Cover

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Der Mörder und die Schicksalsgötter 

Oder: Ein Mann der Tat

 

Cover:

Michelangelo: David, die Steinschleuder bereits auf der Schulter angelegt (1501 - 1504). Nahaufnahme. Florenz, Galleria dell'Accademia

  

 

  

Einen Mann der Kunst nennen wir Künstler. Einen Mann der Musik nennen wir Musiker. Und einen Mann der Tat? Na, klar, den nennen wir Täter.

Von einem solchen Mann der Tat, also einem Täter, man kann auch sagen: einem Mörder, handelt dieser Report. Nur dass dieser Mann der Tat zunächst einmal, wie nur natürlich, ein kleines Büblein ist, ein kleines "Iäterlein“, man kann auch sagen: ein kleines "Mörderlein". Doch als er viele Jahre später von einer solchen „Tat“ zurückkommt, lobt und preist ihn seine Geliebte mit den Worten: „Du bist ein Mann der Tat. Ein Mann der schnellen Entschlüsse. O mein Jean, ich liebe dich.“

 

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Es war ein herrlicher Frühlingstag im Mai des Jahres 1947. Die Vöglein jubilierten um die Wette, die Bäume hatten ihr schönstes Frühlingskleid angelegt, Myriaden von Blüten entsandten ihren süßen Duft und lockten damit Heerscharen von Honigbienen an. Im Triumph war die Natur aus der winterlichen Todesstarre wiederauferstanden, für die Menschen ein lebendiges Sinnbild des Friedens – des langersehnten, wie der Vogel Phönix aus der Asche des Weltenbrandes wiederauferstandenen Friedens, den die Menschheit nach den Gräueln der Nazi-Pest und des von ihr vom Zaun gebrochenen schrecklichen Krieges eben erst zurückgewonnen hatte.

Ausgerechnet an einem solchen Tag sollte der kleine Hansi zum Mörder werden.

 

3

„Ha, da ist er ja, der lumpige Jakoby-Bub, dieser stinkende Nazi-Balg!“

Also sprach Baldur – nein, also krähte der kleine Baldur, als er den noch viel kleineren Hansi erblickte. Und schon kam nicht ein Vogerl geflogen, wie es in dem bekannten Volkslied heißt, mit ei‘m Zetterl im Schnabel, von der Mutter ei‘n Gruß. Geflogen kam ein Steinderl – nein, aus ausgewachsener Stein. Und weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Der kleine Hansi, sein richtiger Name war natürlich Johann, und er hieß auch nicht Jakoby, sondern Pischinger – der kleine Hansi also war gerade auf dem Heimweg von der Volksschule in Marbach an der Donau, in der Hansi die erste Klasse besuchte. Baldur, der ihn gar so freundlich mit einem Stein begrüßt hatte, ging hingegen in die vierte Klasse und war ihm und seinen Mitschülern schon des Öfteren als Schreihals, Raufbold, Schulhofrowdy und Gewalttäter unangenehm aufgefallen, hatte ihn auch schon des Öfteren ordentlich vermöbelt. Nun befand sich Hansi gerade an der Stelle, an der, bereits außerhalb des eigentlichen Ortsgebietes, von der Straße zum Friedhof und weiter zum bekannten Wallfahrtsort Maria Taferl ein steiler Fahrweg durch den Wald zum hochgelegenen Ortsteil Friesenegg hinaufführt. Dort wohnte er bei seinen Pflegeeltern. Diese hießen tatsächlich Jakoby. Und deshalb war Hansi in Marbach eben als Jakoby-Bub bekannt.

Also, das Ganze noch einmal von vorn.

Baldur erblickte den Hansi und schrie: „Ha, da ist er ja, der lumpige Jakoby-Bub, dieser stinkende Nazi-Balg!“ Bückte sich. Und schon kam ein Stein geflogen. Dessen Ziel war unverkennbar Hansis Kopf. Doch zum Glück hatte Hansi trotz seiner Jugend keine „lange Leitung“. Er reagierte blitzschnell, und zwar in zweifacher Weise. Erstens sprang er augenblicklich zur Seite, sodass der Stein noch ein schönes Stückchen weiterfliegen durfte, ohne von Hansis Kopf gestoppt zu werden. Gleichzeitig bückte er sich ebenfalls, griff seinerseits nach einem der größeren Steine, die am Straßenrand herumlagen, und schleuderte ihn mit aller Kraft, und davon besaß er in Anbetracht seines zarten Alters erstaunlich viel, gegen den Kopf des Angreifers. Und da dieser eine eher „lange Leitung“ hatte, sprich, bei weitem nicht so flink reagieren konnte wie der Hansi, landete der Stein mit erstaunlicher Zielsicherheit auf dem für ihn bestimmten Ziel: an Baldurs Kopf. Und richtete dort so schwere Verwüstungen an, dass sein Besitzer kraftlos einknickte und langsam zu Boden sackte.

„Recht geschieht ihm“, sagte Hansi zu niemand Bestimmtem und erinnerte sich an die Spielchen seiner frühen Kindheit, als er mit großem Eifer nicht nur das Schießen mit selbstgebastelten Schleudern, sondern auch das einfache Steinewerfen trainierte und mit dieser Methode wie besessen alles mögliche Kleingetier erlegte: Würmer, Schnecken, Käfer, Blindschleichen (von denen es damals, jedenfalls in Bruck an der Mur, wo seine Familie gelebt hatte, noch jede Menge gab) und anderes. Dafür rügte ihn zwar seine Mutter immer wieder und versuchte ihn geduldig eines Besseren zu belehren. Trotzdem, von diesem Spiel war er so fasziniert, dass alles Rügen und Belehren gar nichts half.

Na, und diesmal hab ich eben diesen blöden Kerl erlegt, bevor er mich erlegen konnte, dachte Hansi und vollendete zur Sicherheit sein „Werk“. Er holte seine Schleuder aus der Hosentasche, wo er sie immer mit sich herumtrug, und schleuderte mit ihrer Hilfe einen zweiten Stein gegen Baldurs Kopf. Diese Methode erwies sich als noch wirksamer als die mit der bloßen Hand. Denn so tat er es dem David in der Bibel gleich, der auf diese Weise den Riesen Goliath besiegte: „Und David tat seine Hand in die Hirtentasche und nahm einen Stein daraus und schleuderte ihn und traf den Philister an die Stirn, dass der Stein in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht.“ Wort des lebendigen Gottes.

Danach setzte Hansi seinen Heimweg fort, ohne das regungslos auf „sein Angesicht gefallene“ Opfer seiner perfekten Schleudertechnik weiter zu beachten, und auch, ohne die leiseste Schuld zu empfinden. Kam aber nicht weit. Denn aus heiterem Himmel wurde ihm plötzlich speiübel, ihm zitterten die Knie, die Beine wollten ihn kaum noch tragen, er taumelte wie ein Betrunkener und musste stehen bleiben und sich an einem Baum abstützen, aus Angst, ansonsten hinzufallen. Gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus allen Poren.

Zum Glück ging dieser Anfall, oder was immer es war, wieder vorüber, ehe noch ein Passant aufgetaucht war. Nun aber beeilte sich der Hansi sehr, nach Hause zu kommen, nicht nur, um rasch einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die Stelle seines „Werks“ zu legen, sondern vor allem auch, um nicht schon wieder zum Mittagessen zu spät zu kommen und dafür von seiner Pflegemutter Prügel zu kassieren.

