Es war der 21. Februar 1995. Diesen Tag werde ich nie vergessen.
Drei Tage davor war ich als Leiter einer Reisegruppe am Kairoer Flughafen gelandet und hatte mich eben dort auf den ersten Blick unsterblich in eine ägyptische Grazie verliebt, ließ dieser Verliebtheit aber keine Taten folgen. Es gab keine Umarmung, keinen Kuss, nicht einmal die harmloseste Berührung, geschweige denn etwas Intimeres. Verliebte Blicke waren das Äußerste, wozu ich mich hinreißen ließ.
Hinter der Passkontrolle erwartete uns eine rassige, dunkeläugige Schönheit, die sich mit umwerfendem Lächeln als unsere Fremdenführerin vorstellte. Ihr Lächeln, ihre Anmut, ihre Schönheit warf mich, bildlich gesprochen, tatsächlich um. Eine Zeitlang hatte ich offenbar Empfangsstörung und brauchte nach meinem Empfinden ungebührlich lang, bis ich begriff, was sie zu mir gesagt hatte: Sie heiße Amina, und wollen wir uns als Kollegen nicht gleich duzen? Und ich, ja, ich kam mir vor wie ein Tölpel, wie ein tumber Tor. Und wahrscheinlich benahm ich mich auch so. Als ich dann, schon im Bus, unterwegs zum Hotel, verzückt zuschaute, wie sie zu uns sprach und ihre Worte mit graziösen Gesten untermalte, und sah, was für edle, feingliedrige Hände sie hat und was für ein edles Pharaonenprofil sie ihr Eigen nennt, da fühlte ich mich vollends verzaubert. Aber wie gesagt, verliebte Blicke waren das Äußerste, wozu ich mich während der ganzen Reise hinreißen ließ.
Nein, stimmt nicht. In meiner sagenhaften Gefühlsverwirrung versuchte ich mit Amina anzubandeln. Das geschah am dritten Tag, an jenem 21. Februar. Wir besichtigten zuerst die Stufenpyramide nahe Memphis und fuhren dann weiter bis zu einer Ansammlung hochnäsiger Kamele. Auf denen wollten wir, je zwei auf einem Kamel, durch die Wüste zum Serapeum reiten, einem unterirdischen Heiligtum aus der griechisch-römischen Epoche. Dabei kam es übrigens zu einer peinlichen Situation. Eine meiner lieben Damen hätte es allem Anschein nach liebend gern gesehen, wenn ich mit ihr auf ein Kamel gestiegen wäre. Das ging aber nicht. Ich wollte, ich musste natürlich mit Amina reiten.
Diese unverhoffte Zweisamkeit mit Amina nutzte ich sofort, um mit ihr anzubandeln. Mittlerweile war ich überzeugt, dass sie darauf nur wartete. Wer beschreibt darum meine Enttäuschung, als sie mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie davon nichts wissen wolle. Umso dankbar war ich jener einen lieben Dame, als sie sich nach dem Ende des Kamelritts an mich heranpirschte und mit besorgter Stimme fragte, wieso ich denn so trübsinnig dreinschaue. Spontan versprach ich ihr, das nächste Mal mit ihr zu reiten.
Als ich am Abend Amina gute Nacht wünschen wollte, überraschte sie mich mit der Bitte um Verzeihung. Sie habe mich wohl vor den Kopf gestoßen. Aber das habe sein müssen, weil sie sich nicht unnötigen Gefahren aussetzen wolle. In Ägypten sei es für eine Frau gefährlich, sich mit einem Mann einzulassen. Sie riskiere, von ihrer eigenen Familie getötet zu werden. Nur so könne deren Ehre wiederhergestellt werden.
