Simeon Solomon (1840 – 1905): Sappho und ihre Dichterkollegin Erinna in einem Garten in Mytilene. Aquarell auf Papier. London, Tate Britain (bis 2000 Tate Gallery).
Denn zu den allerschönsten Dingen zählt ja die Weisheit.
Eros aber ist das Streben nach dem Schönen.
Zwingende Schlussfolgerung:
Eros strebt nach Weisheit und ist darum ein Philosoph.
(Platon)
Auf Lesbos, der Insel der Sappho, begann mein Unglück.
Während einer Kreuzfahrt durch die Ägäis musste ich als Reiseleiter – zum unendlichen Bedauern einer Reiseteilnehmerin, mit der ich eben erst zarte Bande geknüpft hatte – in Mitilini (Mytilene), der Inselhauptstadt, zurückbleiben. Eine ältere Dame meiner Reisegruppe hatte sich so sehr verletzt, dass ich sie ins Krankenhaus bringen musste. Inzwischen „schwang sich unser Schifflein schon dani vom Land“, wie es in dem bekannten Volkslied heißt.
Und da schlug das Schicksal zu. In einem Kafenion verknallte sich eine hübsche Kellnerin – sie stellte sich als Irini vor – Hals über Kopf in mich und entführte mich zu sich nach Hause. Auf dem Dachboden zeigte sie mir eine uralte Truhe mit verschiedenen Mitbringseln aus dem alten Ägypten, und dabei kam es zu einer leidenschaftlichen, aber zuletzt ganz und gar verunglückten Liebesszene. Deren unmittelbare Folge war nämlich die Entdeckung einer altgriechischen Handschrift, und die unmittelbare Folge dieser Entdeckung war – zu Irinis Enttäuschung – das vorzeitige Ende der Liebesszene. Denn im jäh entflammten Kampf zwischen Leidenschaft und Neugier, zwischen körperlichem und wissenschaftlichem Eros siegte im ersten Taumel der Entdeckerfreude Letzterer. Gut, da tauchten, völlig unerwartet, auch noch Irinis zwei süße Kleinen auf. Die hatten entweder ihre Neugier nicht bezähmen können oder waren von ihrer misstrauischen Großmutter aufgestachelt worden; wer weiß. Und sie hätten unserer Liebesszene wohl ebenfalls ein rasches und noch dazu höchst unerquickliches Ende bereitet, wäre sie zu diesem Zeitpunkt nicht sowieso bereits verunglückt, das heißt, abgebrochen gewesen.
Zwar vereinbarten wir für den nächsten Tag ihre Wiederbelebung in ungefährlicheren Gefilden, nämlich in der freien Natur. Doch auch dies wusste das Schicksal zu verhindern. Denn zuvor wurde meine Patientin als reisefähig aus dem Krankenhaus entlassen, und ich musste mit ihr Lesbos und somit eben auch Irini überstürzt verlassen und unserem Schiff hinterher eilen (sprich, fliegen).
Bevor ich nun in meinem Bericht fortfahre, ist es mir ein Bedürfnis, innezuhalten und mich für das bisher Gesagte zu rechtfertigen. Denn gleichgültig, wem ich von der verunglückten Liebesszene auf dem Dachboden erzähle, jeder glaubte mir vorwerfen zu müssen, ich sei unehrlich. Es sei doch völlig unglaubwürdig, dass die Neugier über die Leidenschaft die Oberhand gewonnen habe. Ein solcher Ausbund an Tugendhaftigkeit sei ich doch gar nicht.
Auf diesen Vorwurf kann ich nur das eine erwidern: Ich habe nichts zu beschönigen. Aber: Man bedenke, dass es laut Platon neben dem körperlichen, oder wenn man will, animalischen Eros auch noch den nach ihm benannten wissenschaftlichen Eros gibt, die „platonische Liebe“ im ursprünglichen Sinn des Wortes, und dass dieser wissenschaftliche Eros in Wahrheit um nichts schwächer ist als der körperliche Eros – gelegentlich, wie man sieht, sogar stärker. Mit Tugendhaftigkeit hat das nicht das Geringste zu tun.
Doch Eros hat mir das Herz
aufgewühlt, so wie ein Sturm,
der vom Berge herab in die Eichen sich stürzt.
(Sappho)
Und nun weiter in meinem Bericht. Bei der Rückkehr aufs Schiff wurde ich von jener Reiseteilnehmerin, mit der ich erst kurz zuvor während der Kreuzfahrt zarte Bande geknüpft hatte, mit solcher Erleichterung und Begeisterung begrüßt, dass mir im wahrsten Sinn des Wortes Herz und Augen aufgingen. Daher dauerte es nicht lange, und die zarten Bande, die Pia und mich bereits verbanden, wurden, so schien es, vollends unlösbar.
