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Intro im Bett

 

Eng umschlungen, sinkt das junge Liebespaar aufs Bett nieder und gibt sich dem Liebesrausch und der Fleischeslust hin, um sich in das Paradies des höchsten dem Menschen erreichbaren Glücks katapultieren zu lassen. Und sie sind gerade „voll in Fahrt“, da hören sie die Hausglocke läuten, schenken ihr aber natürlich null Beachtung. Doch nur wenige Augenblicke später klopft es zu ihrer Bestürzung energisch an der Zimmertür, und ehe noch der junge Kavalier dazu kommt, zu rufen, Augenblick, ich komme gleich, da wird sie auch schon aufgestoßen, und die Besucher stampfen geräuschvoll herein.

Sind die gerade „voll in Fahrt“ befindlichen, aber noch lange nicht vollendeten Liebesfreuden nun gestorben, abgewürgt, zu Ende? Klar, was sonst. Aber so eine Gemeinheit auch! Wer untersteht sich ...

Der Kavalier blickt sich um. Ha, da steht ja eine ganze Kompanie grimmig blickender, nein, hämisch grinsender Gendarmen vor ihnen. Ihm liegt schon auf der Zunge, empört auszurufen: He, was soll denn das? Was fällt Ihnen ein, ein friedliches Liebespaar so brutal zu überfallen? Aber die glotzen nur schweigend und hämisch grinsend auf sie hinunter. Und da bleibt ihm der Protest im Hals stecken, und ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich, nicht ohne Überwindung, vorsichtig von seiner Partnerin zu lösen und sich aufzurichten.

Endlich bringt der Vorderste in der Kompanie den Mund auf und entschuldigt sich nicht bei ihm, sondern bei der „entzückenden jungen Dame“ für die Störung. Danach erst wendet er sich zu ihm und gibt ihm in unnötig barschem Ton zu verstehen, er sei verhaftet. Er stehe unter Mordverdacht.

 

 

Vorspiel auf dem Bahnsteig

 

„Ja, da schau her! Na, das ist aber eine tolle Überraschung.“

Ich steige aus dem Zug, und wer steht da auf dem Bahnsteig und blickt suchend um sich? Die Augusta mit dem Engelsgesicht und dem goldenen Engelshaar!

Wartet sie auf mich?

Ja! Ja! Mit strahlendem Lächeln eilt sie auf mich zu, bremst vor mir jäh ab und ruft mir fröhlich zu: „Servus, Georg! Da bist du ja.“

Worauf ich so gerührt bin, dass ich mein Reisegepäck fallen lasse, ihre Schultern umfasse und sie spontan auf den Mund küsse.

Ja, so bin ich halt. Leider. Gar zu oft lasse ich mich von meinem Überschwang zu Dingen hinreißen, die ich danach sofort bereue. So auch dieses eine Mal. Ich kann nur hoffen, dass ich der Augusta jetzt nicht zu nahe getreten bin. Dass sie sich jetzt nicht entrüstet abwendet. Schließlich kennen wir uns erst seit kurzer Zeit. Und geküsst haben wir uns überhaupt noch nie.

Nein, gottlob, zu nahe getreten bin ich ihr, so wie’s aussieht, doch nicht. Sie wirkt in keiner Weise entrüstet, wendet sich nicht ab, strahlt mich im Gegenteil an wie die liebe Sonne, die sich gerade anschickt, sich hinter dem Ardetzenberg im Westen schlafen zu legen. Aber sie bleibt stumm (Augusta, nicht die liebe Sonne). Habe ich ihr mit meinem spontanen Küsschen die Sprechorgane lahmgelegt?

„Wolltest du wirklich mich abholen?“, sage ich nach einer kurzen Verlegenheitspause. „Weil ich dir geschrieben habe, dass ich heute mit diesem Zug zurückkomme?“

Ah, Gott sei Dank. Sie funktionieren ja doch noch, ihre Sprechorgane.

