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Zum Geleit

 

„Hörst, Burli, geh zuwa, dass di ned der Werkelmann zsammführt!“

Also sprach der Pförtner eines großen Wiener Krankenhauses. Er stand vor dem Pförtnerhäuschen und war gerade dabei, den Schranken vor der Einfahrt zu öffnen. Der „Burli“ war der Franzi Winklbauer, sprich, meine Wenigkeit. (Tatsächlich war an mir nur wenig dran, ausgehungert, wie ich war.) Ich stand mitten auf der Fahrbahn und hielt Ausschau nach meiner Mutter, die nach einer Operation entlassen werden sollte, und behinderte den (ohnehin kaum existierenden) Verkehr. Nur, wieso nannte der Portier einen Autofahrer Werkelmann? Das war mir damals und ist mir heute noch ein Rätsel.

 

Du sollst nicht lügen

 

Was die lieben Eltern verkünden, ist für die Kinder gemeinhin Evangelium – freilich nur so lange, bis sie sich ihrer selbst bewusst werden. Was mich betrifft, so erinnere ich mich gut, wie ich mich zu fragen begann: Bin ich, der Franzi Winklbauer, nun ein Kind oder ein Erwachsener? Da war ich schätzungsweise so um die fünf Jahre alt. Ich vermute, dass die Worte meiner Mutter für mich schon damals kein Evangelium mehr waren. (Mein Vater weilte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unter den Lebenden. Er war ein Jahr zuvor „im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland, im Osten“ gefallen, wie es Beileidsschreiben an meine Mutter heißt. Wo im Osten, wurde nicht verraten.)

Endgültig verloren hat meine Mutter ihren Status als Verkünderin von Evangelien, als ich sechs Jahre alt war, irgendwann Ende 1946 oder Anfang 1947. Da ging ich schon zur Schule und besuchte die erste Klasse. Und meine Mutter musste ins Spital, um sich irgendeiner Operation zu unterziehen. Mich nahm sie natürlich mit – schließlich war sie nach Papas Tod Alleinerzieherin – und lieferte mich anscheinend beim Pförtner ab. Dass ich nicht brav in seinem Häuschen sitzen blieb, versteht sich wohl von selbst. Wie schnell wird einem Kind die Zeit lang! Und: Von „brav“ konnte bei mir sowieso nicht die Rede sein, muss ich leider gestehen.

Und so trieb ich mich eben ruhelos im Bereich der Pförtnerloge herum und wusste nichts mit mir anzufangen. Da rief mir der Pförtner plötzlich zu: „Hörst, Burli, geh zuwa, dass di ned der Werkelmann zsammführt!“

Der Werkelmann? Was ein Werkelmann ist, wusste ich. Das war ein Mann, der ein Werkel, auch Leierkasten oder Drehorgel genannt, zum Erklingen brachte, indem er an einer Kurbel drehte, und auf milde Gaben der Passanten oder Hausbewohner hoffte. Da aber weit und breit kein Werkelmann mit einem Werkel zu sehen oder zu hören war, konnte er nur das Automobil meinen, das gerade aus dem Hauptgebäude des Krankenhauses auf mich, nein, natürlich auf den Schranken zurollte, den der Portier gerade öffnete, während ich mich mit einem Sprung in Sicherheit brachte.

Was übrigens gar nicht notwendig gewesen wäre. Denn das Automobil hielt neben mir an. Und wer beschreibt meine Verblüffung, als ich im Fond die Mutti sitzen sah! Sie rief mir zu, ich solle rasch einsteigen. Und das tat ich auch, setzte mich neben sie und fühlte mich wie ein hohes Tier. In einem Automobil war ich bisher noch nie gesessen, geschweige denn in einem fahrenden. Noch dazu war das kein gewöhnliches Automobil, sondern, wie mir die Mutti erklärte, ein Taxi, das uns nach Hause bringen sollte. (Her waren wir sehr wahrscheinlich mit der Straßenbahn gekommen.)

Wie sich rasch herausstellte, hatte sie ein großes Anliegen.

„Gell, Franzi“, begann sie, „sagst der Frau Jirka nix, dass ich heut eine Operation gehabt hab.“

Die Frau Jirka war ihre Freundin. Sie wohnte im selben Haus wie wir, nur ein Stockwerk höher. Bei ihr hatte ich mich schon einmal in die Nesseln gesetzt, wie man so schön anschaulich sagt. Sie hatte eine Art Kindernachmittag veranstaltet und mitten drin kleine Kuchenstücke verteilt. Das war schon etwas Besonderes. Nun gut. Ein Kind nach dem anderen bekam etwas zu schnabulieren. Nur ich nicht? Meine Augen wurden immer größer, desgleichen mein Hunger und meine Panik.

„Na, und i krieg nix?“, entfuhr es mir in meiner Verzweiflung. Und damit setzte ich mich in die erwähnten Nesseln. Denn die Frau Jirka reagierte sichtlich ungehalten. Das empfand ich zwar als absolut ungerecht, blieb nun aber still. Hätte ich mich entschuldigen sollen? Aber daran dachte ich nicht einmal. Trotzdem bekam ich noch meinen Anteil am heißersehnten Leckerbissen. Nur, ob er mir wirklich geschmeckt hat, wüsste ich nicht mehr zu sagen.

