahrer Traum aus Villengärten, duftenden Kiefernhainen und einsamen, durch felsige Abschnitte getrennten Sandbuchten. Dahinter erstreckt sich endlos das azurblaue Mittelmeer und spiegelt die Strahlen der Sonne wider, die von einem wolkenlosen Himmel scheint. Der einsame Radfahrer, der gerade genussvoll auf der zum Glück verkehrsarmen Küstenstraße dahinstrampelt, schwelgt in der Schönheit der Landschaft und zugleich im Vergnügen des kurvenreichen Radelns bei sommerlicher Wärme und einem frischen Meereslüftchen.
Ungetrübt bleibt dieses Vergnügen leider nicht. Von hinten nähert sich plötzlich ein Automobil. Der Radfahrer versucht ganz nach rechts auszuweichen, um den Autofahrer gefahrlos überholen zu lassen. Und das ist sogar ungewöhnlich leicht. Denn gerade an dieser Stelle zweigt eine noch schmalere Zufahrtstraße nach rechts ab. Aber das nützt dem einsamen Radfahrer gar nichts. Denn im nächsten Moment spürt er einen Aufprall, verliert das Gleichgewicht und schlägt mit dem Kopf hart auf dem Asphalt auf. Und schon wird es Nacht vor seinen Augen, und er träumt von seiner verlorenen, verschwundenen, verstoßenen Geliebten.
Die bezaubernde Halbinsel an der Küste des azurblauen Mittelmeeres nennt sich Cap d’Antibes und ist Teil der berühmten Côte d’Azur, der französischen Riviera. Und der einsame Radfahrer, der sich gerade an besagtem Vergnügen der Sonderklasse berauschte, unversehens von einem Auto niedergestoßen wurde und bewusstlos auf dem Asphalt liegen blieb – ja, das war ich, Heinz Hinterhuber. Aber das ist schon so lange her – es muss in einem anderen Leben gewesen sein. Und genau wie der alte Waffenschmied in der gleichnamigen Oper von Albert Lortzing könnte ich singen:
Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar,
an Mut wie an Hoffnung reich ...
Ich liebte den Frohsinn, den Tanz, den Gesang,
ich küsste manch Dirnlein mit rosiger Wang‘.
Ihr Herz hat mir manche geweiht.
Das war eine köstliche Zeit.
Es war der Frühsommer des Jahres 1958. Und das war für mich eine nicht nur bemerkenswert köstliche, sondern obendrein höchst abenteuerliche Zeit. Ich hatte soeben im Stiftsgymnasium Melk in Niederösterreich erfolgreich die Matura, die „Reifeprüfung“, abgelegt und war für „reif“ erklärt worden. Reif – das hatte ich also ab sofort gemeinsam mit den Kirschen und Erdbeeren, die zu dieser Jahreszeit reif waren und von den Leckermäulchen vernascht werden wollten. Nur dass es kein Leckermäulchen mehr gab, das jetzt, wo ich endlich reif war, Lust hatte, mich zu vernaschen. Meine süße Geliebte war verloren, verschwunden, verstoßen. Ja, geküsst hatte ich seither manch Dirnlein mit rosiger Wang‘. Aber mehr an süßer Lust hatte es für mich seither nie wieder gegeben.
Und nun befand mich zum ersten Mal im Ausland. Meine französischen Verwandten hatten mich eingeladen, quasi als Belohnung für die soeben bestandene Matura, die Sommerferien bei ihnen an der Côte d’Azur zu verbringen. Sie wohnten in Cagnes-sur-Mer, einem malerischen Städtchen nahe Nizza, berühmt als letzter Wohnort von Auguste Renoir, einem der bedeutendsten Maler des Impressionismus. Er war aus demselben Grund wie Onkel und Tante von Paris nach Cagnes gezogen. Das milde Mittelmeerklima stand und steht im Ruf, der Gesundheit gut zu tun.
Als köstlich und abenteuerlich hatte sich schon die fast zweitägige Zugfahrt erwiesen. Weniger köstlich empfand ich nur die Nacht im Wartesaal der Stazione Centrale in Mailand, wo ich auf einer der harten Bänke liegend zu schlafen versuchte. Das heißt, ich schlief auch wirklich, wurde aber in einem fort von den Lautsprecherdurchsagen aus dem süßen Schlummer gerissen und verfluchte im Stillen eine solche Rücksichtslosigkeit.
Wirklich köstlich war hingegen die Weiterfahrt am nächsten Morgen. Es war der 17. Juni 1958.
In Genua betrat eine junge Dame das Abteil, in dem ich es mir bequem gemacht hatte. Sie zog unwiderstehlich meine Blicke auf sich. Dabei wäre allein schon der Blick aus dem Fenster absolut lohnend gewesen. Denn von nun an war die herrliche Küstenlandschaft der Riviera zu bewundern und vor allem das endlose, azurblaue Meer, dessen Anblick für mich eine sensationelle Neuigkeit darstellte.
Aber nein. Der Anblick der jungen Dame überstrahlte Meer und Riviera um Klassen. Sie stahl ihnen sozusagen die Show. Noch dazu saß sie ausgerechnet mir gegenüber. Sie trug nämlich einen ausgesprochen kurzen Rock – kurz, wohlgemerkt, für damalige Verhältnisse. Und ihre beim Sitzen freigelegten nackten Knie – damals ein eher seltener Anblick bei Damen – zogen meine Blicke auf sich, als wären sie eine göttliche Erscheinung. Sie faszinierten mich so sehr, dass ich immer wieder verstohlen hinschauen musste. Ab und zu bewegten sie sich. Sie hoben sich, als eine Mitreisende ans Fenster treten wollte, um hinauszuwinken. Sie öffneten sich ein wenig, als die junge Dame ihre Handtasche auf den Schoß nahm, um in ihr herumzukramen. Und gewährten mir jedes Mal erregende Einblicke. Aber ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass ich ihr Gesicht, ihre Haarpracht, ihre Körperformen oder etwa ihre Beine unterhalb der Knie weniger faszinierend fand.
Ab Varazze, einem Ort nicht weit hinter Genua, waren wir allein im Abteil. Alle anderen Passagiere waren ausgestiegen. Und da ergab es sich praktisch von selbst, dass wir ins Plaudern kamen. Das heißt, sie sprach mich an und fragte nach meinem Wohin und Woher, natürlich auf Italienisch.
Nun hatte ich mir zwar durch einen Italienischkurs im Radio, dem ich mit Eifer und Begeisterung gefolgt war, einige Grundbegriffe der italienischen Sprache angeeignet. Und dieser glückliche Umstand ermöglichte mir eine freilich mehr als notdürftige Konversation mit der jungen Dame. Immerhin gelang es mir, ihr einiges über mich selbst zu erzählen und umgekehrt halbwegs zu verstehen, was sie mir erzählte.
„Ich heiße Cecilia und stamme aus Genua, arbeite aber in Frankreich, in Cannes, wo auch mein Verlobter lebt. Stellen Sie sich vor, in Frankreich kann ein verlobtes Paar sogar die Nacht miteinander verbringen, im Gegensatz zu Italien. Hier sind die Sitten noch so streng wie im tiefsten Mittelalter. Bei uns kann man sich zum Beispiel nicht einmal scheiden lassen.“
Daraufhin überraschte ich sie, indem ich auf Französisch, so gut ich’s halt vermochte, sagte: „Ah, da sprechen Sie wohl Französisch?“ (Damals redeten sich auch die jungen Leute noch mit Sie an.)
Französisch hatte ich ab der siebenten Klasse als Freigegenstand besucht, nicht nur wegen meiner französischen Verwandten, sondern aus purem Interesse.
Klar, Französisch sprach Cecilia perfekt. Und so funktionierte die Konversation schon bedeutend besser, obwohl noch immer holprig genug. Bei Vokabular und Grammatik war ich bestimmt nicht schlecht. Was mir fehlte, war die praktische Anwendung.
Aber auch wenn die Konversation noch so holprig funktionierte, etwas anderes funktionierte bestens, ja geradezu phantastisch: die gegenseitige erotische Anziehung. Zuerst schauten wir uns nur tief in die Augen. Mein Herz begann laut zu pochen, mein Blut begann zu pulsieren. Ich wollte ihr noch näher sein und setzte mich neben sie und nahm mir bald die Kühnheit heraus, mit meinem ebenfalls nackten Knie – ich hatte jetzt im Sommer wie üblich die kurze Lederhose an – ihr Knie zu berühren und ihr wie zufällig die Hand auf den Unterarm zu legen. Sie lächelte mich an und legte ihre Hand – wohin? Ich glaubte zu träumen – auf mein Knie.
Da ging mir ein Vers aus der Antigone durch den Kopf. Diese berühmte Tragödie des Sophokles hatten wir erst vor wenigen Monaten im Griechischunterricht gelesen. Der Vers lautet in Übersetzung: O Eros, der du in des Mädchens weichen Wangen lauerst.
