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Erster Teil

Karsamstag, 5. April 1947. Kapfenberg.

Das Frühstück war wieder einmal recht kärglich. Da beschloss ich, heute hamstern zu gehen. Es war ja die Zeit der Osterferien. Sichtlich erleichtert, belud die Mama einen Rucksack mit verschiedenen für diesen Zweck vorbereiteten Tauschobjekten, hängte ihn mir um und küsste mich zum Abschied. Mein Stiefvater küsste mich natürlich nicht. (Mein leiblicher Vater hätte mich sehr wohl geküsst. Aber zu meinem Leidwesen ist er im Krieg gefallen.) Und so machte ich mich auf den langen und beschwerlichen Weg zu einigen Bergbauernhöfen.

Nahe dem höchstgelegenen von ihnen, nahezu tausend Meter über dem Talboden, befindet sich auf einer einsamen Passhöhe das Himmelreich. So nennt sich eine idyllische Lichtung, in deren Zentrum eine große, schöne Kapelle steht, die sogenannte Himmelreichkapelle. Ich habe mich schon oft gefragt, ob dieser Platz vielleicht quasi als Außenposten des echten Himmelreichs fungiert so wie der Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden.

In einer plötzlichen Eingebung trat ich ein und betete: „Bitte, lieber Jesus, mach, dass mein Papa wieder zurückkommt.“

Danach fühlte ich mich plötzlich ganz sonderbar. Mein Blick wurde von den vier vergoldeten Engelfiguren angezogen, die wie eine Schildwache den ebenfalls reich vergoldeten Altar umgeben. Und – war’s möglich? Ich glaubte zu träumen: Wie kleine Mädchen begannen sie zu kichern. Wie lauter Spätzchen begannen sie mit den Flügeln zu flattern. Wie Alice im Wunderland begannen sie zu wachsen. Und wie der Adler des Göttervaters Zeus auf den Knaben Ganymedes in der griechischen Sage stürzten sie sich auf mich herab, packten mich und hoben mich zu meinem unaussprechlichen Schrecken rasant in schwindelnde Höhen. Ich schrie – und dann schwanden mir die Sinne.

Als ich wieder zu mir kam, war ich völlig durcheinander. Ich flog nicht mehr durch die Luft, sondern lag in weichem Gras auf meinem Rucksack. Ich setzte mich auf, blickte mich um. Umringt von den vier goldenen Engeln, saß ich auf einer blühenden, duftenden, mit idyllischen Baumgruppen durchsetzten Almwiese. Aber sie war nicht von weidenden Kühen bevölkert, sondern von menschlichen Gestalten in langen, wallenden, blütenweißen, golden schimmernden Gewändern. Den Horizont bildeten pittoreske Gebirgsketten. Und über allem wölbte sich ein strahlender, golden-blauer Himmel, so tintenblau, wie man ihn nur im Hochgebirge erleben kann, und zugleich so golden, wie es „meine“ vier Engel waren – eine Farbkombination, die mir wie ein Wunder vorkam.

„Wo ...“, stieß ich in meiner maßlosen Verwirrung hervor. Mehr brachte ich nicht heraus.

„Wo wir hier sind?“, erwiderte einer der vier Engel freundlich. „Na, was glaubst du? Im Himmelreich natürlich.“

„Ha? Im Himm ... Ist mein Papa ...“

„Richtig. Hier wohnt dein Vater.“

„Ja, wirklich? Wo ist er denn?“

„So schau doch.“

Alle vier deuteten auf eine Gruppe von Personen, die auf einer Bank saßen, lebhaft diskutierten und uns offenbar gar nicht bemerkt hatten. Und einer von ihnen – he, war das wirklich mein Papa?

Nun war ich nicht mehr zu halten. „Papa, Papa“, jubelnd, rannte ich los und hielt gleich wieder inne, weil ich mir plötzlich unsicher war, ob er es tatsächlich ist. Er war jedoch bereits auf mein Geschrei aufmerksam geworden. Er riss die Augen auf, sprang auf und kam mir seinerseits entgegengerannt. Da rannte ich wieder los und warf mich ihm an die Brust, und er schlang seine Arme um meinen Kopf und drückte mich an sich. Und so überwältigt war ich von der unverhofften Wiedersehensfreude, dass mir die Tränen in die Augen schossen.

