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Der Todesschrei

 

Hat Nikaia ihren Ehemann Stephanos bei einer Jagd nahe Ephesos ermordet?

Demetrios, der Bruder des Getöteten, behauptet es. Ihr Lieblingssklave Eros bezweifelt es.

Ich, Johannes, der Apostel des Herrn, bezweifelte es ebenso. Also bot ich Eros meine Hilfe an.

Gab es Zeugen? O ja, so Demetrios. Der Jagdgehilfe Mys könne Nikaias Mordtat bezeugen. Diesen also beauftragten zwei Staatssklaven (Polizisten), sie zum Tatort zu führen. Ich, mein Jünger Simon und Eros, wir durften sie begleiten.

Unser Weg führte auf einen dicht bewaldeten Berghang bis zum Rand einer Lichtung, die auf der anderen Seite teilweise durch eine schroffe Felswand begrenzt wird. Links und rechts davon standen noch die gewohnten Jagdnetze, die das Wild an der Flucht hindern sollten.

Hier machte unser Führer halt, streckte bedeutungsvoll seinen Arm aus und sagte mit feierlicher Stimme und ebensolchem Gesicht: „Hier.“

„Hier ist der Mord passiert?“, so Eros in plötzlich aufwallender Erregung.

„Hier, auf dieser Lichtung, ist der Mord passiert.“

„Und du hast gesehen, wie er passiert ist?“

„Nein, direkt nicht.“

„Wie meinst du das, direkt nicht?“

„Na ja, beobachtet habe ich nicht, wie die Herrin geschossen hat.“

„Ach nein? Und wieso nicht?“

„Weil ich mich zu jenem Zeitpunkt mit meinen Hunden noch im Wald befunden habe. Da mussten wir uns lange vollkommen ruhig verhalten. Und sie waren auch ganz vorbildlich, meine braven Hunde. Bis auf einmal ein entsetzter Schrei zu hören war – eindeutig die Stimme des Herrn. Und da waren sie nicht mehr zu halten. Sie sprangen auf und jagten davon wie der Blitz.“

„Was war das für ein Schrei? Konntest du etwas verstehen? Schließlich müssen wir annehmen, dass das sein Todesschrei war.“

„Bestimmt. Ob ich etwas verstehen konnte? Hm, jetzt, wo du mich fragst, wird mir bewusst, dass ich tatsächlich etwas verstehen konnte, nämlich Phos (Licht). Nur dieses eine Wort. Aber es ergab für mich keinen Sinn.“

„Und weiter?“

„Voller Besorgnis rannte ich meinen Hunden nach. Und als ich auf die Lichtung hinaustrat, sah ich sie schon von weitem. Sie standen alle an einem Fleck beieinander und bellten wie verrückt. Dorthin rannten auch die anderen Jagdgehilfen, ebenso Nikaia, die Herrin, ihren Bogen in der Hand. Übrigens ist einer meiner Hunde seit damals verschollen, noch dazu der mutigste, schnellste und gehorsamste von allen. Sperchon heißt er. Und dann kam ich selber hin und sah, wieso sich die Hunde so aufgeregt verhielten. Auf dem Boden lag der Herr und rührte sich nicht. Er lag auf dem Gesicht, und unter der Brust ragte seitlich der Schaft eines Pfeils hervor, und der Boden darunter war schon ganz rot von frischem Blut.“

„Führst du uns jetzt bitte an die Stelle, wo das gewesen ist?“, flötete Eros.

Mys führte uns zielstrebig hinaus auf die Lichtung. Bald stießen wir auf eine Fläche, wo das Gras und die Blumen in weitem Umkreis niedergetreten waren. Hier machte er halt und erklärte, dies sei die Stelle. Auf Eros’ Bitte hin zeigte er, wo und wie Stephanos gelegen war, worauf sich Eros auf die Knie warf und den Boden gründlich untersuchte. Danach richtete er sich wieder auf, blickte aufmerksam nach allen Seiten und begann die gesamte nähere und weitere Umgebung sorgfältig abzusuchen. Plötzlich erstarrte er in seinen Bewegungen und tat einen lauten Aufschrei. Da eilten wir ihm nach und stießen einen Schrei der Überraschung aus, Mys aber stimmte ein grauenhaftes Klagegeheul an. Im hohen Gras lag ein Hundekadaver, und in seiner Brust steckte ein Pfeil.

