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Die Cheops-Pyramide

 

„Schon die alten Griechen und Römer empfanden die ägyptische Kultur als uralt und blickten mit derselben Ehrfurcht auf sie wie wir heute.“

Also sprach Professor Pichler, unser Reiseleiter, während wir fasziniert den denkbar herrlichsten Anblick genossen. Und weil der Anblick so überwältigend ist, hat man auf einer freien Sandfläche Stühle aufgestellt wie im Theater.

„Wir stehen oder sitzen hier vor der Großen Sphinx von Gizeh, dahinter eines der Weltwunder der klassischen Antike, das einzige, das sich bis heute im Wesentlichen erhalten hat: die Pyramiden von Gizeh, auch genannt die Großen Pyramiden – rechts die größte, die des Cheops, in der Mitte die des Chephren und links, die kleinste, die des Mykerinos. Sie sind das Sinnbild des alten Ägypten, und die Faszination, die von ihnen ausgeht, ist bis auf den heutigen Tag ungebrochen.

Inschriften finden sich in ihnen keine, im Gegensatz zur kleinen Unas-Pyramide, in die wir heute schon, tief gebückt, eingedrungen sind. Und wir besitzen auch sonst keinerlei Aufzeichnungen, Pläne oder sonstige Mitteilungen aus dem alten Ägypten, die uns über Bau, Bestimmung und so weiter irgendwelche Aufschlüsse geben könnten.

Der älteste Bericht stammt von einem Fremden, der Ägypten im 5. Jh. v. Chr. bereist und seine eigenen Eindrücke sowie die Erzählungen der Priester sorgfältig aufgezeichnet hat. Es ist der griechische Forschungsreisende und Historiker Herodot. Cicero nennt ihn Vater der Geschichte (pater historiae) – gemeint ist: der Geschichtsschreibung. Sein ausführlicher Report über Ägypten, das ganze 2. Buch seiner neunbändigen Historien, ist eine spannende Lektüre und unentbehrlich für jeden, der sich ernsthaft mit dem alten Ägypten beschäftigt. Darin findet sich also der älteste Bericht über die Großen Pyramiden und der überhaupt einzige, der direkt auf altägyptische Quellen zurückgeht. Denn er steht in dem Teil von Herodots Ägyptenbuch, in dem er laut eigenen Angaben die Geschichte Ägyptens erzählt, so wie er sie von den ägyptischen Priestern gehört hat (Kapitel 124 bis 128).

Was den Wert von Herodots Mitteilungen betrifft, so sind die Ansichten der Fachleute über sie geteilt. Wir dürfen nicht vergessen, dass Herodot und seine ägyptischen Gewährsleute zeitlich 2000 Jahre von den Erbauern der Pyramiden entfernt waren, und müssen damit rechnen, dass schon damals keine schriftlichen Quellen existierten und alle diesbezüglichen Mitteilungen der Priester an Herodot sozusagen auf deren eigenem Mist gewachsen waren.

Und dies ist sein Bericht:

Nach diesem (Rhampsinitos), so berichteten sie (die Priester), wurde Cheops König der Ägypter. Und dieser stürzte sie ins tiefste Unglück. Er schloss nämlich alle Tempel und hielt sie zuallererst von den Opferfesten ab, und danach gab er Befehl, dass alle Ägypter für ihn arbeiten müssen. Die einen mussten aus den Steinbrüchen im Arabischen Gebirge die Steine bis zum Nil schleppen, und sobald die Steine auf Schiffen über den Fluss transportiert waren, mussten andere diese übernehmen und zum sogenannten Libyschen Gebirge schleppen. Es arbeiteten aber stets ungefähr hunderttausend Menschen jeweils eine Periode von drei Monaten lang. Zehn Jahre baute das Volk unter größten Strapazen allein an der Straße, auf der sie die Steine schleppten; dieses Bauvorhaben war meines Erachtens nicht viel kleiner als die Pyramide ... An der Pyramide selbst aber baute man zwanzig Jahre. Sie ist quadratisch, und jede Fassade misst acht Plethren (230,40 Meter), ist gleich hoch und besteht zum überwiegenden Teil aus poliertem und eingepasstem Stein; keiner der Steine ist kleiner als 30 Fuß (8,64 Meter). Gebaut wurde diese Pyramide folgendermaßen: nach Art von Treppen ... Nachdem sie sie zuerst so gebaut hatten, hoben sie die restlichen Steine mit aus kurzen Holzstangen bestehenden Kränen vom Boden auf die erste Stufe der Treppen, und sobald der Stein auf diese heraufkam, wurde er auf einen zweiten Kran gelegt, der auf der ersten Stufe stand, und von dieser wurde er auf einem weiteren Kran auf die zweite Stufe gezogen. Denn so viele Treppenstufen es gab, so viele Kräne gab es auch. Oder sie beförderten auch denselben Kran, der nur ein einziger und leicht zu transportieren war, auf jede Stufe, um den Stein in die Höhe zu hieven. Es sollen nämlich beide Methoden genannt sein, wie sie eben erzählt werden. Fertiggestellt wurde als Erstes die Spitze der Pyramide, danach stellten sie die an diese anschließenden Teile fertig, und als Letztes stellten sie die untersten Teile nahe dem Erdboden fertig ...