In der Tat, in Cecilias weichen, rosigen Wangen lauerte der Liebesgott. Er zwang meine Hände, sie, ihre Wangen, zu berühren. Er zwang meine Lippen, ihre Lippen zu berühren. Und sie? Sie erwiderte meinen Kuss. Sie erwiderte ihn mit solcher Leidenschaft, dass er gar nicht mehr enden wollte. Wie von selbst legte sich meine Hand auf ihre Brust, erst über ihrer Bluse, dann darunter, aber über dem BH, und schließlich unter dem BH. Und ich entdeckte, dass die Brüste noch weicher waren als die Wangen. Lauerte also Eros auch in des Mädchens weichen Brüsten? Offensichtlich ja. Das spürte ich nur allzu deutlich in meiner eigenen Brust und vor allem noch weiter unten, zwischen den Beinen. Und? Wurde meine vorwitzige Hand verjagt? Wurden meine Finger zur Strafe für diesen dreisten Übergriff ausgeklopft?
Oh, im Gegenteil, Cecilias Leidenschaft stieg und stieg. Sie stieg in unerwartete Höhen. Denn für den Rest der gemeinsamen Fahrt lagen wir uns in den Armen und schmusten, knutschten, küssten uns wild wie ein unsterblich verliebtes Pärchen. Und das waren wir ja auch und sehnten uns rasend danach, das zu tun, was verliebte Pärchen stets und überall zu tun begehren – o ja, Cecilia ebenso wie ich selber; das war unschwer zu erkennen. Nur, viel mehr als Küssen wagten wir nicht. Noch dazu hatte sie einen Verlobten. Und das bedeutete damals so viel wie: Hände weg!
Nun, an dieses Verbot hielten sich meine Hände eben nicht. Aber in Wahrheit sind da sowieso nicht die Hände gemeint, sondern ein ganz anderer Körperteil. Und der lechzte zwar heftig danach, Cecilias Körper zu berühren und in ihn einzudringen. Und Cecilia selbst lechzte ganz offensichtlich danach, von ihm berührt zu werden und sich von ihm himmlische Freuden spenden zu lassen. Aber das ging nun leider wirklich nicht. Wir saßen ja praktisch in der Auslage. Obendrein konnte jederzeit ein weiterer Fahrgast hereinplatzen. Besuch bekamen wir ohnedies mehr als einmal, vom italienischen und vom französischen Schaffner und in Ventimiglia vom italienischen und vom französischen Zöllner. Im Übrigen hätte ich mich in meiner jugendlichen Schüchternheit oder Naivität wahrscheinlich gar nie getraut, Cecilia an die Wäsche zu gehen – abgesehen vom BH.
Trotzdem war es eine köstliche Erfahrung. Und als der Zug in Nizza einfuhr und ich mich zum Aussteigen bereit machte, da brach Cecilia zu meiner Bestürzung und zugleich zu meinem heimlichen Entzücken in heiße Tränen aus.
Wie hätten wir auch ahnen können, dass uns das Schicksal oder der Zufall eines Tages doch wieder zueinander führen sollte?
Und so kam ich also am Nachmittag dieses köstlichen Tages in Nizza an und wurde von Onkel Marceau und Tante Ella, einer gebürtigen Wienerin, empfangen. Wir kannten uns schon persönlich. Sie hatten mich schon zweimal in Melk besucht. Nun verluden sie mich in ein Automobil und fuhren mit mir, am Flughafen von Nizza vorbei, in ihr zehn Kilometer entferntes Heimatstädtchen, wo sie mitsamt ihren zwei kleinen Buben ein reizendes Häuschen inmitten eines idyllischen Gartens bewohnten. Aber das Allerschönste daran war für mich Onkel Marceaus Fahrrad. Ich war (und bin heute noch) ein begeisterter Radfahrer. Und daher lieh ich mir so oft wie möglich sein Fahrrad aus und erkundete nach Herzenslust die blühende, glühende, duftende Natur der Côte d’Azur mit ihrem so wunderbaren Licht. Der Anblick der Orangen- und Zitronenbäume, der Olivenbäume, der Agaven und der Bougainvilleen, die ganze Häuserfronten bedeckten, und der vielen anderen südlichen Pflanzen waren für mich ein nicht enden wollendes Wunder, ebenso der so charakteristische Duft der Mittelmeer-Kiefern. Und als Hintergrund stets das Meer – das leuchtende, azurblaue, grandiose Meer, zumeist belebt von einem Schmetterlingsschwarm aus weißen Segeln.
Und so kam der 2. Juli 1958, der Tag, an dem sich mein Schicksal entschied.
Beschwingt und frohgemut radelte ich gerade auf der schmalen, kurvenreichen, kaum befahrenen Straße rund um das bezaubernde Cap d’Antibes dahin und schwelgte in der Schönheit der Landschaft und des Meeres und zugleich im Vergnügen des kurvenreichen Radelns bei sommerlicher Wärme und einem frischen Meereslüftchen. Da lag ich plötzlich, unverhofft von einem Auto niedergestoßen, bewusstlos und verletzt auf dem Asphalt und träumte von meiner verlorenen Geliebten.
Als ich wieder zu mir kam und vor Schmerzen zu stöhnen begann, wusste ich zunächst nicht, was mit mir los war, warum ich nicht beschwingt und frohgemut dahinradelte, sondern auf dem Rücken lag, und warum mir alles, vor allem der Kopf, so schrecklich weh tat. Und als sich meine Erinnerung zurückmeldete, wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr auf hartem Asphalt lag, sondern auf einem weichen Bett, und dass ich von drei Personen umringt war, die sich anscheinend meiner annahmen. Zwei der drei waren Frauen, eine ältere und eine sehr junge, sehr zarte, außergewöhnlich hübsche; das fiel mir sogar in meinem beklagenswerten Zustand sofort auf, so faszinierend fand ich ihren Anblick. Sie sah aus, dachte ich, wie die Liebesgöttin Antibia – Blödsinn, ich meinte natürlich Aphrodite oder Venus. Wie alle Götter und Göttinnen hatte sie strohblonde Haare. Zuerst hielt ich sie für eine Schwedin oder Norwegerin. Aber nein, sie sprach fließend Französisch. Auch der Dritte im Bunde war in gewisser Weise ein faszinierender Anblick. Es war ein älterer, wohlgenährter, dickbäuchiger Mann, der mich an den Lachenden Buddha erinnerte, nur dass er nicht vergnügt lachte und seine nackte Wampe nicht so freigebig herzeigte wie dieser.
Nach einiger Zeit kam eine weitere junge Dame in heller Aufregung ins Zimmer hereingestürzt. Neben dem alten Dickwanst hielt sie in ihrem Sturmlauf inne und sagte irgendetwas zu ihm. Wahrscheinlich wollte sie wissen, was um Himmels willen hier vor sich geht. Seine Antwort war ausgesprochen wortkarg. Die Dame schüttelte mit missvergnügter Miene den Kopf und sagte nichts mehr, starrte mich aber mit großen Augen an wie ein Wundertier oder einen Marsmenschen. Auch sie war von ausgesuchter, wenn auch nicht annähernd so sehenswerter Schönheit wie die Strohblonde.
Dem Dickwanst war nicht verborgen geblieben, dass ich wieder bei Bewusstsein war. Nun sprach er mich an, wie zu erwarten auf Französisch und leider viel zu schnell. Ich konnte nur ein gemurmeltes „Hm“ von mir geben, um anzudeuten, dass ich nichts verstanden hatte. Darauf probierte er es mit einer anderen Sprache und danach mit noch einer anderen. Aber diese waren mir beide völlig unbekannt. Durch Schulterzucken versuchte ich mein Unverständnis kundzutun – was mir nur noch heftigere Schmerzen bereitete, sodass mir ein vernehmliches „Au“ entfuhr.
Daraufhin sagte der Dickwanst etwas zu der zuletzt eingetroffenen jungen Dame und verzog sich, gefolgt von der älteren Dame, aus dem Zimmer, um sich Wichtigerem zu widmen.
Nun probierte es also die Angesprochene mit mir. Sie beugte sich über mich und sprach die berühmten, auf der ganzen Welt wohlbekannten Worte: „Do you speak English?“
Gott sei Dank, das war die richtige Frage. „M-hm.“
„Sind Sie Engländer?“
„M-m. Österreicher. Aber ich kann zur Not auch Französisch, falls Sie nicht zu schnell sprechen.“
„Ah, das ist schön“, erwiderte sie und wechselte unverzüglich ins Französische. „Darf man fragen, wo Sie wohnen?“
Jetzt wurde es schwieriger. „In Cagnes. Nicht in Cannes, sondern in Cagnes-sur-Mer. Bei Verwandten.“
„Aha. Die müssen wir natürlich sofort verständigen. Wissen Sie zufällig ihre Telefonnummer?“
„Sie haben kein Telefon.“
„Ach so. Da muss jemand hinfahren. Wissen Sie die Adresse auswendig? Und wie lautet ihr Name?“
Nun, Name und Adresse von Onkel und Tante konnte ich seit frühen Kindheitstagen quasi auf Knopfdruck hersagen. Wie oft hatte ich beides auf die Umschläge meiner nach Cagnes adressierten Briefe gemalt!
