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Denn es will Abend werden

 

Samstag, 31. August 2019. 

Soeben habe ich eine lange, einsame, genussvolle Wanderung entlang der atemberaubenden Steilküste, Hunderte Meter über dem saphirblauen Meer, hinter mir. Sie führte mich von Oia an der Nordspitze von Santorin bis nach Firá, dem Hauptort der Insel, wo sich mein Hotel befindet. Und das ist gut so. Denn, in den Worten des Evangelisten, es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.

Auf einmal bleibe ich, wie durch eine unsichtbare Schranke aufgehalten, unvermittelt stehen, horche überrascht, entzückt, verzaubert. Die Klänge eines Mozartschen Klavierkonzerts dringen an mein Ohr. Wie an einem unsichtbaren Faden ziehen sie mich an. Als ihre Quelle erweist sich eine nahe Taverne. Sie zwingen mich geradezu, an einem der himmelblau gestrichenen Tische auf einem der himmelblau gestrichenen Stühle Platz zu nehmen, der herrlichen Musik zu lauschen und zugleich die unvergleichliche Aussicht zu bewundern, zumal sich Helios, der Sonnengott, gerade anschickt, seine königliche Würde zu entfalten (sprich, unterzugehen; so poetisch formuliert man das im Griechischen). Und als sich zu meinem leisen Bedauern neben mir die Kellnerin aufpflanzt und auf Englisch meine Wünsche zu wissen begehrt, verlange ich, ohne ihr einen Blick zu schenken, auf Griechisch kurz und bündig Wein von Santorin und merke kaum, dass die Dame weiterhin wie angewurzelt neben mir steht. Wartet sie auf weitere Bestellungen? Verärgert blicke ich auf. Sie starrt mich an mit großen Augen, als wäre ich ein Hollywoodstar oder gar ein Alien. Und da kommt mit einem Mal auch sie mir unheimlich bekannt vor.

„He, bist du nicht der Christoph aus München?“, flüstert sie in akzentfreiem Deutsch, genauer, auf Deutsch mit entzückendem sächsischem Akzent.

„Ha, Roswitha! Du?“

Sie schweigt, nickt. Ihre Augen beginnen verdächtig zu glänzen. Ich springe auf, will sie umarmen, traue mich nicht, weiß nicht, wohin mit meinen Händen.

„Roswitha! Dass wir uns jemals wiedersehen würden! Wer hätte das gedacht, zu hoffen gewagt?“

 

Auf einer Kreuzfahrt durch die Inselwelt der Ägäis haben wir uns kennengelernt. Das war vor ewig langer Zeit, konkret, im Frühjahr 1982, als wir beide, wie man im Scherz zu sagen pflegt, noch jung und schön waren. Und wirklich, in ihren weichen Wangen lauerte, frei nach Sophokles, der Liebesgott und schoss mir, ihrem Reiseleiter, einen glühenden Pfeil ins Herz. Auch in ihrem Herzen schien ein solcher Pfeil zu stecken. Aber leider, leider: Sie war bereits vergeben, liiert mit einem alten Herrn. Sie war 33, nur wenig jünger als ich, er 66 und offenbar nicht eifersüchtig. Dabei konnte es ihm nicht verborgen bleiben, dass seine Roswitha mit dem Herrn Reiseleiter nicht nur jeden Abend eifrig tanzte, sondern auch bei jeder Gelegenheit gar heftig flirtete.

Geküsst haben wir uns zum ersten Mal auf dem Kynthos. So heißt die höchste Erhebung der kleinen Kykladeninsel Delos. Sie ist heute unbewohnt, spielte aber in der Antike eine enorm wichtige Rolle nicht nur als Stätte eines berühmten Apollonkultes, sondern auch als Zentrum des Delisch-Attischen Seebundes und als Handelszentrum und ist daher eine bedeutende archäologische Stätte. Nach langer, für alle anstrengender Führung durch die Ausgrabungen lud ich meine Gruppe ein, den etwas über hundert Meter hohen Kynthos zu besteigen, und mir folgte die gesamte „Jugend“. Nun ja, sie bestand aus Roswitha und niemandem sonst. Oben angekommen, fielen wir uns, anstatt die Aussicht zu bewundern, aufseufzend in die Arme und begannen uns zu küssen („wie verrückt“ nennt man es im Volksmund), und meine Hände begannen „verrückte“ Dinge zu treiben, die sie niemals gewagt hätten, wären sie noch meinem Willen untertan gewesen. Untertan waren sie jetzt dem Willen des Liebesgottes. Doch Roswitha dachte nicht daran, sie von ihrem Körper zu vertreiben.