Regiert hat Cheops, so berichteten die Ägypter, 50 Jahre, und als er starb, folgte ihm in der Regierung sein Bruder Chephren nach. Auch dieser hatte denselben Charakter wie der andere und erbaute eine Pyramide. Sie reicht an dessen Ausmaße nicht heran; diese habe ich nämlich abgemessen ... Regiert hat Chephren, so berichteten sie, 56 Jahre ...

Nach diesem, so berichteten sie, regierte Mykerinos, der Sohn des Cheops, Ägypten. Ihm missfiel die Handlungsweise seines Vaters, und er öffnete die Tempel wieder und ließ das bis zum Äußersten gequälte Volk seinen Arbeiten und Opferfesten nachgehen ... Eine Pyramide hat auch dieser hinterlassen, eine viel kleinere als sein Vater. Sie ist quadratisch, und an jeder Seite fehlen 20 Fuß auf drei Plethren (das heißt, die Seitenlänge beträgt 80,64 Meter) ...

Im Ganzen waren es also 106 Jahre, in denen die Ägypter alles Elend auskosteten und die Tempel geschlossen blieben. Aus Hass wollen die Ägypter sie (Cheops und Chephren) um keinen Preis beim Namen nennen, sondern bezeichnen auch die Pyramiden als die des Hirten Philitis, der zu jener Zeit seine Tiere in dieser Gegend weidete.

So weit also Herodots Bericht.

Kurz darauf standen wir direkt vor dem gigantischen Bauwerk der Cheops-Pyramide. Und da ergriff Samir, unser ägyptischer Fremdenführer, das Wort.

„Die Entstehungszeit der Großen Pyramiden ist das Alte Reich, genauer, die 4. Dynastie, die, wie man heute weiß, etwa in die Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends zu datieren ist, als in Europa die letzte Phase der Jungsteinzeit, die sogenannte Kupferzeit, herrschte.. Wenn also Napoleon seinen Soldaten angesichts der Pyramiden zurief: Soldaten, 40 Jahrhunderte blicken auf euch herab, so war das immer noch zu niedrig gegriffen. Diese Pyramiden der 4. Dynastie sind unter allen ägyptischen Pyramiden die vollkommensten. Sie sind echte Weltwunder nicht nur in der Vollendung der Form und der Beherrschung der Bautechnik, sondern auch als Ausdruck eines geschlossenen Weltbildes. Die Pyramide ist nämlich stets als Symbol und Gleichnis des ägyptischen Staates mit dem Gottkönig an der Spitze gesehen worden, und ihre Funktion, ihr Sinn war zweifelsfrei eine Monumentalisierung des Grabes für den Gottkönig. Ob dabei auch irgendwelche kosmischen Aspekte eine Rolle spielten, sei dahingestellt.

Jedenfalls sind sämtliche Pyramiden des Alten Reiches mit ihren vier Seiten nach den vier Himmelsrichtungen orientiert. Die Abweichungen in dieser Orientierung sind nur gering, am allergeringsten bei der Cheops-Pyramide. Die exakte Bestimmung der Winkel ihrer Ecken gilt als Wunder der Bautechnik. Außerdem liegen die Cheops- und die Chephren-Pyramide genau in einer Linie, das heißt, die Südwest-Nordost-Diagonale bildet bei beiden exakt dieselbe Linie. Sie sind die größten je erbauten Pyramiden, und der Weg um jede einzelne von ihnen beträgt fast einen Kilometer. Sie waren auch viele Jahrhunderte lang die höchsten Bauwerke der Menschheit, die Cheops-Pyramide mit einer Höhe von 146,60 Meter und die des Chephren mit einer Höhe von 143,50 Meter. Heute sind sie niedriger. Die des Cheops ist nur noch 137,18 Meter hoch, die des Chephren 136,40 Meter. Denn während sie Herodot noch mit einer glatt polierten Außenverkleidung sah, fehlt diese heute fast zur Gänze. Soviel man weiß, hat man im Mittelalter begonnen, sich an ihr zu vergreifen. Mit wenig Mühe und viel Verwüstung waren hier präzise zugehauene Steinblöcke für die Paläste, Moscheen, Stadtmauern und die Zitadelle Kairos zu gewinnen. Im 14. Jh. sah ein Reisender aus Deutschland die Seiten der Cheops-Pyramide zur Hälfte abgedeckt, und die Arbeiter waren gerade dabei, die Steinblöcke der Außenverkleidung von oben in die Tiefe poltern zu lassen. Dadurch ist der von Herodot zutreffend beschriebene Stufenbau zutage getreten.