Hansi und seine kleine Schwester Mitzi (ihr richtiger Name lautete natürlich Maria) waren nämlich Vollwaisen. Ihre leibliche Mutter konnte ihnen keinen Gruß im Schnabel eines Vogerls mehr schicken. Höchstens aus dem Himmelreich. Sie war vor zwei Jahren von einem russischen Soldaten kaltblütig erschossen worden, weil sie sich gar zu heftig dagegen sträubte, seiner mehr als stürmischen „Liebe“ gewürdigt zu werden. Und was war mit dem leiblichen Vater der beiden Waisenkinder? Ja, der war zu ihrem Unglück im Krieg gefallen. „Im Osten“, wie es in dem handgeschriebenen Brieflein hieß, in dem man ihrer Mutter den „Heldentod“ ihres Mannes „im größten Kampf aller Zeiten“ mitteilte und sie aufforderte, seiner „in stolzer Trauer“ zu gedenken. (Welch ein Zynismus!) Auch war die Rede davon, dass „wir seinen Tod rächen und bis zum Endsieg kämpfen werden“. Hansi und Mitzi hatten sich nicht wenig gewundert, ihre Mutter über diesem Brief in Tränen aufgelöst und herzzerreißend schluchzend vorzufinden. War Weinen denn nicht das Vorrecht der Kinder?

Unterdessen war der Krieg schon seit bald zwei Jahren vorbei. Aber nun stöhnte Österreich, speziell die sowjetisch besetzte Zone, in der auch Marbach an der Donau lag, unter den Härten einer fremden Besatzung.

Jetzt spielten also Onkel Fritz und Tante Hannelore, mehr schlecht als recht, ihre Vater- und Mutterrolle. Sie bewirtschafteten ein kleines Bauerngehöft in Friesenegg und waren die einzigen Verwandten, die als Ersatzeltern in Frage kamen, weil sie im Inland lebten. Es existierten daneben nur noch ein Onkel und eine Tante. Aber die lebten leider in Frankreich. Und eine Reise dorthin, noch dazu die Reise kleiner Kinder, mit oder ohne Begleitung, war in der Nachkriegszeit praktisch undenkbar. Immerhin kümmerten sich die französischen Verwandten ein bisschen um die armen Waisen. Ab und zu traf für sie ein Brieflein aus Frankreich ein.

Wie gesagt, Onkel Fritz und Tante Hannelore spielten ihre Elternrolle denkbar miserabel. Was benötigt denn ein Kind, damit aus ihm ein lebensfroher Mensch und ein angenehmer Zeitgenosse wird? Natürlich, menschliche Wärme und Fröhlichkeit. Dazu eine Prise Bildung und Kultur. All das konnten oder wollten die Ersatzeltern ihren zwei Schutzbefohlenen nicht bieten. Die Kinder hatten auch nicht viel Gelegenheit, sich ihrem kindlichen Spieltrieb hinzugeben. Ihr Tag war hauptsächlich mit Arbeit ausgefüllt. Mit Kinderarbeit (die immerhin seine Muskeln kräftigte). Das galt zurzeit vor allem für den Hansi; Mitzi war dafür noch ein bisschen gar zu jung.

Sicher war der Mangel an Vater- und Mutterliebe eine der Ursachen für Hansis unerschöpfliches Reservoir an verdrängter Wut, die sich ab und zu entladen musste, und hatte seine bedauerliche Neigung, kleinere und auch größere Lebewesen zu „erlegen“, eher noch gefördert.

Zu Hause angelangt, erzählte Hansi natürlich kein Wort von seinen Erlebnissen in der Schule, geschweige denn von seinem soeben bestandenen Abenteuer. Den in den Kindern von Natur aus angelegten Drang, Papa und Mama alles Erzählenswerte zu erzählen, hatte er sich längst abgewöhnt. Desgleichen alle kindliche Fragelust. Daher wagte er auch nicht zu fragen, was man denn unter einem stinkenden Nazi-Balg zu verstehen habe. Denn Tante und Onkel sprachen grundsätzlich so wenig wie nur möglich mit ihm und seiner Schwester. Aber wenn sie überhaupt mit ihnen sprachen, so waren ihre Worte zumeist von ausgesuchter Bosheit, und sie wussten auf alles, was die beiden sagten, einen negativen, vorwurfsvollen Kommentar zu liefern. Und der konnte, wenn die Kinder Pech hatten, in wüste Beschimpfungen, in Strafarbeiten und gar oft sogar in Schläge, wenn nicht noch Ärgeres, ausarten.

Nun, geschlagen wurde Hansi jetzt, während des Mittagessens, zwar nicht. Aber gerügt wurde er doch, und zwar heftig genug, weil er beim Essen auf empörende Weise trödelte und so tat, als hätte er gar keinen Hunger. In Wirklichkeit hatte er sogar großen Hunger. Nur eben keinen Appetit. Die Speisen schmeckten heute wie Sägemehl.

Übrigens hatte es sich Hansi auch längst abgewöhnt, in Gegenwart von Onkel oder Tante oder auch in Adolfs Gegenwart mit Steinen auf kleine Tiere zu zielen. Adolf – sie nannten ihn liebevoll stets Adi – war nämlich ihr eigener Sohn, ein, zwei Jahre älter als Hansi und immerwährender Anlass für dessen verdrängte Wut. Adolf war – natürlich – Muttis und Vatis Liebling. Er war Hansi und Mitzi gegenüber in jeglicher Hinsicht privilegiert. Ganz klar, dass dem Liebling Adolf bei weitem nicht so viele und so schwere Arbeiten in Haus und Hof aufgebürdet wurden. Und wenn er den Hansi tyrannisierte oder gar tätlich angriff, was oft genug vorkam, und dieser sich dagegen wehrte, wurde niemals Adolf selbst beschimpft oder gar bestraft, sondern selbstverständlich immer der blöde Johann. (Hansi nannten sie ihn nämlich nie, immer nur Johann oder, noch besser, „der blöde Johann“.) Nicht anders war es, wenn er, also der Adolf, irgendeinen Unfug anstellte oder etwas kaputt machte. Mit anderen Worten: Sogar für Adolfs Unfug oder Fehler musste jedes Mal der Hansi den Kopf hinhalten. Immer wurde er als der Alleinschuldige hingestellt. Und mit jedem Mal stieg Hansis Wut, stieg Hansis Erbitterung nur noch weiter an.

Der einzige Mensch, den er in seine Geheimnisse und daher auch in das Geheimnis seines Abenteuers mit Baldur einweihte, war also die Mitzi, mit der er des Nachts das Bett teilen musste. Ihr flüsterte er nach dem Schlafengehen unter dem Siegel der Verschwiegenheit ins Ohr, was heute am Heimweg von der Schule vorgefallen war. Übrigens litt auch sie unter Adolfs Niedertracht und seinen Quälereien ebenso wie unter ihrer ständigen Zurücksetzung durch Onkel und Tante. Und das steigerte Hansis Erbitterung nur noch mehr.