Wie schafft man es, eine solche Gefühlsverwirrung für sich zu behalten? Ich schaffte es nicht. Ich lechzte nach einer Möglichkeit, das Geheimnis einem Menschen anzuvertrauen und nicht einem Erdloch wie der Friseur von König Midas. Dieser wusste ja als Einziger von dessen Eselsohren und war nahe daran zu platzen, weil er es keinem Menschen erzählen durfte. Was tat er also? Er grub ein Loch, flüsterte sein Geheimnis hinein und schaufelte es wieder zu. Aber daraus wuchs Schilf hervor, und dieses flüsterte im Wind: „König Midas hat Eselsohren.“ Nein, mich verlangte nach einem Menschen, einer Vertrauensperson, mit der ich mein Geheimnis teilen konnte, nicht erst daheim, nach der Reise, sondern jetzt, sofort, während das Feuer hell loderte. Eine solche Vertrauensperson hatte ich doch in meiner Reisegruppe. Es war eben jene liebe Dame, die es liebend gern gesehen hätte, wenn ich mit ihr auf ein Kamel gestiegen wäre.
Wie war es zu diesem Vertrauensverhältnis gekommen? Ich wüsste es nicht mit Sicherheit zu sagen. Fest steht, dass sie gleich am ersten Tag meiner Hilfe und meines Trostes bedurfte.
Wir hatten soeben unser Hotel bezogen, das traditionsreiche und luxuriöse Mena House Hotel nahe den Pyramiden von Gizeh. In ihm hatten schon Berühmtheiten wie Churchill, Richard Nixon, Jimmy Carter, der persische Schah residiert, desgleichen Künstler wie Agatha Christie, Evelyn Waugh, Charlie Chaplin, Frank Sinatra.
Nach der Schlüsselverteilung hatte ich mit Amina das Programm besprochen und war gerade auf der Suche nach meinem eigenen Zimmer, da entdeckte ich besagte liebe Dame. Sie stand mitten auf dem Gang, war völlig aufgelöst. Und ich brauchte auch gar nicht erst zu fragen, weshalb. Von weitem schon rief sie mir ganz aufgeregt zu, sie warte noch immer auf ihren Koffer und mache sich schon solche Sorgen.
„Ha, das haben wir gleich“, rief ich zurück, versicherte ihr, zu Sorgen bestehe kein Anlass, vertraute ihr meinen eigenen Koffer an und sauste davon, zurück in die Lobby. Dort war ihr Koffer nicht zu finden. Hierauf durchstreifte ich die Korridore der einzelnen Stockwerke. Und ja, in einer dunklen Ecke stand er einsam und verlassen und wartete darauf, wieder mit seiner Herrin vereint zu werden. Der Name stimmte: Eva Beier, Schwaz in Tirol.
Seine Herrin selbst dankte mir überschwänglich und machte es sich von da an zur Gewohnheit, mir bei den Mahlzeiten einen Sitzplatz zu reservieren, natürlich neben dem ihren. Sie hatte rasch erkannt, dass ein Reiseleiter nicht immer rechtzeitig zum Essen erscheinen kann. Und dafür war wieder ich ihr dankbar und bot ihr kurz nach dem verunglückten Kamelritt das Du-Wort an.
Nach dem Kamelritt hieß der nächste Programmpunkt Mittagessen in einem lauschigen Gastgarten.
Zwei Plätze hatte Frau Beier neben sich reserviert, einen für Amina, einen für mich. Ausgerechnet sie, der ich eben erst eine herbe Enttäuschung bereitet hatte.
Dies bereute ich nun noch heftiger. Ich hob mein Glas und bot ihr das Du-Wort an. Sie schenkte mir ein süßes Lächeln, hob ihr Glas und sagte: „Ich heiße Eva“, und ich sagte: „Ich heiße Stefan.“ Es folgte die Zeremonie des Bruderschaftstrinkens und des Bruderschaftsküssens. Und ich muss sagen, ihr Kuss fühlte sich alles andere als kühl an.