Höchste Bewunderung verdient die technische Leistung des Pyramidenbaus und dessen selbst mit den Mitteln modernster Technik kaum zu erreichende Genauigkeit. Dabei ist zu bedenken, dass Herodots Gewährsleute mit der Behauptung, dass Kräne und Eisenwerkzeuge verwendet worden seien, ihm damit ungewollt einen Bären aufgebunden haben. Denn in der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. war Eisen noch unbekannt, und der Kran oder Flaschenzug war noch nicht erfunden.

Wie sind also die Pyramiden wirklich gebaut worden? Das wollten Sie vermutlich schon immer wissen. Ich auch. Nun, die richtige Antwort lautet: Wir wissen es nicht.

Trotz zahlreicher Untersuchungen und intensiver Forschungen müssen wir uns ehrlich eingestehen, dass wir über die Technik und Methoden ihrer Erbauung praktisch nichts wissen. Dabei hilft uns, wie wir gesehen haben, auch Herodots Bericht nicht weiter. Nicht einmal die uns erhaltenen Werkzeuge oder deren Darstellungen helfen weiter. Ein vollkommenes Rätsel ist der von Herodot so ausführlich geschilderte Transport der riesigen Steinquadern in eine Höhe von bis zu 146 Metern und ihre Verlegung. Allgemein wird angenommen, dass am Anfang mit Rampen oder Anschüttungen von allen Seiten her gearbeitet wurde. Ja, aber ab einer Höhe von nur 20 Metern war diese Methode wahrscheinlich nicht mehr oder nur noch eingeschränkt durchführbar. In jüngster Zeit sind zeichnerisch mehrere Modelle für Pyramidenrampen entwickelt worden. Aber irgendeinen Pferdefuß haben sie alle. Überhaupt gibt es unterdessen die unterschiedlichsten Theorien über die Erbauung der Pyramiden. Nur, bewiesen konnte bisher keine von ihnen werden.“

Als Nächstes trieb uns Samir ins Innere der Cheops-Pyramide. Die Korridore in ihr sind großteils steil ansteigend, beklemmend eng und streckenweise so niedrig, dass man tief gebückt gehen muss, und dann wieder so hoch, dass man zu fünft übereinander gehen könnte – so man das will. Das wollten wir zwar nicht. Gelohnt hätte es sich aber trotzdem. Denn die Wände sind gerade hier mit einer bis heute unübertroffenen Perfektion ausgeführt.

Und was war der Lohn des qualvollen Unternehmens? Eine leere Grabkammer mit einem leeren, aus einem einzigen Rosengranitblock herausgesägten Sarkophag ohne Deckel. Aber Samir machte uns darauf aufmerksam, dass auch diese Sargkammer ein Wunder an Perfektion ist: die Wände spiegelglatt poliert, die Quadern so fein gefugt, dass man die Fugen kaum findet.

„Und wenn man eine gefunden hat, so würde nicht einmal eine Rasierklinge in sie passen. Dabei bestehen auch die Quadern aus Rosengranit. Und das ist ein aberwitzig hartes Gestein. Gefahr zu ersticken besteht nicht. Einander genau gegenüberliegend, finden sich zwei rechteckige Öffnungen. In diesen enden zwei schnurgerade Luftkanäle, falls sie nicht dem Flug der Seele des verstorbenen Königs in den Himmel gedient haben. Manche vermuten, dass sie irgendwelche Geheimnisse bergen. Man hat sie auch schon mithilfe eines Miniroboters untersucht. Bisher ohne jeden Erfolg.“

 

Beim Abendessen saß ich zufällig am selben Tisch wie Professor Pichler und hatte Gelegenheit, an Samirs Erklärungen Kritik zu üben.

„Einen bösen Schnitzer hat er sich heute geleistet. Da stehen wir bewundernd im Allerheiligsten dieses herrlichen Tempels, und der Gute spricht von einer Sargkammer und einem Sarkophag. Wenn das kein böser Schnitzer ist.“

Verständnisloses Gemurmel ringsum.

