Melk an der Donau, Rathausplatz, überragt von dem berühmten, hoch über dem Städtchen quasi schwebenden Benediktinerstift.
Melk. Montag, 16. Oktober 1995. Abend.
Hurra, ein Wunder ist geschehen. Von Susi, meiner Lebensgefährtin, habe ich einen ganzen Tag und eine ganze Nacht freigekriegt. Ich durfte mich allein, ohne sie, in mein Auto setzen, um meine Verwandten in Melk mit meinem Besuch zu erfreuen.
Anlass der Fahrt ist der achtzigste Geburtstag meiner Mutter. Sie wohnt mit meinem jüngeren Bruder und dessen Familie unter einem Dach. Zu Muttis Kummer habe ich sie seit Jahren nicht mehr besucht. Ich bin‘s halt einfach leid, mir ständig ihre Vorwürfe wegen meines sündhaften Lebenswandels anhören zu müssen. Zudem versäumt sie es nie, über meinen Bart zu lästern. Doch jetzt, wo ihr achtzigster Geburtstag bevorsteht ...
Natürlich erwarte ich, nach meiner ungebührlich langen Abwesenheit von allen freudig begrüßt zu werden. Aber nein: Am Gartentor empfängt mich nur mein „kleiner“ Bruder. Und er wirkt alles andere als freudig.
„He, Martin“, sage ich verwundert. „Was ist denn los mit dir? Wieso ...“
„Ja, Ferdinand, hast du keine Nachrichten gehört?“
Verwirrt schüttle ich den Kopf.
„Stell dir vor, Briefbomben sind schon wieder ...“
„Wie? Heute?“
„Ja! Ja!“
„Ha, diese faschistischen Schweine! Was ist passiert?“
„Eine Flüchtlingshelferin ist verletzt worden. Und, stell dir vor, unser Primar.“
„Du meinst: Der Chefarzt vom Melker Krankenhaus?“
„Ja, der Doktor Zaim. So haben sie‘s jedenfalls berichtet. Und drum sind wir jetzt alle ganz aus dem Häuschen.“
„Na, das glaub ich. Doktor Zaim? Was ist denn das für ein Name?“
„Ein arabischer. Vermutlich. Er stammt nämlich aus Syrien. Ein allseits beliebter Arzt, Gynäkologe vom Fach. Keiner hat was gegen ihn. Und jetzt schicken ihm diese Verrückten eine Briefbombe. Aber so komm doch endlich herein.“
Und noch immer ist keine der Damen des Hauses herausgekommen, um mich zu begrüßen, nicht unser Mütterlein, nicht Doris, Martins Eheweib, und auch nicht Andrea, sein Töchterlein. Wir stürmen die untere Wohnung. Das ist die unserer Mutter. In der oberen lebt Martin mit seiner Familie. Dort hocken sie wie festgenagelt vor dem Fernseher, Mütterlein und Martins Doris, nicht aber Klein-Andrea.
Jetzt erst werde ich begrüßt, wie es sich gehört, und Doris ruft: „Es ist ja gar nicht unser Doktor Zaim. Sie haben jetzt ausdrücklich gesagt: Der aus Syrien gebürtige Gemeindearzt von Mistelbach.“
„Na, Gott sei Dank“, brummt Martin. „Aber trotzdem. Eine Sauerei sondergleichen.“
Und damit verstummt er, und sogleich verbreitet sich eine merkwürdige Aura der Trübsal über den Raum.
Um die gedrückte Stimmung aufzuheitern, sage ich mit betont fröhlicher Stimme: „Na? Und eure Andrea? Wo steckt sie denn?“ – dies in der Erwartung, dass sie sogleich in eine Lobeshymne auf die Fortschritte Klein-Andreas ausbrechen werden.
Aber nein, nichts dergleichen. Beide Damen stimmen wie auf Kommando ein sagenhaftes Geheul an. Martin macht ein Gesicht zum Fürchten.
„Sie ist ausgerissen“, schreit er.
„Wie bitte?“
„Ausgerissen. Abgehauen. Durchgebrannt.“
Und Doris, schluchzend: „Ja, noch dazu mit ihrem Freund.“
„Aber geh. Euer Kind hat doch noch keinen Freund.“
Doch im Stillen rechne ich rasch nach, wie alt „das Kind“ mittlerweile schon geworden sein mag, und komme zu meiner Verblüffung auf fünfzehn Jahre.
Und Andreas Omi, mit unerwarteter Heftigkeit: „Und ob sie einen hat. Noch dazu ein Ausländerkind, so einen schwarzen Kerl.“
„Was? Einen Schwarzen?“
Und Martin, mit leidender Miene: „Ach wo. Sie übertreibt halt wie immer. Den Sohn vom Doktor Zaim.“
„Ah, von dem Primararzt, von dem ...“
„Genau.“ Und zur Omi gewandt: „Was du da sagst, das ist genau die Einstellung dieser Verrückten, die an Menschen aus dem Ausland und solche, die ihnen zu helfen versuchen, Briefbomben versenden.“
Die Omi funkelt ihn zornig an, reißt die Zimmertür auf und stürmt hinaus.
„Ja, sagt einmal, wie geht’s denn bei euch zu?“, murmle ich konsterniert.
„Ja, aber erst, seit unser Kind ...“, beginnt Doris und verstummt abrupt.
„Durchgebrannt ist?“
„Nein. Sondern seit sie mit diesem Alexander geht.“
„Alexander? Ist das der Sohn des Primars ...“
„Ja, ja. Genau der.“
„Hm. Sagt, was habt ihr eigentlich gegen ihn einzuwenden? Ich meine, dass ein Mädchen in ihrem Alter einen Freund hat, ist heutzutage doch nichts Ungewöhnliches, oder?“
Und Martin: „Sehr richtig. Ich selber hab ja auch gar nichts dagegen einzuwenden. Aber die Doris findet halt das Ganze reichlich verfrüht. Sie will nicht wahrhaben, dass unsere Andrea kein kleines Kind mehr ist, und meint, sie soll sich lieber auf die Schule konzentrieren.“
Und Doris: „Ja, kannst du leugnen, dass ihre Leistungen in der Schule enorm nachgelassen haben, seit ...“
„Ja, und warum? Nicht, weil sie mit dem Alexander befreundet ist. Sondern weil du ihr die Hölle heiß machst, und die Omi noch dazu.“
Doris beginnt unvermittelt neuerlich zu schluchzen und stürzt im nächsten Augenblick aus dem Zimmer.
Jetzt sind wir also nur noch zwei. „Du meinst also, diese Vorwürfe haben sie ...“
„Bestimmt.“
„Und seit wann ist sie ...“
„Seit gestern. Gestern Vormittag war sie schon nicht mehr in der Schule, und der Alexander auch nicht.“
„Und habt ihr schon bei der Polizei ...“
„Aber ja. Selbstverständlich.“
Nächster Morgen. Omis Geburtstag.
Er beginnt, wie es sich gehört: Fröhlich, feierlich, festlich. Doch dann schlägt Omis Stimmung überraschend um. Anlass ist ihre Frage, wann ich denn nach Graz heimzufahren gedenke, genauer, meine Antwort. Denn diese lautet: „Heute Nachmittag.“ Und löst erneute Klage aus: Wenn ich schon so selten nach Melk komme, so wäre ich es doch meiner alten Mutter schuldig, länger als nur einen Tag zu bleiben, und ich habe doch zur Zeit eh keine Reiseleitungen, und da steckt sicher wieder diese andere Frau dahinter, mit der ich sündhafterweise zusammenlebe.
In der Tat, mehr als dieser eine Tag wurde mir tatsächlich nicht genehmigt. Ja, ja, so weit ist es mit mir gekommen.
Mehr als zwei Jahre früher.
Graz. Freitag, 9. Juli 1993. Abend.