„Sperchon“, heulte Mys. „Hier bist du? Hat auch dich der Pfeil dieses verbrecherischen Weibes getroffen?“

Und während er sich in solchen Klagen erging, fiel er auf die Knie, ergriff den Pfeil mit beiden Händen, zog ihn mit unendlicher Behutsamkeit heraus, betrachtete ihn und hielt ihn uns vor die Augen.

Diese Geste war sicher freundlich gemeint, aber in meinen Augen gänzlich überflüssig und überdies höchst unerquicklich. Denn der Duft, den die Pfeilspitze von sich gab, war alles andere als lieblich. Eros hingegen betrachtete den Pfeil mit größtem Interesse von allen Seiten und murmelte schließlich, mehr zu sich selbst: „Exakt dasselbe Modell. Die gleiche Machart wie jener andere. Der gleiche Schaft, die gleiche Spitze, die gleichen vier Klingen.“

„Welcher andere?“, erwiderte Simon, und ich sagte: „Du meinst vermutlich jenen Pfeil, den du in der Villa des Stephanos gesehen hast?“

Und Eros: „Genau. Jenen Pfeil, der in der Brust des Stephanos gesteckt war.“ Und an Mys gewandt: „Hast du zufällig eine Ahnung, was für Pfeile deine Herrin zu verwenden pflegt?“

„Nikaia? O ja, das weiß ich genau. Solche mit einer flachen Spitze.“

„Du meinst, eine Spitze mit nur zwei Klingen?“

„Richtig. Und mit einem Schaft aus Schilfrohr.“

„Aha, also ein Damenmodell, besonders leicht?“

„So ist es.“

„Und nicht so ein schweres, massives Modell wie dieses hier mit einem massiven Holzschaft?“

„Nein.“

„Nun, mein Bester, wie kann dann ein solcher Pfeil von deiner Herrin abgeschossen worden sein?“

Mys wurde feuerrot im Gesicht. „Stimmt. Mit diesen schweren, ihr ungewohnten Pfeilen hätte sie kaum so genau getroffen.“

„Du hast recht. Wer immer diese zwei Pfeile abgeschossen hat, er muss ein exzellenter Schütze sein.“

Eros spähte ein Weilchen aufmerksam nach allen Richtungen und bat hierauf Simon, zu der Stelle, wo Stephanos vom Tod ereilt worden war, zurückzugehen und dort stehenzubleiben. Mich und die übrigen bat er, an unserem gegenwärtigen Standort zu bleiben, bis er wieder zurückkomme, drehte sich wortlos um und stapfte langsam davon; und dabei betrachtete er aufmerksam den Boden. Nur gelegentlich drehte er sich um und spähte zu uns zurück. Mit der Zeit fiel mir auf, dass er sich in einer geraden Linie fortbewegte und dass diese Linie die Fortsetzung einer gedachten Linie von Simons zu unserem Standort bildete.

Schließlich erreichte er den Rand der Lichtung, und zwar, wie es sich ergab, genau an der Stelle, wo die Felswand endet und in einen bewaldeten Berghang übergeht. Dort machte er halt, blickte sich nach allen Richtungen um und begann auf einem entwurzelten Baum herumzuklettern. Und dann war er zu unserer Verblüffung plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.

Als die Zeit verging und Eros nicht wieder zum Vorschein kam, erklärte Smáragdos, einer der beiden Polizisten, er werde nachschauen gehen, und stürmte davon. Im selben Augenblick tauchte Eros zwischen den Wurzeln des entwurzelten Baumes auf. Und nachdem er wieder auf den Stamm geklettert war, winkte er uns heftig zu und rief: „Kommt! Kommt!“

Eros stand auf dem dicken Stamm eines entwurzelten, kahlen Baumes, dessen Wurzeln hinter einem Gebüsch halb verborgen waren. Er beugte sich zu mir herunter, streckte mir die Hand entgegen und half mir hinauf, während die anderen allein hinaufkletterten. Sobald wir alle oben waren, führte er uns, vorsichtig balancierend, auf dem Stamm bis zur riesigen Wurzel, bei der wir wieder hinunterklettern oder hinunterspringen mussten. Und hier waren wir nun bereits hinter dem Vorhang des Gebüsches und somit, wenn wir uns bückten, von der Lichtung aus unsichtbar.