„Sprechen Sie von der Cheops-Pyramide?“, warf Frau Steyer, die Sitznachbarin des Professors, ein.

„Klar. Und der Gute tut so, als ob das ein Grab wäre. Ich weiß schon, dass viele glauben, dass die Cheops-Pyramide ein Grabstätte ist. Aber diese Ansicht ist doch so was von veraltet. Es stellt sich ja immer deutlicher heraus, dass die Pyramiden eben keine Grabstätten sind, sondern Tempel. Und ganz besonders gilt das für die Cheops-Pyramide.“

Schweigen.

„Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?“

„Nicht ich komme zu dieser Behauptung, sondern eine ganze Reihe von bedeutenden Forschern. Und wie? Na, bitte, können Sie sich vorstellen, dass wegen der Beisetzung eines einzelnen Leichnams diese gigantische, jahrzehntelange Gemeinschaftsarbeit geleistet worden ist? Nein, das kann sich niemand vorstellen. Sondern alle in Frage kommenden Faktoren zwingen zu der Überzeugung, dass ein gewaltiger religiöser Impuls der Motor zu dieser gemeinschaftlichen Leistung gewesen ist.“

„Aha“, warf der Professor ein. „Darum also Tempel.“

„Genau. Keine Mumie, keine Grabbeigaben sind jemals innerhalb der Cheops-Pyramide gefunden worden. Keine Hieroglypheninschriften, keine gemalten Darstellungen aus dem Leben des Verstorbenen sind auf ihren inneren Wänden zu finden, ganz im Gegensatz zu jedem anderen Grabbau in Ägypten. Vollkommen leer die innere Struktur, ohne die Verschönerungen, wie sie die Pharaonen verschwenderisch in ihren Mausoleen anzubringen liebten. Im Allerheiligsten steht ein leerer Kasten aus Rosengranit ohne Deckel. Der Sarkophag des Königs Cheops, sagt Samir und betrachtet die Frage damit als erledigt. Aber wieso befinden sich auf den Seitenflächen dieses vermeintlichen Sarkophags nicht die üblichen Texte und religiösen Darstellungen? Alle anderen Sarkophage sind durch Inschriften und bildliche Darstellungen als solche gekennzeichnet. Wieso dieser eine nicht, wenn er für einen der berühmtesten und mächtigsten Könige von Ägypten bestimmt war? Wozu die Luftkanäle? Mumien brauchen keine frische Luft. Wieso steht dieser angebliche Sarkophag in einem Raum, der mehr als 40 Meter über der Erdoberfläche liegt? Fragen über Fragen. Und keine Antwort. Einzig mögliche Schlussfolgerung: Die Pyramide muss für den Gebrauch lebender Menschen gebaut worden sein. Wozu aber dann der sarkophagähnliche Granitkasten im Allerheiligsten? Nun, er hat zweifellos dieselbe Bedeutung wie die sarkophagähnlichen Ruhestätten und in Stein gemeißelten Aushöhlungen in anderen Mysterienstätten, zum Beispiel in dem Hypogäum auf Malta oder in südamerikanischen Kultstätten. Er diente einem wichtigen Akt der Einweihung. Nämlich dem Tempelschlaf, dessen visionäre Erlebnisse uns die Pyramidentexte schildern, die wir heute schon in der Unas-Pyramide gesehen haben und die uns Samir vorübersetzt hat.“

„Was ist ein Tempelschlaf?“

„Im Tempelschlaf wurde der Pharao immer aufs Neue wesenseins mit dem Sonnengott Re als dessen Sohn. Diese Vereinigung von Gott und Gottkönig als Vater und Sohn im Einweihungsschlaf war todähnlich. Und von diesen todähnlichen Zuständen sprechen die Pyramidentexte, nicht vom wirklichen Tod. Erst später wurden sie aus halbem Missverständnis der Nichteingeweihten auf die Toten bezogen und als Grabinschriften verwendet. Diese Texte waren aber ursprünglich Bestandteile des Einweihungsrituals. Und die Einweihung des Königs war Kern und Zentrum der ägyptischen Religion. Der König war somit der Eingeweihte, durch den der Gott sprach und wirkte. Und in den Pyramiden haben wir die Zentralstätten dieser Einweihung zu sehen.“

„Und sehe ich das richtig? Der Tempelschlaf fand im Allerheiligsten statt, also in der angeblichen Sargkammer?“

„Exakt.“

„Das heißt also, der König musste in dem sarkophagähnlichen Granitkasten schlafen?“

„Sie sagen es. Das war ja auch kein gewöhnlicher Schlaf, sondern ein Tempelschlaf zum Zweck der Einweihung.“

An dieser Stelle glaubte Professor Pichler zu diesem Thema einen Beitrag leisten zu müssen.