Der Rest dieses schicksalsträchtigen Tages verlief für Hansi zu seiner Genugtuung ohne weitere Anfälle von Übelkeit und Schwindel, wie er einen am Heimweg von der Schule erlebt hatte. Aber dafür war die Nacht der reinste Horror. Kaum war er in der gemeinsamen finsteren Kammer zu Mitzi ins Bett gekrochen (Friesenegg war damals noch nicht ans Stromnetz angeschlossen), da packte ihn die wilde Panik, und seine Hände spürten wieder die Steine, mit denen sie gegen den Kopf des Feindes zielten, und seine inneren Augen sahen, wie sein Opfer kraftlos einknickte und langsam zu Boden sank und regungslos liegen blieb, und wie ihm, wie einst dem Riesen Goliath, noch einmal „der Stein in die Stirn fuhr“. Und als sich endlich, endlich, der Schlaf seiner erbarmte, schickte er ihm böse Alpträume.

Am Morgen danach war der Horror, Gott sei Dank, vorbei, und Hansi fühlte sich wieder einigermaßen wohl. Aber dafür herrschte am Frühstückstisch unter den Erwachsenen helle Aufregung. Denn da brachte der Nachrichtensprecher im Radio die Schreckensmeldung, im sonst doch immer so friedlichen Marbach an der Donau sei mitten auf der Straße die Leiche eines Kindes aufgefunden worden, das durch massive Schläge auf den Kopf ermordet worden sei. Vom Täter fehle jede Spur. Nicht genannt wurde der Name des Ermordeten, nur, dass es sich um einen Knaben handelt. Daher konnte Hansi nicht hundertprozentig sicher sein, ob damit Baldur gemeint war. Erst in der Schule erhielt er die gewünschte Bestätigung seiner Vermutung. Denn auch dort herrschte allergrößte Bestürzung über die heimtückische Ermordung des Schülers Baldur Edelsreither, vor allem unter den Lehrern, weniger freilich unter den Schülern. Bei ihnen machte sich zu Hansis Genugtuung eher eine gewisse Erleichterung breit.

Da hab ich ja direkt ein gutes Werk getan, sagte er sich und fühlte sich jetzt erst so richtig stolz auf seine Tat.

Unnötig zu erwähnen, dass dieser Mord niemals aufgeklärt werden konnte. Gemunkelt wurde allerdings, dass sie höchstwahrscheinlich von einem betrunkenen russischen Besatzungssoldaten begangen worden sei. 

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Nach einigen Wochen konnte Hansi seine Neugier nicht mehr bezähmen. Er überwand seine bisherige Scheu zu fragen, was das ist, ein stinkender Nazi-Balg, und wandte sich mit dieser Frage, zwar noch immer zögernd, an Tante Hannelore. Sie erschien ihm immer noch weniger „gefährlich“ als Onkel Fritz. Genaugenommen fragte er, vielleicht aus Vorsicht, nur nach dem Balg: „Bitte, was ist denn das, ein Balg?“

„Ein Balg?“, wiederholte sie mit griesgrämiger Stimme und machte ein ratloses Gesicht. „Keine Ahnung. Aber sicher nichts Gutes. Wahrscheinlich ist das irgend so ein Schimpfwort wie Trottel oder Sauhund. Wo hast du denn diesen komischen Ausdruck her?“

„Hm ...“ Hansi zögerte (zu Recht, wie sich herausstellen sollte). „Na ja, vollständig hat es geheißen: stinkender Nazi-Balg.“

Natürlich ließ er geflissentlich unerwähnt, wo er diesen Ausdruck herhat, und vor allem auch, wer damit gemeint sein könnte. Aber Letzteres schien die Tante ohne weiteres zu erraten. Denn zu Hansis Bestürzung geriet sie schlagartig in helle Aufregung, und anstatt Hansis Frage zu beantworten, ergriff sie, grob genug, seinen Oberarm, marschierte mit ihm zum Onkel in den Stall und berichtete ihm brühwarm von „der unerhörten Frechheit dieses Miststücks“. Die Folge war ein schreckliches Donnerwetter, das sich nun über Hansis Haupt entlud. Wie wildgewordene Fußballfans brüllten beide auf das arme Kind ein, als ob es ein Verbrechen, etwa gar einen Mord, begangen hätte, und der Onkel schreckte nicht davor zurück, ihn wegen einer solchen „himmelschreienden Beleidigung“ wie einen ungehorsamen Köter zu verprügeln. So gewaltig war das Donnerwetter, und so laut weinte Hansi vor Enttäuschung und vor Schmerzen, dass sein im Garten vor dem Haus spielendes Schwesterlein angelockt wurde und vor Mitleid und Entsetzen mit Hansi mitzuweinen begann. Die Tante herrschte sie zwar an, sie solle sofort aufhören zu heulen, sie gehe das überhaupt nichts an. Aber der Erfolg war, dass Mitzi nur noch lauter heulte.

Durch das Donnerwetter angelockt wurde auch Tantes Liebling Adolf. Ihn brauchte seine Mutti nicht aufzufordern, sein Heulen sofort einzustellen. Er heulte nämlich gar nicht, sondern weidete sich sichtlich an dieser Prügelszene und an Hansis Verzweiflung.

Worin bestand nun eigentlich Hansis schweres Vergehen, wird man sich fragen und fragte er sich voller heimlicher Empörung selbst. Ich hab doch nur eine völlig harmlose Frage gestellt. Was soll daran so schlimm gewesen sein? Und aus dem Gebrüll des Onkels wurde er natürlich überhaupt nicht schlau.

Nun, es schien in der Hauptsache darum zu gehen, dass Onkel und Tante glühende Verehrer des „Führers“ gewesen waren und, obwohl er schon seit geraumer Zeit nicht mehr „führen“ konnte oder wollte, immer noch waren. Und dass es anscheinend eine himmelschreiende Beleidigung war, sie darum als „stinkend“ zu beschimpfen. Nur, was das alles mit einem „Nazi-Balg“ zu tun hat, das blieb ihm, dem Hansi, ein völliges Rätsel. Und vor allem war noch immer nicht geklärt, wieso sich Onkel und Tante überhaupt betroffen fühlten. Schließlich war ja angeblich er, der Hansi, selbst der „Nazi-Balg“, nicht sie. Was versteht man überhaupt unter einem Nazi? Das wissen sie wahrscheinlich ebenso wenig wie die Bedeutung des Ausdrucks „Balg“. Was sie dagegen bestimmt sehr gut verstehen, das ist die Bedeutung des Wortes „stinkend“.

Solche Gedanken wirbelten dem Hansi ohne Unterlass im Kopf herum. Und noch ein Gedanke schlich sich heimlich an. Er lautete sinngemäß, frei nach Shakespeare: Ein Stein! Ein Königreich für einen Stein! Oder, besser noch, für zwei Steine, einen für den Onkel und einen für die Tante! Aber diesen Gedanken verscheuchte er schleunigst wieder dorthin, woher er gekommen war, sprich, in die Tiefe seines Unterbewusstseins. Jedenfalls hütete er sich ab sofort, seine Ersatzeltern noch irgendetwas zu fragen, wenn seine Fragen zu derartigen Eklats führen konnten. Überdies wurde er von da an ihnen gegenüber immer bockiger. Das hatte allerdings zur Folge, dass sie ihn mehr und mehr als schwererziehbar einstuften. Was natürlich noch viele weitere unerfreuliche Szenen auslöste. Es war ein richtiger Teufelskreis, ein Circulus vitiosus.