Ich bin gerade mit den letzten Vorbereitungen zu einer längeren Reise beschäftigt, die ich am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrüh antreten und leiten soll. Meine Frau betritt das Zimmer, teilt mir mit, ihr sei zu Ohren gekommen, dass ich schon wieder fremdgehe, und schmeißt mich raus. Genauer, sie fordert mich unmissverständlich auf, auszuziehen und mich mit der Freundin zusammenzutun.
Damit stellt sie mich freilich vor ein Problem, mit dem sie bestimmt nicht gerechnet hat. Ich kultiviere nämlich im Augenblick zwei Freundinnen. Welche von diesen zweien sie meint, ist selbstverständlich unerheblich. Mit welcher von ihnen ich mich aber jetzt „zusammentun“ soll, wie sie es nannte, das ist allerdings die entscheidende Frage. Die eine heißt Gitti, die andere Susi. Susi ist im Bett gut, ansonsten weniger. Gitti ist überall sonst gut, im Bett hingegen weniger.
Und so komme ich nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss, dass ein Leben mit Gitti per saldo das angenehmere sein müsste. Ja, aber leider haben soeben die Sommerferien begonnen, und Gitti ist, für mich unerreichbar, bereits ins Ausland entschwunden. Susi sehe ich zwar für die Dauer dieser unmittelbar bevorstehenden Reise auch nicht. Doch bei der nächsten fährt sie mit und teilt dabei sogar das Hotelzimmer mit mir.
Sobald ich also von der ersten Reise heimgekehrt bin, versuche ich in den zwei Tagen, die ich dafür vor dem Beginn der nächsten zur Verfügung habe, zu wiederholten Malen, Gitti zu erreichen, aber ohne jeden Erfolg. (Das Handyzeitalter ist ja eben erst angebrochen.)
Wer sitzt also auf der nächsten Reise im Bus und strahlt mich an? Die Susi. Und wer liegt des Nachts neben mir im Bett und macht sich an mich heran? Die Susi. Ja, und da kann ich irgendwann nicht umhin, ihr zu eröffnen, dass ich von zu Hause auszuziehen gedenke. Und dass wir daher, falls sie einverstanden sei, zusammenziehen könnten. Und sie? Sie zeigt sich einverstanden, ja begeistert.
Sobald also die sommerliche Reisesaison vorüber ist und ich, bildlich gesprochen, wieder etwas Luft habe, miete ich für Susi und mich eine Wohnung. Trotzdem bemühe ich mich, mit meiner Frau ein möglichst gutes Einvernehmen zu bewahren. Aber genau dieser Umstand bereitet Susi Magengeschwüre und schlaflose Nächte und veranlasst sie, mich in regelmäßigen Abständen mit unleidlichen Anwandlungen zu bestrafen.
Umso größer, umso heftiger, umso quälender wird meine unerfüllte und unerfüllbare Sehnsucht nach meiner geliebten Nasrin, meine Trauer um sie, mein Schmerz über ihren Verlust. Sie war Perserin und studierte Medizin in Graz. Ihr Ehemann ist Ägypter. Wegen ihrer Liebe zu mir ist sie zu meiner maßlosen Bestürzung einem sogenannten Ehrenmord zum Opfer gefallen. Das ist mittlerweile fünfzehn Jahre her. Aber die Sehnsucht, genauer, die sehnsüchtige Erinnerung an sie, ist, nach so vielen Jahren noch, frisch wie am ersten Tag. Meine Trauer ist ungebrochen. Und der Schmerz kocht vielleicht nicht mehr so heftig wie zu Anfang. Aber er erweist sich mit jedem Tag aufs Neue als unheilbar.
Ja, auch wenn mich mein Verstand eines Besseren zu belehren versucht – für mein Gefühl ist Nasrin nicht tot. In meinem Herzen lebt sie weiter. Keiner Frau ist es bisher gelungen, sie mir von dort herauszureißen. Und es wird gewiss auch in Zukunft keiner Frau gelingen.
Melk. Dienstag, 17. Oktober 1995. Morgen.
„Geh, Ferdi, denk doch ausnahmsweise weniger an diese Frau und mehr an deine alte Mutter. Wer weiß, wie lange du mich überhaupt noch hast. Diese Frau dagegen hast du noch lang genug. Hab ich recht?“
Also sprach meine Mutter, nachdem ich ihr verraten hatte, dass ich schon heute Nachmittag heimzufahren gedachte. Mit „dieser Frau“ ist natürlich Susi gemeint.
„Hm, ja“, murmle ich nachdenklich.
„Ruf sie doch einfach an und sag, hier liege ein Notfall vor, und du kannst daher erst morgen Abend heimkommen. Das wird sie hoffentlich einsehen. Und überhaupt darfst du dich von ihr nicht gar so gängeln lassen.“
Mit diesen Worten hat sie zweifellos den Nagel auf den Kopf getroffen. Den Nagel auf den Kopf und mich in meiner Ehre.
„Darf ich telefonieren?“
„Du bleibst noch einen Tag?“, ruft Omi aus und fällt mir um den Hals.
Ich schlurfe ins Vorzimmer zu ihrem Telefon, wähle die Nummer des Krankenhauses, in dem Susi als Krankenschwester arbeitet, bekomme sie nach entsprechender Wartezeit an den Apparat und schildere ihr mein Anliegen.
Wie befürchtet, reagiert sie denkbar sauer. Aber sie schluckt, wie man so schön sagt, die Kröte. Allerdings muss ich hoch und heilig versprechen, nicht noch später heimzukommen.
Damit ist der Tag gerettet. Und tatsächlich übersteht Omi die zahlreichen anstrengenden Besuche zu ihren Ehren bravourös. Unsere Verwandtschaft setzt sich nämlich nicht wie bei den meisten Familien aus zwei Sippen zusammen, sondern aus deren dreien. Und das kommt so. Mein Vater ist im Krieg gefallen. Meine Mutter heiratete später noch einmal, und dieser Ehe entstammt Martin. Während nun ich den Namen meines leiblichen Vaters, Hahn, trage, heißt meine Mutter, eine geborene Longhi, seit ihrer Verehelichung mit meinem inzwischen verstorbenen Stiefvater wie dieser Swoboda und ebenso Martin samt Familie. Somit gibt es bei uns eine Hahn-Verwandtschaft, eine Longhi-Verwandtschaft und eine Swoboda-Verwandtschaft, und aus allen dreien finden sich Gratulanten ein und versüßen unserer Omi trotz der allgemeinen Bestürzung über Klein-Andreas Verschwinden ihren Ehrentag.
Am Abend ist alles glücklich überstanden. Wir sitzen in Omis Wohnzimmer zusammen, Omi, Doris, Martin und ich, schweigen uns um des lieben Friedens willen gegenseitig an. Da läutet das Telefon. Wie von der Tarantel gestochen, springt Martin auf und saust hinaus ins Vorzimmer zum Telefon. Von dort ist längere Zeit nicht viel zu hören. Doch zuletzt hört man ihn vernehmlich rufen: „Ah, weißt du was? Der Ferdinand ist gerade bei uns auf Besuch. Der müsste eigentlich Zeit haben ... Genau, der kommt und holt sie ab.“
Er legt auf, stürmt herein und schreit: „Unsere Ausreißer sind aufgetaucht.“
Sagenhaftes Freudengeheul. Heiße Freudentränen.
Doris heult: „Wo denn?“
Omi heult: „Wer hat angerufen?“
Martin schreit: „Der Onkel Roger.“
Onkel Roger: Das ist unser französischer Onkel in Nizza, ein Hahn-Verwandter, Ehemann der (inzwischen verstorbenen) Schwester meines Vaters.
Martin wirft mir einen durchdringenden Blick zu und sagt mit auffallend leiser, beschwörender Stimme: „Du, Ferdinand? Du hast doch Zeit. Würdest du ...“
„Hinfahren und sie abholen?“, ergänze ich.