Von nun an gehorchten wir dem Liebesgott, wann immer es möglich war, vor allem an versteckten Stellen des Schiffes selbst, und das Feuer loderte lichterloh. Nur, weiter als bis auf dem Kynthos gingen wir nie. Denn Roswitha gestand mir (unter Tränen), ihr Joachim vertraue ihr, sie wolle ihn nicht enttäuschen. Mir wurde klar, dass ihr der Verzicht unglaublich schwer fiel, und ich überwand mich zu dem schweren Entschluss, ihren Wunsch zu respektieren. Am Ende der Reise nahmen wir unter Tränen Abschied voneinander und ließen es zu, dass der Kontakt vollkommen abriss. (Sie lebte, obwohl ursprünglich in Ostdeutschland beheimatet, mit ihrem Joachim irgendwo im Schwarzwald, während ich damals in München wohnte und nur wenige Jahre später nach Graz übersiedelte.)

 

Und nun – träume ich? Oder bin ich wirklich wach, und das ist Realität? Wie vom Himmel gefallen, steht unverhofft Roswitha vor mir. Sie steht leibhaftig vor mir wie der Engel des Herrn und starrt mich mit großen Augen an, und ihre weichen Wangen glühen, und in ihnen lauert immer noch der Liebesgott. Zwar, so schön glatt wie einst sind sie nicht mehr. Klar, wir sind inzwischen beide älter geworden. Deshalb habe ich sie auch nicht erkannt. Schande über mein Haupt! Aber gut, sogar die zwei Jünger Jesu, die von Jerusalem nach Emmaus wanderten, erkannten diesen nicht, als er sich ihnen zugesellte, während es Abend werden wollte. Und da war er gerade einmal drei oder vier Tage älter geworden. Sie waren eben wie mit Blindheit geschlagen. Das war ich offensichtlich auch, ganz im Gegensatz zu Roswitha. Sie hat mich ja sofort erkannt. Jetzt schweigt sie, starrt mich an. Ich schweige, starre sie an. Wir scheuen uns sogar, einander zu berühren. Und erst nach allzu langem, von Überraschung, Verlegenheit, Zweifel, Glück erfülltem Schweigen löst sich die Lähmung unserer Zungen, und wir beginnen gleichzeitig zu reden.

„Wie“, sage ich und meine: Wie kommt es, dass du hier servierst?

„Wie“, sagt sie, bricht ab, und wir müssen beide lachen.

„Ich sehe schon“, sagt sie, bricht wieder ab, blickt sich um, schüttelt den Kopf. „Du, Christoph, momentan geht's nicht. Die Gäste warten. Wir reden später, gell? Und renn mir nicht davon!“

Nein, ich werde ihr bestimmt nicht davonrennen. Wenn einen schon einmal die Hand des Schicksals berührt ... Ob sie noch bei ihrem Joachim ist? Ich rechne nach. Er müsste unterdessen, ja, genau: 103 Jahre alt sein. Wie in Trance wende ich mich wieder den Genüssen zu, die mich hierher gelockt haben, der Musik (unterdessen hat das Klarinettenkonzert von Mozart eingesetzt) und der traumhaften Abendstimmung (Helios hat sich unterdessen „königlich“ zur Ruhe begeben). Doch schon beugt sich Roswitha schweigend über mich, beglückt mich mit süßem Lächeln und dem bestellten Wein, überdies mit Wasser und zu meiner Überraschung noch mit knusprigem Brot und einer Portion Tzatziki, eilt jedoch sogleich wieder davon. Von da an entzückt sie mich nur durch ihren Anblick, wenn sie sich den anderen Gästen widmet, und die sprechenden Blicke, die sie mir zuwirft. Und ich staune über ihre anmutigen, jugendlichen Bewegungen. Denn sie ist schlank und rank wie eh und je. Nur – ja, jetzt wird mir plötzlich klar, warum ich sie nicht sofort erkannt habe. Ihre Frisur ist eine andere als damals. Ihre damals langen brünetten Haare sind jetzt kurz geschnitten (und zum Teil natürlich schon grau).