Aber dann wurde ich auf einmal stutzig. Wieso gab der Papa keinen Ton von sich? Freute er sich denn nicht? Verwirrt, verwundert, blickte ich auf. Nein. Seine Miene wirkte ernst, ja bestürzt, entsetzt. Und, offenbar als Antwort auf meine unausgesprochene Frage, sagte er mit trauriger Stimme: „Hat denn mein Karli schon in so jungen Jahren sterben müssen?“

Da machte ich mich frei, blickte ihm fest in die Augen und sagte, nein, schrie: „Aber Papa, ich bin ja gar nicht gestorben.“

„Wie? Du lebst?“

„Ja, ja!“

„Aber was machst du dann hier bei uns im Himmelreich?“

„Dich besuchen.“

„Mich besuchen? Na, du bist süß. Aber wie kommst du überhaupt hierher?“

Ich zeigte auf meine vier goldenen Engel, die sich im Gras niedergelassen hatten und uns entgegengrinsten. „Die haben mich hergebracht.“

Er winkte ihnen freundlich zu und sagte: „Na, Gott sei Dank. Ja, du lebst. Du hast ja auch noch das Gewand von daheim an und sogar einen Rucksack umgehängt. Was trägst du denn da mit dir herum?“

„Ach, Hamsterwaren. Und sowieso viel zu wenig.“

„Hamsterwaren? Sind denn die Zeiten immer noch so schlecht, dass ihr hamstern gehen müsst?“

„Ja, ja ...“

„Wie? Und da wolltest du zur Abwechslung einmal mir was zum Schnabulieren bringen?“ Dazu lachte er herzlich und drückte mich an sich. Und indem er mir zärtlich die Haare kraulte, wie er es immer getan hatte, sagte er: „Weißt du was? Machen wir doch einen kleinen Spaziergang, und du erzählst mir in aller Ruhe, was es zu erzählen gibt, ja? Aber möchtest du nicht lieber den Rucksack da lassen?“

„Nein, nein, auf keinen Fall. Der ist ja gar nicht schwer. Leider. Und viel zu kostbar.“

„Du meinst, ihr müsst hungern, falls er verlorengeht?“

„Genau. Drum sagt die Mama immer, man darf ihn nie aus den Augen lassen.“

„Ja, wenn die Mama das sagt. Und wenn ich ihn mir inzwischen umhängen würde?“

„Aber ich bin doch kein Baby mehr.“

„Das ist allerdings ein wahres Wort. Wie groß du schon geworden bist! Aber du hättest sicher gern was zum Schnabulieren. Wollen wir dorthin spazieren?“

„O ja, bitte“, rief ich voller Begeisterung aus und merkte jetzt erst, wie groß mein Hunger war.

Der Papa legte mir den Arm um die Schultern, und so begannen wir den angekündigten Spaziergang. Nun erst hatte ich die Muße, den wunderbaren Duft, der alles durchdrang, bewusst zu genießen. Es war ein Duft wie von Maiglöckchen und anderen Frühlingsblumen oder auch von bestimmten betäubend riechenden Baumblüten, nur unendlich süßer und unendlich intensiver. Und das Schönste war dies: Auch dem Papa oder seinem feinen Gewand entströmte ein solcher Duft.

Fast noch schöner waren andere Düfte, die bald danach meine Nase umschmeichelten. Sie ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, wurden immer intensiver. Und dann erreichten wir eine Baumgruppe, in deren Mitte ein Tisch sichtbar wurde. Und hurra, dieser Tisch war beladen mit herrlich duftenden, erlesenen, appetitlich angerichteten, aber mir völlig unbekannten Köstlichkeiten. Davor standen zwei bequeme Stühle. Und dahinter zwei wunderschöne Frauen, die mich freundlich anlächelten und mir offenbar das Essen servieren wollten.