„Würdest du das für uns tun? Du siehst ja ...“
„Na klar. Ehrensache.“
„Jö, bist du ein Schatz“, jubelt Doris, fällt mir um den Hals und küsst mich auf die Wange.
Nun, diese Liebesbezeigung ist mir eigentlich schon Lohns genug, und ich sage lachend: „O fein! Wenn du mich auch noch auf die andere Wange küsst, fahre ich natürlich noch lieber, noch früher und noch schneller. Du kennst doch diese Bibelstelle, wo es heißt: Wenn dich eine schöne Frau auf die rechte Wange küsst, dann halte ihr auch die andere hin. Oder so ähnlich.“ Und mit einem Blick auf den grinsenden Martin: „Wann hast du dir denn gedacht, dass ich fahren soll?“
Doris fällt mir tatsächlich noch einmal um den Hals und küsst mich auch auf die andere Wange, und Martin klopft mir auf den Rücken und sagt: „Du, das ist aber echt nett von dir. Ich weiß nicht, was wir ohne dich ... Wir müssen ja beide arbeiten. Ja, wann ...“
Und er blickt sich fragend nach Doris um.
„Sofort“, ruft diese.
„Sofort? Aber das können wir doch unserem Ferdinand nicht zumuten. Jetzt, mitten in der Nacht.“
Und ich: „Warum nicht? Jetzt in der Nacht ist weniger Verkehr.“
Und Martin: „Na ja, wenn’s dir wirklich nichts ausmacht ... Aber ich glaube, die Zaims sollten wir ...“
Und Doris, ohne Martin ausreden zu lassen: „Die Zaims! Ja, klar. Die müssen wir sofort ...“
Und während sie noch spricht, stürzt sie auch schon ans Telefon, um Alexanders Eltern die Freudenbotschaft zu verkünden.
Im selben Moment fällt mir ein, dass ich ja auch jemanden anzurufen habe, und überlege krampfhaft hin und her, frei nach dem Motto: Wie sag ich’s meinem Kinde? Und als Doris zurückkommt, befinde ich mich in einem Zustand äußerster Verwirrung und überhöre beinahe, was sie zu berichten weiß.
„Sie fährt mit“, ruft sie triumphierend aus. „Natürlich nur, falls der Ferdi nichts dagegen hat.“
„Wer?“, murmle ich geistesabwesend.
„Na, die Frau Doktor. Die Mutter vom Alexander.“
„Nein, nein, natürlich nicht. Kann ich auch schnell telefonieren?“
Ich wähle meine eigene Nummer und versuche der Susi schonend beizubringen, dass ich morgen doch noch nicht heimkommen kann, weil ich rasch nach Frankreich fahren muss, und sie möge mir darum ...
Hier endet meine wohlgesetzte Rede.
„Nach Frankreich?“, erwidert sie, und ihre Stimme klingt ungläubig, fassungslos, entsetzt. „Das dauert doch ...?“
„Bestimmt“, antworte ich kleinlaut, wie es sich für einen wohldressierten Mann geziemt. Und ich spüre bereits, wie sich über meinem Haupt ein Donnerwetter zusammenbraut. Doch zugleich spüre ich, wie irgendetwas in mir gegen diese Dressur aufzubegehren beginnt. Habe ich die eheliche Dressur nur dazu abgeschüttelt, um jetzt vonseiten der lieben Susi eine womöglich noch strengere Dressur über mich ergehen lassen zu müssen?
Plötzlich höre ich am anderen Ende der Leitung vernehmliches Schluchzen.
„Geh, Susi, sei vernünftig. Schau, das muss sein.“
„Ja, deine Familie kommt bei dir immer zuerst. An mich denkst du nie.“
„Na, na. Jetzt übertreibst du aber.“
„Freilich, wenn man dir einmal die Wahrheit sagt, dann übertreibt man gleich. Du liebst mich ja gar nicht, sonst würdest du von vornherein nicht auf solche Ideen kommen. Wer weiß, mit wem du dich in der Zwischenzeit herumtreibst.“
„Liebe Susi, das geht zu weit. Ich treibe mich mit niemandem herum. Was soll denn das?“
„Fährst du allein, oder fährt jemand mit?“
„Na ja, die andere Mutter ... habe ich gerade gehört ... die fährt mit.“
„Soso, die fährt mit. Und mit der bist du dann tagelang zusammen, was?“
„Ja, was glaubst du denn von mir? Und überhaupt: Es wäre doch ...“
An dieser Stelle fällt mir Susi ins Wort und schreit – jawohl, schreit, kreischt, brüllt: „Weißt du was? Wenn du das machst, dann brauchst du gar nicht mehr heimzukommen.“
Es macht klick, und die Leitung ist tot.
„He, Ferdinand, wie schaust denn du drein?“, ruft Martin, sichtlich bestürzt, während ich ins Wohnzimmer zurückkehre.
„Ach, die Susi. Die ist stinksauer.“
Martin wirkt zutiefst erschrocken, so als befürchte er, ich könnte ihr zuliebe meine Zusage rückgängig machen. Darüber muss ich herzlich lachen (und spüre zugleich, wie mich das Lachen innerlich befreit).
„Keine Angst. Ich fahre. Und zwar sofort.“
Allen dreien fällt ein Stein vom Herzen. Und dann greift sich Doris, die ich ja in ihrem Bericht unterbrochen habe, an den Kopf und ruft: „Ach ja, was ich noch sagen wollte: Die Frau Doktor Zaim hat angeboten, dich am Lenkrad hie und da abzulösen. Ob dir das recht ist?“
„Na, und ob mir das recht ist“, erwidere ich und fühle mich durch diese Mitteilung sogar außerordentlich erleichtert. Es ist ja doch eine ganz schön weite Strecke, auch wenn ich durchgehend Autobahn habe.
In rekordverdächtigem Tempo mache ich mich reisefertig, Doris überreicht mir ein riesiges Fresspaket und verabschiedet mich mit einem weiteren Küsschen, und Martin lotst mich kreuz und quer durch das nächtliche Melk bis zu einer Stelle, wo wir auf dem Gehsteig zwei dunkle Gestalten stehen sehen. Und im selben Moment, wo mein Blick auf die Frau Doktor fällt, durchzuckt es mich von Kopf bis Fuß, und ich habe eine Halluzination und glaube, wie schon so oft, Nasrin leibhaftig vor mir zu sehen. So sehr bin ich nach über fünfzehn Jahren innerlich noch immer von ihr erfüllt. Die Figur der Frau Doktor, ihre Gesichtszüge, soweit sie in der Dunkelheit zu erkennen sind, ihre Stimme – all dies erinnert mich an meine Nasrin. Nur, ihre Worte dringen nicht bis in mein Bewusstsein vor. Das Gleiche gilt für das, was der Herr Doktor zu mir sagt. Ich merke nur, dass er mir plötzlich ein paar Tausender in die Hand drückt und sie um keinen Preis zurücknehmen will.
Aus dieser Verwirrung (oder besser, geistigen Umnachtung) erwache ich erst durch zwei brüderliche Küsse. Gleichzeitig fordert mich Martin auf, ihn nicht nach Hause zu bringen, sondern auf der Stelle loszufahren.
Also gut: Kurze Verabschiedung. Unverzüglicher Start.
Die Frau Doktor versinkt in anhaltendes Schweigen, wirft mir aber, soweit ich in der Dunkelheit aus den Augenwinkeln erkennen kann, immer wieder verstohlene Blicke zu. Erst nachdem wir auf die Autobahn eingebogen sind, bricht sie das herrschende Schweigen.