„Aber ja, sicher“, flötet Augusta. „Wo wir uns doch jetzt so lange nicht gesehen haben. Übrigens, danke für den Brief aus Melk und die Postkarte aus Wien. Darüber habe ich mich nämlich sehr gefreut.“

„Ja, richtig. Und ich darf mich für deine wunderschöne Karte aus Feldkirch bedanken. Und? Wirst du mich jetzt ein Stück begleiten? Darüber würde ich mich nämlich mordsmäßig freuen.“

„Mordsmäßig?“, echot Augusta und wird zu meiner Verblüffung rot wie die untergehende Sonne. Dann sagt sie rasch: „Aber ja. Falls du nichts dagegen hast. Und falls es dir nicht unangenehm ist.“

„Aber, aber. Warum sollte es mir denn unangenehm sein?“

„Na, wenn uns zum Beispiel zufällig die Korinna entgegenkommt.“

„Aber wo denkst du hin.“

Augusta und Korinna habe ich vor knapp zwei Monaten gleichzeitig kennengelernt, musste aber zu meinem Bedauern bald danach verreisen. Umso mehr freue ich mich darüber, dass mich Augusta jetzt von der Bahn abgeholt hat und mich sogar begleiten will. Bin schon gespannt, wie weit. Soll ich sie einfach fragen? Nein, das traue ich mich jetzt nicht. Es wäre vielleicht gar zu indiskret, gerade nach dem spontanen Kuss soeben. Ich werde es schon noch rechtzeitig erfahren.

Unterdessen haben wir uns längst in Bewegung gesetzt und den Bahnhofsbereich hinter uns gelassen, und Augusta bleibt getreulich an meiner Seite, hilft mir, mein Gepäck zu tragen, und erzählt mir, was sie alles in der Zeit meiner Abwesenheit getrieben und erlebt hat. Sie bleibt an meiner Seite, bis wir vor der Gartentür der Villa stehen, in der ich seit neuestem in einem Untermietzimmerchen hause. Und nun? Ja, nun ist die möglicherweise gar zu indiskrete Frage unvermeidlich: „Kommst du noch auf einen Sprung mit hinein?“

Und was erwidert Augusta?

„O ja, gern, wenn’s dir nichts ausmacht. Falls du nicht zu erschöpft bist von der langen Bahnfahrt. Damit ich sehen kann, wie du jetzt untergebracht bist.“

Und dazu lächelt sie mich süß an.

(In meinem früheren Untermietzimmer hat sie mich nämlich auch des Öfteren besucht. Ebenso Korinna.)

Also treten wir gemeinsam ein und begrüßen als Erstes die Frau Hämmerle, meine Vermieterin, eine betagte Witwe. Sie hat mich ja jetzt weit über einen Monat nicht gesehen. Ich stelle ihr Augusta als „liebe Bekannte“ vor, „die mich liebenswürdigerweise von der Bahn abgeholt hat“, und ziehe mich dann mit meiner „lieben Bekannten“ rasch in mein Zimmerchen zurück.

Dort angelangt, lasse ich wie am Bahnhof mein Gepäck fallen, trete vor Augusta hin, lege ihr meine Hände auf die Schultern und beginne mit zerknirschter Miene (und innerlich voll froher Erwartung): „Du, Augusta, ich muss mich wirklich entschuldigen für meinen Übergriff am Bahnhof. Aber weißt du, ich habe mich halt so gefreut, dich zu sehen. Und die Freude hat mich dermaßen überwältigt ... Na ja, da musste ich dich einfach küssen. Das war wie ein innerer Zwang. Und jetzt freue ich mich so mordsmäßig, dass du mich begleitet ...“

Ich verstumme mitten im Satz. Augusta errötet erneut, sagt aber nichts, strahlt mich nur an.

Und das macht mir Mut. „Weißt du, was? Es drängt mich, dich einfach noch einmal zu küssen.“

Und sie? Sie wirkt weder erschrocken noch entrüstet, weist mich nicht zurück, läuft mir nicht davon, sondern strahlt mich weiterhin an (genau, wie die liebe Sonne, die sich allerdings inzwischen vollends verabschiedet hat). Also küsse ich sie „einfach noch einmal“ – nur, alles andere als spontan. Und, vor allem, alles andere als flüchtig.

Ohne zu zögern, erwidert Augusta meinen Kuss. Und da werfe ich voller Entzücken meine Arme um sie, drücke sie an mich und küsse sie erneut und wie berauscht und beginne wie berauscht ihren Rücken und ihren süßen Po zu streicheln. Und da ich weiterhin auf keinerlei Widerstand stoße, und da ich spüre, wie auch sie allmählich quasi berauscht wird, werden meine Hände plötzlich von der Lust übermannt, nicht nur ihre Kleidung, sondern auch ihre Haut zu spüren und zu liebkosen. Und ich beginne sie, die Kleidung, langsam und behutsam zu entfernen.