Während ich noch sprachlos davorstand, sagte der Papa: „Na, komm, Karli, setz dich hin und lass es dir schmecken.“

Und folgsam, wie ich war, ließ ich es mir schmecken. Es mundete genauso köstlich, wie es duftete. Und es stillte zuverlässig meinen Hunger.

Da erst waren meine Sprechorgane wieder einsatzfähig. „Köstlich war das. Nur, was habe ich da jetzt eigentlich schnabuliert?“

„Ah, das sind die Himmelsspeisen. Nektar und Ambrosia. Die gibt’s auf Erden nicht. Aber Karli, jetzt sag. du hast sicher was auf dem Herzen.“

„O ja. Dich hätte ich gern wieder bei mir ... bei uns. Die Mama übrigens auch.“

„Und du meinst, ich soll ...?“

„Ja, ja ... Falls es möglich ist.“

„Möglich? Du, das ist leider ganz und gar unmöglich. Außer Jesus erlaubt es.“

„Dann fragen wir ihn doch einfach!“

Der Papa blickte mich unverwandt an. „So sehr ...? Also gut, dann auf zu Jesus.“

Wir kehrten zu den vier Engeln zurück. Und ohne dass wir ihnen hätten erklären müssen, wohin wir wollten, stürzten sie sich auf uns, zwei auf den Papa, zwei auf mich, und unter gewaltigem Flügelrauschen schwebten sie mit uns erneut in die Höhe. Dabei wurde der alles durchdringende leichte Goldton immer intensiver und übertönte schließlich alle anderen Farben.

Plötzlich spürte ich wieder festen Boden unter meinen Füßen. Ich schaute um mich und in die Höhe. Das Herz stand mir still. Hoch über mir, umringt von einer ganzen Kompanie feierlich blickender Engel in goldenen Gewändern und mit strahlend weißen Flügeln, thronte auf einer goldenen Wolke, den Kopf von weißen Strahlen wie von einer Krone umgeben, Jesus selbst und blickte mit ernster Miene auf uns herab. Und schon ertönte seine Stimme. Auch er schien genau zu wissen, was mich bekümmerte.

„Fürchte dich nicht, o Karli. Siehe, du hast Gnade vor meinen Augen gefunden. Dein starker, unbeirrbarer Glaube hat dir geholfen. Dein sehnlichster Wunsch ist mir wohlbekannt. Er werde in dieser Osternacht wahr – im Gedenken an meine eigene Auferstehung. So gehet hin in Frieden.“

Ehe der Papa oder ich noch etwas sagen konnte, ergriffen uns unsere Engel und flogen mit uns davon. Es war, als bewegten wir uns durch eine dichte Wolke aus Gold.

Bald landeten wir erneut. Hier erwartete uns ein alter Herr mit langem, weißem Bart und eindrucksvoller weißer Mähne, und darüber schwebte ein wunderschöner Heiligenschein in Form eines dünnen, glühenden Ringes. Ich fragte mich, ob man sich an ihm die Finger verbrennen würde. Der Heilige begrüßte uns freundlich und wusste offensichtlich ebenfalls bereits Bescheid. Denn er schritt zielstrebig auf eine lange Reihe intarsienverzierter Schränke zu, öffnete einen von ihnen, entnahm ihm schmutziggraue Lumpen und legte sie vor uns nieder. Sie strömten einen Geruch aus, dass einem schlecht werden konnte. Der Papa streifte sein feines, kostbares, duftendes Kleid ab und zog sich, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen, die stinkenden Lumpen an.

Unterdessen rückte der Alte mit einem Paar Stiefel an, deren Geruch noch um ein Vielfaches abscheulicher war. Aber auch sie zog er sich unverdrossen an. Wenigstens schienen sie zu passen. Zuletzt rückte der Alte noch mit einer Kappe an. Auch sie duftete nicht sonderlich edel.