Die Dame wandte sich nach der anderen, noch jüngeren Dame um, sagte leise etwas zu ihr, worauf diese eilig das Zimmer verließ, und wandte sich wieder mir zu. Sie versorgte meine Blessuren (und bereitete mir dabei zusätzliche Schmerzen) und erklärte mir währenddessen, dass sie mir einen Krankenhausaufenthalt ersparen wolle, und ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Sie werde auch dafür sorgen, dass ich mich in diesem Hause immer wohlfühle.
„Sicher werden Sie sehr bald geheilt sein. Und wieder so schön sein wie zuvor. Österreicher sind Sie, sagten Sie?“
„M-hm.“
„Darf ich nach Ihrem Namen fragen?“
„Heinz heiße ich. Heinz Hinterhuber.“
„Aha. Einz Interubeer. Also Einz.“
„Oder, auf Französisch, Henri."
„Ah, Henri. Muss ich mir merken. Mein Name ist Sylvie.“
Tatsächlich wurde ich mit meinen Schmerzen praktisch nie allein gelassen, auch nicht in der Nacht. Sobald mir Mademoiselle Sylvie Gute Nacht gesagt hatte, kam unverzüglich die andere Schönheit herein, um mir Gesellschaft zu leisten und mich zu pflegen. Sie stellte sich mir vor als Juliette Leroy und war, wie sie sagte, die Hausdame. Auch sie betreute mich aufopfernd und äußerst liebevoll, war allerdings ausgesprochen schüchtern, um nicht zu sagen, gehemmt, sprach auch nicht viel. Immerhin erfuhr ich von ihr, dass Mademoiselle Sylvie die „Chefin“ („la chef“) des Hauses ist.
In dieser Nacht hatte ich genügend Zeit zum Nachdenken. Denn in der nächtlichen Stille wüteten die Schmerzteufelchen noch schlimmer als am Tag und taten ihr Bestes, um mir die Wohltat des Schlafes zu rauben. Was mich dabei besonders beschäftigte, war ein winziges Detail des Gesprächs, das Mademoiselle Sylvie mit mir geführt hatte. Nämlich die Worte: „Sicher werden Sie sehr bald geheilt sein. Und wieder so schön sein wie zuvor.“ Schön? Na, als schön hatte ich mich nie empfunden. Im Gegenteil, auf den Fotografien, die es von mir gab, fand ich mich immer unansehnlich, um nicht zu sagen, hässlich.
Gedanken machte ich mir auch über Mademoiselle Sylvie und den alten Dickwanst, der mich auf Französisch und dazu in zwei unbekannten Sprachen angeredet hatte, um danach sogleich zu verschwinden. Ist das ihr Vater oder eventuell der von Mademoiselle Juliette? Oder gar Mademoiselle Sylvies Ehemann? Dann müsste ich sie ja Madame nennen. Aber das kam mir, ehrlich gesagt, ziemlich unwahrscheinlich vor – ein alter Herr und eine so junge Frau! Wie alt konnte sie sein? Ich schätzte sie auf höchstens 25 Jahre, eher weniger. Nur, laut Mademoiselle Juliette war sie doch die „Chefin“ des Hauses.
Am nächsten Morgen ging es mir zum Glück schon etwas besser. Und da zog mich Mademoiselle oder Madame Sylvie wie eine Mutter behutsam aus und vertauschte meine Kleidung mit einem Nachthemd. Nach einer solchen Vertraulichkeit fühlte ich mich berechtigt, sie kurzerhand nach ihrem Verhältnis zum alten Dickwanst zu fragen. (Natürlich sagte ich nicht „alter Dickwanst“, sondern „alter Herr“.) Sie zögerte mit der Antwort, lächelte, lächelte mich süß an, um mich dann mit ihrer Antwort zu überraschen. Denn siehe da, der alte Herr, sein Name lautete Monsieur Domènec Pujol i Casamajó, war tatsächlich ihr Ehemann. Somit also der „Chef“ des Hauses.
Die Verblüffung war mir vermutlich deutlich anzumerken. Denn sie beugte sich, süß lächelnd, über mich, strich mit ihren Fingern kurz, aber unglaublich zärtlich über meine Wange und sagte: „Aber zu mir sagst du einfach Sylvie, gell, und nicht Madame Pujol i Casamajó. Und ich darf Henri zu dir sagen. Und wir sagen einfach Du zueinander. Ja?“
Ich musste vor Verwirrung schlucken und stammelte: „Ja ... Ja, sehr gern.“ Aber ich freute mich sehr über eine solche Freundlichkeit, wie ich sie in einem Krankenhaus sicher niemals erfahren hätte.
„Pujol i Casamajó?“, wiederholte ich, wie um sich zu vergewissern, dass ich diesen mehr als merkwürdigen Namen richtig verstanden hatte. „Und Domènec? Nicht Dominique?“
„Ja. Mein Mann ist nämlich Spanier.“
„Ach, Spanier?“, murmelte ich überrascht.
„Sie meinen, pardon, du meinst, warum er als Spanier in Frankreich lebt? Na ja, weißt du, er war ein hohes Vieh („un gros bétail“) in der Politik, machte sich aber beim Caudillo, also beim Franco, unbeliebt und musste aus Spanien flüchten, um dem Gefängnis und der Hinrichtung zu entgehen. Er hatte sich nämlich erlaubt, die Politik des Caudillo öffentlich zu kritisieren. Und das hat kein Gewaltherrscher gern. Außerdem ist er, wie man an seinem Namen Domènec Pujol i Casamajó leicht erkennen kann, gar kein richtiger Spanier, sondern Katalane. Deshalb ist er auch immer für die Rechte der Katalanen eingetreten. Die dürfen nämlich seit Franco nicht einmal mehr ihre eigene katalanische Sprache sprechen, stell dir vor. Katalanisch ist nämlich, sagt er, kein spanischer Dialekt, wie es Franco und seine Speichellecker behaupten, sondern eine eigene Sprache.“
Nun verriet sie mir auch, warum ihr Ehemann so großen Wert darauf legt, dass ich nicht in ein Krankenhaus eingeliefert werde.
„Er war ja schuld an deinen Verletzungen. Er hat den Unfall verursacht, noch dazu in alles andere als nüchternem Zustand. Obendrein ist er als politischer Flüchtling in einer besonders heiklen Situation. Und legal ist, fürchte ich, auch nicht alles, was er so treibt. Genaueres weiß ich aber nicht.“
„Ach, da war also er der Autofahrer, der mich ...?“
„Ja, er hatte laut eigener Aussage eine Spur zu tüchtig dem Rosé der Provence zugesprochen und befand sich gerade auf der Heimfahrt. Zu diesem Zweck musste er an genau der Stelle, wo du gerade vorbeigeradelt bist, nach rechts in unsere Zufahrtstraße abbiegen.“
„Aha“, warf ich ein, „und da hat er mich übersehen, wie?“
„Er hat dich übersehen. Dir ist sicher bekannt, dass Radfahrer häufig sogar von nüchternen Autofahrern übersehen werden. Umso eher von solchen, die soeben eifrig Gott Bacchus gehuldigt haben. Und nicht nur beim Abbiegen nach rechts, wo sich der Radfahrer, den er soeben überholt hat, im toten Winkel befindet.“
„Den er soeben unnötigerweise überholt hat. Richtig?“
„Vollkommen richtig. Er hätte nur eine Sekunde warten müssen.“
Mit der Zeit fiel mir immer stärker auf, dass die diversen Behandlungen, die Sylvie an meinem lädierten Körper vornahm, sich stets äußerst liebevoll, beinah wie Zärtlichkeiten anfühlten, auch wenn sie mit zusätzlichen Schmerzen verbunden waren. Bei dieser Tätigkeit überraschte sie mich mehr als einmal mit der gemurmelten Bemerkung, ich hätte einen so schönen Körper, oder: einen so wohlgeformten Körper, oder: den Körper eines Sportlers, durchtrainiert und schlank, und es mache Freude, meine Gliedmaßen anzuschauen und zu berühren. Oder auch: ihr gefalle mein voller, sinnlicher Mund, meine geschwungenen Lippen, meine himmelblauen Augen, meine wundervollen rotblonden Haare. (Sie meinte in Wirklichkeit natürlich: meine roten Haare, derentwegen ich früher oft genug gehänselt worden war.)