„Nun, üblicherweise versteht man unter Tempelschlaf etwas anderes, nämlich die Sitte, innerhalb eines Tempelbezirks zu schlafen, um eine Traumvision eines Heilgottes zu empfangen, der ein Heilmittel für die Krankheit des Schläfers enthüllt oder ihn gleich spontan heilt. Diese Praxis war in der griechisch-römischen Zeit außerordentlich verbreitet und stand jedermann offen.“

Hier meldete sich Nico, unser Jüngster, zu Wort.

„Und sind die Kranken mit dieser Methode wirklich geheilt worden?“

„Offenbar ja. Es gibt authentische Heilungsberichte, in Griechenland auf Steintafeln und hier in Ägypten auf Papyrus.“

„Und Einweihung?“, sagte ich. „Was versteht man darunter?“

„Die Initiation, das heißt, die Aufnahme in eine der Mysterienreligionen wie zum Beispiel die Isis- und Osirismysterien.“

„Na also. das sind ja ägyptische Gottheiten. Und die Cheops-Pyramide war ja höchstwahrscheinlich sowieso ein Osiristempel.“

„Mag sein. Aber Mysterien sind grundsätzlich etwas Griechisches. Und damit mindestens 2000 Jahre jünger. Und standen jedermann offen, nicht nur einem König. Ebenso wie der Tempelschlaf.“

„Das verstehe ich nicht. Wieso spricht man dann von Isis- und Osirismysterien?“

„Ja, die Götter sind bei denen ägyptisch, ebenso manches Drumherum. Aber die Idee und der Kult als solcher sind griechisch, von Griechen für Griechen ausgearbeitet.“

„Na, was sind dann eigentlich Mysterien?“

„Mysterien sind geheime Kulte – daher auch der Name –, in die man durch Einweihungsriten aufgenommen wurde. Sie sollten den Eingeweihten den Trost des Glaubens und nach dem Tod die Wiederauferstehung des Fleisches und ein persönliches Nachleben in ewigem Glück gewähren, etwas, was die traditionelle griechische Religion nicht kannte. Die ägyptische übrigens auch nicht. Die heute bekanntesten unter den rein griechischen Mysterien sind die des Dionysos, besser bekannt als Bacchanalien oder Orgien ...“

„Oho.“

„Ja, ja. Das Wort Orgien bezeichnet eigentlich den Gottesdienst von Eingeweihten. Wissen Sie, seit durch Alexander den Großen der ganze Orient inklusive Ägypten griechisch geworden war, bildeten sich aus den dortigen Volksreligionen offenbar nach dem Vorbild der weit älteren griechischen Mysterienkulte durch Hellenisierung Mysterienreligionen, die sich schließlich über das ganze Römische Reich ausbreiteten. Sie wiesen bestimmte Gemeinsamkeiten auf: bindende religiöse Vorschriften und, etwas bisher völlig Unbekanntes, die Verpflichtung zum Glauben. Außerdem Sakramente, Askese, Taufe als Initiationsritus, die Verheißung der Erlösung vom Bösen und einen Mythos, der das Schicksal des Eingeweihten symbolisierte und vom Leiden, Sterben und der Auferstehung eines Heilands berichtet. Dieser war, je nach Mysterienreligion, entweder der Sohn oder der Geliebte einer Göttin wie zum Beispiel der Isis. Und jetzt frage ich Sie alle: Wer kennt eine solche aus einer orientalischen Volksreligion entwickelte Mysterienreligion, die heute über die ganze Welt verbreitet ist?“

Schweigen.

„Ich spreche natürlich vom Christentum.“

„Vom Christentum?“, rief Frau Steyer verblüfft aus.

„Ganz richtig. Religionsgeschichtlich gesehen, ist das Christentum tatsächlich eine dieser sogenannten orientalischen Mysterienreligionen. Seine Stellung zum Judentum ist also, mutatis mutandis, exakt dieselbe wie die der Isis- und Osirisreligion zur traditionellen Religion der alten Ägypter. Die Urchristen haben ihre Religion selber als mysterium bezeichnet. Apropos, in ihrem Kampf gegen die Konkurrenz der Mitbewerber warfen die Kirchenväter den anderen Mysterienreligionen regelmäßig grobe Unsittlichkeit vor. So kam das Wort Orgien zur heutigen abwertenden Bedeutung.“