Der auf die geschilderte Art kostümierte Papa schenkte mir ein gequält wirkendes Lächeln und murmelte: „Na, Karli, wie gefalle ich dir?“

Ich schüttelte den Kopf und stammelte: „Ich weiß nicht ...“

„Vorher habe ich dir vermutlich besser gefallen, wie? Aber es muss sein. Sankt Joseph hier ...“

„Ah, der heilige Joseph ist das?“, stieß ich erregt hervor, ohne den Papa ausreden zu lassen, und starrte den Alten fasziniert und voller Ehrfurcht an.

„Ja, das ist Sankt Joseph, der Nährvater Jesu, und er hat die Uniformen gefallener Soldaten und Klamotten verstorbener Kriegsgefangener in Verwahrung.“

„Ah, da bist du jetzt also ...?“

„Ja. Bitte, präg dir ein: Ich komme nicht aus dem Himmelreich. Das glaubt uns ja keiner. Sondern aus russischer Gefangenschaft. Wirst du dir das merken?“

„Aber sicher. Ich bin doch kein Baby mehr.“

Wir verabschiedeten uns von Sankt Joseph. Sofort stürzten sich erneut die Engel auf uns, hoben uns mit der ihnen eigenen Rasanz in die Lüfte. Und plötzlich sausten sie mit uns im Sturzflug in die Tiefe, sodass ich vor Angst wieder einmal wie ein Irrer zu kreischen begann. Und dann wurde mir schwarz vor den Augen.

Zweiter Teil

 

He, wo bin ich? Schlaftrunken reibe ich mir die Augen. Natürlich, in der Himmelreichkapelle. Vor Erschöpfung muss ich eingeschlafen sein. Ich erinnere mich an höchst sonderbare Träume.

Ich hebe den Kopf, sehe vor mir den Altar und muss geblendet die Augen sogleich wieder schließen. Denn in dessen reicher Vergoldung und den ihn wie eine Schildwache umgebenden vergoldeten Engelfiguren spiegelt sich die Sonne. 

Die Sonne? Ha, wenn das Sonnenlicht durchs Tor oder durch das Fenster darüber auf den Altar fällt und meine Augen blendet, so bedeutet das doch, sie steht im Westen, und sie steht schon ganz niedrig. Und das wieder bedeutet, sie geht bald unter. Was, so lange habe ich geschlafen? Das ist ja verrückt. Und verdammt, beim Abstieg vom Berg werde ich in die tiefe Nacht geraten, und die Mama wird sich ängstigen, und der Stiefvater wird ein Mordstheater machen, und der Osterfriede wird beim Teufel sein.

Da höre ich ein unerwartetes Geräusch hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um und erschrecke noch heftiger. Eine zerlumpte Gestalt rappelt sich soeben aus einer Bank nahe dem Eingang auf und ächzt dabei wie jemand, der aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden ist. Er starrt mich mit großen Augen an. Aber – nein, das gibt’s doch nicht! Der sieht ja aus wie ... Das ist doch mein richtiger Papa!

„Papa, Papa“, schreie ich, wie vom Donner gerührt, ohne an die Heiligkeit des Ortes zu denken, und noch einmal: „Papa, Papa!“ Wie von Sinnen bin ich vor Freude und Entzücken. Ich stürme auf ihn zu und hänge im nächsten Moment an seinem Hals, ohne mich von dem mehr als strengen Geruch, den er oder sein Gewand verbreitet, abschrecken zu lassen. So sehr bin ich außer mir vor Glück, dass ich von einer Sekunde auf die andere in Tränen ausbreche.

Er umfasst mit beiden Händen meinen Kopf. Auch seine Augen stehen voller Tränen.

„Na, Karli? So sehr freust du dich, dass ich zurückgekommen bin?“, murmelt er mit bewegter Stimme. Und es ist ohne jeden Zweifel die Stimme meines richtigen Papas.

Ich nicke heftig, ohne ein Wort herauszubringen.

„Und wird sich die Mama auch so freuen?“

Ich nicke noch heftiger.