Einen großen Trost besaß Hansi zum Glück. Und das war seine kleine Schwester. Ungeachtet ihres zarten Alters hielt sie felsenfest zu ihm und dachte auch nicht daran, seine Geheimnisse zu verraten. Im Übrigen war sie zwar bei weitem „braver“ als er selbst und beschwor damit, zumindest vorläufig, viel weniger und weniger dramatische Strafmaßnahmen herauf. Aber indem sie älter wurde, nahm sie eine durchaus vergleichbare Entwicklung und näherte sich ebenfalls mehr und mehr dem Zustand der sogenannten Schwererziehbarkeit.

Einen weiteren großen Trost besaß Hansi in Frau Ellegast, seiner Lehrerin. Sie hatte die Ursache von Hansis Widerspenstigkeit rasch durchschaut. Seither behandelte sie ihn dementsprechend nachsichtig, ja liebevoll. Und der Erfolg blieb nicht aus. Ihr gegenüber wurde Hansi quasi „handzahm“. Und nicht nur das. Er wurde, ganz im Gegensatz zu bisher, ein aufmerksamer und fleißiger Schüler. Und das, obwohl daheim die Arbeiten am Hof immer mehr wurden und ihm im Laufe der Jahre über den Kopf zu wachsen drohten.

Zu den Arbeiten, die Hansi seit jeher zu verrichten hatte, gehörte das Ziegenhüten. Das hatte immerhin auch seine Vorteile. Denn beim Ziegenhüten hatte er nicht nur genug Zeit, um seine Zielgenauigkeit beim Steinewerfen und beim Gebrauch der Schleuder zu vervollkommnen. Um einen Stein zu werfen, war nur Körperkraft vonnöten. Mit der Schleuder umzugehen erforderte außer Körperkraft auch Geschick, ein gutes Auge und jahrelange Übung der Gelenke. Er hatte schnell erkannt, dass die Schleuder ein wunderbares Mittel war, die Herde zu lenken und eventuelle Raubtiere und Viehdiebe fernzuhalten. Nicht umsonst brachten Hirtenvölker besonders tüchtige, treffsichere Schleuderer hervor. So diente auch der biblische David ursprünglich als Hirt.

An sein frühes Wirken als Ziegenhirt besitzt der Hansi übrigens ein bleibendes Andenken, das heute, 2021, noch besichtigt werden kann: eine Narbe auf der Stirn, die einem Stein zu verdanken ist, freilich keinem Stein, der auf ihn geflogen kam, sondern einem, auf den er „geflogen“ ist, wie man so sagt. Und das kam so: Ziegen sind bekanntlich freche, unberechenbare und verdammt bewegungsfreudige Tiere. Mit anderen Worten, sie reißen gerne aus, noch dazu meist dorthin, wohin sie nicht sollen. Aufgabe des Hirten ist es dann stets, sie entweder daran zu hindern, etwa mittels einer Schleuder, oder sonst eben zurückzuholen. Ja, und als sich Hansi einmal vor diese Aufgabe gestellt sah und einem Ziegenbock nachjagte, stolperte er. Und der Erfolg war, dass er mit der Stirn einen Stein küsste – ein Kuss, der, wie man so schön sagt, nicht ohne Folgen blieb.

So wie sich Hansi auf der Weide zu einem perfekten Schleuderer entwickelte, entwickelte er sich in der Schule zu einem aufmerksamen und fleißigen Schüler. Obendrein erwies er sich als ausgesprochen begabt und brachte bald nur mehr lauter Einser heim. Waren Onkel und Tante wenigstens ein wenig stolz auf seine schulischen Leistungen? Ach woher denn. Seine guten Noten beeindruckten sie nicht im Geringsten. Im Gegenteil, sie müssen ihnen sogar höchst peinlich gewesen sein. Denn die Noten, die ihr Liebling Adi heimbrachte, waren bestenfalls durchschnittlich. Trotzdem lobten sie ihn jedes Mal über den grünen Klee. Dass ihm als dem Liebkind seiner Eltern wesentlich mehr Zeit zum Lernen vergönnt war, versteht sich wohl von selbst. Nur lernte er halt nicht so besonders gern. Und ob er ebenso talentiert war wie Hansi, das sei dahingestellt.

Bedeutend klüger handelte da Hansis freundliche Lehrerin. Sie sparte nicht mit Lob und spornte ihn auf diese Weise nur noch mehr an. Bekanntlich lernen ja die Kinder nicht so sehr für sich selbst als vielmehr für ihre Lehrer und erst in zweiter Linie für ihre Eltern oder sonstige Erziehungsberechtigte. (Diese Regel gilt erstaunlicherweise sogar noch für Siebzehn-, Achtzehnjährige.)

 

5

So vergingen Hansis Jahre in der Volksschule, und – hast du’s nicht gesehen – schon saß er in der vierten Klasse und war gewissermaßen auf dem Sprung in die Hauptschule, die inzwischen auch Adolf schon besuchte. Hansis Lehrerin, Frau Ellegast, hatte aber längst erkannt, dass er unbedingt ins Gymnasium gehörte und dass er dafür bestens geeignet war. Und dass seine Pflegeeltern natürlich nicht im Traum daran dachten, ihm eine solche Chance zu eröffnen, zumal die nächste Mittelschule, das Stiftsgymnasium Melk, fünfzehn Kilometer von Marbach entfernt lag, noch dazu am anderen Ufer der Donau. Die Jakobys dachten ja auch zum Beispiel nicht daran, sie, seine Lehrerin, in einer Sprechstunde aufzusuchen, um sich nach den Fortschritten von Hansi und Mitzi, die mittlerweile in der ersten Klasse saß, zu erkundigen. Allerdings auch nicht nach denen ihres Adolf.

Also besprach sie sich erst einmal mit dem Bürgermeister von Marbach, schilderte ihm den Fall und überredete ihn, für Hansi ein monatliches Stipendium aus der Gemeindekasse zu bewilligen. Von diesem Erfolg befeuert, besuchte sie den Marbacher Pfarrer. Sie wusste, dass er den Hansi kannte und schätzte. Erstens unterrichtete er in ihrer Schule Religion. Und zweitens diente Hansi in der Kirche als Ministrant. Und siehe da, es gelang ihr, dem Pfarrer einen kleinen monatlichen Beitrag, zahlbar an das Stift Melk, herauszulocken, um dem laut Pfarrer „braven und auch überaus frommen Hansi Pischinger“ den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen.

Hierauf suchte sie gegen Ende des ersten Semesters, das heißt, im Jänner 1950, ihrerseits die Familie Jakoby auf, um mit den Pflegeeltern über Hansis weiteren Bildungsweg zu sprechen und ihnen zu empfehlen, ihn ab dem nächsten Schuljahr ins Stiftsgymnasium Melk zu schicken und in das dortige Internat zu stecken.