Und was tut Augusta? Langsam und behutsam entfernt sie ihrerseits meine Kleidung. Schließlich stehen wir uns gegenüber, wie Gott oder die Natur uns geschaffen hat. Nun steigt unser beider Berauschung ins Unermessliche. Denn auch Augusta ist unterdessen „mordsmäßig“ berauscht, das ist deutlich genug zu sehen und zu spüren. Eng umschlungen und uns unentwegt küssend, sinken wir, quasi in einem Stück, auf mein schmales Bett nieder und geben uns wie von Sinnen dem Liebesrausch und der süßen Fleischeslust hin, um uns in das Paradies des höchsten dem Menschen erreichbaren Glücks katapultieren zu lassen, nicht ahnend, dass das Schicksal sich soeben bereit macht, uns in die Tiefen menschlichen Unglücks zu katapultieren.

Wir sind gerade, wie es so schön heißt, „voll in Fahrt“, da hören wir die Hausglocke läuten, schenken ihr aber klarerweise null Beachtung. Doch nur wenige Augenblicke später klopft es zu unserer Bestürzung energisch an der Tür meines Zimmers, und ehe ich noch dazu komme, herein zu rufen, nein, natürlich zu rufen, Augenblick, ich komme gleich, da höre ich auch schon, wie sie aufgestoßen wird und wie unsere Besucher geräuschvoll hereinstiefeln.

Unser gerade „voll in Fahrt“ befindlicher Liebesrausch ist damit gestorben, abgewürgt, zu Ende. Verstört, verärgert, angewidert blicke ich mich um. Ha, da steht ja eine ganze Kompanie grimmig blickender, nein, hämisch grinsender Gendarmen vor uns. Mir liegt schon der empörte Ausruf auf der Zunge: He, was soll denn das? So eine Niedertracht! Was fällt ihnen ein, ein friedliches Liebespaar brutal zu überfallen und sich als Voyeure zu betätigen? Aber dann sehe ich, dass sie uns nur schweigend (und hämisch grinsend) anglotzen. Eben: Wie richtige Voyeure. Trotzdem, es ist die Polizei, die Gendarmerie. Und da bleibt mir der Protest im Hals stecken, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich mit größter Überwindung vorsichtig von Augusta zu lösen und mich aufzurichten.

Endlich bringt der Vorderste in der Kompanie, offenbar der Kapo, den Mund auf und entschuldigt sich nicht bei mir, sondern bei der „entzückenden jungen Dame“ für die Störung. Danach erst wendet er sich zu mir und sagt in unnötig barschem Ton: „Stehen Sie sofort auf und ziehen Sie sich was an, aber dalli! Und kommen Sie mit.“

„Ja, wieso denn, um Himmels willen?“, murmle ich in angemessen demütigem Ton. „Was ist denn überhaupt los?“

„Was los ist, fragen Sie? Sie stehen unter Mordverdacht. Das ist los. Und Sie sind verhaftet.“

Höre ich recht? Oder träume ich? Mordverdacht? Verhaftet? Steht die Welt noch?

Vor Bestürzung bin ich wie gelähmt. Ich kann den Kapo nur fassungslos anstarren. Wie soll auch ein Mensch ein derart bestürzendes Geschehen sofort erfassen? Wie soll eine derart erschreckende, unbegreifliche Mitteilung in Sekundenschnelle den Weg ins Hirnkastl finden? Ist es unter solchen Umständen nicht nur natürlich, dass man eine „lange Leitung“ hat?

Augustas „Leitung“ ist bei weitem nicht so lang. Zwar betrifft sie diese unangenehme Angelegenheit ja überhaupt nicht, oder sagen wir, nur halb. Schließlich ist sie um einen schönen Orgasmus umgefallen und zugleich als Person mit eher fragwürdiger Moral entlarvt. Trotzdem ist bei ihr der Weg ins Hirnkastl bedeutend kürzer als bei mir. Ihr Entsetzensschrei kommt augenblicklich. Gleichzeitig bricht sie in Tränen aus, und ihr doch eben noch herrlich rosiges Engelsgesicht wird zuerst totenbleich und verwandelt sich im nächsten Moment zu meiner zusätzlichen Bestürzung in eine feuerrote Teufelsfratze.