„Aber wie schaust du denn aus“, stammle ich, sobald ich wieder sprechen kann. („Und wieso stinkst du so“, liegt mir auf der Zunge. Aber diese Frage schlucke ich rechtzeitig hinunter.)

„Wie ich ausschaue? Na, wie ein Heimkehrer halt. Hast du noch nie Heimkehrer gesehen?“

Doch, habe ich. Und er hat recht. So oder so ähnlich haben sie alle ausgesehen, wie er jetzt aussieht. Nur habe ich es bisher nicht weiter beachtet, sondern ein solches Aussehen als normal hingenommen. Aber wenn nun der eigene Vater so daherkommt ...

Ich nicke zaghaft und blicke schuldbewusst zur Seite. Dadurch werde ich wieder auf die niedrigstehende Sonne aufmerksam und erinnere mich, dass es höchste Zeit ist, aufzubrechen und den Abstieg anzutreten. Zögernd löse ich mich vom Papa, setze mich neben ihn und sage: „Es wird bald finster. Wir müssen gehen.“

„Stimmt“, erwidert er, indem er selber aufsteht und mich in die Höhe hebt und auf die Füße stellt. „Es ist schon spät.“

Jetzt besteht der Papa darauf, den Rucksack zu tragen. Das will ich zuerst nicht gelten lassen, indem ich darauf hinweise, dass ich kein Baby mehr bin. Aber nachher bin ich doch erleichtert und dankbar, die Last nicht mehr tragen zu müssen, zumal während des gefährlichen nächtlichen Abstiegs.

Ehe wir aus der Kapelle treten, wende ich mich noch einmal um, und mein Blick fällt auf die in der untergehenden Sonne golden leuchtenden Engelfiguren rund um den Altar. Im selben Augenblick kommt mir die ganze Erinnerung an meinen Ausflug ins Himmelreich zurück, und mir wird klar, dass ich keineswegs geträumt habe und dass der Papa in Wirklichkeit kein Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft ist, sondern gerade so was wie eine österliche Auferstehung erlebt hat. Überwältigt von diesem Gedanken, strahle ich ihn mit scheuer Ehrfurcht an, und er strahlt mich an. Und dieses gegenseitige stumme Anstrahlen ist die köstlichste Plauderei, die man sich vorstellen kann.

Während wir uns einträchtig auf den Weg machen, sagt der Papa: „Gell, Karli, vor den anderen darfst du keinesfalls irgendwas vom Himmelreich erwähnen. Das muss unser Geheimnis bleiben. Kannst du Geheimnisse für dich behalten?“

„Na klar. Ich bin ja kein Baby mehr.“

„Sehr schön. Du siehst ja, deshalb muss ich eben als Heimkehrer auftreten. Sankt Joseph hat es ausdrücklich so gewünscht. Niemand darf wissen, dass ich direkt aus dem Himmelreich komme, außer dir und mir. Wir müssen sagen, ich komme aus der russischen Kriegsgefangenschaft, und dort habe ich Leiden, Entbehrungen, Schikanen und Demütigungen ohne Zahl ertragen müssen. Wirst du dir das merken?“

„Aber sicher. Ich bin ja ...“

„Ich weiß, ich weiß, du bist kein Baby mehr. Und jetzt bin ich halt endlich repatriiert worden ...“

„Was bist du worden?“

„Repatriiert. Das heißt, entlassen und heimgeschickt. Mit vielen anderen Heimkehrern zusammen. Wir sind in einen Zug gesetzt und nach tagelanger Fahrt am Bahnhof von Wiener Neustadt freigelassen worden. Von dort bin ich in dreitägiger Wanderung nach Kapfenberg gekommen, und unterwegs sind wir uns zufällig begegnet.“

Mittlerweile ist die Sonne vollends untergegangen. Doch zu unserer Erleichterung ist gleichzeitig über den Bergen im Osten, gelb-orange wie ein Feuerball, riesengroß und spektakulär, der österliche Vollmond aufgegangen und leuchtet uns mit seinem geborgten Licht als himmlische Laterne.