„Wie lang werden wir denn in etwa brauchen?“
Ich werfe ihr einen raschen Seitenblick zu, der mich abermals in einige Verwirrung stürzt. „Na ja, wenn wir in einem Zug durchfahren ... Das sind ja weit über tausend Kilometer, die jetzt vor uns liegen. Und drum ist es wirklich sehr lieb von Ihnen, dass Sie mich ab und zu ablösen wollen.“
„Versteht sich doch von selbst. Sind das eigentlich richtige Verwandte von Ihnen? Ich meine, wo Alexander und Andrea jetzt sind?“
„O ja. Sagen Sie, ist Ihr Alexander auch von daheim geflüchtet?“
„Nein. Wieso geflüchtet?“
„Na, die Andrea ist von daheim geflüchtet.“
„Haben sie ihr Vorwürfe gemacht?“
„Ich glaube, ja.“
„Und wieso? Weil sie mit unserem Alexander ...?“
„Klar.“
„Na so was.“
Sie schüttelt den Kopf und versinkt erneut in brütendes Schweigen. Mir selber geht, frei nach Goethe, ein Mühlrad im Kopf herum.
Endlich finde ich den verlorenen Faden wieder.
„Verstehe ich Sie also richtig? Sie haben Ihrem Alexander keine Vorwürfe gemacht?“
„Sie meinen, wegen der Andrea? Nein, wirklich nicht. Da ist also die Idee, scheint’s, von ihr ausgegangen.“
„Schaut so aus. Sie soll die Vorwürfe ihrer Oma nicht mehr ausgehalten haben.“
„Was für Vorwürfe?“
„Tja, das ist es ja. Äußerst unsachliche, würde ich sagen.“
„So? Welche denn?“
„Wollen Sie’s wirklich wissen?“
„Ja, wieso denn nicht?“
Und dazu lässt sie ein entzückendes Lachen hören, das mich sofort wieder an Nasrin erinnert und mich veranlasst, ihr einen schnellen Blick zuzuwerfen.
„Ja, wissen Sie, sie ist halt noch voller Vorurteile.“
„Welche Vorurteile denn?“
„Na ja, so ausländerfeindliche halt.“
„Das gibt’s doch nicht. Wo wir doch so gut integriert sind. Wir haben nie irgendwelche Probleme gehabt, die auf Ausländerfeindlichkeit zurückzuführen wären.“
„Und diese Briefbomben gestern?“
„Na freilich, diese Briefbomben machen uns Angst. Aber in Melk, da akzeptiert man uns wie Einheimische. Übrigens besitzen wir schon lang die österreichische Staatsbürgerschaft.“
„Und dabei fällt mir auf, dass Sie praktisch akzentfrei sprechen.“
„Ja? Danke für das Kompliment.“
Hier versickert wieder das Gespräch. Auf den nächsten zehn oder zwanzig Kilometern begnüge ich mich mit gelegentlichen Seitenblicken und kann beobachten, dass auch sie mir nach wie vor verstohlene Blicke zuwirft.
„Frau Doktor?“, beginne ich erneut.
„Ach, sagen Sie doch Frau Zaim zu mir. Ich bin keine Frau Doktor.“
„Also gut. Frau Zaim. Ihr Sohn Alexander. Haben Sie ihm diesen Namen gegeben, um ihm eventuelle Schwierigkeiten wegen Ausländerfeindlichkeit und so zu ersparen?“
„Nein, überhaupt nicht. Damals hat es die in Österreich ja noch gar nicht gegeben. Jedenfalls haben wir nichts dergleichen gemerkt. Ja, also, warum wir unseren Sohn Alexander genannt haben. Das ist so. Sie denken wahrscheinlich, das ist ein typisch abendländischer Name.“
„Na freilich.“
„Das ist aber ein großer Irrtum. Er ist auch im Orient bekannt und beliebt.“
„So? Hätte ich nicht gedacht.“
„Das glaube ich Ihnen gern. Im Arabischen sagt man nämlich nicht Alexander, sondern Iskandar.“
„Aha, und da nennen Sie also Ihren Sohn daheim Iskandar. Sehe ich das richtig?“
„Ach, jetzt schon lang nicht mehr. Übrigens wird bei uns ausschließlich deutsch gesprochen.“
„Aha.“
„Apropos Alexander“, fahre ich nach längerem Schweigen fort. „Wissen möcht ich, wie weit die heutige Jugend geht. Ich meine, in der Liebe.“
„Sie meinen, wie weit Alexander und Andrea gehen?“
„Ja eben. Ob sie schon ... na ja, ob schon was haben miteinander. In unserer Jugend ist man in diesem zarten Alter ja höchstens gegangen miteinander. Wir waren ja nicht einmal aufgeklärt. Aber heutzutage ... Hat Ihnen Ihr Alexander vielleicht was geflüstert?“
„M-m, hat er nicht. Und ich habe mich, ehrlich gesagt, auch nie getraut, ihn danach zu fragen. Aber wenn Sie meinen persönlichen Eindruck hören wollen ...“
„Ja?“
„Also, mir kommen sie halt immer so vor wie Daphnis und Chloe, falls Sie die Geschichte kennen.“
„Ja, glauben Sie? Na, freilich kenne ich die Geschichte von Daphnis und Chloe. Sehr gut sogar. Lese ich doch auf jeder Griechenlandreise vor. Ich bin nämlich Reiseleiter.“
„Oh, Reiseleiter? Reiseleiter sind Sie? Und Sie lesen auf Ihren Reisen Daphnis und Chloe vor?“
Und das klingt so, wie wenn das eine Weltsensation wäre. Überdies kann ich aus den Augenwinkeln beobachten, wie mir die Frau Zaim ihr Gesicht voll zuwendet und heftig den Kopf schüttelt.
„Ja, ja“, murmle ich mit einiger Verwunderung. „Wieso erstaunt Sie das so?“
„Weil ... Weil ... Ich hab’s nämlich auch auf einer Griechenlandreise kennengelernt.“
„Was? Daphnis und Chloe?“
„Ja. Ja. Mit einem sehr netten Reiseleiter. Der hat’s vorgelesen. Ist aber schon lang her.“
„Aha, machen das andere auch? Freut mich zu hören.“
Darauf erwidert sie nichts mehr, sondern bleibt mindestens ein paar Kilometer weit stumm, ohne freilich ihr Gesicht von mir abzuwenden. Und das verwirrt mich auf die Dauer so sehr, dass mir überhaupt nichts zu sagen einfällt. Gleichzeitig fühle ich eine unerklärliche Erregung in mir aufsteigen und merke, dass mein Druck aufs Gaspedal nachgelassen hat.
Schließlich wendet sie ihr Gesicht wieder von mir ab, lehnt sich zurück und beginnt langsam und auffallend zögernd: „Sagen Sie, wär’s möglich ... wär das möglich, dass wir uns schon einmal begegnet sind?“
Ob wir uns schon einmal begegnet sind? Jetzt bin ich vollkommen verwirrt. Mein Gefühl sagt mir: Ja. Mein Verstand sagt mir: Nein. Wenn Gefühl und Verstand im Zwiespalt sind, wer hat dann recht? Natürlich der Verstand. Oder nicht?
„Dass wir uns schon einmal begegnet sind? Nein. Nein, bestimmt nicht. Wieso ... Wieso glauben Sie?“
Doch anstatt meine Frage zu beantworten und mich von meinem immer noch andauernden Zwiespalt zu erlösen, versinkt sie neuerlich in brütendes Schweigen. Wenn ich doch nur ihr Gesicht sehen könnte! Meine mir völlig unerklärliche Erregung wächst, die Geschwindigkeit des Wagens sinkt.
Irgendwann wendet sie sich wieder mir zu und betrachtet mich, soweit ich erkennen kann, lange Zeit mit beunruhigender Aufmerksamkeit, bleibt aber stumm.