(Entschuldige den Ausdruck, Liebste, sage ich in Gedanken zu ihr. Aber dein sonst so süßes Gesichtchen erinnert mich im Moment wirklich an ein Teufelchen.)

Nun gut, irgendwann ist diese unbegreifliche Mitteilung auch in meinem Hirnkastl angekommen, und meine Lähmung legt sich. Entsetzensschrei entkommt mir zwar keiner. Aber dafür die wenig respektvolle Frage, ob sich die Herren nicht in der Adresse geirrt hätten, oder wie sie auf die absonderliche Idee kämen, mich eines Mordes zu verdächtigen und verhaften zu wollen.

Antwort: Ob ich nicht Herr Georg Holly sei, geboren am ... und so weiter.

Hm, diese Daten treffen alle auf mich zu. Wie gibt’s denn so was?

„Ja, doch, das bin ich. Aber wieso ...“

„Dann stehen Sie bitte auf, ziehen Sie sich an und kommen Sie mit. Aber bitte schön, ein bisschen dalli.“

 

 

Prolog auf dem Kirchenchor

 

Dieses zunächst so vielversprechende und zuletzt so peinliche und bestürzende Geschehen ereignete sich vor unvorstellbar langer Zeit, nämlich am Samstag, dem 17. August 1963, im schönen Vorarlberger Schulstädtle Feldkirch. In einer der Feldkircher Schulen, dem Jesuitenkolleg Stella Matutina, unterrichtete ich seit Anfang des Jahres Englisch, Griechisch und Latein. Es war meine erste Anstellung überhaupt. Ja, damals war ich noch ein Jüngling mit lockigem Haar, an Mut und an Hoffnungen reich (wie der alte Waffenschmied in der gleichnamigen Oper von Albert Lortzing singt). Zumindest sah ich noch fast aus wie ein Jüngling. Wegen meines jugendlichen Aussehens hielten mich viele Feldkircher tatsächlich für einen Schüler der höheren Klassen, einen sogenannten „Stellaner“.

Und warum hatte ich diese erste Anstellung ausgerechnet zum Jahreswechsel, also mitten im Schuljahr, angetreten?

Nun, irgendwann während der Sommerferien 1962, ich war bereits ein sogenanntes höheres Semester an der Wiener Uni und schrieb gerade eifrig an meiner Dissertation, da kam ein Studienkollege namens Pater Szelényi, ein bereits geweihter Jesuitenpater von der Stella Matutina, schnurstracks auf meinen mit Büchern, dem sogenannten „Apparat“, vollgeräumten Arbeitsplatz zu und überraschte mich mit einer „heiklen Frage“; so sagte er. Er sei von seinem Direktor in Feldkirch beauftragt worden, nach Kommilitonen zu suchen, die bereit und imstande wären, zu Beginn des neuen Schuljahres im September als Junglehrer an die Stella Matutina zu gehen, um dem zurzeit in Vorarlberg herrschenden Lehrermangel abzuhelfen.

War ich dazu bereit? Nein, völlig ausgeschlossen. Auf gar keinen Fall. Bis zum Schulbeginn würde ich nie mit meiner Dissertation fertig. Und dass ich das nur hier an der Uni in Wien erledigen kann, wisse er ja selbst am besten.

Und so musste Pater Szelényi nach einem anderen Opfer suchen.

Offenbar hatte er mit seiner Werbeaktion nicht gerade viel Erfolg. Denn ein paar Wochen später wandte er sich mit derselben Frage neuerlich an mich. Und da sagte ich (zu meiner eigenen Überraschung) nicht sofort, nein, ausgeschlossen, sondern: „Nein, September geht auf gar keinen Fall. Allerdings, bis Weihnachten müsste ich nach menschlichem Ermessen mit meiner Dissertation fertig sein. Und danach ginge es eventuell. Falls Ihr Direktor damit einverstanden wäre ...“

Und siehe da, nur wenige Tage später erhielt ich von diesem einen Brief, in dem er seine große Freude ausdrückte, dass ich zum Jahreswechsel an die Stella Matutina kommen wolle, um zu unterrichten. Ein Untermietzimmer werde man für mich bereitstellen. Vom Bahnhof werde man mich abholen. Und mittagessen könne ich immer in ihrem Kolleg. Denn die Stella Matutina sei nicht nur eine Internatsschule, sondern zugleich eine Jesuitenkommunität.