Und nun also bat mich (oder befahl mir) die Mutti, der Frau Jirka nicht zu verraten, dass sie sich heute einer Operation hatte unterziehen müssen. Natürlich war ihr klar, dass ich mit dieser sensationellen Nachricht nicht hinterm Berg halten konnte. Kinder und Narren sagen die Wahrheit, weiß der Volksmund. Und: Kindermund tut Wahrheit kund.

Zögernd fuhr die Mutti fort: „Sagst halt, ich hab eine ganz harmlose Untersuchung machen lassen. Wegen meiner Krampfadern. Aber keine Operation, gell? Versprichst du mir das?“

„Aber es war doch eine Operation, oder?“

„Ja, schon. Aber ...“

Jetzt wusste Mutti offenbar nicht mehr, was sie sagen sollte. Aber ich.

„Du, Mutti? Das ist doch eine Lüge. Und in Religion haben wir gelernt, lügen darf man nicht. Ich glaub, das ist sogar eines der Zehn Gebote Gottes: Du sollst nicht lügen.“

„So? Kenn ich nicht. Na ja, bei mir ist’s halt schon so lang her.“

„Ja, und am Ende krieg ich dann so eine lange Nase wie der Pinocchio.“

Die Mutti musste lachen. „Ja, ja, Lügen haben kurze Beine, aber lange Nasen, gell?“ Und ernster werdend: „Aber geh, Burli, das ist doch nur ein Märchen. Aber im Ernst. Lüge hin, Lüge her, du musst mir versprechen, der Frau Jirka nichts von einer Operation zu erzählen. Wirst du das tun?“

Darauf konnte ich nur mit der Schulter zucken. Ich stand da jetzt vor einem echten Dilemma. Wem sollte ich gehorchen? Der Mutti? Oder dem lieben Gott? Auf der Bühne nennt man so etwas einen tragischen Konflikt. Einen solchen erlebte ich jetzt zum ersten Mal in meinem jungen Leben. Übrigens hatte ich Glück. Die Frau Jirka hat mich nie befragt, was das für eine Operation gewesen sei. Und die Lügenstory von einer völlig harmlosen Untersuchung ihrer Krampfadern hat die Mutti vermutlich selbst auf sich genommen.

Welcher Operation sie sich unterziehen musste, hat sie mir übrigens nie verraten, und ich habe sie nie gefragt. Und heute ist es dafür zu spät. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es sich um eine (damals strengstens verbotene) Abtreibung handelte, am ehesten nach einer Vergewaltigung durch einen Besatzungssoldaten, oder vielleicht auch nach einer kurzen, von mir unbemerkten Liebschaft mit einem solchen.

Ja, ja, wie heißt es bei Grillparzer? Das Los der Frauen ist beklagenswert.

 

Nachwort

Viele Jahre später habe ich entdeckt, dass sich nicht nur meine Mutter einer Lüge schuldig gemacht hat, noch dazu einer wirklich harmlosen Lüge, sondern auch die Vertreter der katholischen Kirche, zumal die katholischen Religionslehrer. Dabei geht es um das Sechste Gebot Gottes. Laut unserem Religionsunterricht heißt dieses nämlich: Du sollst nicht Unkeuschheit treiben. So stand es auch im Beichtspiegel und in meinem Katholischen Religionsbüchlein schwarz auf weiß zu lesen, obendrein mit der Bemerkung: Gott verbietet im Sechsten Gebote alles, was gegen die Keuschheit ist (ohne dass uns jemals erklärt worden wäre, was darunter überhaupt zu verstehen ist). In Wirklichkeit lautet es, wie in der Bibel nachzulesen: Du sollst nicht ehebrechen. Und das ist doch beileibe nicht dasselbe. Diese Diskrepanz stürzte mich eine Zeitlang in denkbar große Verwirrung. Denn: Wie kann man nur die frommen Gottesmänner einer derart schwerwiegenden Lüge bezichtigen? Doch schließlich rang ich mich zu der Schlussfolgerung durch, dass man das Wort Gottes tatsächlich verfälscht hat, total verfälscht sogar. Und dass man die Kinder (und wahrscheinlich nicht nur sie) systematisch belogen hat. Zu welchem Zweck, ist unschwer zu erraten. Und mit welchem Erfolg, ist in jeder Kulturgeschichte nachzulesen.

Siehe auch:

 

 

 

 

https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-mit-der-zeitmaschine-in-die-roemerzeit/

 

"Eine tolle Idee, Leben und Kultur der Römer in einer humorvoll erzählten Geschichte zu vermitteln." (Clavijus)

"... musste ich laut lachen! Grandios komisch!" (MineFraser)

 

  

DIE VERSPÄTETE ERLÖSUNG

https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-die-verspaetete-erloesung/

 

"Eine tolle Geschichte, die auch Wissen vermittelt." (schnief)

"Sehr gut geschrieben und sehr informativ" (katerlisator)

 

 

GEH HIN UND SÜNDIGE FORTAN NICHT MEHR

https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-geh-hin-und-suendige-fortan-nicht-mehr/

 

"Sehr gut und wie ich finde, humorvoll geschrieben!" (Ralf von der Brelie)

"Sehr schön geschrieben. Selbst eine bibelfremde wie ich konnte folgen." (Anne Grasse)

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: A giant statue of Pinocchio in the park Parco di Pinocchio, Collodi: By Adrian Michael - Own work, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25860657
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2021

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