Aber das war noch nicht alles. Eros zeigte grinsend auf die stark geneigte Bodenfläche, auf der der Baum gestanden war und die erst durch deren Entwurzelung frei geworden war. Und was gab es dort zu sehen? Höchst Überraschendes: Ein schwarzes Loch, halb verdeckt durch herabhängende Grasbüschel und überdies durch einige nun frei hängende Wurzeln eines kleinen Lorbeerbaumes, der offenbar nur knapp der Entwurzelung entgangen war.

„Na, was sagt ihr jetzt“, rief Eros fröhlich und schlüpfte geschickt in das schwarze Loch. Dann streckte er den Kopf heraus und sagte: „Folgt ihr mir?“

Nach einigem Zögern und längerem Hin und Her, wer den Anfang machen sollte, stiegen zuerst die zwei Polizisten ein, hierauf folgte Simon und als Letzter ich. Und ich muss gestehen, mir war bei diesem unvorhergesehenen Unternehmen keineswegs ganz geheuer.

Das schwarze Loch erwies sich als Eingang zu einer Höhle. Es führte steil in die Tiefe, und man musste auf allen vieren klettern, wollte man nicht abrutschen. Zum Glück war die Höhle nicht groß, sodass ihr Grund bald erreicht war. Trotzdem schien dort undurchdringliche Finsternis zu herrschen. Erst mit der Zeit, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich, dass es an Licht doch nicht völlig mangelte.

„Nun, mein bester Eros“, sagte ich etwas verdrossen, „was machen wir jetzt hier?“

„Na, ist das nicht ein herrliches Versteck?“, erwiderte er mit ungebrochener Fröhlichkeit.

„Ich bitte dich, wozu brauchen wir ein Versteck?“

„Nein“, sagte er und lachte, „wir brauchen kein Versteck. Wir schießen ja auch nicht mit Pfeilen auf Menschen und Hunde.“

„Ah, du glaubst also, dass der von uns gesuchte Mörder diese Höhle als Versteck benutzte?“

„Nun, glauben ist zu viel gesagt. Ich kann's natürlich nicht beweisen. Aber möglich wär’s. Wenn wir wieder hinausklettern, werde ich euch zeigen, dass eine bestimmte Stelle des Baumstammes vorm Höhleneingang und die Stelle, wo der tote Hund des Mys liegt, und die Stelle, wo Stephanos erschossen worden ist, alle drei auf einer Linie liegen.“

Ich setzte mich auf eine vorspringende Felskante und fuhr im selben Moment mit einem Schmerzensschrei wieder hoch. Gleichzeitig griff ich mir aufs Hinterteil, denn dort hatte mich irgendetwas gebissen oder gestochen, drehte mich um und bückte mich, um nachzusehen, was da so heimtückisch im Halbdunkel auf ein nichtsahnendes Opfer lauerte. Die anderen waren sofort aufgesprungen und versuchten der Ursache meines Missvergnügens auf den Grund zu kommen. Und dann schrien sie plötzlich alle durcheinander: „Ein Pfeil! Ein Pfeil! Wie kommt denn der hierher? So eine Gemeinheit, in der Dunkelheit einen Pfeil liegenzulassen.“

Eros griff nach ihm, hob ihn auf, hielt ihn ans Licht, drehte ihn nach allen Richtungen, beäugte ihn stirnrunzelnd.