Bei den ersten derartigen Komplimenten wurde ich, glaube ich, einfach nur rot. (Und damit meine ich klarerweise nicht meine Haare.) Aber dann, es war der 7. Juli, der sechste Tag meines unfreiwilligen Aufenthaltes in diesem Haus, da ermannte ich mich endlich und begann auch ihr Komplimente zu ihrem Aussehen, zu ihrer Schönheit, zu ihrer Figur, zu ihrer Haarpracht, zu ihrer schönen Stimme zu machen, und zwar mit dem Zusatz, das sei bei weitem berechtigter, als wenn sie meinen Körper lobe und preise.
Und was geschah? Ich glaubte zu träumen: Schelmisch lächelnd, legte Sylvie ihre Hand auf meine Wangen und strich sanft darüber, als Nächstes über meine Brust, dann über meinen Bauch und schließlich, ich dachte, ich träume, über meinen Penis. Und der reagierte augenblicklich auf bestürzende Weise. Hierauf küsste sie mich überraschend intim. Gleichzeitig schob sie das Nachthemd weit genug hinauf und entblößte dadurch mein Körperzentrum zur Gänze. Jetzt lag mein Penis frei, entblößt, exponiert. Was heißt, er lag? Er stand, war aufgerichtet, ragte bedrohlich in die Höhe wie ein Kanonenrohr. Doch Sylvie schreckte sich anscheinend gar nicht. Fasziniert betrachtete sie ihn, starrte ihn mit funkelnden, gierigen Augen an. Ihre Blicke ließen ihn womöglich noch weiter wachsen, brachten ihn zum Glühen. Und dann berührte sie ihn ungeniert und begann ihn zu liebkosen, streichelte ihn auf unnachahmliche Weise.
Vor Wollust begann ich leise zu stöhnen. Und da hob sie, ohne lang zu zögern, ihr eigenes Kleid in die Höhe und bot mir damit einen atemberaubenden, noch nie erlebten Anblick, zumal kein Slip zu sehen war. Sie stieg aufs Bett, schwang sich sichtlich behutsam, wohl, um mir keine unnötigen Schmerzen zuzufügen, über meine Beine, griff nach meinem Penis, streichelte ihn erneut auf unnachahmliche Weise, sodass mein Stöhnen sofort anschwoll, streichelte sich mit ihm selbst und versteckte ihn schließlich, schwer atmend, in ihrer Scheide. Da drinnen schmeichelte sie ihm ein schönes Weilchen so wunderbar, dass ich im Paradies zu schweben glaubte. Gleichzeitig flüsterte sie mir allerhand Französisches ins Ohr. Und dann schwebte ich ein kleines Weilchen wirklich im Paradies, spürte, wie es in mir aufwallte, wurde vom Höhepunkt geschüttelt und hatte zu tun, um meine Lustschreie zu unterdrücken. Desgleichen nach wenigen Augenblicken Sylvie selbst. Noch immer schwer atmend, sank sie schließlich auf meine Brust nieder.
Na, das ging aber schnell, dachte ich. Fast so schnell wie einst mit meiner ersten, verlorenen Liebe.
„Ein Wahnsinn!“, entfuhr es mir, sobald ich wieder sprechen konnte. „Ist es mit dir immer so toll?“
Statt einer Antwort lachte sie leise, hatte dabei aber immer noch gewisse Schwierigkeiten. Sobald sich ihr Atem wieder normalisiert hatte, küsste sie mich mit hemmungsloser Leidenschaft, aber zum Glück behutsam, und flüsterte mir ins Ohr: „Henri, o Henri, ich liebe dich.“ Und dann noch einmal: „Ich liebe dich so. Weißt du, ich hatte immer gehofft, eines Tages einen Mann so lieben zu können. Und als ich dich zum ersten Mal sah, als ich hier liegen sah, wusste ich sofort: Du bist es. Du wirst es sein.“
„Und dein Mann?“, flüsterte ich zurück, sobald ich mich von der ersten Verwirrung erholt hatte.
Diese Frage klang zwar nicht gerade galant oder kavaliersmäßig. Aber Sylvie schien sie mir nicht übelzunehmen.
„Ist zurzeit nicht daheim“, erwiderte sie. „Weilt in Marseille. Bei einem Kongress der Exilkatalanen, glaube ich. Aber auch wenn er zu Hause wäre ... Weißt du, wir führen so eine Art offene Ehe.“
„Aha. Heißt das, er hat auch eine ... Wie sagt man da?“
„Du sagst es. Er hat auch eine. Du wirst es schon erraten haben: Juliette.“
„Ach, die Juliette ist seine ... Und mir hat man gesagt, sie ist deine Hausdame.“
„Ja, offiziell ist sie meine Hausdame. Als solche hat sie mein Mann, bestimmt wegen ihrer blendenden Schönheit, engagiert und dann zu seiner Mätresse gemacht.“
„Sie ist, so kommt mir vor, noch jünger als du. Das heißt, der Altersunterschied ist da noch größer.“
„Ja, ja. Der ist schon zwischen ihm und mir groß genug. Aber das scheint ihn nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil. Von jungem Fleisch erwartet er sich natürlich eine Auffrischung, oder sagen wir, Verjüngung seiner Potenz. Und das hat er bei Gott nötig.“
„Ach, so ist das. Weil er schon so alt ist, wie?“
„Freilich. Das ist die Tragödie der Männer, glaube ich, dass im Alter ihre Potenz langsam dahinschwindet.“
Ich dachte daran, was beim Sex alles passieren kann. Ich war nämlich, wie man so schön sagt, ein „gebranntes Kind“.
„Sag, liebste Sylvie“, fuhr ich, nicht ohne Herzklopfen, fort, „bist du eigentlich geschützt?“
„Aber ja. Keine Angst. Ich will doch von meinem alten Domènec kein Kind. Und auch von sonst keinem männlichen Wesen.“
Sie küsste mich erneut und sagte: „He, du küsst ja wie ein Weltmeister. Und auch sonst ... Du scheinst schon viel Erfahrung zu haben. Hab ich recht?“
„Hm“, machte ich und wurde vor Verlegenheit rot. „Na ja, ein wenig.“
„Nur ein wenig? Das kommt mir aber nicht so vor. Wie viele Frauen hast du denn schon gehabt?“
Na, ganz schön indiskret, die Dame, dachte er. „Eigentlich nur eine.“
Sylvie staunte. „Nur eine? Kaum zu glauben. Erzählst du mir von ihr?“
„Hm ... Sie heißt Isabella und ist meine Schwester.“
„Oho, deine Schwester war deine erste Liebe? Schau, schau. Aber so was kommt angeblich öfter vor, als man denkt. Komm, erzähl.“
Also versuchte ich meine Verlegenheit zu überwinden und erzählte Sylvie die ganze traurige Geschichte meiner Liebe zu Isabella. Und Sylvie lauschte voller Andacht, Mitgefühl und Anteilnahme.
Ja, weißt du, liebste Sylvie, die Isabella ist nicht meine leibliche Schwester. Sie ist meine Zieh- oder Pflegeschwester. Ich bin nämlich Vollwaise. Mein Vater ist im Krieg gefallen. Und meine Mutter ist von einem russischen Besatzungssoldaten erschossen worden. Sie hat sich offenbar gar zu heftig gewehrt, als er sie vergewaltigen wollte. Und da nahm mich ein kinderreiches Ehepaar aus Melk an der Donau als Pflegekind auf. Melk ist eine kleine Stadt in Niederösterreich mit einem berühmten Barockstift inklusive Stiftsgymnasium.
Unvergesslich war die Szene, wie ich in meine neue Familie eingeführt wurde. Die Pflegemutter drückte mich nämlich sofort an ihren Busen und küsste mich auf die Stirn. Und dazu sagte sie: „Ich bin die Mama, gell?“ Das Gleiche machte der Pflegevater und sagte: „Und ich bin der Papa. Wirst du dir das merken?“ Ich nickte und murmelte: „Und ich bin der Heinzi.“ Worauf beide herzlich lachten. Hinter ihnen standen, wie die Orgelpfeifen aufgereiht, nicht weniger als sieben Kinder, die mich argwöhnisch beäugten und mir von der neuen Mama der Reihe nach vorgestellt wurden. Aber glaubst du, ich hätte mir ihre Namen auf Anhieb gemerkt? Nein, nein. Dazu war ich viel zu aufgeregt.