(Tatsächlich war genau an diesem Tag Vollmond. Daher wurde gemäß den Regeln des Konzils von Nicäa schon am Tag danach Ostern gefeiert – ein seltenes Ereignis.)

Und so kommen wir schließlich heil und unversehrt vor unserem Wohnhaus an. Doch jetzt ist der Papa plötzlich auffallend nervös, fast so wie ich vor einer Prüfung in der Schule. Auch mir schlägt das Herz bis zum Hals. Und so stehen wir vor unserer Haustür und können uns beide nicht entschließen, die Türglocke zu betätigen.

Während wir noch zögern, dringt aus dem Hausinneren das Gebell unseres Cäsars.

„Hörst du“, raunt mir der Papa zu. „Der Cäsar hat uns schon wahrgenommen. Das ist doch noch unser Cäsar, oder nicht?“

„O ja“, flüstere ich zurück.

Er geht auf die Haustür zu, zögert noch einmal, drückt dann kurz entschlossen auf den Klingelknopf und tritt rasch hinter mich zurück.

Sofort verstummt Cäsars Gebell. Eilige Schritte werden laut. Man hört, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Die Tür geht auf. In ihr erscheint die Mama.

„Na, da bist du ja endlich“, ruft sie mit hörbarer Erleichterung aus. „Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Wo bist du denn so lang geblieben? Kannst dich schon auf ein Donnerwetter vom Papa gefasst machen.“

„Du meinst, vom Stiefvater?“

„Ja, sicher. Wieso fragst du so blöd? Was ist denn passiert, dass du erst jetzt daherkommst?“ Und nach einem Augenblick der Stille, sagt die Mama, aufs Äußerste bestürzt: „Um Himmels willen, wo ist der Rucksack?“

Ehe ich noch dazu komme, ihre vielen Fragen zu beantworten, ertönt hinter mir neuerlich Cäsars Gebell. Ich wende mich um und erkenne in der Dunkelheit, dass er aufgeregt am Papa emporspringt und freudig mit dem Schwanz wedelt, und dass sich der Papa über ihn gebeugt hat und ihn liebevoll tätschelt.

„Aber dort ist er ja, der Rucksack“, rufe ich der Mama fröhlich zu und weise mit der Hand auf den Papa. Ich muss schreien, um Cäsars Gebell zu übertönen.

„He, wer ist denn das?“, ruft sie entsetzt aus. „Wen hast du da mitgebracht?“

„Ja, Karli, wen hast du da mitgebracht?“, sagt der Papa, richtet sich auf, tritt näher, gerät in den aus dem Haus dringenden Lichtschein. Da schlägt die Mama die Hände überm Kopf zusammen und wird, soweit ich erkennen kann, kreidebleich im Gesicht, sagt aber kein Wort, sondern starrt ihn an wie ein Gespenst. Er lacht, geht mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. „Na, Resi, mir scheint, du kennst mich nicht mehr.“

Sie weicht zurück, bis sie mit dem Rücken an die Hausmauer anstößt, streckt wie zur Abwehr beide Hände von sich und murmelt: „Das gibt’s doch nicht. Diese Stimme!“

„Aber Mama“, sage ich begeistert und zugleich verärgert über ihr merkwürdiges Verhalten. „Den Papa habe ich mitgebracht. Den richtigen.“

„Leopold?“, flüstert sie und reißt die Augen auf.

„Na also“, sagt der Papa lachend. „Du kennst mich ja doch noch. Komm, lass dich umarmen.“ 

Sie sträubt sich, wehrt ihn ab. „Ja, aber wie ist denn so was möglich? Jetzt dachte ich ...“

„Ich bin gefallen?“, versucht er ihren unvollendeten Satz zu ergänzen.

Sie nickt.