„Fällt euch etwas auf?“, sagte er. „Exakt dasselbe Modell. Wieder der gleiche Schaft, gleich lang, und die gleiche Spitze mit den gleichen vier Klingen.“

„Mit den gleichen vier spitzen Klingen“, knurrte ich. „Sonst hätte sie ja nicht gestochen.“

„Genau“, rief Eros in steigender Erregung. „Sie hätte nicht gestochen, wenn sie nur zwei spitze Klingen hätte, wenn sie also eine flache Pfeilspitze wäre, wie sie laut Mys Nikaia verwendet.“

Im selben Augenblick rief Smáragdos: „He, was ist denn das?“ und streckte uns entgegen, was er soeben gefunden hatte: einen weiteren Pfeil. Und es war, wie wir jetzt auf Anhieb feststellten, wieder dasselbe Modell. Nun begannen alle außer mir die Höhle systematisch abzusuchen. Und in der Tat, es fand sich noch ein dritter Pfeil, und es handelte sich erneut um dasselbe Modell.

Aller Blicke wandten sich Eros zu, so als ob er als Einziger das mit diesen drei Pfeilen verbundene Rätsel lösen könnte.

„Jetzt dürfte zur Genüge feststehen“, begann er mit nachdenklicher Stimme, „dass diese Höhle dem Täter als Versteck gedient hat. Dafür haben wir aber ein neues Rätsel: Warum hat er diese drei Pfeile liegenlassen?“

„Ich glaube“, sagte Smáragdos, „die hat er gar nicht liegenlassen, jedenfalls nicht absichtlich. Oder wieso wären sie sonst über die ganze Höhle verstreut gewesen?“

„Das ist wahr. Du meinst also, er hat sie verloren?“

„Genau. Verloren, wahrscheinlich ausgestreut.“

„Aus dem Köcher, meinst du?“

„Klar.“

„Und wie mag das passiert sein?“

„Sehr einfach. Indem er abgerutscht oder abgestürzt ist.“

„Unsinn“, sagte Gelos, der andere Polizist. „Du weißt genau, dass ein Köcher immer fest verschlossen ist. Eben, damit die Pfeile nicht verlorengehen, wenn irgendwas passiert.“

„Außer ich schieße gerade“, erwiderte Smáragdos unbeeindruckt. „Oder ich will gerade schießen. Oder ich habe gerade geschossen.“

„Ja, dann ist der Deckel natürlich offen. Aber den wirst du doch schließen, bevor du da herunterkletterst.“

„Schon. Aber unser unbekannter Freund ist ja eben nicht heruntergeklettert, sondern heruntergerutscht oder abgestürzt. Sonst hätte er nicht die Pfeile hier ausgestreut.“

Als Gelos darauf nichts erwiderte, sagte ich: „Somit dürfte also nicht nur feststehen, dass der Täter diese Höhle als Versteck benutzt hat, sondern auch, dass er hier heruntergerutscht oder abgestürzt ist, entweder während er gerade schoss, oder als er gerade schießen wollte, oder nachdem er gerade geschossen hatte, und dass ihm dabei diese Pfeile hier aus dem Köcher gefallen sind. Pflichtet ihr mir bei?“

Die anderen nickten, und Eros erwiderte: „Nur, dass wir das während er gerade schoss ausschließen können.“

Smáragdos: „Wie das?“

Eros: „Ich muss es euch zeigen. Ich glaube, wir können wieder hinausklettern, ja?“

Ich: „Ja, bitte. Mir reicht’s.“

Eros: „Gut. Gehen wir. Und dann werde ich euch zeigen, von wo aus er geschossen hat.“ Und zu den beiden Beamten gewandt: „Die Pfeile nehmt ihr vermutlich mit?“

Smáragdos: „Klar, Chef. Als Beweisstücke.“

Wir kletterten wieder ans Tageslicht zurück und weiter auf den Stamm des entwurzelten Baumes. Am Ansatz der Wurzeln streckte Eros seinen Arm aus und erklärte, dieser Punkt liege auf derselben Linie wie die Stelle, wo der Hund erschossen worden sei, kenntlich durch die Anwesenheit des neben ihm im Gras kauernden Mys, und die Stelle, wo Stephanos erschossen worden sei. Natürlich könnte es auch jeder andere Punkt auf dieser Linie gewesen sein. Aber dieser hier habe den Vorteil, dass er erhöht liege. „Und von oben schießt sich’s zweifellos leichter und zielsicherer. Stimmt’s?“