Schließlich glaube ich es nicht mehr auszuhalten und schicke mich gerade an, sie zu fragen, wieso sie mich so intensiv, und ohne ein Wort zu sagen, anschaut, oder ob wir uns vielleicht doch schon einmal begegnet sind, oder ihr zu gestehen, dass sie mich an eine Frau erinnert, die ich vor langer Zeit gut gekannt habe, die aber zu meinem allergrößten Leidwesen nicht mehr unter den Lebenden weilt. Da höre ich sie mit auffallend leiser und unsicherer Stimme sprechen.
„Sagen Sie, Herr Swoboda, sind Sie ... tun Sie schon lang reiseleiten?“
„O ja“, erwidere ich, erleichtert über den Aufschub, „schon seit gut zwanzig Jahren. Aber ...“
„Seit gut zwanzig Jahren?“, ruft sie dazwischen. Und jetzt klingt ihre Stimme so aufgeregt, wie wenn ihr der Engel Gabriel erschienen wäre, um ihr eine frohe Botschaft zu verkünden.
„Ja, ja, nur ... Wissen Sie, meine Melker Verwandten heißen schon Swoboda. Aber ich nicht.“
„Nein?“
„Nein, ich heiße Hahn.“
„Hahn?“, stößt sie mit noch aufgeregterer Stimme hervor. „Und ist Ihr Vorname ... Ist Ihr Vorname vielleicht ... Ferdinand?“
„Ja, ja. Aber warum ...“
„Waren Sie ... Haben Sie sich vielleicht früher einmal rasiert, ich meine, regelmäßig?“
„Ja ... ja, ja ... Wieso ...“
Sie lässt mich aber nicht ausreden, sondern ruft in höchster Aufregung: „Ha! Dann hab ich mich also doch nicht getäuscht. Aber durch Ihren Bart und dadurch, dass ich dachte, Sie heißen Swoboda wie die Andrea und der Rest der Familie ... Aber dass Sie mich nicht erkennen. Erkennen Sie mich wirklich nicht?“
Ich nehme zur Sicherheit Gas weg und werfe der Frau Zaim einen raschen Blick zu und glaube zu erkennen, wie sie mich mit großen Augen anstarrt. Und wieder habe ich das Bild meiner Nasrin vor mir. Aber das ist doch nicht möglich. Welcher Dämon narrt mich mit einem solchen Trugbild?
„Sie erinnern mich ...“, murmle ich in möglichst sachlichem Ton, um nicht meine Erregung mit mir durchgehen zu lassen, „Sie erinnern mich wahnsinnig an eine Frau, die ich einmal kannte, aber ...“
Schweigen.
„Sagen Sie“, fahre ich zögernd fort, „Sie kommen doch aus ... Sie sind doch Syrerin. Oder nicht?“
„Mein Mann ist Syrer“, sagt sie ebenso leise und ruhig wie ich; aber die unterdrückte Erregung in ihrer Stimme entgeht mir nicht. „Ich selber bin ...“
Sie stockt.
„Perserin?“, stoße ich hervor und werfe ihr einen raschen Blick zu.
„Ja“, flüstert sie.
„Ja?“, rufe ich und trete auf die Bremse. „Heißen Sie zufällig ... Heißen Sie mit Vornamen zufällig Nasrin?“
„Ja“, flüstert sie. Und von da an höre ich nur noch ihr schweres Atmen.
Mit größtmöglicher Vorsicht lenke ich den Wagen auf den Pannenstreifen, bringe ihn zum Stehen, schalte den Motor ab, drehe mich nach meiner Beifahrerin um – und schon hängt sie, von heftigem Schluchzen erschüttert, an meinem Hals.
„Bist du ... Bist du wirklich meine Nasrin?“, stammle ich, meiner Sinne kaum noch mächtig.
Heftiges Nicken.
„Nasrin Muhi ad-Din?“
Heftiges Nicken.
„Nasrin, die Frau des Dschamal?“
Heftiges Nicken.
„Nasrin, die ewige Liebe des Ferdinand Hahn?“
Erneutes heftiges Nicken. „Ja“, haucht sie unter Tränen.
„Ja?“
Und im selben Augenblick schwinden meine letzten Zweifel, und ich schlinge meine Arme um ihren Körper, küsse ihr tränenüberströmtes Gesicht und breche gleichzeitig selbst in Tränen aus und schäme mich ihrer nicht.
Träume ich? Wache ich? Ich weiß es nicht, bin wie in Trance. Wie aus weiter Ferne höre ich die Worte: „Ach, mein Ferdinand! Ach, mein süßer Liebling! Glaub mir, ich hab dich nie vergessen.“
Und das ist nun eindeutig Nasrins Stimme.
Aufs Neue schießen mir die Tränen hervor, reichlicher und hemmungsloser als zuvor. Ich bin wie von Sinnen, oder vielleicht bin ich auch wirklich von Sinnen. All der Schmerz, all die Trauer, all die unerfüllte Sehnsucht der letzten fünfzehn Jahre bricht unvermittelt hervor und überflutet mein Inneres mit derselben Gewalt, wie wenn ein Staudamm bricht und die angestauten Wassermassen das ganze Tal überfluten und alles mit sich reißen.
Irgendwann geht die Überflutung zurück, die Wassermassen fließen ab, meine Tränen versiegen. Ich nehme Nasrins Gesicht in beide Hände und bedecke es mit meinen Küssen, und zwischen den Küssen stoße ich, immer noch schluchzend, hervor: „Ich dich ja auch nie. Oh, wenn du wüsstest, wie viel Sehnsucht ich um dich ausgestanden habe, wie viel Schmerz, wie viel Trauer!“
„Trauer?“
„Na, du bist gut.“
Ich versuche ihr ins Gesicht zu schauen. Aber es ist viel zu finster, um Einzelheiten wahrzunehmen, außer wenn einmal ein Fahrzeug vorbeiflitzt.
„Komm, lass dich anschauen“, murmle ich und schalte die Innenbeleuchtung ein. „Bist du wirklich meine Nasrin?“
Nun, wo die Überflutung meines Innern vorbei ist, kommen die Zweifel zurück. Ist das ein Phantom? Sitze ich einer Sinnestäuschung auf? Habe ich Halluzinationen? Narrt mich meine Erinnerung?
Aber nein, das ist doch eindeutig das Gesicht meiner Nasrin, zwar mit einer anderen Frisur und natürlich älter geworden – älter und reifer, älter und schmäler, älter und mit einigen Falten, die mir neu sind, und dadurch ausdrucksvoller, aber um nichts weniger schön, als ich es in Erinnerung habe. Und ihre Stimme – nein, die hat sich überhaupt nicht verändert. Ihr Akzent – ja, der hat sich allerdings stark verändert.
„Na, mir scheint, du kennst mich nicht mehr“, flüstert sie, unter Tränen leise lachend.
„Ja, aber wie ist denn so was möglich?“
Hierauf reiße ich mich zusammen und sage in sachlicherem Ton: „Weißt du was? Wir können hier nicht stehen bleiben. Fahren wir bis zum nächsten Parkplatz, ja? Dort können wir aussteigen und ...“
„Und dann kannst du dich vergewissern“, ergänzt sie, leise lachend, „ob ich wirklich deine Nasrin bin.“
Zugleich macht sie sich von mir los, aber nicht, ohne mir noch einen unbeschreiblich süßen Kuss auf die Lippen zu drücken.
Ich betrachte sie noch ein kleines Weilchen, und dabei drohen meine Gefühle erneut die Oberhand über mich zu gewinnen. Aber mit einiger Mühe gelingt es mir diesmal, sie zu beherrschen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schalte ich die Innenbeleuchtung aus, starte und fahre los. Der nächste Parkplatz ist bald erreicht. Ich biege in ihn ein, halte an, stelle den Motor ab.
Stumm und regungslos, so sitzen wir nebeneinander und schauen uns in der Dunkelheit unverwandt an. Der Mund bleibt uns verschlossen.