„Soso“, sagte ich. „Wollen Sie damit sagen, dass es in der traditionellen Religion der alten Ägypter gar keine Mysterien gegeben hat?“

„Genau das will ich damit sagen.“

„Und wie kommen dann die Pyramidenforscher dazu, von der Einweihung des Pharaos zu sprechen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht durch Verwechslung mit den hellenistischen Isis- und Osirismysterien, die sie wahrscheinlich fälschlicherweise für altägyptisch halten.“

„Und wieso kann‘s eigentlich nicht auch schon in der traditionellen altägyptischen Religion Mysterien gegeben haben?“

„Weil eine Mysterienreligion, wie wir ja vom Christentum wissen, eine sehr persönliche, individuelle Form von Frömmigkeit ist. Die ägyptische Religion dagegen ließ persönlicher Frömmigkeit praktisch keinen Raum. Ihre Aufgabe war es, die Ordnung des Universums aufrecht zu halten. Der ägyptische Tempel war, könnte man sagen, eine Maschine, um das Universum in Gang zu halten. Und dies war quasi ein technischer Prozess, der Fachpersonal und Fachwissen erforderte und somit die große Mehrheit der Bevölkerung ausschloss, um die Erfüllung der Aufgabe, den Fortbestand der Welt zu sichern, nicht zu gefährden. Übrigens stand die Pyramide selbst stets im Mittelpunkt einer groß angelegten und mehrteiligen Tempelanlage, die den architektonischen Rahmen zur religiösen Verehrung des transzendierten Königs als Gott bildete.“

Zuletzt kündigte Professer Pichler an, nach dem Essen zu den Pyramiden zu spazieren. Und damit er nicht alleine spazieren müsse, seien alle eingeladen, ihn zu begleiten und auszuprobieren, ob das von vielen Pyramidenmystikern beschworene Kraftfeld der Cheops-Pyramide auf uns irgendeine Wirkung ausübe. Und siehe da, seine Einladung stieß auf regen Zuspruch.

(Wir residierten nämlich in dem altehrwürdigen Mena-House-Hotel. Dieses liegt direkt am Fuß des Wüstenhügels, auf dem die Cheops-Pyramide steht.)

  

Andächtig schweigend, standen wir im Licht des soeben aufgegangenen Vollmonds vor der Cheops-Pyramide und ließen, andächtig schweigend, frei nach Napoleon, 45 Jahrhunderte auf uns herabblicken.

„Und was wir da spüren, ist das jetzt das von Ihnen erwähnte Kraftfeld der Cheops-Pyramide?“, murmelte Frau Schroll.

Professor Pichler: „Vielleicht. Aber ich bin ja kein Pyramidenmystiker.“

Frau Schroll: „Was ist das eigentlich, ein Pyramidenmystiker?“

Professor Pichler: „Das ist ein Gelehrter, der eine esoterische Deutung der Cheops-Pyramide zu finden versucht. Er versucht zu beweisen, dass in ihr die Initiation des Königs stattfand. Oder dass sie eine Schöpfung der Wissenschaft ist, in der sich Mathematik oder Astronomie oder Atomphysik oder weiß der Kuckuck was noch alles offenbart. Oder sogar, dass Wesen von einem fremden Stern die Cheops-Pyramide als eine Art Arche Noah des Wissens gebaut haben.“

Frau Schroll: „Letzteres kann sich nur Erich von Däniken ausgedacht haben.“

Ich: „Na, und was spricht eigentlich wirklich dagegen? Weil, überzeugt hat mich das, was Sie vorhin erzählt haben, nicht.“

Professor Pichler: „Na gut, ich bin ja kein Fachmann auf dem Gebiet der Pyramidenmystik. Ich mache mir halt nur so meine Gedanken über die Argumente der Pyramidenmystiker. Als Erstes haben Sie doch von der unglaublichen Verschwendung an Zeit, Arbeitskraft und Material gesprochen, die es unwahrscheinlich macht, dass dieser Riesenbau vor uns als bloßes Grab für eine einzige Person gedient haben könnte. Nur denke ich mir, auch wenn er ein Tempel zum Zweck des Tempelschlafs einer einzigen Person gewesen sein sollte, geringer war die Verschwendung an Zeit, Arbeitskraft und Material deswegen auch nicht. Und der Granitkasten ist halt wirklich ein Sarkophag. Das beweist der in den oberen Rand eingelassene Falz. Dort muss also ein Deckel gewesen sein. Was die Luftkanäle anlangt, so stimmt es natürlich, dass Mumien keine frische Luft benötigen. Aber die Menschen, die die Mumie bestatteten, die benötigten frische Luft. Übrigens hat Samir selbst darauf hingewiesen, dass sie vielleicht auch dem Flug der Seele des verstorbenen Königs in den Himmel gedient haben könnten. Wenn die Pyramidenforscher bemängeln, dass auf den Wänden der Sargkammer keinerlei Inschriften oder Darstellungen aus dem Leben des Verstorbenen zu finden sind, wie sie auf den Wänden jedes anderen Grabes in Ägypten üblich sind, so beweisen sie damit nur, dass sie vom Tuten und Blasen keine Ahnung haben.“