„Na siehst du, Resi, das hast du eben falsch gedacht. Ich war nur in russischer Gefangenschaft. Was nebenbei bedeutend schlimmer ist, als tot zu sein, glaub mir. Ja, und jetzt bin ich halt wieder da. Freust du dich denn gar nicht?“

Sie nickt, bricht in Tränen aus, fällt ihm nun ihrerseits um den Hals. „Mein Poldi, dass du wieder da bist! Wenn du wüsstest, wie du mir gefehlt hast!“

Sie beruhigt sich überraschend schnell, betrachtet ihn kopfschüttelnd und, wenn mich nicht alles täuscht, naserümpfend. „Aber wie schaust du denn aus, du Armer! Ich muss dich sofort in die Badewanne stecken. Komm. Zum Glück ist das Wasser noch warm.“

(Wir gehörten zu den fortschrittlichen Familien, die über Badewanne und Badeofen verfügten. Einmal pro Woche wurde dieser eingeheizt, und zwar stets am Samstagabend, damit wir am Sonntag unser Sonntagsgewand ausführen konnten.)

Sobald ich Cäsar nun auch meinerseits in gebührender Form begrüßt habe, ziehe ich mich mit ihm zusammen in die Küche, unserem gewöhnlichen Aufenthaltsraum, zurück und lausche vergnügt dem anheimelnden Wasserrauschen aus dem angrenzenden Badezimmer. Falls es in diesem auch ein anheimelndes Geplauder gibt, woran ich nicht zweifle, so wird es vom Rauschen des Badewassers verschluckt.

Inzwischen muss ich an den Stiefvater denken und frage mich, ob er schläft oder vielleicht gar nicht zu Hause ist. Was wird er nun wohl sagen oder tun? Wird er sich freiwillig zurückziehen oder uns irgendwelche Rückzugsgefechte liefern?

Unterdessen endet im Badezimmer das Wasserrauschen, und es ist nur noch anheimelndes Plätschern zu hören. Die Mama tritt heraus, um, wie sie erklärt, endlich auch wieder einmal nach mir zu schauen und mir ein Abendessen vorzusetzen.

„Nur, sag, wieso bist du so spät heimgekommen? Ich war schon halb krank vor Angst und Sorge, und der andere Papa ist fuchsteufelswild. Schließlich ist heute Karsamstag. Nach langem Warten hat er sich entschlossen, ohne uns zur Osternachtfeier zu gehen.“

„Ah, in der Kirche ist er? Ich hab mich nämlich schon gewundert, dass er nirgendwo zu sehen ist. Ich bin ja schon so neugierig.“

„Neugierig? Auf was denn?“

„Na, was er sagen wird. Und ob er von selber gehen wird oder ...“

„Karli, was redest du da!“

„Na ja, jetzt braucht ihn ja keiner mehr, oder? Und du wirst doch sicher froh sein, wenn er nicht mehr bei uns ist.“

„Hörst du, wie sprichst du über deinen Papa!“

„Das ist nicht mein Papa. Mein Papa ist da drinnen.“

„Ja, ja. Ja, sicher. Ach Gott, ich bin ganz durcheinander. Ach so, ein Nachtgewand. Ich wollte ihm ja noch ein Nachtgewand bringen. Na, hoffentlich finden wir auch sonst was für ihn zum Anziehen. Diese verdreckten Sachen, mit denen er dahergekommen ist ...“

Und ohne zu verraten, was mit den verdreckten Sachen geschehen soll, saust sie bei der Tür hinaus und kehrt nach geraumer Zeit mit einem Nachtgewand auf dem Arm zurück, wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, als wolle sie mir irgendetwas sagen, und verschwindet kopfschüttelnd im Badezimmer, ohne den Mund aufgetan zu haben. Sicher ist sie genauso selig wie ich, dass jetzt mein richtiger Papa endlich wieder bei uns ist. Und der „andere“ Papa kann fuchsteufelswild sein, soviel er will. Der richtige Papa wird mich schon in Schutz nehmen.

Ich schaue aus dem Fenster, bewundere den österlichen Vollmond und weiß nun, dass Ostern nicht umsonst Fest der Auferstehung heißt.

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Angaben zum Autor

Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.  

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: Von Craig Deakin from Newcastle Upon Tyne, United Kingdom - Uploaded by ComputerHotline, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21015674
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2021

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