Diese Frage war an Smáragdos und Gelos gerichtet, und Smáragdos pflichtete Eros rückhaltlos bei. Gelos aber sagte: „O ja, es schießt sich viel leichter und zielsicherer von oben. Und man wird auch viel besser gesehen.“

„Damit magst du schon recht haben“, erwiderte Eros. „Andererseits ... Ich bin ja kein Mörder, aber ich kann mir vorstellen, dass ein Mörder abwägen muss, was ihm wichtiger ist: Geringere Gefahr, gesehen zu werden, oder größere Zielsicherheit. Vor allem wenn der, von dem er gesehen werden könnte, im nächsten Moment sowieso tot umfällt.“

Nun meldete ich mich wieder zu Wort: „Du wolltest uns doch erklären, bester Eros, warum man das während er gerade schoss ausschließen kann?“

Eros: „Ach ja. Nun, ich glaube, diese Frage beantwortet sich jetzt von selber. Aus demselben Grund können wir, glaube ich, auch das während er gerade schießen wollte ausschließen. Bleibt also das nachdem er gerade geschossen hatte. Also: Nachdem er gerade geschossen hatte, sprang er hier hinunter, schlüpfte eilends ins schwarze Loch und stürzte dort ab. Würdet ihr das unterschreiben?“

Simon: „O ja. Aber natürlich stellt sich da die Frage, weshalb er es so eilig hatte, dass er ausrutschte und abstürzte. Und wieso er keine Zeit gefunden hat, vorher seinen Köcher ordentlich zu verschließen. Sodass diese Pfeile unbemerkt herauspurzeln konnten.“

Eros: „Wann hat man‘s denn eilig, ich meine, als Mörder? Ich würde sagen: Wenn man verfolgt wird.“

Simon: „Aber wer sollte ihn denn verfolgen? Stephanos war doch allein auf weiter Flur. Und obendrein schon tot. Oder fast.“

Eros: „Muss es unbedingt ein Mensch gewesen sein?“

„Ah, der Hund“, rief Smáragdos aus und klopfte sich mit der freien Hand ein paarmal fest auf den Kopf, und gleichzeitig sagte Simon: „Ach so, du glaubst, dass sich der Täter vom braven Sperchon verfolgt fühlte?“

Eros: „Ist das nicht eine naheliegende Annahme? Warum hätte er ihn sonst erschossen? Nur so zum Spaß? Nein, er muss sich von ihm akut bedroht gefühlt haben, und zwar nur von ihm. Wir haben ja gehört, dass die anderen Hunde nichts Besseres zu tun wussten, als um ihren eben getroffenen Herrn herumzustehen und zu bellen. Aber dieser eine war eben der Intelligenteste und muss irgendwie gemerkt haben, wo der Übeltäter steckt, und versucht haben, seinen Herrn zu rächen. Und da war nun tatsächlich höchste Eile geboten, nicht nur wegen der Gefahr des Gebissenwerdens, sondern vor allem, weil er zu Recht befürchten musste, entdeckt zu werden. Denn nun strömten, wir haben’s gehört, die Jagdgehilfen und so weiter herbei und wären zweifellos auf ihn aufmerksam geworden, hätte er nicht rasch und vor allem zielsicher gehandelt. Und hätte er das nicht, so wären sie nur wenig später nicht nur durch Sperchons Gebell, sondern zusätzlich durch seine eigenen Schmerzensschreie auf ihn aufmerksam geworden. Würdet ihr das unterschreiben?“

Smáragdos machte ein zweifelndes Gesicht. „Alles gut und schön, Chef. Nur, ob es eine Antwort auf Simons Frage ist? Ich weiß nicht.“

Und Simon: „Warum nicht?“

Smáragdos: „Weil er sein Ziel auch diesmal nicht verfehlte und von da an keinen Grund mehr hatte, sich so zu beeilen, dass er in der Höhle abstürzte.“

Ich: „Bist du schon einmal von einem wilden Hund bedroht worden?“

Smáragdos: „Nein. Kann mich nicht erinnern.“

Ich: „Ich schon. Wer wie ich schon einmal von einem wilden Hund bedroht worden ist, der kann sich sehr gut erinnern und weiß, dass der Schrecken, den man dabei zu bekommen pflegt, so groß ist, dass man auch, nachdem die Gefahr vorüber ist, noch eine Zeitlang vor Angst zittert. Da kann es schon passieren, dass man in der Aufregung einen Fehltritt tut.“