Onkel Fritz machte ein zweifelndes, um nicht zu sagen, saures Gesicht. „Ins Ginasium? Wieso denn das?“

Und Tante Hannelore: „Was braucht der Bub überhaupt ins Ginasium gehn? Unser Adi ist auch mit der Hauptschule zufrieden. Und schließlich sind wir zwei ja auch nicht ins Ginasium geschickt worden.“

Und Frau Ellegast: „Aber Sie wissen doch, wie begabt der Hansi ist. Und wie fleißig.“

Und Onkel Fritz, zweifelnd: „Begabt? Fleißig?“

Und Tante Hannelore: „Ja, ja, das mag schon sein. Aber da muss man doch sicher Schulgeld bezahlen, oder?“

Und Frau Ellegast: „Stimmt. Ebenso für das Internat. Aber ...“

Onkel Fritz fiel ihr ins Wort. „Kommt überhaupt nicht in Frage. So viel Geld können wir unmöglich erübrigen.“

„Ist schon klar. Aber ich hab mir da was überlegt. Erstens: Der Hansi ist doch sehr musikalisch. Und hat eine wunderschöne Sopranstimme.“

Und Tante Hannelore: „So? Ist uns noch nie aufgefallen.“

„Aber mir. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass das Stift Melk einen Sängerchor hat, der alle Gottesdienste musikalisch verschönert. Das sind die Melker Sängerknaben. Die dortigen Patres wären bestimmt froh und glücklich, wenn ein so talentierter Sänger mit einer so wunderbaren Stimme wie der Hansi zu den Sängerknaben kommt, und würden ihm dafür das Schulgeld und vielleicht sogar die Internatskosten erlassen. Da leg ich meine Hand ins Feuer.“

Und die Tante, zweifelnd: „So? Glauben Sie das wirklich?“

„Aber ja. Auf jeden Fall. Außerdem ... Wissen Sie, ich hab auch schon mit dem Herrn Bürgermeister und dem Herrn Pfarrer gesprochen. Also, der langen Rede kurzer Sinn: Die Gemeinde Marbach würde für Ihren Hansi ein Stipendium lockermachen, damit er im Internat einen halben oder vielleicht sogar einen ganzen Freiplatz kriegt. Ebenso der Herr Pfarrer. Na, was sagen Sie jetzt?“

Aber jetzt sagten die zwei gar nichts mehr und beäugten auch nicht mehr ihre Besucherin, sondern sich gegenseitig. Ihnen hatte es buchstäblich die Rede verschlagen. Aber man konnte ihnen direkt beim Denken zuschauen. Und die Lehrerin wusste genau, was die zwei jetzt dachten. Nämlich: Ist doch eigentlich gar keine so schlechte Idee. Dann sind wir wenigstens den blöden Johann los, müssen uns nicht mehr mit dem Kerl abärgern, müssen uns nicht mehr um ihn kümmern und haben einen Esser weniger. Ja, aber auch einen Arbeiter weniger. Andererseits, seine Arbeiten kann inzwischen ruhig schon die Mitzi übernehmen. Ist doch schon groß genug. Oder nicht?

„Na ja, wenn Sie meinen“, sagte schließlich Onkel Fritz. „Uns soll’s recht sein. Nur, was machen wir mit dem Kerl in den Ferien?“

„Genau“, sekundierte Tante Hannelore. „Wo soll er in den Ferien wohnen?“

Und Frau Ellegast: „Hab ich mir auch schon überlegt. Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder weiterhin im Stift. Da muss ich mich erst erkundigen, ob das möglich ist. Oder bei einer Gastfamilie in Melk. Oder sonst halt wieder hier bei Ihnen.“

„Hm“, machte Onkel Fritz und wirkte einigermaßen verstört. Er konnte sich offensichtlich nicht entscheiden.

„Oder“, so weiter Frau Ellegast, „gibt es sonst noch irgendwelche Verwandten, wo der Hansi während der Ferien unterkommen könnte?“

„Hm“, sagte Onkel Fritz und schüttelte bedächtig den Kopf. Und Tante Hannelore sagte zögernd: „Ja, schon. Aber in Frankreich.“

„Was? In Frankreich? Wie das?“

„Ach, eine blöde Geschichte“, erklärte die Tante. „Eine Cousine von mir hat einen französischen Fremdarbeiter geheiratet.“

„Aber das war doch strengstens verboten. Darauf stand meines Wissens die Todesstrafe.“

„Genau. Und wir hätten ins KZ kommen können, wenn man den zweien auf die Schliche gekommen wär.“

„Aber geheiratet haben sie wahrscheinlich erst nach der Befreiung, oder?“

„Sie meinen wohl, nach dem Zusammenbruch. Na ja, und jetzt leben sie halt in Frankreich.“

„Soso, in Frankreich“, wiederholte Frau Ellegast nachdenklich. „Na ja, das kommt wohl nicht in Frage. Aber wissen Sie was? Ich habe in Melk Bekannte. Die werde ich fragen, ob sie unter Umständen bereit wären, den Hansi in den Ferien aufzunehmen. Wär Ihnen das recht?“

„Wär uns das recht?“, murmelte Onkel Fritz, zur Tante gewandt. Und diese erwiderte mit fester Stimme: „Na klar. Dann wären wir wenigstens diesen Plagegeist los.“

„Aber im Sommer könnten wir ihn andererseits gut gebrauchen“, wandte Onkel Fritz ein. „Da fällt genug Arbeit an. Aber du hast recht. Den schwer erziehbaren Plagegeist sind wir dann los.“

Darauf erwiderte Frau Ellegast höflicherweise nichts mehr, sondern verabschiedete sich, bestieg ihr Fahrrad und radelte schnurstracks nach Melk. Während der Fahrt kam ihr eine, wie sie dachte, wunderbare Idee. Sie wusste, dass die Internatsschüler, die das Stiftsgymnasium Melk besuchten, auf drei Internate aufgeteilt wurden. Das waren: Erstens das sogenannte Konvikt im Stift selbst. Zweitens das außerhalb des Stiftes gelegene bischöfliche Seminar für solche Schüler, die Priester werden wollten (oder sollten). Und drittens, wieder direkt im Stift, das sogenannte Juvenat für den eigenen Nachwuchs. Damit sind natürlich nicht die Söhne der Patres selbst gemeint, sondern Schüler, die nach der Matura im Stift Melk einzutreten gedachten, um hier Ordensmann zu werden. Wenn der Marbacher Pfarrer den Hansi als „brav und auch überaus fromm“ deklariert, so ist doch anzunehmen, dass er einmal ein frommer Gottesmann werden will, oder? Und da ist doch weiters anzunehmen, dass die Internatskosten für den Hansi entsprechend reduziert werden. Im Übrigen könnte man zusätzlich beim Land Niederösterreich um ein Begabtenstipendium ansuchen.

In Melk angekommen, besuchte sie also zunächst den Abt des Stiftes, dann den Pater Direktor des Stiftsgymnasiums und zuletzt die mit ihr befreundete Familie Robineau. Und hatte überall durchschlagenden Erfolg.

Erfolg hatte auch Hansi selbst, nämlich bei der (damals noch vorgeschriebenen) Aufnahmsprüfung. Gegen Ende des Schuljahres, im Juni 1950, begleitete ihn Frau Ellegast zuerst von der Schule zu Onkel und Tante und bat die beiden um Erlaubnis, mit ihm nach Melk zu fahren und dort bei der mit ihr befreundeten Familie abzuliefern. Bei denen solle er übernachten und am nächsten Morgen die Aufnahmsprüfung fürs Gymnasium ablegen.