„Wollen wir aussteigen?“, murmle ich schließlich.
Draußen schließe ich sie in meine Arme, und sie schließt mich in ihre Arme. Und so stehen wir aneinander gepresst, ohne uns zu küssen, genießen nur die körperliche Nähe. Erst nach geraumer Zeit beginnen wir uns zu küssen und küssen uns, als wollten wir die ganzen verlorenen fünfzehn Jahre auf einmal nachholen.
Bald werden meine Hände lebendig. Sie suchen und finden einen Weg durch Nasrins Kleidung. Endlich, nach so langer Zeit, können sie wieder ihre wundervolle, weiche, samtige, mir noch so vertraute nackte Haut spüren. Ich juble auf – und erleide einen Schock. Denn Nasrin erstarrt zu einem Eiszapfen, löst ihre Arme von meinem Rücken, greift nach meinen Händen, entfernt sie von ihrer Haut.
„Bitte nicht“, flüstert sie.
„Nicht?“, stoße ich fassungslos hervor. „Ja, wieso ... Bist du denn nicht meine Nasrin?“ Gleichzeitig presse ich sie noch fester an mich.
„Freilich bin ich deine Nasrin, aber ...“, flüstert sie und spricht nicht weiter.
„Ja, liebst du mich denn nicht mehr? Aber hast du nicht gesagt, du hast mich nie vergessen?“
„Aber geh, du Dummerl.“
„Dummerl?“, wiederhole ich, weil ich nicht ganz sicher bin, ob ich recht gehört habe.
„Geliebtes Dummerl.“
„Also liebst du mich noch?“
„Ach, wie könnte ich jemals aufhören, dich zu lieben.“
Und dieser Satz, dieser eine Satz, übt auf mein angeschlagenes Gemüt eine fürchterliche Wirkung aus. Augenblicklich breche ich erneut in Tränen aus und heule hemmungslos in ihre Lockenpracht hinein und kann mich lange nicht beruhigen, obwohl mir Nasrin unablässig die Wangen streichelt.
„O du mein armer Liebling“, flüstert sie schließlich. „Komm, beruhige dich. Ich liebe dich ja noch genauso wie früher. Aber solang du mich festhältst und mich so an dich drückst, kann ich nicht denken, kann ich dir nichts erklären. Komm, lass mich los, gib mir die Hand, und gehen wir ein bisserl auf und ab, ja? Und ich erklär dir dann alles.“
Ich halte sie noch ein Weilchen eng umschlungen. Aber dann tue ich wortlos wie geheißen und nehme sie bei der Hand. Und so beginnen wir auf dem dunklen Parkplatz hin und her zu wandern.
Meine Nasrin!
Meine Nasrin? An diesen Gedanken, nämlich meine Nasrin wieder quicklebendig an meiner Seite zu haben, muss ich mich ja erst gewöhnen. Ich muss mich immer wieder nach ihr umwenden und mich vergewissern, dass sie das wirklich ist und nicht irgendeine andere, die ihr vielleicht ähnlich sieht oder eine ähnliche Stimme hat oder sich ähnlich anfühlt oder einen ähnlichen Duft ausströmt. Im Übrigen tut mir die Bewegung gut, und ich spüre, wie sich meine überreizten Nerven zusehends beruhigen. Doch je mehr sie sich beruhigen, umso mehr gewinnt das Gefühl ungläubigen Staunens über dieses Wunder die Oberhand. Schließlich bleibe ich stehen, wende mich ihr zu.
„Ach, Nasrin“, seufze ich.
„Ach, Ferdinand“, seufzt sie.
„Ach, wenn du wüsstest, wo ich dich überall gesucht hab. Sogar in ägyptischen Grabgewölben. Und jetzt darf ich nicht einmal mehr deine Samthaut spüren?“
„In ägyptischen Grabgewölben? Hast du denn gedacht ...“
„Ja, was glaubst denn du? Nach allem, was du mir über die ägyptischen Ehemänner erzählt hast. Und wenn dein Mann auch so blöd daherredet.“
„Du meinst, mein Exmann?“
„Na freilich. Der Dschamal.“
„Und der hat blöd dahergeredet?“
„Na, und wie. Der hat doch echt so getan, als ob er dich ... als ob er dich ins Jenseits befördert hätte. Und mich hätte er tatsächlich um ein Haar ...“
„Umgebracht?“
„Ja eben. Stell dir vor.“
„O nein! Mein armer Liebling!“
„Siehst du, mich nennst du deinen armen Liebling. Aber deine Samthaut lässt du mich nicht spüren.“
„Na ja, das ist ja genau das, was ich dir erklären sollte.“
Wir setzen uns wieder in Bewegung, und bangen Herzens warte ich auf die angekündigte Erklärung. Nasrin lässt mich überraschend lange warten und erweckt beinah den Eindruck, als habe sie einen schweren inneren Kampf auszufechten.
„Bitte, mein armer Liebling“, beginnt sie schließlich mit auffallend ernster Stimme, „sei mir nicht böse. Aber wenn du mich wirklich liebst, wirst du für meine Situation Verständnis haben. Schau, mein Mann ...“
„Dein jetziger Mann?“
„Genau, mein jetziger Mann ... Weißt du, ich darf ihn nicht enttäuschen.“
„Liebst du ihn so?“
„Ich bin ihm zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich ...“
Sie bricht ab, und ich höre sie schwer atmen.
„Liebt er dich so?“
„Er ist mir in meiner schwersten Zeit beigestanden und hat mich in meinem Unglück ...“
Wieder verstummt sie mitten im Satz, offensichtlich überwältigt von ihren Erinnerungen.
„Du meinst, nachdem du so plötzlich verschwunden warst?“
„Ja. Ja.“
„Und verschwunden bist du, weil du schwanger warst. Ist das richtig?“
„Ah, hat er dir das erzählt, der Taugenichts?“
„Ach wo, kein Sterbenswörtchen. Sondern er hat mir gegenüber so getan, als wärst du zusammen mit seinem Bruder nach Ägypten geflogen, um seine Schwiegermutter zu pflegen. Nein, die Marilyn hat’s mir erzählt.“
„Die Marilyn? Wer ist das?“
„Na, weißt eh: Sein Betthaserl.“
„Ach so. Ja, ich bin im Bilde. Aha, die hat’s dir erzählt?“
„Na ja, ich hab sie mit vieler Mühe ausfindig gemacht und angerufen. Ich hab mir gedacht, die weiß am ehesten, wo du steckst.“
„Und dabei hat sie dir verraten, dass ich schwanger bin?“
„So ist es.“
„Ja, ich war schwanger, und er hat’s gemerkt und mich so lang beschimpft, drangsaliert und mit dem Umbringen bedroht, bis ich’s geglaubt hab und abgehauen bin.“
„Aha. Und wohin?“
„Nach Wien.“
„Ach, und dort?“
„Ja, und dort? Ach, frag mich nicht. Na schön. Also, bei einer ehemaligen Schulfreundin, die in Wien studierte, hab ich Unterschlupf gefunden. Und dort ist es mir immer schlechter gegangen, ich meine, mit der Schwangerschaft. Es sind Komplikationen aufgetreten, und ich bin ins Spital, in die Ambulanz. Und dort hab ich meinen jetzigen Mann kennengelernt. Der hat dort als Assistenzarzt gearbeitet. Und er hat sich in ganz selbstloser Weise meiner angenommen und mir geholfen. Und sich dabei in mich verliebt. Er hat sich irrsinnig lang mit größter Geduld um mich bemüht und mich schließlich überredet, ihn zu heiraten, nachdem ich mich vom Dschamal hab scheiden lassen. Und er hat sich als der beste, liebevollste, einfühlsamste, großzügigste, toleranteste, rücksichtsvollste Ehemann erwiesen.“
„Was? Alles das auf einmal?“
„Ja, alles das auf einmal. Ein paar Jahre später hat er dann eine Stelle am Melker Krankenhaus bekommen und bald danach eine Privatordination eröffnet. Das ist also, in groben Umrissen, meine Lebensgeschichte. Und jetzt verstehst du vielleicht, warum ...“
Wieder lässt sie ihren Satz unvollendet, und ich versuche ihn zu ergänzen: „Warum du ihn unter keinen Umständen enttäuschen möchtest?“
Sie nickt.
