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Eine köstliche Begegnung

 

Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar,

an Mut wie an Hoffnung reich ...

Ich liebte den Frohsinn, den Tanz, den Gesang,

ich küsste manch Dirnlein mit rosiger Wang‘.

Ihr Herz hat mir manche geweiht.

Das war eine köstliche Zeit.

 

So singt der alte Waffenschmied in der gleichnamigen Oper von Albert Lortzing.

Ein Waffenschmied bin ich zwar nicht. Nur alt. Und doch, so könnte ich singen, wenn ich beispielsweise an den Sommer des Jahres 1958 zurückdenke. Damals war ich ein Jüngling mit lockigem Haar und reiste zum ersten Mal ins Ausland. Quasi als Belohnung für die soeben bestandene Matura hatten mich meine französischen Verwandten eingeladen, die Sommerferien bei ihnen an der Côte d’Azur zu verbringen. Sie wohnten nämlich in Cagnes-sur-Mer, einem malerischen Städtchen nahe Nizza, berühmt als letzter Wohnort von Auguste Renoir, einem der bedeutendsten Maler des Impressionismus. Er war aus demselben Grund von Paris nach Cagnes gezogen wie Onkel und Tante. Das milde Mittelmeerklima stand und steht im Ruf, der Gesundheit gut zu tun.

Köstlich war schon die zweitägige Zugfahrt von Melk in Niederösterreich, meinem Heimatort, nach Nizza. Als weniger köstlich empfand ich nur die Nacht zwischen diesen beiden Tagen. Ich verbrachte sie im Wartesaal der Stazione Centrale in Mailand, wo ich auf einer der harten Bänke liegend zu schlafen versuchte. Das heißt, ich schlief auch wirklich, wurde aber in einem fort von den Lautsprecherdurchsagen aus dem süßen Schlummer gerissen und verfluchte im Stillen eine solche Rücksichtslosigkeit.

Als besonders köstlich erwies sich dafür die Weiterfahrt am Tag danach.

In Genua betrat eine junge Blondine das Abteil, in dem ich es mir bequem gemacht hatte. Sie zog unwiderstehlich meine Blicke auf sich. Dabei wäre allein schon der Blick aus dem Fenster absolut lohnend gewesen. Denn von nun an war die herrliche Küstenlandschaft der Riviera zu bewundern und vor allem das endlose, azurblaue Meer, dessen Anblick für mich eine sensationelle Neuigkeit darstellte.

Aber nein. Die Blondine überstrahlte Meer und Riviera bei weitem. Sie stahl ihnen sozusagen die Show. Noch dazu saß sie ausgerechnet mir gegenüber. Sie trug nämlich einen ausgesprochen kurzen Rock – kurz, wohlgemerkt, für damalige Verhältnisse. Und ihre beim Sitzen freigelegten nackten Knie – damals ein eher seltener Anblick – zogen unwiderstehlich meine Blicke auf sich, als wären sie eine göttliche Erscheinung. Sie faszinierten mich so sehr, dass ich immer wieder verstohlen hinschauen musste. Ab und zu bewegten sie sich. Sie hoben sich, als eine Mitreisende ans Fenster treten wollte, um hinauszuwinken. Sie öffneten sich ein wenig, als die junge Dame ihre Handtasche auf den Schoß nahm, um in ihr herumzukramen. Und gewährten mir jedes Mal erregende Einblicke. Aber ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass ich ihr Gesicht, ihre Haarpracht, ihre Körperformen oder etwa ihre Beine unterhalb der Knie weniger faszinierend fand.

Ab Varazze, einem Ort nicht weit von Genua, war ich mit der Blondine allein im Abteil. Und da ergab es sich praktisch von selbst, dass wir ins Plaudern kamen. Das heißt, sie sprach mich überaus freundlich an und fragte nach meinem Woher und Wohin, natürlich auf Italienisch.

Nun hatte ich mir zwar durch einen Italienischkurs im Radio, dem ich mit Eifer und Begeisterung gefolgt war, einige Grundbegriffe der italienischen Sprache angeeignet. Und dieser glückliche Umstand ermöglichte mir eine freilich mehr als notdürftige Konversation mit der jungen Dame. Immerhin gelang es mir, ihr einiges über mich selbst zu erzählen und umgekehrt halbwegs zu verstehen, was sie mir erzählte.

„Ich heiße Cecilia und stamme aus Genua, arbeite aber in Cannes. Das ist in Frankreich. Dort wohne ich zusammen mit meinem Verlobten. Das geht in Frankreich ja bei weitem leichter als in Italien, wo die Sitten noch so streng sind wie im tiefsten Mittelalter. Bei uns kann man sich zum Beispiel nicht einmal scheiden lassen.“

Daraufhin überraschte ich sie, indem ich auf Französisch, so gut ich’s halt vermochte, sagte: „Ah, da sprechen Sie wohl auch Französisch?“ (Damals redeten sich auch die Jungen noch mit Sie an.)