Die Erlaubnis wurde großmütig erteilt. Und so gelangte Hansi zum ersten Mal in seinem Leben in die berühmte Klosterstadt Melk und wurde überaus freundlich in einer großen, kinderreichen Familie aufgenommen. Das Bett teilte er diesmal nicht mit seiner kleinen Schwester, sondern mit einem gleichaltrigen Buben namens Poldi (eigentlich Leopold). Am nächsten Morgen pilgerte er an der Seite von Poldi und dessen Mutter hinauf in das hoch über der Stadt thronende Stift und dort über eine Treppe (die ihn einigermaßen beeindruckte, weil ihn das intensive Glitzern der alten Steinstufen faszinierte) ins Gymnasium, wo schon eine ungeheure Menge Büblein seines Alters voller Aufregung auf die ihnen drohende Feuerprobe wartete. Nun, aufgeregt fühlte sich Hansi überhaupt nicht. Und er bestand sie, die Feuerprobe, wie man so schön sagt, mit links.

Zurück nach Marbach fuhr Hansi ganz allein. Als sich am Vortag die Frau Ellegast von ihm verabschiedete, um wieder nach Hause zu fahren, hatte sie ihm zwei Fahrkarten in die Hand gedrückt, eine für den Zug und eine für die Rollfähre (die er nehmen musste, um über die Donau zu kommen) und fragte ihn, ob er sich zutraue, dieses kurze Stück allein mit der Eisenbahn zu fahren und die Donau allein zu überqueren. Und er hatte ihre Frage voller Stolz mit „Ja, selbstverständlich, Frau Lehrerin“ beantwortet und sich auf dieses ungewohnte „Abenteuer des Erwachsenwerdens“ richtiggehend gefreut.

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Und so kam es, dass Hansi ab September 1950 nicht mehr im Marbacher Ortsteil Friesenegg wohnte, sondern in Melk, und dort das altehrwürdige Stiftsgymnasium besuchte. Freilich, die Trennung von Mitzi war, wie man sich leicht denken kann, bitter und tränenreich. Und als er von der Frau Ellegast abgeholt wurde, um Marbach endgültig zu verlassen, kam er sich vor wie ein elender Verräter, der sein liebes Schwesterlein schutzlos den feindlichen Mächten überlässt und nur sich selbst in Sicherheit bringt. Aber er versprach, ihr fleißig zu schreiben. Sie besuchte ja die zweite Klasse und war schon eingeweiht in die Anfangsgründe der Kunst des Lesens und Schreibens.

Ja, seine gütige Lehrerin, jetzt muss es natürlich heißen: Exlehrerin, ließ es sich nicht nehmen, ihn auch dieses Mal nach Melk zu begleiten und bei der Familie Robineau „abzuliefern“. Als er ihr während der Fahrt von seinem Versprechen erzählte, Mitzi fleißig zu schreiben, versprach sie ihm spontan, ihr zu helfen, Briefe an ihn zu schreiben, sie jeweils in ein Kuvert zu stecken und mit einer Briefmarke zu versehen. Denn sie vermutete, übrigens völlig zu Recht, dass ihre Pflegeeltern keinerlei Interesse hatten, ihr Briefpapier und Kuverts oder auch nur Briefmarken zur Verfügung zu stellen, geschweige denn ihr Geld für Letztere in die Hand zu drücken.

Was Frau Ellegasts Bemühungen um Hansi selbst betrifft, so zeigte sich, dass ihr Erfolg noch viel durchschlagender war, als es ursprünglich den Anschein hatte. Denn die Frau Robineau beschwor sie, Hansi lieber doch nicht ins Juvenat zu stecken, sondern ständig bei ihnen wohnen zu lassen.

„Schauen Sie, wer kann heute schon sagen, ob es ihn in acht Jahren überhaupt noch reizen wird, Geistlicher und Ordensmann zu werden? Und angenommen, er möchte es nicht mehr und tut es trotzdem, weil er sich dann dazu verpflichtet fühlt, so wird er sein Lebtag unglücklich sein. Umgekehrt kann er, wenn es ihn danach drängt, immer noch eintreten und sich zum Priester weihen lassen, auch wenn er nicht im Juvenat gewohnt hat. Na, was sagst du, junger Mann?“

Freundlich lächelnd, blickte Frau Robineau den Hansi fragend an. Er aber konnte nur mit der Schulter zucken und blieb stumm.

Und zu Frau Ellegast gewandt, sagte sie: „Na, Frau Ellegast, hab ich recht oder nicht?“

„O ja, sicher“, erwiderte diese zögernd. „Aber ...“

„Ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Noch ein Kind mehr zu betreuen, das kann man uns doch nicht zumuten. Und wissen Sie, was ich darauf sag? O doch, Frau Ellegast, gerade uns kann man das zumuten. Wir haben ja schon sieben Kinder. Da fällt doch eines mehr kaum noch ins Gewicht. Außerdem werden uns meine größeren Kinder viel von der zusätzlichen Arbeit abnehmen. Sie helfen jetzt schon brav mit, die Kleineren zu betreuen. Und im Übrigen haben wir ja eh ein Dienstmädchen.“

Und die Folge von Frau Robineaus Vorschlag war, dass Hansi nicht ins Juvenat gesteckt wurde und auch nicht ins Priesterseminar oder ins Konvikt, sondern die Schule als sogenannter Externer besuchte und von nun an in einer kinderreichen Melker Familie wohnte. Hier fühlte er sich von allem Anfang an wie ein Fisch im Wasser, wie ein Adler in den Lüften, so liebevoll wurde er von Groß und Klein aufgenommen. Er wurde nicht mehr drangsaliert, nicht mehr erniedrigt, nicht mehr geprügelt, nicht mehr als Arbeitssklave ausgebeutet, nicht mehr als Ziegenhirt missbraucht. Und auch mit den Kindern der Familie Robineau verstand er sich prächtig, vor allem mit dem Poldi, der ja jetzt sein Mitschüler war und mit dem er wie selbstverständlich eine Schulbank teilte. Selbstverständlich war es nämlich in Wirklichkeit nicht. Denn in die Klasse drängte sich eine fast unübersehbare Zahl von Schülern. Hansi schaffte es nie, ihre genaue Zahl zu eruieren. Erst in dem gegen Schulschluss erscheinenden Jahresbericht entdeckte er ein Verzeichnis der Schüler des Gymnasiums und las, dass die erste Klasse aus nicht weniger als 63 Schülern bestand.

In seinem neuen Zuhause musste er nicht mehr das Bett mit einem anderen Kind teilen wie bisher mit seiner Schwester, nur noch das Kinderzimmer. Man hatte für ihn ein eigenes Bett hineingestellt. Poldi war der Zweit- oder auch Drittgeborene der Familie Robineau, je nachdem. Denn älter als er war nur ein Zwillingspärchen, zwei Mädchen, fast müsste man schon sagen, zwei junge Damen namens Johanna und Franziska, meist genannt Hansi wie er selbst und Franzi. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen, oder doch fast, und waren zwei Jahre älter als er. Aus diesem Grund kam er als wirklicher Freund oder Spielkamerad für sie natürlich nicht mehr in Betracht. Mit so jungem Gemüse gaben sich die beiden nicht ab; versteht sich doch von selbst. Umso besser verstand sich Hansi mit Poldi und dessen jüngeren Geschwistern, vor allem mit der um ein Jahr jüngeren Ursula, die allgemein Uschi gerufen wurde.