Doch ebenso rasch, wie meine Aufregung verging, verschwanden auch die argwöhnischen Blicke und lösten sich die Probleme mit den sieben Namen ganz von selbst – allerdings mit einer gewichtigen Ausnahme. Und ebenso rasch freundete ich mich mit allen meinen Pflegegeschwistern an, am schnellsten mit dem gleichaltrigen Willi. Mit ihm sollte ich auch bis zur Matura die Schulbank drücken. Er war der Zweit- oder auch Drittgeborene, je nachdem. Denn älter als er war nur ein Zwillingspärchen, zwei entzückende Mädchen namens Isabella, genannt Isi, und Marianne, genannt Nannerl wie Mozarts Schwester. Übrigens sagte man nicht: das Nannerl; so wird Mozarts Schwester nämlich in heutigen historischen und musikologischen Darstellungen genannt. Nein, unsere Marianne hieß genauso, wie Mozart selbst und sein Vater in ihren Briefen schreiben, nämlich: die Nannerl.
Ja, und damit kommen wir zu der vorhin erwähnten gewichtigen Ausnahme bei den Namen. Denn die beiden Mädchen glichen einander wie ein Ei dem anderen, sodass ich sie, wenn überhaupt, nur an der Kleidung unterscheiden konnte und sie regelmäßig mit dem falschen Namen ansprach. Aber sie lachten nur, wenn ich sie mit dem falschen Namen ansprach. Und natürlich war ich bei weitem nicht der Einzige, dem das passierte. Das passierte ab und zu sogar den Eltern.
Die Isi und die Nannerl waren zwei Jahre älter als Willi und ich und kamen als wirkliche Freundinnen oder Spielkameradinnen für uns leider nicht in Betracht. Mit so jungem Gemüse gaben sich diese „Damen“ natürlich nicht ab. Umso besser verstand ich mich mit Willis jüngeren Geschwistern, vor allem mit der um ein Jahr jüngeren Kathi. Und da mich die Pflegeeltern wirklich wie ihr eigenes Kind behandelten, fühlte ich mich alsbald behütet und geliebt wie ... na, sagen wir, wie ein Küken unter den Flügeln der Mutterhenne. Darüber hinaus brachten mir beide, Mutterhenne und Vaterhahn, nicht nur das Radfahren und das Skifahren bei, sondern auch das Schwimmen. Alle drei Aktivitäten betätige ich seither mit großem Vergnügen, speziell das Radfahren.
So vergingen die Jahre meiner Kindheit, und ich wurde fünfzehn.
Eines schönen und heißen Sommertages fuhr ich wieder einmal im Kreise meiner Geschwister an den Donaustrand, um zu baden. Ein Schwimmbad gab es damals in Melk noch nicht. Ich sonnte mich gerade am Ufer im Gras, als ich eine Riesenüberraschung erlebte. Bewaffnet mit einer Luftmatratze, stand unverhofft die Isabella vor mir und fragte, schüchtern genug, ob ich so nett wäre, sie ein Stück auf der Donau zu begleiten und die Luftmatratze zu steuern. „Und ich würde mich derweil auf ihr sonnen lassen. Das wäre für mich ein tolles Vergnügen. Auf einem See geht das ja leicht. Aber in einem Fluss bräuchte man dafür halt einen Helfer. Möchtest du mein Helfer sein?“
„O ja, selbstverständlich, sehr gern“, stammelte ich verdattert, während ich aufsprang.
„Oh, ein echter Kavalier“, erwiderte sie und schenkte mir ein verführerisches Lächeln. „So was hat man gern als Frau.“
Darauf sagte ich gar nichts mehr, fühlte mich aber über alle Maßen geschmeichelt, noch dazu aus dem Mund der Isabella, für die ich bisher doch nur ein etwas zu groß geratenes Baby gewesen war.
Gemeinsam stiegen wir die Uferböschung hinunter, ich übernahm die Luftmatratze und deponierte sie im Wasser und hielt sie fest. Isabella legte sich darauf. Ich bugsierte schwimmend die Luftmatratze mit ihrer sehenswerten Fracht ins tiefe Wasser, indem ich mit der einen Hand die Luftmatratze selbst festhielt und die andere Hand, zwar zögernd, weil ich mir dergleichen noch nie erlaubt hatte, auf Isabellas wohlgeformten und überraschend weichen Oberschenkel legte. Dessen Weichheit war für mich nämlich wirklich unerwartet und überraschend. Zugleich erregend. Aber natürlich befürchtete ich anfangs, dass sie dagegen Einspruch erheben würde. Ich dachte ja, Frauen verabscheuen, abgesehen vom Händeschütteln, jede körperliche Berührung, zumal auf so intimen und normalerweise schamhaft verhüllten Körperteilen wie den Oberschenkeln. So war es uns vom Pater Benedikt, unserem Religionsprofessor, über die Jahre hinweg eingebläut worden. Aber nein, Isabella ließ es sich ohne Widerrede gefallen. Wahrscheinlich war ihr klar, dass dies nur ihrer Sicherheit diente.
Sobald ich so weit hinausgeschwommen war, dass wir an dem flussabwärts gelegenen Ponton, an dem die Rollfähre anlegte, leicht vorbeikamen, überließ ich mich und damit die Luftmatratze der Strömung und genoss im Übrigen die ungewohnte Berührung eines so intimen weiblichen Körperteils wie des Oberschenkels. Und Isabella genoss es offensichtlich, wohlbehütet auf einer Luftmatratze dahinzutreiben und sich währenddessen von der Sonne küssen zu lassen. Ob sie auch die Berührung meiner Hand genoss – wer weiß? Und ob sie davon träumte, sich nicht nur von der Sonne, sondern auch von meinen Lippen küssen zu lassen – wer weiß?
Ja, solche Phantasien gingen mir damals durch den Kopf, wachgerufen vermutlich durch die für mich so neuartige Situation, hautnah mit einer begehrenswerten und halbnackten Frau zusammen zu sein.
Nur, allzu weit durften wir uns nicht abtreiben lassen. Die Donau hat eine enorm starke Strömung. Und schließlich müssen wir ja wieder zurück.
„Ist es recht, wenn wir hier in der Au wieder an Land gehen?“, sagte ich und wartete Isabellas Antwort gar nicht erst ab, sondern steuerte unverzagt das Ufer an. Und natürlich war Isabella einverstanden. Sie wusste selbst, dass gegen die Strömung der Donau auch der beste und stärkste Schwimmer nicht ankäme.
Die Stelle, wo wir an Land gingen, war, wie gesagt, die Au, genauer gesagt, ein Teil der Auwälder, die oberhalb und unterhalb von Melk die Donau auf etliche Kilometer begleiten und die Stadt von ihr trennen. Sie nennt sich zwar Melk an der Donau. Aber in Wirklichkeit liegt Melk nicht an der Donau selbst, sondern an einem Seitenarm der Donau.
Am Ufer angelangt, suchte sich Isabella einen schönen und für eine Luftmatratze geeigneten Liegeplatz im Halbschatten der Bäume und Sträucher und legte sich wieder darauf, um ihre viel zu früh unterbrochene Siesta hier fortzusetzen, aber nicht, ohne sich zuvor bei mir für meine Dienste anständig zu bedanken. Und wie geht das, sich bei mir anständig bedanken? Sehr einfach: Man sagt: „Danke, mein großer Kavalier“, wirft die Arme um meinen Hals, presst mich an sich und schenkt mir einen so süßen Kuss, dass mein Herz augenblicklich um vieles schneller schlug und mein Blut pulsieren ließ. Darauf legte sie sich also hin und lud mich ein, sich zu ihr auf die Matratze zu setzen und – ich glaubte zu träumen – mein Streicheln fortzusetzen.
Mein Streicheln? Habe ich sie denn gestreichelt, fragte ich mich, ließ es mir aber nicht zweimal sagen. Streicheln ist unendlich mehr als nur Berühren. Und das Streicheln ihrer weichen Schenkel, ihrer nackten Haut erregte mich nicht nur, weil ja eigentlich strengstens verboten. Darüber hinaus empfand ich es als unerhört erotisch und als echte Sensation. Noch dazu war ihre Haut warm, meine Hände dagegen nass und kalt. Daher fragte ich zur Sicherheit: „Macht dir das gar nichts aus, dass meine Hände nass sind?“
„Du, im Gegenteil. Sie sind angenehm kühl. Und im Nu wirst du wieder trocken sein. Außer unter der Badehose. Weißt du was? Du solltest sie ausziehen, sonst verkühlst du dich noch.“
„Ausziehen? Die Badehose? Aber das geht doch nicht.“
„Wieso soll das nicht gehen?“
Über eine solche Frage konnte ich nur staunen. „Na ja, weil ich dann ja nackert bin.“
„Ach so, und ich nicht. Und da musst du dich schämen. Klar. Was machen wir denn da?“
Ich konnte nur verlegen grinsen und mit der Schulter zucken. Noch dazu spürte ich, wie mein Schwanz – so sagten meine Freunde; die Eltern nannten diesen Körperteil Lulu oder Zumpferl; klingt vermutlich weniger unkeusch – also, ich spürte, wie mein Schwanz auf einmal groß und steif wurde wie manchmal des Nachts, wenn ich nach einem schönen Traum aufwachte, und das Nachthemd war nass. Und die Badehose blähte sich auf und zwängte den Schwanz ein. (Viel später erst wurde mir zu meiner Überraschung klar, dass dieser Ausdruck schon durch Goethe quasi geadelt war.)