„Und warum du deinen alten Liebling unter keinen Umständen ...“
Aber Nasrin legt mir ihre Hand auf die Lippen und flüstert: „Pst! Red nicht so. Bitte mach’s mir nicht noch schwerer, als es für mich so schon ist.“
Und im nächsten Augenblick bricht sie in Tränen aus und hängt auch schon, bitterlich schluchzend, an meinem Hals, und ich kann nichts tun als ihr mit der Hand tröstend über die Haare streichen. Meine Zunge ist mit einem Mal gelähmt. Erst als sie sich an meiner Schulter ausgeweint hat und sich wieder von mir löst, legt sich die Lähmung meiner Zunge.
„So schwer ist es für dich?“, flüstere ich.
„So schwer ist es für mich“, flüstert sie.
Und diese Aussage finde ich so rührend, dass meine Zungenlähmung augenblicklich zurückkehrt. Und so stehen wir uns jetzt eine ganze Weile schweigend gegenüber und schauen uns in der Dunkelheit unverwandt an.
Sie ist es, die schließlich das Schweigen bricht.
„Sei doch nicht so traurig. Denk einfach daran, dass ich dich trotzdem liebe.“
„Dass du mich trotzdem liebst“, wiederhole ich mechanisch, und noch einmal, langsamer: „Dass du mich trotzdem liebst.“
Und so dringt dieser Gedanke allmählich in mein durch den Aufruhr der Gefühle getrübtes Bewusstsein und wirkt dort wie ein Lichtstrahl in der Finsternis.
„Und dass du überhaupt lebst und gesund bist“, flüstere ich. „Und dass ich dich wiedergefunden habe. Das ist ja schließlich die Hauptsache, nicht?“
Sie nickt feierlich. „Und dass ich dich wiedergefunden habe. Und von jetzt an wollen wir ständig in Kontakt bleiben, gell?“
„Das wollen wir. Unbedingt.“
„Und du wirst mir nie böse sein?“
„Ich werde dir niemals böse sein. Es wird mir genügen zu wissen, dass du lebst, dass es dir gut geht und dass du glücklich bist.“
„So lieb hast du mich?“
„So lieb hab ich dich.“
Und diese Abmachung besiegeln wir mit einem feierlichen Kuss.
„Und von unserer Liebe darf niemand etwas erfahren. Versprichst du mir das?“
Ich schlucke kräftig. „Von unserer Liebe wird niemand etwas erfahren. Das versprech ich dir.“
Und auch dieses Versprechen besiegeln wir mit einem feierlichen Kuss. Hierauf wandern wir einträchtig zum Auto zurück und steigen ein. Ich starte ohne weitere Zeremonien und fahre weiter in Richtung Nizza, unserem Daphnis und unserer Chloe entgegen, die zwar ihre eigene Liebe in gewisser Weise an die große Glocke hängen, von unserer Liebe hingegen ja nichts merken dürfen.
Nasrin löst mich, wie versprochen, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen am Lenkrad ab. Und so gelingt es uns tatsächlich, praktisch in einem Zug durchzufahren. Gespeist wird während der Fahrt im Auto. Sooft uns der Hunger übermannt, durchstöbert der jeweilige Beifahrer unsere schier unerschöpflichen Proviantvorräte (denn auch Nasrin hat ein reichhaltiges Fresspaket mitgebracht) und füttert damit den jeweiligen Fahrer und sich selbst. Im Übrigen haben wir einen mindestens ebenso unerschöpflichen Vorrat an Gesprächsstoff. Mich beschäftigt dabei am intensivsten die Frage: Warum hat sich Nasrin damals, als sie in der Patsche saß, noch dazu meinetwegen, kein einziges Mal bei mir gemeldet, um sich von mir helfen zu lassen, oder auch nur, um mir die quälende Ungewissheit zu nehmen?
Antwort: Um mir Gewissenskonflikte oder das Zerbrechen meiner Ehe zu ersparen.
Also aus reiner Selbstlosigkeit, Rücksichtnahme?
Jawohl, und vor allem aus Liebe.
Diese Antwort kann ich zwar nicht gelten lassen, und daraus entspinnt sich eine rege Grundsatzdebatte über die genannten Tugenden. Aber sie geht unentschieden aus, und Nasrin lässt sich nicht zu meinem Standpunkt bekehren.
So erreichen wir zwar nicht am Morgen, aber doch im Laufe des Nachmittags des nächsten Tages glücklich, wenn auch müde und erschöpft, Nizza. Hier, an der Côte d’Azur, herrschen noch absolut sommerliche Temperaturen. Wo treffen wir also unseren Daphnis und unsere Chloe an, als wir endlich unser Ziel erreicht haben? Wir trauen kaum unseren Augen: Am Swimmingpool in Onkel Rogers herrlichem Garten. Aber wir vergönnen es ihnen gern. Schließlich haben sie uns durch ihre doch eher fragwürdige Aktion einander wieder näher gebracht (wenn auch nicht ganz so nahe, wie ich es mir gewünscht hätte). Und dafür verdienen sie von unserer Seite zwar nicht gerade Lob und Anerkennung, aber doch Freundlichkeit und Verständnis, während sie ihrerseits volles Verständnis dafür haben, dass wir sie wieder in den kalten Norden zurückbringen müssen.
Wir schlafen uns, natürlich jeder für sich, eine Nacht in Onkel Rogers Betten aus. Am nächsten Morgen verfrachten wir unser Liebespärchen in meinen Wagen, danken Onkel Roger und seiner Lebensgefährtin und treten die Rückfahrt an. Nun ist zwischen Nasrin und mir kein persönliches Wort mehr möglich. Dafür dreht sich alles um unsere zwei Ausreißer, die sich ihrerseits keinerlei Zurückhaltung auferlegen. Im Übrigen habe ich jedes Mal, wenn sich Nasrin ans Steuer setzt, nichts Wichtigeres zu tun, als sie und Alexander heimlich zu vergleichen und ihre Ähnlichkeit zu überprüfen.
Gegen Mitternacht erreichen wir Melk und machen zuerst Alexanders Vater und danach Andreas Eltern überglücklich, während uns selbst bei allem Glück das Herz schwer wird. Das ist nämlich (für den, der darauf achtet) auch Nasrin deutlich genug anzumerken.
Melk und Graz. Freitag, 20. Oktober 1995.
Den ganzen Tag vertrödle ich in der unbestimmten Erwartung irgendeines Ereignisses. Aber die Erwartung erfüllt sich nicht, und am Abend nehme ich von meinen Lieben Abschied und trete, erfüllt von unbeschreiblicher Wehmut und zugleich von unbeschreiblichem Glück, die Heimfahrt an, ohne Nasrin noch einmal gesehen oder auch nur mit ihr gesprochen zu haben.