(Kommunität nennen die Jesuiten, was andere Mönchsorden Kloster nennen. Das wurde mir damals klar.)

Also gut, die Schicksalsgötter hatten entschieden. Doch gleichzeitig hatten sie offenbar auch entschieden, dass ich mich ein Jahr später, am Abend des 17. August 1963, unter dem Vorwurf, einen Mord begangen zu haben, verhaften lassen musste. Und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo ein überaus hübsches und überaus williges Mädchen wie berauscht mit mir im Bett lag und meinem Gefühl nach bereits auf den Höhepunkt zu steuerte und dann doch auf ihn verzichten musste (wie natürlich auch ich selber).

Aber zurück ins Jahr 1962. Es gelang mir tatsächlich, die Arbeiten an meiner Dissertation, wie geplant und wie erhofft, knapp vor Weihnachten abzuschließen. Und für die diversen Prüfungen, die mir noch fehlten, musste ich halt im Laufe der nächsten Jahre jedes Mal die weite Fahrt nach Wien antreten. Aber dabei konnte ich wenigstens immer meine Familie und meine alten Freundinnen in Wien und in Melk besuchen.

Melk, jenes für sein berühmtes Benediktinerstift bekannte Städtchen in Niederösterreich, liegt ja an der Westbahnstrecke. Das einzige Problem bestand darin, dass ich umsteigen musste. Im Gegensatz zu Feldkirch war Melk keine Schnellzugsstation (und ist es auch heute nicht).

Am 4. Jänner 1963, einem Freitag, nahm ich also Abschied von Melk und übersiedelte gewissermaßen ans Ende der Welt. Feldkirch liegt ja an der Grenze zur Schweiz und zum Fürstentum Liechtenstein und rühmt sich, die westlichste Stadt Österreichs zu sein. Übrigens ist es kein Zufall, dass die Stella Matutina, eine Internatsschule, ausgerechnet hier angesiedelt war. Sie wurde ja von der Schweizer Jesuitenprovinz geleitet. (Pater Szelényi ist zwar Ungar und flüchtete während des Ungarnaufstands 1956 wie viele Tausende seiner Landsleute nach Österreich. Wieso er bei den Schweizer Jesuiten gelandet ist, entzieht sich meiner Kenntnis.) 1847 waren die Jesuiten aus der Schweiz vertrieben worden und hatten jenseits der Grenze in Feldkirch ein neues Kolleg unter dem Namen Stella Matutina gegründet. (Mittlerweile haben sie es bedauerlicherweise geschlossen.)

Und nun verschlug es also auch mich dorthin. Nach ewig langer Fahrt durch tiefverschneite Gebirgslandschaften stieg ich im ebenfalls tiefverschneiten Feldkirch aus dem Zug und sah mich unverhofft einem Herrn in Soutane gegenüber, der sich als Bruder Wettenschwiler vorstellte. Er begrüßte mich als „Herr Professor Holly“ (für mich ein absolutes Novum; es riss mich richtiggehend von den Socken). Hierauf verfrachtete er mich in ein Automobil und chauffierte mich schnurstracks in die Stella Matutina, wo ich zunächst einmal durch eine schmackhafte Labung vor dem drohenden Hungertod gerettet wurde. Danach fuhr er mich in mein zukünftiges Zuhause.

Dieses entpuppte sich als schmucke Villa auf einem Steilhang des Ardetzenberges oberhalb einer Schlucht der Ill. (Diese mündet wenige Kilometer weiter flussabwärts in den Rhein, der die Grenze zur Schweiz bildet.) Hier empfingen mich die Hauseigentümer, meine zukünftigen Zimmerwirte, ein altes, na gut, ein älteres Ehepaar namens Floquet, und wiesen mich in das für mich vorgesehene Zimmer ein. Früher, so erklärten sie mir, sei es das Kinderzimmer ihrer Tochter gewesen. Aber die sei inzwischen ausgezogen – warum oder wohin, verrieten sie mir nicht –, und daher stehe es von jetzt an mir zur Verfügung. Und sie wünschten mir nicht nur viel Freude mit meinem neuen Domizil, sondern erteilten mir auch gleich eine Lektion über die Eigenheiten, durch die sich Vorarlberg angeblich von „Innerösterreich“, soll heißen, von allen anderen Bundesländern, unterscheidet. Und das betrifft nicht nur den Dialekt (der sich für mich zunächst als völlig unverständlich erweisen sollte), sondern noch manch anderes wie zum Beispiel den Einfluss der katholischen Kirche und die Macht von Moral, Sparsamkeit und Arbeitsfleiß. Und zu diesem Thema gebe es ein nettes Sprüchlein: „Schaffa, spära, husa, d‘Katz vrkofa, sealbr musa.“ Auf Hochdeutsch bedeutet das so viel wie „Arbeiten, sparen, haushalten, Katze verkaufen, selber Mäuse fangen.“ Und noch etwas zum Thema Moral: Der aktuelle Modetanz Twist sei in Vorarlberg verboten. Denn er verführe zur Unmoral.