„Wie bitte?“

„Schauen Sie, diese Aussage enthält zwei grundlegende Fehler. Erstens einen chronologischen. Es stimmt absolut nicht, dass auf den Wänden jedes anderen Grabes in Ägypten gemalte Darstellungen üblich sind. Üblich wurde diese Sitte erst nach der Zeit des Cheops, ab der 5. Dynastie. Und aus demselben Grund gibt‘s hier auch noch keine Hieroglypheninschriften. Die ältesten Pyramidentexte haben wir heute gesehen. Sie gehören dem Unas (ca. 2345 - 2315 v. Chr.), dem letzten König der 5. Dynastie. Aber sogar dessen Sarkophag hat noch immer keine Inschriften oder Malereien. Nur die Wände der Grabkammer sind über und über bedeckt mit Hieroglypheninschriften.

Und zweitens: Auch später, als wirklich alle Königsgräber verschwenderisch mit Wandmalereien ausgestattet wurden, enthielten sie niemals Szenen aus dem Leben des Verstorbenen. Ja, gewöhnliche Sterbliche ließen die Wände ihrer Gräber mit farbenfrohen Szenen aus dem täglichen Leben schmücken, die die irdischen Vergnügungen darstellen, an denen sie sich im Jenseits zu erfreuen hofften. Sie konnten sich offenbar keine andere Daseinsform vorstellen, nur eine Vollendung der irdischen Freuden, also erfolgreiche Jagden und Fischfänge, ertragreiche Ernten und gesicherte Versorgung mit den guten Dingen des Lebens. Nicht so der König. Apropos, der Begriff Pharao wurde erst für die Herrscher des Neuen Reiches, ab 1550 v. Chr., verwendet. Der König ist ja selbst ein Gott und braucht daher sein irdisches Leben nicht noch einmal zu leben. Die Wände der oft unglaublich langen unterirdischen Gänge in den späteren Königsgräbern im Tal der Könige sind nicht mit Szenen aus dem täglichen Leben bedeckt, sondern mit Malereien, die einem der sogenannten Totenbücher entnommen sind. Diese Pyramidentexte sind keine Bestandteile irgendeines Einweihungsrituals, sondern Zauberbücher, in denen die Zauberformeln niedergelegt sind, die der Tote vor dem Totengericht zu sprechen hat. Kennt er sie, kann er in die seligen Gefilde eingehen. Kennt er sie nicht, verschlingt ihn das Höllentier, ein krokodilköpfiges Mischwesen mit weitem Rachen.“

„Eins kann aber niemand leugnen“, sagte ich trotzig, „dass man in der Cheops-Pyramide nie eine Mumie oder irgendwelche Grabbeigaben gefunden hat.“

„Nein, das kann niemand leugnen. Aber etwas anderes kann auch niemand leugnen: dass einer der ältesten Berufe in Ägypten der des Grabräubers ist. Wir haben im Museum erlebt, was für eine unerhörte Ansammlung von purem Gold und kostbarsten Schätzen ein ägyptisches Königsgrab enthielt. Dabei war dies das Grab des Tut-ench-Amun, eines total unbedeutenden Königs. Sie können sich also lebhaft vorstellen, welch ungeheure Verlockung das für die in der Nähe Wohnenden gewesen sein muss. Daher war es eben eine der wichtigsten Aufgaben eines ägyptischen Königsgrabes, die königliche Mumie und die aberwitzig reichen und aberwitzig wertvollen Grabbeigaben vor der Begehrlichkeit der Lebenden zu schützen. Zu diesem Zweck bestattete man den König im Alten Reich in einer gigantischen Pyramide, im Mittleren Reich unter einer bescheideneren Pyramide in einem ausgeklügelten unterirdischen Gangsystem und im Neuen Reich in tief im Berg versteckt angelegten Grabkammern. Und doch haben alle diese Sicherungssysteme eins nach dem anderen versagt. Alle haben sich als wirkungslos erwiesen. Und so kommt es, dass von den vielen Hunderten von Königsgräbern in Ägypten und übrigens auch von den Tausenden von Privatgräbern kein einziges ungeplündert geblieben ist. Sogar das des Tut-ench-Amun hat noch in altägyptischer Zeit Besuch von Grabräubern bekommen. Und die haben zwar wie die Vandalen gehaust, aber aus uns unbekannten Gründen nichts mitgehen lassen. Zudem waren die Königsmumien besonders gefährdet, weil zwischen den Mumienbinden die allerkostbarsten Schätze eingewickelt waren. Ja, also, auch wenn wir Heutige uns das überhaupt nicht vorstellen können, die Tatsache bleibt bestehen, dass für jeden einzelnen König immer wieder von neuem in der einen oder anderen Form eine gigantische Gemeinschaftsarbeit geleistet wurde, jedes Mal nur wegen der Beisetzung eines einzelnen Leichnams. Und schließlich wollen wir nicht vergessen, dass der König kein gewöhnlicher Mensch war, sondern ein leibhaftiger Gott. Darum kann auch Herodot nicht recht haben, wenn er den Pyramidenbau der Despotie von Cheops und Chephren zuschreibt. Sondern die Menschen nahmen all diese Mühsal auf sich aus Überzeugung, damit einem Gott eine Stätte der Verehrung zu errichten. Ähnliches gilt für die gotischen Kathedralen.“