Französisch hatte ich in der siebenten Klasse als Freigegenstand besucht, nicht nur wegen meiner französischen Verwandten, sondern aus purem Interesse.

Klar, Französisch sprach Cecilia perfekt. Und so funktionierte die Konversation schon bedeutend besser, obwohl noch immer holprig genug. Bei Vokabular und Grammatik war ich gar nicht schlecht. Was mir fehlte, war die praktische Anwendung.

Aber auch wenn die Konversation noch so holprig funktionierte, etwas anderes funktionierte bestens, ja geradezu phantastisch: die gegenseitige erotische Anziehung. Zuerst schauten wir uns nur tief in die Augen. Mein Blut geriet in Wallung. Ich wollte ihr noch näher sein und setzte mich neben sie und nahm mir bald die Kühnheit heraus, mit meinem ebenfalls nackten Knie – ich hatte wie üblich die kurze Lederhose an – ihr Knie zu berühren und ihr wie zufällig die Hand auf den Unterarm zu legen. Sie lächelte mich an und legte ihre Hand – wohin? Ich glaubte zu träumen – auf mein Knie.

Da ging mir ein Vers aus der Antigone durch den Kopf. Diese berühmte Tragödie des Sophokles hatten wir erst vor wenigen Monaten im Griechischunterricht gelesen. Der Vers lautet: O Eros, der du in des Mädchens weichen Wangen lauerst.

In der Tat, in Cecilias weichen Wangen lauerte der Liebesgott. Er zwang meine Hände, sie, ihre Wangen, zu berühren. Er zwang meine Lippen, ihre Lippen zu berühren. Und sie? Sie erwiderte meinen Kuss. Sie erwiderte ihn mit solcher Leidenschaft, dass er gar nicht mehr enden wollte. Wie von selbst legte sich meine Hand auf ihre Brust, erst über ihrer Bluse, dann darunter, aber über dem BH, und schließlich unter dem BH. Und ich entdeckte, dass die Brüste noch weicher waren als die Wangen. Lauerte also Eros auch in des Mädchens weichen Brüsten? Offensichtlich ja. Das spürte ich nur allzu deutlich in meiner eigenen Brust und vor allem noch weiter unten, zwischen den Beinen. Und? Wurde meine vorwitzige Hand verjagt? Wurden meine Finger zur Strafe für diesen dreisten Übergriff ausgeklopft? Oh, im Gegenteil, Cecilias Leidenschaft stieg und stieg. Sie stieg in unerwartete Höhen.

Und so lagen wir uns für den Rest der gemeinsamen Fahrt buchstäblich in den Armen und schmusten, knutschten, küssten uns wie ein unsterblich verliebtes Pärchen. Und das waren wir ja auch und sehnten uns sehr danach, das zu tun, was verliebte Pärchen stets und überall zu tun begehren – o ja, Cecilia ebenso wie ich selber; das war unschwer zu erkennen. Nur, viel mehr als küssen wagten wir nicht. Noch dazu hatte sie einen Verlobten. Und das bedeutete damals so viel wie: Hände weg!

Nun, an dieses Verbot hielten sich meine Hände eben nicht. Aber in Wahrheit sind da sowieso nicht die Hände gemeint, sondern ein ganz anderer Körperteil. Und der lechzte zwar heftig danach, Cecilias Körper zu berühren. Und Cecilia selbst lechzte ganz offensichtlich danach, von ihm berührt zu werden. Aber das ging nun leider wirklich nicht. Wir saßen ja praktisch in der Auslage. Obendrein konnte jederzeit ein weiterer Fahrgast hereinplatzen. Besuch bekamen wir ohnedies mehr als einmal, vom italienischen und vom französischen Schaffner und in Ventimiglia vom italienischen und vom französischen Zöllner. Im Übrigen hätte ich mich in meiner jugendlichen Schüchternheit oder Naivität wahrscheinlich gar nie getraut, Cecilia an die Wäsche zu gehen – abgesehen vom BH.

Trotzdem war es eine köstliche Erfahrung. Und als der Zug in Nizza einfuhr und ich mich zum Aussteigen bereit machte, da brach Cecilia zu meiner Bestürzung und zugleich zu meinem heimlichen Entzücken in heiße Tränen aus.

Wie hätten wir auch ahnen können, dass uns das Schicksal oder der Zufall eines Tages doch wieder zueinander führen sollte?

Siehe auch

 

 

 

 

 

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Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: juanerasmus85 - Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2022

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