„Ich will aber nicht, dass du dich wegen mir verkühlst“, verkündete Isabella, verführerisch lächelnd. „Schließlich sind wir hier fast im Schatten. Na, da gibt’s nur eins. Ich werde mich halt auch ausziehen. Sonst verkühl ich mich ja auch noch.“
Sprach’s und streifte sich ungeniert ihren Badeanzug ab. Und bot mir ihren aphrodisischen, von glitzernden Wassertropfen beperlten Körper – die jugendlich hohen Brüste, die herrlich schlanken und doch vollen Schenkel, das sie krönende Haardreieck (bei dem allerdings zu meiner Verblüffung irgendetwas fehlte) – völlig unverhüllt dar. Einen solchen Anblick hatte ich noch nie erlebt. Ich bekam richtige Stielaugen, ja sie fielen mir fast aus dem Kopf, und die Badehose wurde mir noch enger. Und trotzdem wagte ich‘s noch immer nicht, sie mir auszuziehen. Da musste offenbar Isabella selbst Hand anlegen.
Also: Isabella legte Hand an und versuchte mir die Badehose abzustreifen. Regelrecht verzaubert von der überwältigenden, unbeschreiblichen Faszination, die von ihr, ihrem Lächeln, ihrem nackten Körper ausging, kam ich ihr sogar entgegen und hob meinen Podex ein Stückchen an. (Podex: dieses schöne lateinische Wort kannte ich aber nicht aus dem Lateinunterricht.) Trotzdem tat sie sich enorm schwer mit dieser selbstgewählten Aufgabe, und nicht nur weil die Badehose tropfnass war. Doch sobald ihr dieses Werk gelungen war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit (zu meinem Entsetzen) unverzüglich meiner Erektion zu und rief angemessen leise aus: „Oh, oh, oh! Was hast du denn da? Darf man dieses Ding berühren auch?“
Ihre Frage konnte ich nicht beantworten. Vor Verblüffung brachte ich keinen Ton heraus. Und Isabella berührte „dieses Ding“ tatsächlich nicht. Stattdessen sagte sie: „Du, Heinzilein, weißt du was? Wenn du mich ein bisserl streichelst, dann streichle ich dich auch. Abgemacht?“
„Ja, gut“, murmelte ich und begann Isabellas Schenkel erneut zu streicheln, was mir enorm viel Freude machte. Aber noch mehr Freude machten mir Isabellas Hände auf der nackten Haut meiner Brust. Nein, falsch: Isabellas Hand. Ihre andere Hand schien nicht zu wissen, wohin mit ihr.
Und dann wusste sie es plötzlich doch. Denn sie landete auf einer meiner Hände und schob sie – wohin? Ich konnte es kaum glauben: auf die geheimste Stelle ihres Körpers. Auf ihren Schoß. Auf ihr Geschlecht. Auf ihre Möse, wo ich zunächst gedacht hatte, da fehlt was. Und veranlasste sie, diese anstatt des Schenkels zu streicheln. Gleichzeitig verließ ihre andere Hand meine Brust und berührte „dieses Ding“ nun doch, legte sich zart, ja zärtlich um meinen Schwanz, um ihn zu streicheln.
Dass ich so etwas jemals erleben würde, hätte ich mir niemals träumen lassen. Aber jetzt erlebte ich es sozusagen live und fühlte mich plötzlich erwachsen. Einmal allerdings erschrak ich, als nämlich Isabella leise Klagelaute ausstieß. Sofort stellte ich meine Bemühungen ein und murmelte: „Du, entschuldige. Hab ich dir weh getan?“ Aber sie kicherte nur und sagte mit seltsam veränderter Stimme: „Nicht aufhören, bitte, nicht aufhören“, besann sich aber gleich darauf eines Besseren, spreizte ihre Schenkel, zog mich als Ganzen über sich, leitete mit der einen Hand meinen Schwanz an jene geheime Stelle, die bisher meine Finger anscheinend höchst erfolgreich gestreichelt hatten, und drückte mit der anderen Hand mein Hinterteil kräftig zu sich, sodass mein Schwanz vollständig in ihrem Körper verschwand.
Erlebte ich das alles wirklich? Oder träumte ich? Denn wie in einem lustvollen Traum schwebte ich mit einem Mal in himmlischen Sphären. Und die Zeit blieb stehen, es gab kein Gestern und kein Morgen mehr, es gab nur noch das Jetzt. Bitte, lieber Gott, lass es immer das Jetzt sein, lass es nicht vorübergehen, lass es ewig dauern, denn es sind himmlische Sphären, es ist das Paradies. Und wieder gab Isabella klagende Laute von sich, und ebensolche entkamen mir.
Plötzlich stieß ich einen lauten Schrei aus, und es war um mich geschehen. Im nächsten Moment war ich stumm vor Schreck, vor Überraschung, vor Beschämung. Schon möglich, dass ich mich bei einer anderen Gelegenheit noch mehr geschämt hatte. Das war, als ich auf dem Weg zu einer Gesangsprobe war. Ich gehörte nämlich zu den Melker Sängerknaben, die mit ihrem Gesang den Patres die Gottesdienste verschönerten. Kaum hatte ich den ersten Stiftshof betreten, da verspürte ich auf einmal ein menschliches Rühren und dachte, jetzt geht’s gleich in die Hose. Und kein Klo war in der Nähe. Nur eine Mauer. Die Mauer des nächsten Gebäudetraktes. Aber kein Mensch weit und breit. Also schnell hin zur Mauer, Hosentürl auf, und los ging’s. Groß war die Erleichterung. Und groß war der Schrecken, als ich hinter mir die Stimme meines Klassenvorstands, des Pater Reginald, hörte. Ich weiß nicht, wie ernst seine Rüge war. Aber damals schämte ich mich wirklich buchstäblich zu Tode.
Fast so heftig schämte ich mich nun vor Isabella, weil ich geschrien hatte, noch dazu so laut. Sie selber schrie nicht. Sie lächelte nur und presste meinen Podex fest an sich, offenbar um zu verhindern, dass ich vor Scham die Flucht ergreife. Das hatte ich zwar nicht vor; ich war ja ein Kavalier (dachte ich jedenfalls). Aber ich spürte bald nur allzu deutlich, wie mein Schwanz dabei war, die Flucht zu ergreifen, nämlich aus Isabellas Körper. Doch kaum war ihm das gelungen, gaben Isabellas Hände meinen Podex frei und legten sich um mein inzwischen geschrumpftes Schwänzlein, um ihm weitere Freuden zu bereiten. Und siehe da, das Schwänzlein reagierte sofort und wuchs sich in Blitzesschnelle wieder zu einem prallen Schwanz aus. Isabella jubelte auf und steckte ihn sich sogleich erneut in das geheime und magische Löchlein zwischen ihren Schenkeln. Gleichzeitig griff sie nach meiner linken Hand und führte sie an ein ebenso geheimes und ebenso magisches Knöpflein knapp oberhalb des inzwischen abermals von meinem Schwanz verstopften Löchleins. Offenbar sollte ich es wieder zärtlich streicheln. Jedenfalls bemühte ich mich, mein Streicheln sanft und zärtlich zu gestalten, nicht weil ich schon wusste, dass die Frauen das so lieben, sondern einfach, weil ich vor diesen intimen Partien des weiblichen Körpers einen Heidenrespekt hatte.
Nun war es mir und war es vor allem Isabella vergönnt, um ein Vielfaches länger in jenen himmlischen Sphären zu schweben, ehe mich die Ekstase übermannte. Das erste Mal hatte nämlich, wenn ich’s mir in Ruhe überlege, kaum viel länger als zehn Sekunden gedauert. Vielleicht fünfzehn. Für die Frau natürlich viel zu kurz.
Jetzt, beim zweiten Mal lief’s ein bisschen besser. Die himmlischen Sphären dauerten schätzungsweise vier oder fünf Minuten. Wieder stieß ich also einen viel zu lauten Schrei aus, und wieder war’s um mich geschehen. Bald danach stieß Isabella einen nicht ganz so lauten Schrei aus, und ich glaube, jetzt war’s um sie geschehen. Danach gaben wir nur noch ein gedämpftes Röcheln von uns, Isabella noch weit länger als ich selber. Zuletzt bewahrte sie noch lange andächtiges Schweigen und schien zu schlafen.
Ich schlief nicht. Ich war außer mir vor Staunen und vor Aufregung. Wie hätte ich da schlafen können?
Als Isabella schließlich doch erwachte, sagte sie: „Liebster, was hast du nur gemacht mit mir?“ Erwartete sich aber offenbar keine Antwort – da hätte sie lange warten können –, sondern bedeckte mein Gesicht, meinen Hals, meine Brust und sogar mein abermals geschrumpftes Schwänzlein mit ungezählten heißen Küssen.