Dass der Twist verboten war, konnte ich bei meinen Ballbesuchen nicht bestätigen. Denn natürlich ging ich in der mittlerweile ausgebrochenen Faschingssaison fleißig tanzen, allein oder auch mit Kollegen. Übrigens sagt man hierzulande nicht Fasching, sondern Fastnacht.

Also: Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass in Vorarlberg mit einer Begeisterung sondergleichen Twist getanzt wird. Und o Wunder, alle beherrschten ihn perfekt.

Eine meiner Tanzpartnerinnen klärte mich auf: Gerade weil er verboten war, erfreue er sich so großer Beliebtheit. Verbotenes übe ja stets einen besonderen Reiz aus. Erst zu Beginn der diesjährigen Faschingssaison sei dieses irrwitzige Verbot aufgehoben worden.

Apropos Kollegen. Zugleich apropos Verbotenes. Streng verboten oder zumindest absolut verpönt war, so schien es jedenfalls, das weibliche Geschlecht in der Stella Matutina. Sie hatte zwar einen weiblichen Namen, nämlich einen der Beinamen der heiligen Maria (er bedeutet „Morgenstern“), glich freilich einem reinen Männerbund. Und das bedeutet: Es gab weder Kolleginnen noch auch Schülerinnen. Und schon gar nicht gab es Jesuitinnen.

Trotzdem lernte ich in kurzer Zeit erstaunliche viele junge Frauen kennen, nicht nur als Folge meiner Ballbesuche. Der Pater Minister, so sein Titel (der besagt, dass sein Träger für alle praktischen und organisatorischen Angelegenheit der Kommunität zuständig ist); sein richtiger Name war Pater Hürlimann ... Also noch einmal von vorn: Der Pater Minister fungierte als Leiter und Dirigent des Feldkircher Kirchenchores. Nun war ich als ehemaliger Melker Sängerknabe seit undenklichen Zeiten gewohnt, in einem Kirchenchor zu singen (ursprünglich zu dem Zweck, meinen Eltern das Schulgeld für das Melker Stiftsgymnasium zu ersparen). Und daher ließ ich mich vom Pater Minister sehr gern anwerben. Als alter Chorsänger fand ich nämlich Gottesdienste ohne die Möglichkeit, zu singen und gleichzeitig mit den Mitsängern und Mitsängerinnen leise zu plaudern, bei aller Frömmigkeit stets zum Davonlaufen langweilig.

Und was tut man als Chorsänger üblicherweise nach den Gottesdiensten und auch nach den Chorproben unter der Woche? Natürlich, man wandert gemeinsam ins nächste Café oder Gasthaus und leert dort ein Gläschen Wein oder ein Krügerl Bier und begleitet danach vielleicht auch noch eine der Mitsängerinnen nach Hause – gehört sich doch für einen Kavalier, nicht wahr? Und ich muss zugeben, dass der Feldkircher Kirchenchor eine ungewöhnlich reichhaltige Sammlung ungewöhnlich hübscher und netter junger Damen enthielt. Zudem wurden ihrer, je mehr Zeit verstrich, immer mehr.