Amina, das blieb mir nicht verborgen, schaute uns bei alledem mit offenem Munde zu und machte Augen, als würde sie rituelle Tänze irgendwelcher Eingeborenen miterleben. Trotzdem wagte ich es nicht, ihr dieselbe Frage zu stellen. Erstens waren wir ja schon per du. Zweitens stand ich noch immer unter dem Schock ihrer Zurückweisung. Drittens trank sie als Muslimin Wasser. Und viertens scheute ich davor zurück, sie zu küssen, und dies, obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht hätte.
Ja, und jetzt kommt das mit dem Bedürfnis, mein Geheimnis mit einer Vertrauensperson zu teilen.
Nun denn. Abendessen im Restaurant des Mena House Hotel. Ich durfte wieder neben Eva sitzen, nicht aber neben Amina. Amina wohnte ja in Kairo und war natürlich nach Hause gefahren. Und da fragte mich Eva unverhofft, ob sie mich nachher in die Hotelbar einladen dürfe.
„O ja, gern“, sagte ich. „Und lieben Dank dafür. Das ist eine gute Idee. Nur, einladen werde selbstverständlich ich dich.“
Und darüber fühlte sie sich, glaube ich, sehr geschmeichelt.
Ihre Einladung erwies sich übrigens sogar als ganz hervorragende Idee. Denn durch die riesigen Glaswände der Bar hatte man einen phantastischen Blick auf die Pyramiden, und der ließ mich sofort wieder an Amina denken. Ja, das Feuer brannte lichterloh und machte meinen Kopf glühen und löste mir die Zunge. Ebenso natürlich der starke ägyptische Rotwein (ja, so was gibt’s tatsächlich), den wir tranken.
„Du, Eva“, begann ich unvermittelt. „Ich muss dir was gestehen.“
„Ja?“, erwiderte sie. Und es klang ausgesprochen erwartungsvoll.
„Du, ich bin ja so verliebt.“ Und dazu seufzte ich.
Ich merkte, wie sie den Atem anhielt und darauf wartete, wen ich wohl als Objekt meiner Begierde nennen würde.
„Errätst du’s, in wen?“
Sie schwieg, blickte mich fragend an.
„In Amina.“
Eva schnappte hörbar nach Luft. Dann sagte sie mit gedämpfter Stimme: „Kann ich gut verstehen. Bei dem Charme, den sie ausstrahlt. Nur, warum lädst du dann mich in die Bar ein und nicht sie?“
„Weil ... Na ja, weil ich’s eben äußerst angenehm finde, mit dir zu plaudern. Weil ich dir alles erzählen kann. Weil ich das Gefühl habe, vor dir keine Geheimnisse haben zu müssen.“
„Das ist sehr schön. Aber ist das der wahre Grund?“
Nein, das war natürlich nicht der wahre Grund. Also verriet ich ihr auch ihn.
War sie jetzt beleidigt? Oh, im Gegenteil. Und sie begann sogleich mein Loblied zu singen: Mit welchem Vergnügen sie immer meinen Vorträgen zuhöre, und was für eine angenehme Mikrophonstimme ich hätte, und dergleichen mehr. Mir schwirrte der Kopf vor so viel Lobpreis, und ich begann mich zu fragen, ob das alles nicht eine heimliche Liebeserklärung war und ob ich sie nicht in Wirklichkeit bitter enttäuscht hatte, als ich ihr gestand, in Amina „so verliebt“ zu sein, ob sie nicht etwa im Stillen erwartet hatte, dass ich sagen würde, ich sei in sie, die Eva, so verliebt.
Als ich ihr vor ihrer Zimmertür Gute Nacht wünschte, stellte sie sich unverhofft auf die Zehenspitzen und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Und auch der war alles andere als kühl.
Wie hätte ich auch in meiner Schwärmerei für Amina ahnen können, dass nicht sie, sondern Eva meine große Liebe werden sollte?
Texte: Karl Plepelits
Cover: Von Paul Mannix - The view out of our hotel window, Giza, EgyptUploaded by Ekabhishek, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10722214
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2021
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