Sehr rasch erwarb sich Hansi auch die Anerkennung von Herrn und Frau Robineau. Denn da er von daheim, also von Friesenegg, gewohnt war, fleißig und sogar schwer zu arbeiten, arbeitete er auch jetzt im Haushalt und im Garten mit, soviel und so gut er konnte, und erwies sich so als große Hilfe. Dafür erlebte er jetzt etwas Neues, bisher völlig Unbekanntes: Er erhielt für seine Hilfe Anerkennung und sogar Belohnungen.

Diese Belohnungen nannte Frau Robineau ganz einfach Taschengeld. Das Problem war nur: Was sollte er mit dem Geld anfangen? Er hatte, zumindest anfangs, keine Ahnung. Auf eine mögliche Lösung dieses vermeintlichen Problems machte ihn Herr Robineau – er war Direktor der Melker Sparkasse – aufmerksam: Hansi könnte doch ein Sparbuch eröffnen und auf dieses seine „Reichtümer“ oder zumindest Teile davon einlegen und dafür Zinsen kassieren. Und diesen Rat befolgte er auch umgehend.

Im Übrigen dauerte es nicht lang, bis ihm Herr und Frau Robineau vorschlugen, sie Papa und Mama zu nennen und nicht länger Sie zu ihnen zu sagen. Auch dieses Angebot nahm er dankbar an und fühlte sich gleich doppelt so liebevoll aufgehoben. Und für Herrn und Frau Robineau war er bald so viel wie ein Sohn, für ihre Kinder so viel wie ein Bruder.

Noch eine große Neuigkeit gab es für den Hansi, und sie bewirkte, dass er aus dem Staunen nicht herauskam: das Radfahren. Natürlich war ihm das Fahrrad als solches bestens bekannt. Auch in Marbach waren die meisten Menschen, falls nicht zu Fuß, auf Fahrrädern unterwegs. Ein Automobil besaßen nur die allerwenigsten. Als einmal ein solches in Friesenegg auftauchte, galt das als große Sensation. Fahrräder gab es auch auf dem Jakoby-Hof, zwei Stück sogar, ein Herren- und ein Damenrad. Adolf durfte mit ihnen nach Herzenslust spazieren fahren. Und Hansi und Mitzi? Ach, für sie waren die Fahrräder tabu, sprich, strengstens verboten, abgesehen davon, dass sie ja beide nie gelernt hatten, sich auf ein Fahrrad zu setzen und sich damit durch die Landschaft zu bewegen, ohne gleich zu stürzen. Das heißt, auf einem Fahrrad gesessen war Hansi einst sehr wohl, nämlich auf dem Kindersitz seines leiblichen Vaters, sooft dieser Fronturlaub hatte und daheim bei seiner Familie sein durfte. Das war für den damals noch kleinen Hansi jedes Mal ein großes Abenteuer und ein herrliches Vergnügen. (Der Kindersitz war ja auf der sogenannten Stange gleich hinter der Lenkstange befestigt.) Und er musste oft daran denken, dass sein Vater ihn oft und oft liebevoll ermahnte, nicht mitzulenken, und sagte sich: Sicher hätte es auch mir riesigen Spaß gemacht, selber und allein ein Rad zu lenken.

Jetzt, bei seinen neuen Pflegeeltern, durfte er. Aber ach, er konnte es ja nicht. Und er traute sich nicht. Was tat da der liebe Herr Robineau, der neue Papa? Er hielt ein Fahrrad fest, ließ Hansi aufsteigen und in die Pedale treten und hielt den Gepäckträger weiterhin fest, während er mitging. Er ging mit und rannte mit und musste schließlich den Gepäckträger loslassen, weil ihm Hansi zu schnell wurde. Ja, der Hansi fuhr ihm einfach davon und konnte plötzlich allein und ohne Helfer perfekt Rad fahren und genoss es sogar über alle Maßen.

Von da an war er in seiner Freizeit fast nicht mehr vom Fahrrad herunter zu bringen, wenn er im Innenhof des Robineau-Hauses seine Runden drehte. Und natürlich beteiligte er sich mit Freuden an den Radausflügen der Familie Robineau oder unternahm auch nur mit dem Poldi allein Erkundungstouren durch die Landschaften rund um Melk. Und dachte gar oft bedauernd an seinen Schulweg in Marbach zurück, wo er wegen diverser Arbeiten in aller Herrgottsfrüh oft genug den ganzen Weg im Dauerlauf hatte zurücklegen müssen, um zum Unterricht zurechtzukommen. Und das war ihm keineswegs immer gelungen. Wie sehr hätte ihm damals ein Fahrrad geholfen, zumal der Hof der Familie Jakoby auf dem Berg und die Schule am Donauufer, also im Tal, liegt. Jetzt in Melk konnten er und Poldi theoretisch mit dem Rad zur Schule fahren. Aber das hätte ihnen gar nichts gebracht. Denn jetzt war es umgekehrt: Sie selber wohnten im Tal, und die Schule befand sich auf dem Stiftsberg. Außerdem musste man mit dem Fahrrad wie mit jedem Fahrzeug einen weiten Umweg fahren. Der direkte Weg führte über eine lange Flucht von Stufen. Aber dafür wurde Hansi auch nicht mehr als Arbeitssklave missbraucht. Es lag also nur an ihm, sich rechtzeitig auf den Weg zu machen.

In diesem Jahr brachte ihm das Christkind zu Weihnachten allerhand schöne Sachen, darunter zu seinem Entzücken ein wunderschönes, nagelneues Fahrrad. Und das sollte wirklich ihm gehören? Jawohl, mein Lieber, dieses Rad gehört jetzt dir allein. Das Christkind hat es dir gebracht.

Eine weitere große Neuigkeit lernte Hansi erst im nächsten Sommer kennen: das Schwimmen. Melk besaß damals, wie auch Marbach, noch kein öffentliches Schwimmbad, und daher ging man (radelte man), sooft es das Wetter erlaubte, gewöhnlich zur Donau, um sich den Badefreuden hinzugeben. Und als der Papa merkte, dass der Hansi gar nicht schwimmen konnte, da führte er ihn ins seichte Wasser nahe dem Ufer, hob ihn in Schwimmlage und übte mit ihm die zum Schwimmen notwendigen Tempi ein. So geschwind, wie er Radfahren gelernt hatte, ging das zwar nicht vonstatten. Aber nach wenigen Tagen hatte Hansi sozusagen verinnerlicht, dass ihn das Wasser trägt, und beherrschte die Kunst des Schwimmens fast perfekt. Und vor allem plagte ihn nicht mehr die Angst, unterzugehen und zu ertrinken.

Gleichzeitig weihte ihn der Papa in ein lustiges Geschicklichkeitsspiel ein: in das sogenannte Blattln oder Steinehüpfen. Es besteht in der Kunst, einen flachen Stein so zu schleudern, dass er möglichst oft und möglichst weit über die Wasseroberfläche hüpft, bevor er dorthin verschwindet, wohin ihn die Schwerkraft zieht. Und davon war Hansi ebenso fasziniert wie vom Schwimmen selbst. Und als geübtem Schleuderer gelang ihm diese Kunstfertigkeit bald so perfekt, dass alle nur so staunten.