Es ist unvermeidlich, dass ich im Laufe dieser abendlichen und nächtlichen Fahrt auch wieder an die Susi denken muss. Viel lieber würde ich mich auch weiterhin den Gedanken an Nasrin hingeben. Nasrin hat mein Denken so sehr beherrscht, dass ich nicht einmal auf die Idee gekommen bin, Susi anzurufen. Die Erinnerung an mein letztes Telefonat mit ihr ist mir im höchsten Maße unangenehm, um nicht zu sagen, widerwärtig; und ich merke, dass ich sie bisher regelrecht verdrängt habe. Aber jetzt, wo ich mich auf der Heimfahrt befinde, geht das leider nicht mehr, und je mehr ich mich Graz nähere, umso mehr bedrückt mich diese Erinnerung und der Gedanke an das unmittelbar bevorstehende Wiedersehen mit Susi. Immerhin ist heute schon Freitag, noch dazu später Abend. Und wie lang ist das jetzt schon her, dass ich von ihr eine Nacht und einen Tag Urlaub gewährt bekommen habe? Ich rechne nach: Das war doch am Montag. Vor fünf Tagen. Mit welchem Gesicht, mit welchen Vorwürfen wird sie mich wohl empfangen?
Um ihrer Eifersucht nicht weitere Nahrung zu geben und eventuellen Szenen vorzubeugen, habe ich Nasrin schweren Herzens angefleht, mich nicht daheim, sondern im Reisebüro anzurufen und im Falle meiner Abwesenheit die Angestellten zu bitten, für mich Botschaften zu hinterlegen. Nasrin ihrerseits hat mich angefleht, sie überhaupt nicht anzurufen, weder in der Wohnung noch in der Ordination. Und auch das bedrückt mich über alle Maßen.
In einer solchen Stimmung erreiche ich Graz. Zu allem Überfluss regnet es in Strömen. Ich stelle das Auto auf unserem Parkplatz ab, schnappe mir mein spärliches Gepäck, renne durch den Regen zur Haustür, betrete den Hausflur und steige mit immer stärkerem Herzklopfen in den zweiten Stock hinauf. Vor meiner Wohnungstür angelangt, verschnaufe ich, um mich innerlich zu wappnen. Zögernd stecke ich den Wohnungsschlüssel ins Schloss. Das heißt, ich versuche es. Aber zu meiner grenzenlosen Verblüffung gelingt es mir nicht. Na, dann muss ich eben läuten. Im selben Moment sehe ich’s: Ein gelbes Zettelchen, das in der Höhe der Klingel an der Tür klebt. Ich schaue genauer hin, erkenne Susis Handschrift. Und lese Unglaubliches.
„Ferdinand! Du kannst zu Deinen Leuten gehen oder zu dieser neuen Frau. Diese Wohnung werde ich behalten. Deine Sachen kannst Du nach Terminvereinbarung abholen. Susi.“
Mir steht das Herz still. Ich schließe die Augen, öffne sie. Nichts hat sich verändert. Der Zettel mit diesem unglaublichen Text klebt noch immer dort. Und jetzt wird mir auch klar, weshalb ich den Schlüssel nicht ins Schloss bringe. Susi muss es in meiner Abwesenheit ausgewechselt haben.
Maßlose Wut überkommt mich. Ich reiße den Zettel herunter, drücke auf die Klingel, läute Sturm. Hinter der Tür – lähmende Stille. Ist das Vöglein ausgeflogen und lässt mich hier warten, bis es wieder zurückzufliegen beliebt? Oder hockt es mit angehaltenem Atem hinter der Tür und lacht sich ins Fäustchen?
Na, das werden wir gleich haben. Ich deponiere Reisetasche und Fresspaket vor der Tür, stürme hinunter und hinaus und auf die andere Straßenseite und schaue zu den Fenstern meiner Wohnung hinauf. Finster. Nein, irgendwo im Hintergrund brennt Licht. Aha, das Vöglein ist doch nicht ausgeflogen, es tut nur so, um mich zu täuschen. Es hockt im warmen, trockenen Nest und lässt mich hier im Regen stehen. Ich drehe mich um und stürme zur nächsten Telefonzelle. Verdammt, sie ist besetzt. Es heißt warten. Im strömenden Regen.
Endlich wird sie frei. Ich trete ein, hole mit klammen Fingern einen Schilling aus der Geldbörse, hebe den Hörer ab, werfe den Schilling ein, wähle meine eigene Nummer. Ich warte und warte, und als ich schon überzeugt bin, dass das Vöglein mir nur eine lange Nase macht, meldet es sich mit einem empörend gleichgültig klingenden „Ja?“
„Ja, sag, was ist denn da los? “, brülle ich, außer mir vor Wut. „Wieso lässt du mich nicht hinein?“
„Hast du den Zettel nicht gelesen?“
„Ja, zum Kuckuck!“ Ich bin ein paar Herzschläge lang sprachlos über eine solche Unverschämtheit und brülle dann weiter: „Hör zu, ich bin total erschöpft vom Fahren und außerdem pudelnass vom Regen. Hast du gemerkt, wie’s schüttet?“
„Ich habe dem nichts hinzuzufügen.“
„Soll das heißen, du lässt mich nicht hinein?“
„Richtig. Du kannst zu deinen ...“
„Du, hör gut zu: Ich rufe jetzt die Polizei an. Dass du’s weißt.“
Ich hänge den Hörer ein und wähle die groß und deutlich sichtbar neben dem Apparat angebrachte Nummer des Polizei-Notrufs. Es meldet sich eine freundliche männliche Stimme, der ich in wenigen Worten mein Problem schildere.
Oje, meint daraufhin die freundliche Stimme, da könne man gar nichts machen. In Partnerschaftsangelegenheiten sei die Polizei nicht befugt, einzugreifen.
Frustriert, geknickt, ratlos trete ich aus der Telefonzelle in den strömenden Regen.
Was jetzt? Vorerst auf jeden Fall zurück zu meinem Gepäck.
Aber ist das nicht unerhört? So was kann sich ein Mann doch nicht gefallen lassen. Ich lass mir so was nicht gefallen. Nein, nein. Mit dieser Aktion hat sie sich’s mit mir verscherzt. Ein für allemal. Es ist aus. Aus und vorbei. Wir sind geschiedene Leute.
Unter solchen Selbstgesprächen renne ich zurück, nehme diesmal den Lift, marschiere auf mein Gepäck zu und probiere für alle Fälle, ob der Schlüssel jetzt vielleicht ins Schloss passt. Und siehe da, er passt, ich kann aufsperren. Ha, die Drohung mit der Polizei hat gewirkt. Susi hat das Schloss blitzschnell wieder ausgewechselt.
Wutentbrannt, zugleich unsagbar erleichtert, reiße ich die Tür auf, schnappe mir mein Gepäck, betrete das Vorzimmer. Im Vorzimmer ist niemand. Aus dem Wohnzimmer ist das Krächzen des Fernsehapparats zu hören. Ich reiße mir die nassen Sachen vom Leib, genehmige mir eine heiße Dusche und schlüpfe in trockene Gewänder. Danach erst betrete ich das Wohnzimmer.
Mein Herz rast. Meine Knie sind weich. Susi sitzt seelenruhig vor dem Fernseher, behandelt mich wie Luft.
Ich wanke auf den Apparat zu, schnappe mir die Fernbedienung, schalte ihn aus.
„He, was soll das?“, schnaubt Susi, wirft mir einen giftigen Blick zu, macht ein Gesicht, als wolle sie mich fressen.
„Na, wenigstens registrierst du endlich meine Anwesenheit“, fauche ich und halte ihr den bewussten gelben Zettel unter die Nase. „Hast du dazu vielleicht noch irgendwas zu sagen?“
„Nicht, dass ich wüsste“, schnaubt sie und schaltet den Fernseher wieder ein.
„Dann sind wir geschiedene Leute. Dass du’s weißt.“
Ha! Jetzt könnte mich Nasrin ja doch anrufen. Nur, sie weiß es nicht. Und ich darf’s ihr nicht verraten. Werde ich jemals wieder mit ihr plaudern, sie gar küssen können? (Von Intimerem wage ich nicht einmal zu träumen.) Ob uns das Schicksal eine zweite Chance gewährt?
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"Sehr gut geschrieben." (katerlisator)
Texte: Karl Plepelits
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Tag der Veröffentlichung: 26.04.2021
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