Danach fragte sie mich noch etwas. „Liebster, hast du so was schon einmal gemacht?“
Sagen konnte ich noch immer nichts. Ich konnte nur den Kopf schütteln.
„Also warst du noch jungfräulich.“
„Ha?“, machte ich darauf wie der letzte Dorftrottel.
„Ich war’s auch“, sagte sie lächelnd. „Jetzt bin ich’s nicht mehr.“
Und ich wieder: „Ha?“ Bekam aber keine Antwort mehr.
Plötzlich schien sie zu sich zu kommen und rief mit entsetzter Stimme: „He, wir müssen zurück, aber dalli! Sonst glauben die anderen, wir sind in der Donau ersoffen. Komm, schnell!“
Ja, genau. Wie recht sie hatte! Hektisch kleideten wir uns an. Hektisch machten wir uns auf den Rückweg, natürlich zu Fuß am Ufer; nur die Mündung des Donauarms in die Donau mussten wir durchschwimmen. Und wir waren sehr erleichtert, als keiner der anderen irgendwelche Anzeichen von Besorgnis oder gar Befürchtung erkennen ließ.
„Eine traurige Geschichte, sagst du?“, warf Sylvie kopfschüttelnd ein. „Das finde ich aber gar nicht. Ich denke, du kannst doch froh sein, auf derart reizvolle Weise von einer älteren Frau in die Liebe eingeführt worden zu sein. So wie in dem berühmten altgriechischen Roman Daphnis und Chloe, falls du den schon gelesen hast.“
„Nein, Liebste, den kenne ich noch nicht.“
„Wir haben ihn in unserer Bibliothek. Leider nur in französischer Übersetzung. Da wird der Jüngling Daphnis, der nicht wusste, was er tun sollte, um seine Liebe zu Chloe zu befriedigen, von einer älteren Frau in die Liebe eingeführt. Erinnere ich mich richtig, dass deine Isabella älter ist als du?“
„Ja, schon. Aber nur um zwei Jahre. Ich war damals fünfzehn, sie siebzehn.“
„Und jetzt bist du ...?“
„Achtzehn.“
„Jö, süße achtzehn ist mein Geliebter. Na ja, und ich bin halt schon sechsundzwanzig. Schade eigentlich. Das Vorbild von Daphnis und Chloe mit der älteren Frau hätte auf uns zwei viel besser gepasst. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Nicht jedem jungen Mann wird ein solches Glück zuteil. Du, jetzt bin ich aber gespannt, ob es mit deiner Beziehung zu Isabella weiterging. Und wie. Ich hoffe, das war keine Eintagsfliege.“
„Nein, war es nicht. Hör zu.“
Damit du dir das Folgende besser vorstellen kannst, liebste Sylvie, darf ich nicht unerwähnt lassen, dass ich ein Kinderzimmer für mich allein hatte.
Nach diesem Abenteuer in der Au waren noch keine zwei Wochen vergangen, da schreckte ich mitten in der Nacht auf und erstarrte vor Entsetzen. Die Matratze meines Bettes hatte sich gesenkt, wie wenn sich ein nächtlicher Besucher darauf gesetzt hätte. Gleichzeitig presste sich ein Lippenpaar auf meine Lippen. Das konnte doch nur ein Judaskuss sein, der mich den Häschern ausliefern sollte, wie? Dabei fühlten sich diese Lippen ausgesprochen angenehm, ja verlockend an. Weich und sanft und zärtlich. Und vielversprechend. Offenbar, um mich zu täuschen, zu betäuben. Um zu verhindern, dass ich den Besucher, den Häscher, auf der Stelle dorthin verscheuche, wo er hingehört.
Ja, das konnte der Häscher verhindern. Was er nicht verhindern konnte: dass mir ein Entsetzensschrei entfuhr. Aber auch dieser wurde augenblicklich durch eine weiche Hand erstickt, die sich über meine Lippen legte und sie verschloss. Und dazu flüsterte eine weibliche Stimme: „Pst! Schreck dich nicht! Ich bin’s nur.“
He, das war doch Isabellas Stimme! Na, da legte sich mein Entsetzen aber schnell, und mit der Erinnerung an jenes lustvolle Geschehen in der Au überkam mich augenblicklich unbeschreibliches Entzücken. Und gewaltiges Herzklopfen. Es drohte Isabellas Stimme zu übertönen, meine eigenen Sinne zu verwirren, zu betäuben.
„Darf ich ein bisserl zu dir kommen?“, hauchte Isabellas Stimme. „Weißt du, Liebster, ich möchte mit dir ein bisserl kuscheln. Nur, merken darf es keiner. Wir müssen ganz still sein. Ist dir das recht?“
An Stelle einer Antwort – meine Zunge war total gelähmt – warf ich meine Arme um Isabella, um sie an mich zu ziehen, und spürte unter meinen Fingern keinen Stoff, nur nackte, weiche, aphrodisische, verlockende Haut.
„Darf ich dir das Nachthemd ausziehen?“, flüsterte Isabella und begann auch schon mit der angekündigten Tätigkeit, ohne auf meine Erlaubnis zu warten. Ihr genügte, dass ich sofort mein Hinterteil anhob und mich aufsetzte, um mitzuhelfen, das störende Kleidungsstück zu beseitigen. „Weißt du, ich möchte deine Haut spüren. Das ist so angenehm.“
Als rasend angenehm empfand auch ich es, als wir danach in enger Umarmung lagen und still die gegenseitige Berührung genossen. Doch bald begann mich Isabella am Rücken und am Po zu streicheln und bat mich, sie ebenfalls zu streicheln. „Weißt du, du hast so zärtliche Hände.“
„Oh, wirklich?“, flüsterte ich. „Und wo soll ich ...“
„Überall. Am ganzen Körper. Na ja ...“ Sie zögerte. „Am liebsten dort, wo ... Du weißt schon.“
Ja, ich wusste schon. Ich erinnerte mich, wohin sie in der Au meine Hand gelenkt hatte. Gleichzeitig wusste auch sie, wo ich am liebsten gestreichelt werden wollte. Und zuletzt begnügten wir uns nicht mehr mit bloßem Kuscheln und auch nicht mehr mit bloßem Streicheln, sondern erinnerten uns an die in der Au praktizierte Methode, um in himmlischen Sphären zu schweben, diesmal freilich, ohne zuletzt laute Schreie auszustoßen. Nur leises Stöhnen, gedämpftes Röcheln erlaubten wir uns.
Rechtzeitig, bevor wir ins Traumland übersiedelten, löste sich Isabella, nicht ohne Überwindung, aus der süßen Umarmung, wischte sich und mich mit irgendeinem Stück Stoff ab, küsste mich stürmisch, dankte mir sogar.
„Ja, für was denn?“, flüsterte ich erstaunt.
„Für was? Ach, für alles. Dafür, dass du so zärtlich bist. Dafür, dass ich dich lieben darf. Dafür, dass du mich so glücklich machst. Soll ich dir was gestehen? Ja? Weißt du, ich hab mich in dich verliebt. Schon seit langem. Aber jetzt ... Darf ich dich wieder einmal besuchen?“
„Ja, bitte. Und weißt du was? Du machst mich glücklich. Und ... Du, ich liebe dich.“
Isabella hielt Wort. Sie besuchte mich von da an zwar nicht jede Nacht – natürlich nicht –, aber doch ein- oder zweimal pro Woche und machte mich immer glücklicher, und ich machte sie immer glücklicher. Behauptete sie jedenfalls oft und oft. Und jedes Mal achteten wir darauf, die nächtliche Stille nicht zu stören, vor allem nicht durch solche Schreie, wie sie uns damals in der Au entkommen waren, als wir zum ersten Mal in den himmlischen Sphären schwebten. Dabei verriet mir Isabella einmal, dass sie damals noch unberührt gewesen sei und ich sie somit zur Frau gemacht habe. Genaugenommen hatte sie es mir damals schon verraten. Nur hatte ich es noch nicht kapiert. Oder nicht beachtet.
„Zur Frau habe ich dich gemacht? Oho!“
„Ja. Und hast du nicht den winzigen Blutfleck auf der Luftmatratze bemerkt?“
„Nein, ist mir nicht aufgefallen.“
Aber etwas war mir längst aufgefallen. Arges Kopfzerbrechen hatten mir bisher immer wieder die sogenannten feuchten Träume bereitet. Und die – ich konnte es kaum glauben – die gab es plötzlich nicht mehr. Das empfand ich zwar als große Erleichterung. Trotzdem, die Schuldgefühle, die sie in mir ausgelöst hatten – ich besuchte ja eine katholische Klosterschule – also, die Schuldgefühle waren nicht geringer geworden, eher noch größer. Ich sündigte ja nach wie vor gegen das Sechste Gebot: Du sollst nicht Unkeuschheit treiben. Diese Sünde wagte ich nicht einmal zu beichten. Es ist ja eine Todsünde, die mit ewigem Höllenfeuer bestraft wird.