Trotzdem konnte ich Irini nicht vergessen. Die unerfüllte Leidenschaft, die sie in mir entflammt hatte, war keineswegs erloschen. In einem verborgenen Winkel meiner Seele glomm sie nach wie vor. Übrigens wusste Pia über alles, was sich in Lesbos zugetragen hatte, genauestens Bescheid. Wirklich Liebende haben keine Geheimnisse voreinander.
Aber ach, in meinem Liebestaumel und in meiner Entdeckerfreude hatte ich überhaupt nicht daran gedacht, Irini nach ihrem Familiennamen zu fragen, geschweige denn nach ihrer Adresse. Und ich hatte auch nicht auf den Namen des Kafenions geachtet. Vor telefonischen Nachforschungen schreckte ich andererseits zurück, da ich mir ihrer heiklen familiären Situation durchaus bewusst war und ihr keine unnötigen Schwierigkeiten bereiten wollte.
Als es mich darum das nächste Mal nach Mitilini verschlug, konnte ich nicht umhin, nach Irini zu suchen, musste jedoch zu meiner Enttäuschung erfahren, sie habe Lesbos unterdessen verlassen. Jetzt lebe sie in Wien und arbeite in einem griechischen Restaurant. Also gut, auf nach Wien! Dort angekommen, klapperte ich an Hand des Branchenverzeichnisses im Telefonbuch systematisch die griechischen Restaurants ab. Und siehe da, ich wurde fündig. Ich fand Irini. Und da war bei beiden die Leidenschaft noch immer so lebendig, dass ich damals meiner Pia zum ersten Mal untreu wurde.
Und wie hatte es Irini ausgerechnet nach Wien verschlagen?
Sie war aus Lesbos geflüchtet. Hatte flüchten müssen. Und schuld daran war letztlich ich und niemand sonst. Ihre zwei süßen Kleinen hatten nämlich der lieben Oma brühwarm erzählt, in welchem Zustand sie uns auf dem Dachboden angetroffen hatten (nämlich fast nackt). Das ergab den schönsten Familienkrach, den man sich denken kann, und Irinis liebender Gemahl sah es als seine vordringlichste Aufgabe an, Irini regelmäßig zu verprügeln und systematisch zu terrorisieren. Zuletzt wusste sie keinen anderen Ausweg mehr, als mit ihren Kindern nach Wien zu flüchten.
Jedoch – die Strafe für meine Untreue folgte auf dem Fuß. Denn in meinen Heimatort zurückgekehrt, erzählte ich Pia, ich hätte „durch puren Zufall“ Irini wiedergefunden. Mehr nicht. Und da überraschte mich nun Pia mit dem Wunsch, sie kennenzulernen.
Also fuhren wir gemeinsam nach Wien und besuchten Irini. Und damit war mein Schicksal besiegelt. Denn kaum hatten sich die beiden Frauen kennengelernt, da entdeckten sie in sich einen Wesenszug oder, wie sie es selbst nannten, eine Begabung, die ihnen bisher verborgen geblieben war. Im Klartext: Sie entdeckten, dass sie füreinander bestimmt sind, und fanden aneinander so sehr Gefallen, dass sie von Stund an nichts mehr von mir oder überhaupt von einem Mann wissen wollten. Und von diesem Entschluss waren sie durch nichts abzubringen. Ich hätte mir die Brust aufreißen und ihnen mein gebrochenes Herz zeigen können – es hätte sie nicht gerührt. Sie wussten auch wunderschöne Argumente vorzubringen, warum sie so und nicht anders handeln müssten: Ihre Liebe sei eine völlig andere, ungleich höhere Kategorie von Liebe, mit nichts zu vergleichen, schon gar nicht mit der Liebe zu einem Mann. Nicht umsonst seien die Gedichte der Sappho für immer der Höhepunkt aller Lyrik.
Und so blieb mir denn nichts anderes übrig, als, bildlich gesprochen, den Schwanz einzuziehen – na, sagen wir besser, die Waffen zu strecken und das Feld zu räumen. Fassungslos, geknickt, verzweifelt, schlich ich mich wie ein geprügelter Hund davon und warf mich nicht einer zärtlichen Geliebten, sondern der Verlassenheit, der Einsamkeit, der Verzweiflung in die Arme. Und dagegen konnte nicht einmal mein platonischer Eros irgendetwas ausrichten. Daher will ich diesen Bericht, vielleicht nicht ganz unpassend, mit einem Gedicht der Sappho schließen, in dem sie mir – mir, einem Mann! – aus der Seele spricht:
Der Mond ist untergegangen
und auch die Plejaden. Es ist
Mitternacht. Die Stunden vergehn.
Ich aber liege alleine.
https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-was-sie-schon-immer-ueber-griechenland-wissen-wollten/
"Sehr spannend und informativ, gefällt mir als Griechenlandfan sehr gut." (Tina)
"Die Abbildungen geben uns eine kleine Vorstellung davon, wie weit und mit welcher Präzision die Bildhauerei damals schon entwickelt war." (christinesingh)
Texte: Karl Plepelits
Cover: By Simeon Solomon (1840 – 1905) - Tate Britain, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17714151
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2021
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