Simon: „Ja, und außerdem kamen, Eros hat’s ja schon erwähnt, von allen Seiten die Jagdgehilfen und Nikaia selber auf die Lichtung gerannt. Bestand da nicht die Gefahr, dass sie auch ohne Sperchons Gebell und ohne seine eigenen Schmerzensschreie auf ihn aufmerksam würden?“

Eros: „Ganz meine Meinung. Schließlich war sogar schon Stephanos auf ihn aufmerksam geworden.“

Smáragdos, erstaunt: „Stephanos? Wie können wir das wissen?“

Eros: „Nun, wissen können wir’s natürlich nicht. Aber vermuten können wir’s. Erstens hat Gelos eben erst darauf hingewiesen, dass man von diesem erhöhten Platz aus nicht nur viel leichter und zielsicherer schießen kann, sondern auch viel besser gesehen wird.“

Smáragdos: „Na, deswegen dürfen wir doch nicht annehmen ...“

Eros, ohne ihn ausreden zu lassen: „Und zweitens, bester Smáragdos, haben wir alle gehört, wie Mys das Sterben des Stephanos geschildert hat. Er war zwar ziemlich weit entfernt, aber es war so still, dass er Stephanos’ Todesschrei deutlich hören und sogar verstehen konnte.“

Simon: „Ach ja, der Todesschrei. Er soll wie Licht geklungen haben.“

Eros: „Eben. Also, was ich vorhin sagen wollte. Wann hat es ein Mörder besonders eilig, oder, sagen wir, wann ist er besonders hektisch und nervös? Nun, entweder, wenn er verfolgt wird und befürchten muss, entlarvt zu werden. Oder wenn er befürchten muss, entlarvt worden zu sein.“

Simon: „Was hat das mit dem Todesschrei zu tun? Oder willst du damit sagen, dass er durch ihn entlarvt worden ist?“

Und Eros, mit Nachdruck: „Genau das will ich damit sagen. Ich meine, falls meine Deutung stimmt.“

Gelos: „Ach was, geschrien hat er. Das wissen wir durch eine Zeugenaussage. Aber was er damit gemeint hat, ist doch vollkommen egal. Hast du nicht selber gesagt: Es ist vollkommen egal, ob der Mörder vom Mordopfer gesehen wird oder nicht, wenn es sowieso gleich darauf tot umfällt?“

Eros: „Das habe ich gesagt. Aber da ist doch ein Unterschied. Schau, wenn das Mordopfer seinen Mörder sieht, bevor es tot umfällt, so weiß das vielleicht der Mörder, sonst aber niemand. Wenn dagegen das Mordopfer einen Schrei ausstößt, so können den auch andere hören. Und sie haben ihn gehört. Dafür haben wir die Zeugenaussage des Mys.“

Gelos, mit höhnischer Stimme: „Die Zeugenaussage des Mys. Hast du vergessen, was der gesagt hat? Ob ich was verstehen konnte? O ja. Aber es ergab für mich keinen Sinn. Oder so ähnlich. Und für die anderen hat es bestimmt auch keinen Sinn ergeben. Sonst hätten sie darüber geredet, und euch wäre es garantiert zu Ohren gekommen. Oder ist es euch zu Ohren gekommen, und ihr habt es nur nicht erwähnt?“ Und als wir alle drei den Kopf schüttelten: „Seht ihr? Also hat sich beim Todesschrei des Mordopfers keiner was gedacht.“

Eros: „Und du meinst, dass der Mörder deshalb keinen Grund hatte zu befürchten, entlarvt worden zu sein?“