Aber stell dir vor, zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir, mich von diesen Schuldgefühlen selber zu befreien. Im Hause meiner Pflegeeltern gab es eine schöne, wohlbestückte Bibliothek. Das Stöbern darin war eines der größten Vergnügungen für mich. Die Bibliothek enthielt auch eine Bibel und ein vielbändiges Konversationslexikon. Und in diesem stieß ich eines Tages auf den Eintrag „Die Zehn Gebote“ und entdeckte Verwirrendes. Das Sechste Gebot lautete dort nämlich nicht: Du sollst nicht Unkeuschheit treiben, wie ich es gelernt hatte und wie es auch im Beichtspiegel und in meinem Katholischen Religionsbüchlein schwarz auf weiß zu lesen stand, obendrein mit der Bemerkung: „Gott verbietet im Sechsten Gebote alles, was gegen die Keuschheit ist.“ Sondern im Lexikon lautete es: Du sollst nicht ehebrechen.
Ehebrechen? Ehebrechen ist doch nicht dasselbe wie Unkeuschheit treiben, oder? Wer hat also recht? Im Lexikon entdeckte ich als Zusatz die Angabe zweier Bibelstellen. Sofort griff ich nach der Bibel, schlug die betreffenden Stellen auf und fand alle Zehn Gebote angeführt. Und wie lautete das Sechste? Ha, nicht: Du sollst nicht Unkeuschheit treiben. Sondern: Du sollst nicht ehebrechen. An beiden Stellen. Und was bedeutet das? Hat das Religionsbüchlein, hat der Beichtspiegel, hat der Pater Benedikt, unser Religionsprofessor, den Text der Bibel, des Wortes Gottes, verfälscht? Jetzt kannte ich mich überhaupt nicht mehr aus. Totale Verwirrung erfasste mich. Einen Erwachsenen zu fragen, gar den Pater Benedikt selbst, das traute ich mich nicht. Bestimmt hätte das in einem Riesenskandal geendet.
Aber was bedeutete diese sensationelle Entdeckung nun wirklich? Und nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss: Ja, das Wort Gottes war offenkundig verfälscht worden. Anders war diese Diskrepanz nicht zu erklären. Denn was ich mit Isabella, oder Isabella mit mir trieb, war doch nie und nimmer Ehebruch. Wir waren beide nicht verheiratet. Also kann es auch keine Sünde sein, schon gar nicht eine Todsünde, die mit ewigem Höllenfeuer bestraft wird. Übrigens kann es auch niemals Ehebruch bedeuten, sich solche Freuden selbst, mit eigener Hand, zu verschaffen, sozusagen auf eigene Faust. Das Ganze scheint nichts anderes zu sein als Betrug an den Gläubigen.
Nun erst genoss ich Isabellas Liebe ohne die alten Schuldgefühle, genoss auch die wissenden, verschwörerischen Blicke, die sie mir bei jeder Gelegenheit heimlich zuwarf und die sofort einen Aufruhr in meiner Brust und in meiner Hose hervorriefen. Gleichzeitig konnte ich beobachten, wie sie zusehends schöner wurde und wie ihre Augen immer heller strahlten. Und: Ich hatte sie zur Frau gemacht! Wenn das kein Grund war, Stolz und Glück zu empfinden! Ob sie jenes Abenteuer mit der Luftmatratze eigens deshalb geplant und inszeniert hat? Wahrscheinlich schon. Denn seither hatte sie es nie mehr wiederholt. Aber wenn ja, dann muss sie sich mich und keinen anderen ausgesucht haben, um sich zur Frau machen zu lassen, wie sie es nannte. Ich hätte sie gern gefragt. Aber ich traute mich nicht.
Wie geht das Sprichwort? Wer hoch steigt, kann tief fallen. Gilt diese Regel auch fürs Glück? Offenbar ja. Denn: Es kam der Advent, und es „weihnachtete sehr“, wie man auf Deutsch sagt. Und da wurden mit einem Mal die Nächte ohne Isabella immer mehr. Gleichzeitig kamen die feuchten Träume zurück. Und ich begann mir Sorgen zu machen, vor allem, als mir auffiel, dass Isabella nirgends mehr zu sehen war, nicht einmal am Mittagstisch. Um unser gemeinsames Geheimnis nicht zu verraten, wagte ich es lange nicht, mich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Aber als sie nicht einmal am Heiligen Abend bei der Weihnachtsbescherung zu sehen war, wandte ich mich auf dem Weg zur gemeinsamen Mitternachtsmette, bei der ich als Sängerknabe mitsingen musste, heimlich an Isabellas Zwillingsschwester Marianne und fragte sie.
„Ja, weißt du’s denn noch gar nicht?“, erwiderte sie, sichtlich überrascht über meine Unwissenheit. „Die Isi wohnt gar nicht mehr bei uns.“
„Was sagst du da?“, stieß ich erschrocken hervor und glaubte, mich trifft der Schlag.
Und Marianne im Ton einer Trauerrede: „Du, ja. Sie ist verstoßen worden.“
„Ha?“
„Ich meine, der Papa hat sie verstoßen. Aus der Familie ausgestoßen wie einen räudigen Hund. Du glaubst nicht, wie ich selber darunter leide.“
„Verstoßen? Ja, aber wieso denn, um Himmels willen?“
„Weil sie ein gefallenes Mädchen ist.“
„Gefallenes Mädchen? Was soll das heißen?“
„Ganz einfach: Sie ist schwanger.“
„Schwanger?“ Ich hatte ein Gefühl, als habe mich ein Felsblock unter sich zermalmt. „Du meinst, sie kriegt ein Baby?“
Marianne lachte nicht über meine dumme Frage, sondern murmelte: „Sie kriegt ein Baby. Der Vater ist unbekannt. Sie weigert sich beharrlich, ihn zu nennen.“
„Ich fass es nicht. Ich fass es nicht. Und wo wohnt sie jetzt?“
„Hm, das ist es ja. Das weiß niemand. Es soll auch niemand wissen, sagt der Papa. Weil, sie hat Schande über die Familie gebracht.“
„Schande? Du meinst, weil sie noch nicht verheiratet ist?“
„Ja, ja. Genau das meine ich. Du glaubst nicht, wie sie mir abgeht. Die Isi ist ja meine Zwillingsschwester. Noch dazu sind wir eineiige Zwillinge. Aber häng das bitte nicht an die große Glocke, was ich dir jetzt verraten hab. Es soll niemand davon wissen. Übrigens auch unsere Kleinen nicht.“
Ich lag zermalmt unter einem Felsblock. Ob ich daraufhin in der Lage war, auf dem Sängerchor der Stiftskirche Weihnachtslieder zu trällern, wusste ich selber nicht. Was ich sicher wusste: Dass ich in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde, weil in meinem Kopf und meiner Brust lauter kleine Folterknechte emsig an der Arbeit waren. Weil ich in einem fort an meine Liebste und ihr bitteres Los als verstoßene Tochter denken musste. Und daran, dass sie sich beharrlich weigert, den Vater ihres Babys zu nennen. Das ist ja Heroismus pur, sagte ich mir. Mehr noch, das ist Liebe pur. Heroische Liebe. Und ich versuchte mir vorzustellen, was geschehen wäre, hätte sie sich nicht geweigert, oder hätte sie dem Druck, der sehr wahrscheinlich auf sie ausgeübt wurde, nachgegeben und den Vater ihres Babys verraten. Dann wäre ich selber ohne jeden Zweifel ebenfalls verstoßen worden. Und garantiert hätte man mich als angeblichen Verächter des Sechsten Gebotes auch aus dem Stiftsgymnasium geschmissen. Davor hat mich jetzt also meine Isabella bewahrt, während sie selber ... Dabei ist sie noch weit schlimmer dran, als ich es selber wäre, wenn sie mich verraten hätte. Sie ist ja schwanger und kriegt ein Baby, hat also in absehbarer Zeit für zwei zu sorgen, für sich und für das Baby.
Wie konnte sie auch nur vergessen, fragte ich mich im Stillen, dass sie bei unseren nächtlichen Vergnügungen schwanger werden könnte!
Falsch. So muss es heißen: Wie konnten wir beide auch nur vergessen, dass sich bei unseren nächtlichen Vergnügungen eine Schwangerschaft einstellen könnte! Vielleicht hätte man irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen treffen können? Nur, welche? Wie hätten wir das wissen sollen? Wo und von wem erfährt man überhaupt derartige Informationen? Die einzige Information, die ich und sicherlich auch Isabella jemals bekommen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl Plepelits
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Tag der Veröffentlichung: 17.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1407-0
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