„Na, wenn das alles so klar und einleuchtend ist, wie ist man dann auf solche absurden Ideen gekommen? Das muss ja einen Grund haben.“

„Hat es, klar. Das war so. Am Anfang der Ägyptologie steht Napoleons epochemachende Expedition nach Ägypten 1798 bis 1801. Sie führte zu bedeutenden wissenschaftlichen Entdeckungen, weil an ihr viele Gelehrte teilnahmen. Die Resultate dieser Forschungen wurden zwischen 1809 und 1828 in der berühmten, aus insgesamt 23 Bänden bestehenden Text- und Bildsammlung Description de l’Égypte (Beschreibung Ägyptens) veröffentlicht. Die bedeutendste Einzelentdeckung war der Fund des Zweisprachensteins von Rosette, der letztlich die Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion ermöglichte. Das geschah 1822. Zwei Jahre später veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Forschungen im Précis du système hiéroglyphique (Abriss des hieroglyphischen Schriftsystems) und versetzte damit die Gelehrten in die Lage, das alte Ägypten nach seiner eigenen Denkweise zu studieren und nicht nur nach den Berichten der spätgeborenen Griechen. Aber schon zwei Jahrzehnte davor und vor der Veröffentlichung der übrigen wissenschaftlichen Ergebnisse setzte eine unglaubliche Ägyptomanie ein. In der Description de l’Égypte hat der französische Gelehrte Edmé François Jomard die Pyramiden beschrieben und zwei ergänzende Kapitel über ihren Sinn und ihre Funktion verfasst. Nun waren aber die Hieroglyphen noch nicht entziffert, und darum blieben ihm die ägyptischen Schriftquellen und damit das Verständnis der Denkmäler verschlossen. Daher verfiel er auf die Deutung der Cheops-Pyramide als Schöpfung der Wissenschaft, in der eine Art Ur-Elle, die ägyptische Königs-Elle, verbaut gewesen sei, und zugleich als Tempel, in dem die Mysterien der Initiation stattgefunden hätten. Überdies hatte man zu seiner Zeit erst sehr nebelhafte Vorstellungen von Mysterien und Initiation. Man kannte sie aus der griechischen und römischen Literatur, vor allem die Isis- und Osirismysterien. Und die hielt man eben für altägyptisch. Sehen wir ja in Mozarts Zauberflöte. Mit diesen Ideen steht Jomard am Anfang von Generationen von Pyramidenmystikern. Dabei beruht alles auf veralteten und längst überholten Spekulationen, die sich obendrein immer nur auf die Cheops-Pyramide und daneben auf die Große Sphinx beziehen, nie auf eine der vielen anderen Pyramiden.“

Geknickt erklärte ich mich für geschlagen und schwor den Verbreitern dieses „intellektuellen Mülls“ Rache und ewige Feindschaft.

Siehe auch

 

 

 

 

 

 https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-was-sie-schon-immer-ueber-aegypten-wissen-wollten/

 

"... eine außerordentlich interessante Lektüre ... Wirklich gut zu lesen und eine absolute Empfehlung ..." (garlin)

Angaben zum Autor

Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.  

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: Von Matson Collection - Library of CongressCatalog: https://www.loc.gov/pictures/collection/matpc/item/mpc2010000441/PPOriginal url: https://hdl.loc.gov/loc.pnp/matpc.23063, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67159244
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2021

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