Irgendwann im Juni wurde besagte Sammlung am selben Tag durch zwei neue Sängerinnen vermehrt, eine hübscher und netter als die andere. Sie waren offensichtlich gute Freundinnen. Die eine hieß Augusta und hatte ein Gesicht und Haare wie ein Engel des Herrn, war allerdings ein kleines bisschen mollig, was ihr Engelsgesicht vielleicht nur noch besser zur Geltung brachte. Die andere hieß Korinna, hatte einen süßen kupfernen Haarschopf wie ich und war gertenschlank, hatte dafür aber ein nicht ganz so süßes Engelsgesicht wie Augusta. Bezaubert war ich von beiden. Total bezaubert. Aber auch sie erweckten den Anschein, als fänden sie an mir Gefallen, und ließen sich von mir sehr gern in ein Kaffehaus oder einen Gastgarten und zu Spaziergängen einladen. Und wenn die Spaziergänge über den Ardetzenberg führten, an dessen Abhang die Floquetsche Villa liegt, so lag es nahe, sie zum Abschluss noch zu mir in mein Untermietzimmer einzuladen.

Jetzt hatte ich freilich ein Problem: Welcher von den beiden sollte ich im Ernst meine Gunst schenken? Denn so bezaubert war ich von ihnen, dass ich bereits ans Heiraten dachte.

(Heiraten – das war damals ja noch allgemeine Sitte, nicht nur in Vorarlberg. Verliebten sich zwei junge Leute, so verstand es sich von selbst, dass man sofort ans Heiraten dachte. Tatsächlich lebten wir damals noch im tiefsten Mittelalter. Allgemein bekannt war auch der Brauch oder vielmehr das nur allzu häufige Schicksal des „Heiraten-Müssens“.)

Entscheiden konnte ich mich vorläufig nicht und musste es wohl auch nicht. Denn jetzt begannen ja bald die großen Ferien, und die würde ich aus verschiedenen Gründen zum Teil in Melk und in Wien verbringen. Das war schon längst fixiert.

Kurz vor meiner Abreise aus Feldkirch tauchte unversehens ein weiteres Problem auf. Der Herr Floquet teilte mir zu meiner Bestürzung beim gemeinsamen Frühstück mit, seine Tochter sei erkrankt und komme deshalb in ihr Elternhaus zurück und benötige wieder ihr altes Zimmer.

Also musste ich mich gar rasch auf Herbergssuche begeben. Dies stellte sich als unerwartet schwierig heraus. Als ich vor lauter Misserfolgen schon ganz verzweifelt war, erzählte ich dem Pater Direktor von meiner vergeblichen Suche. Und das war mein Glück. Denn er wusste Rat. Er schickte mich zur Frau Hämmerle, einer alten Dame, die allein eine Villa am Blasenberg bewohnte, das heißt, auf der anderen Seite der Illschlucht. Ich machte mich unverzüglich auf den Weg dorthin. Und hurra, hier konnte ich sofort einziehen – konkret, zum 1. Juli.

Erst viel später fiel mir ein, was der wahre Grund für meinen Rausschmiss aus meinem ersten Domizil gewesen sein mochte. Es ist natürlich nur ein Verdacht, und möglicherweise tue ich dem Herrn Floquet damit auch Unrecht. Aber unterdessen bin ich überzeugt, dass sich irgendjemand an meinen wiederholten Damenbesuchen gestoßen hatte. Entweder war man wirklich „moralisch entrüstet“. Oder man fürchtete die böse Zunge eventueller missgünstiger Nachbarn: He, die Floquets lassen zu, dass dieser verkommene Bursche aus Innerösterreich leichtfertige Weiber mit aufs Zimmer nimmt. Dabei, ich schwör’s, war mit Korinna und Augusta im Haus der Floquets nie etwas „Unmoralisches“ vorgefallen. Nicht einmal Bruderschaftsküsse hatten wir getauscht. Wie gesagt, Augusta habe ich zum ersten Mal am 17. August am Feldkircher Bahnhof geküsst, und Korinna sowieso noch nie.

Aber wie gesagt, dieser Gedanke kam mir erst lange, nachdem mich Augusta in mein neues Untermietzimmer begleitet hatte und dort genau wie ich ganz unverhofft vom Liebesrausch übermannt worden war und dann noch bei weitem unverhoffter um ihren Orgasmus umgefallen war.

(Falls sie nicht heimlich längst auf einen solchen gehofft hatte. Hatte sie mich vielleicht in eben dieser Hoffnung vom Bahnhof abgeholt? War sie so sehr erpicht auf Fleischeslust? Und ich hatte es nicht geahnt, so wie ich nicht im Traum geahnt hatte, dass ich noch am selben Abend unter Mordverdacht verhaftet werden sollte? Aber auch dieser Gedanke kam mir erst viel später.)