Endlich, mittlerweile ist es dunkel und ruhiger geworden, setzt sich Roswitha an meinen Tisch, lächelt mich an, legt ihre Hand auf die meine, so graziös, wie sie es auch damals tat. Mir schwirrt der Kopf. Mein Herz rast. Meine Zunge ist gelähmt. Nicht so die ihre.

„Na, Christoph“, beginnt sie, „welchem glücklichen Umstand hab ich‘s zu verdanken, dass du zu mir gefunden hast?“

„Deiner herrlichen Musik“, stammle ich.

„Aha. Und? Bist du wieder als Reiseleiter unterwegs?“

„Nein. Als ganz gewöhnlicher Urlauber. Privat. Solo. Na, und du? Seit wann spielst du hier Kellnerin?“

„Seit mein Joachim gestorben ist. Weißt du, auf unserer sagenhaften Kreuzfahrt damals hab ich mich doppelt verliebt. In dich. Und in die Insel Santorin. Du warst mir leider unerreichbar. Santorin nicht. Drum bin ich hierher gezogen, habe dieses Lokal gepachtet und erfreue Gäste und alle, die hier vorüberspazieren, mit Mozart, in der stillen Hoffnung, dass auch du einmal hier vorüberspazieren wirst. Dass du ein großer Liebhaber ...“

„Ha?“, entfährt es mir, und ich muss herzlich lachen.

Roswitha errötet. „Ich meinte natürlich, dass du ein großer Liebhaber Griechenlands und Mozarts bist ...“

„Ach so.“

„Ja, das hab ich mir gut gemerkt. Und siehst du, heute ist meine stille Hoffnung endlich Wirklichkeit geworden.

„Deine stille Hoffnung“, wiederhole ich mechanisch. Hierauf ist meine Zunge abermals gelähmt. Auch Roswitha schweigt. Ihre Wangen glühen.

„Du wohnst sicher in einem teuren Hotel“, fährt sie schließlich fort.

Ich nicke. Mein Herz rast. Was kommt als Nächstes?

„Möchtest du nicht zu mir übersiedeln?“

„Was? Ein Hotel besitzt du auch?“

Roswitha lacht. „Aber nein. Ich meine, in meine Wohnung? Falls du mich noch ein bisschen lieb hast.“

„Hast du mich wirklich ...“

„Ach, Christoph, all die Jahre hab ich mich so nach dir gesehnt.“

„Ja? Und ich mich nach dir.“

„Und gehofft, dass dich meine Musik irgendwann zu mir locken wird.“

Und jetzt endlich umarmen und küssen wir uns, ohne auf eventuelle Zuschauer zu achten, die daran Anstoß nehmen könnten, und wissen, dass unsere Sehnsucht endlich, nach so vielen Jahren, gestillt worden ist und dass unsere heißesten Wünsche heute noch in Erfüllung gehen werden, und bedauern zugleich, dass wir auf dieses Glück so lange warten mussten, bis unsere Jugend nur noch eine ferne Erinnerung ist. Denn es will Abend werden.

Um ein ganz ähnliches Thema geht es in folgendem Roman:

 

 

 

 https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-wenn-dich-jemand-auf-die-rechte-wange-kuesst/

 

Einige Leserstimmen:

"Das war seit langem wieder ein witziges, flüssig geschriebenes Buch. Für mich eine Bereicherung und etwas zum Schmunzeln."

"Der ... so lesenswerte Erzählstil des Autors führt durch diese Geschichte zweier Menschen und deren Beziehung. Er brachte mich zum Lachen, zum Schmunzeln, zum Mitfiebern und ließ es mich auch Bedauern, wenn ich das Buch zwischendurch aus der Hand legen musste."

"Am Ende wird man mit einem guten und glücklichen Gefühl zurückgelassen. Hat Spaß gemacht zu lesen."

 

Angaben zum Autor

Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.  

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: Oia auf Santorin im Abendlicht. By Dinkum – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17233248
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2021

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