Gelos: „Genau das will ich damit sagen.“

Eros: „Sicher, objektiv betrachtet, hatte er keinen Grund zu befürchten, entlarvt worden zu sein. Offenbar hat niemand dem Todesschrei des Stephanos irgendeine Bedeutung beigemessen, nicht einmal Nikaia. Trotzdem frage ich mich: Wusste er das? Konnte er es überhaupt wissen, während er hier stand, den wilden Hund auf sich zujagen sah und ihm kurzerhand ebenfalls einen Pfeil verpasste, um sich dann Hals über Kopf in der Höhle zu verkriechen und dort vor lauter Aufregung abzustürzen? Ich behaupte: Er konnte es nicht wissen. Er musste annehmen, dass den anderen der Sinn von Stephanos’ Todesschrei so, wie ich ihn verstehe, nicht verborgen geblieben war, mit anderen Worten, dass Stephanos ihn mit seinem Todesschrei verraten hatte.“

Gelos zuckte mit der Schulter und gab jede weitere Diskussion mit Eros als offenbar völlig hoffnungslos auf. Ich aber sagte zu Eros: „Na, und wie verstehst du ihn denn nun?“

Eros: „Stephanos’ Todesschrei Phos (Licht)? Na ja, ich denke mir halt, dass sich der Täter durch ihn verraten fühlte und deshalb nervös und hektisch wurde. Und dann denke ich mir: Wie konnte er sich denn durch ihn nur verraten fühlen? Antwort: Indem er sich persönlich angesprochen fühlte. Frage: Und wieso konnte er sich persönlich angesprochen fühlen? Antwort: Etwa deshalb, weil sein Name zufällig mit Stephanos’ Todesschrei beginnt? Was würde beispielsweise geschehen, wenn ich plötzlich schreie: Sma?“

Nun, wir konnten es sogleich sehen. Denn Eros hatte einen lauten Schrei ausgestoßen. Und der Erfolg war, dass Smáragdos heftig zusammenzuckte und beinahe vom Baumstamm gepurzelt wäre. Da lachte Eros auf und sagte: „Na, seht ihr? Und das mit reinem Gewissen. Was wäre erst geschehen, hätte Smáragdos ein schlechtes Gewissen?“

Während Smáragdos ihn verständnislos anstarrte und Gelos’ Miene sich mehr und mehr verfinsterte, rief Simon mit vor Erregung zitternder Stimme: „Ah, meinst du etwa Phósphoros, den Sklaven und Vertrauten des Demetrios?“ Gleichzeitig sagte ich, kaum weniger erregt: „Du denkst offenbar an Phósphoros, den die Leute Wunderschütze nennen?“

Eros: „Genau. Phósphoros, den Wunderschützen.“ Und zu Smáragdos und Gelos gewandt: „Sagt ehrlich: Waren das nicht zwei Meisterschüsse? Ihr könnt das sicher beurteilen.“

Gelos: „Die hier? O ja, zwei Spitzenleistungen. Das muss man zugeben.“

Eros: „Seht ihr? Ja, also wie gesagt. Ich vermute, dass Phósphoros, der Wunderschütze, Stephanos erschoss, und dass Stephanos ihn sah und seinen Namen rufen wollte und mitten im Rufen zusammenbrach und vom Tod ereilt wurde.“

Andächtige Stille. Schließlich sagte Gelos: „Na, und was geschieht jetzt?“

„Was jetzt geschieht?“, sagte ich mit Nachdruck. „Jetzt gehen wir zu Demetrios, und ihr werdet Phósphoros verhaften und ins Gefängnis werfen. Ich werde gegen ihn Anklage wegen vorsätzlichen Mordes erheben. Und gleichzeitig sollte man wohl untersuchen, ob er nicht in höherem Auftrag gehandelt hat. Ob der eigentlich Schuldige nicht Demetrios, sein Herr, ist. Und wenn ja, dann wäre das ja ein Brudermord, vergleichbar mit der Geschichte von Kain und Abel in den heiligen Schriften der Juden und Christen.“

Siehe auch

 

 

 

 

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"Sehr spannend und informativ, gefällt mir als Griechenlandfan sehr gut." (Tina)

 

 

 

 

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"Eine unterhaltsame Art an Informationen über die Türkei zu kommen. Wiedereinmal ein tolles Sachbuch in dem man immer weiter schmökern kann." (Leonard Eden)

Impressum

Texte: Karl Plepelirs
Cover: Bohumil Kubišta: Svatý Šebestián (1912) - Europeana, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47356896
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2021

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