 

 

1

 

Ja, da lag ich jetzt mit Augusta im Bett, beide splitternackt, ich mit noch immer erigiertem Schwanz, und beide trauerten wir im Stillen um die Liebesfreuden, um die uns diese Eindringlinge gebracht hatten. Und was hatten sie gesagt? Ich stünde unter Mordverdacht und sei verhaftet? Die sind wohl nicht ganz bei Trost, wie?

Nun gut. Allmählich begann es mir zu dämmern, dass sich die Herren Gendarmen – ich zählte drei Stück – so leicht nicht abwimmeln lassen würden, weder durch bloßes Wunschdenken noch durch Zauberei und auch nicht durch Leugnen jeglicher Schuld und schon gar nicht durch einen diskreten Hinweis auf die Peinlichkeit der Situation. Zögernd stieg ich also nolens volens aus dem Bett – und verdoppelte damit nur die Peinlichkeit. Denn nun präsentierte ich unseren hämisch grinsenden Besuchern naturgemäß meine ganze glorreiche Männlichkeit. Und dagegen konnte ich nichts anderes tun, als hektisch in meine Kleider fahren. Danach beugte ich mich zu Augusta hinab – sie heulte wie ein Schlosshund –, küsste sie, bat sie (unnötigerweise) um Verzeihung und riet ihr, einfach liegen zu bleiben. Ich sei garantiert bald wieder zurück. Mein Gewissen sei ja rein wie ein Gebirgsbach.

„Was ist jetzt also?“, sagte der Kapo, sobald ich mich mit missvergnügter Miene nach ihm umgewandt hatte. „Kommen Sie freiwillig mit? Oder wünscht der Herr, Handschellen angelegt zu kriegen?“

„Keine Angst, ich freue mich ja so, dass ich Sie begleiten darf“, brummte ich mit verhaltenem Sarkasmus. „Ich hoffe nur, dieses Affentheater ist bald vorbei.“

Trotz oder vielleicht gerade wegen meines Galgenhumors umringten mich die drei Herren, wie um zu verhindern, dass ich ihnen unverhofft entwische, geleiteten mich getreulich zu einem vor dem Haus wartenden Polizeifahrzeug und halfen mir wie einem gebrechlichen alten Herrn sorgsam in dessen Inneres. Während der Fahrt fiel es mir ein zu fragen, wieso sie sich ausgerechnet heute Abend auf mich gestürzt hätten. Ich sei ja eben erst aus Melk, meinem Heimatort, angekommen.

Die Antwort hätte ich mir denken können: Meine Zimmerwirtin habe sie freundlicherweise telefonisch von meiner Ankunft verständigt.

Nachdem meine Laune ohnedies bereits nahe dem Nullpunkt war, erbitterte mich diese Information zusätzlich so sehr, dass ich für den Rest der kurzen Autofahrt stumm blieb und nicht einmal auf die Idee kam zu fragen, wen ich ermordet haben sollte.

Die Antwort erfuhr ich erst auf dem Kommissariat, aber auch da erst, nachdem die bei solchen Amtshandlungen offenbar vorgeschriebenen vorbereitenden Zeremonien wie etwa die Abnahme meiner Fingerabdrücke erledigt waren.

Also: Das Mordopfer heiße Dr. Erwin Floquet und sei bis vor kurzem mein Vermieter gewesen, habe mir aber gekündigt. Und ich stehe im dringenden Verdacht, ihn ermordet zu haben. Sehr wahrscheinlich aus Rache.

„Wie? Was?“, rief ich maßlos bestürzt aus, als ich diese Schreckensnachricht hörte. „Der Herr Floquet ist tot, ermordet? Das ist ja grauenhaft. Wie ist denn das passiert? Ich meine, wie ist er denn ermordet worden? Und wo? Und wann?“

„Das fragen Sie uns?“, lautete die Antwort des Kapos, der die Einvernahme leitete.

„Ja, entschuldigen Sie, aber wen soll ich sonst fragen? Oder meinen Sie wirklich, ich müsste das am besten wissen, weil ich den Herrn Floquet umgebracht hätte?“

„Na, Herr Holly“, sagte einer der anderen Beamten, die andächtig meiner Vernehmung lauschten, „Sie sind

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Karl Plepelits
Cover: Von Pierre Narcisse Guérin (1774 – 1833): Klytaimnestra ermordet Agamemnon – Louvre, Paris [1], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28818918
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9656-5

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