 

7

Doch am allermeisten faszinierte Johann halt doch die Kunst des Radfahrens. So sehr faszinierte sie ihn von allem Anfang an, dass er nichts Dringlicheres zu tun hatte, als zuerst das alte, nur geliehene Fahrrad und ab Weihnachten sein neues Fahrrad auszuprobieren und, sooft es das Wetter erlaubte, nach Marbach zu radeln und seine Schwester zu besuchen. Denn auf seine eigenen Briefe hatte sie ihm tatsächlich schon das eine oder andere Mal geantwortet. Aber ihre Antworten waren, wie bei einer Anfängerin in der Kunst des Schreibens nicht anders zu erwarten, nicht nur reichlich ungelenk, sondern vor allem viel zu kurz und inhaltlich eher unbefriedigend.

Schon im Oktober, also lange vor Weihnachten, hatte er sich noch mit dem geliehenen Fahrrad nach Marbach aufgemacht, um Mitzi zu besuchen. Aber dann kam er an, und sie war zu seiner Enttäuschung nirgendwo zu sehen, nur Onkel, Tante und Adolf. Bei denen erregte er Staunen und wohl auch Neid auf sein schönes Rad. Wo aber war die Mitzi?

sAntwort: „Na, wo wohl? Natürlich auf der Weide, Ziegen hüten. Das ist ihre hauptsächliche Aufgabe, seitdem du selber auf die Butterseite gefallen bist und nur mehr auf der faulen Haut herumliegst.“

„Auf der faulen Haut?“, wiederholte Hansi pikiert und dachte: Das mit der Butterseite stimmt aber. Gott sei Dank stimmt‘s. Nur die Mitzi, die ist noch weit entfernt von irgendeiner Butterseite.

Hierauf verabschiedete er sich beinahe überstürzt und machte sich eilends auf den Weg zu der ihm ja bestens bekannten Ziegenweide. Und dort stieß er endlich auf die gute Hirtin seiner ehemaligen Schützlinge, das Fräulein Maria Pischinger. Sie geriet außer sich vor Freude, als sie ihn erblickte, begrüßte ihn überschwänglich, und er begrüßte sie überschwänglich.

„Na, Mitzi? Und? Wie geht’s dir so?“

Und Mitzi sang ihr Klagelied. Dass sich im Hause Jakoby nichts gebessert hat, seit er fort ist. Dass ihr die Arbeit über den Kopf zu wachsen droht. Dass sie kaum Zeit findet, für die Schule zu lernen und ihre Hausaufgaben zu machen. Und vor allem, dass sie sich ohne ihren großen Bruder schrecklich einsam fühlt.

Und wieder hatte Hansi keinen Trost für sie. Und wieder war der Abschied schwer und tränenreich. Und natürlich viel zu früh, weil es jetzt, im Oktober, schon früh finster wurde und Hansi sich noch nicht traute, in nächtlicher Dunkelheit mit dem Fahrrad über Land zu fahren. (Damals gab es ja noch keine Sommerzeit.)

Aber während der Rückfahrt kämpfte er mit dem Drang, umzukehren und die Mitzi nach Melk zu entführen. Und sobald der Drang etwas nachließ und vernünftigen Gedanken wich, überlegte er hin und her, ob er Papa und Mama bitten solle, auch die Mitzi zu sich zu nehmen und in die Melker Volksschule zu schicken. Aber dann sagte er sich, das kann ich nicht, das wär zu viel verlangt. Und behielt diese Gedanken zu seiner ewigen Schande bei sich.

Denn der Herbst ging vorüber, der Winter ging vorüber, es kam das Frühjahr, und es kam der Sommer, und Mitzis Belastung mit Arbeit stieg und stieg. Und wieder fand sie kaum Zeit, für die Schule zu lernen und ihre Hausaufgaben zu erledigen, geschweige denn Briefe zu schreiben oder gar in einem der schönen Bücher, die sie in der Schulbibliothek auslieh, zu schmökern. Seit sie nämlich die Freuden des Lesens kennengelernt hatte, war sie davon immer stärker fasziniert und entwickelte sich zu einer ausgesprochenen Leseratte. Dass sie sich diesen Freuden nur so selten widmen konnte, bedrückte sie immer mehr. Hansi war der Einzige, dem sie ihr Herz ausschütten konnte.

Und da hatte dieser eine Idee.

„Du, Mitzi. Ist zwar nur ein Notbehelf. Aber vielleicht kannst du damit was anfangen. Hör zu. Wie wär’s, wenn du dir ein Buch wenigstens auf die Weide mitnimmst? Zumindest, wenn das Wetter warm und schön ist?“

„Aber Hansi, das darf ich doch nicht. Das weißt du selber. Jedes Mal heißt es: Lass doch diese blöde Leserei und tu lieber was arbeiten! Von den Büchln wirst du ja nur deppert. – Oder hast du das schon vergessen?“

„Aber nein, natürlich nicht. Aber es muss ja keiner wissen. Du versteckst es einfach unter deinem Gewand oder in einer Tasche, falls du eine mitnimmst."

"Aber da muss ich ja auf die Ziegen aufpassen wie ein Haftelmacher. Du weißt doch selber, wie sie sind."

"Aber geh, auf der Weide sieht’s eh keiner, wenn du liest.“

„So? Na ja. Ist eigentlich eine wunderbare Idee. Ach, wie gut, dass ich dich hab.“

Sie überlegte eine Sekunde und sagte dann: „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass mein Bruder Hansi heißt. Oje, das reimt sich ja gar nicht.“

Sie lachte fröhlich und küsste Hansi auf die Wange.

Dieser stimmte in ihr Lachen ein und sagte: „Ist gar nicht wahr. Dein Bruder heißt doch Rumpelstilzchen. Hast du das vergessen?“ Und in ernsterem Ton fuhr er fort: „So wirst du viel mehr Zeit zum Lesen haben. Weil, gar so anstrengend ist das Hirtenleben ja eh nicht. Falls du nicht gerade einer Geiß nachrennen musst. Und dir dabei so eine Narbe holst wie ich mir auf der Stirn.“

„Sie ist aber schön verheilt, gell?“

„Ja, ja, Gott sei Dank. Also, solange deine Geißlein schön brav und friedlich bleiben, kannst du doch nach Herzenslust in deinem Büchl schmökern. Ich geb zu, das ist nur ein Notbehelf. Weil, meistens sind sie halt nicht so friedlich, unsere lieben Geißlein. Aber immer noch besser als gar nicht lesen.“

Na, das ließ sich die Mitzi nicht zweimal sagen. Und da sie schon längst quasi als die gute Hirtin vom Dienst fungierte, machte es sich Hansi seither zur Gewohnheit, bei seinen Besuchen in Friesenegg gar nicht mehr erst das Jakoby-Haus aufzusuchen, sondern gleich direkt zur Familienweide zu radeln, wo er unfehlbar seine Schwester antreffen würde, entweder in ein Buch vertieft oder sonst eben ihren Geißlein nachjagend. Nur im Winter funktionierte diese Neueinführung leider nicht. Da gab es auf der Weide für die Ziegen nichts zu knabbern und daher für die gute Hirtin vom Dienst nichts zu schmökern. Und für den Hansi gab es nicht so viele Gelegenheiten, nach Friesenegg zu radeln. Da war man meistens auf die österreichische Post angewiesen, um in Kontakt zu bleiben.

 

8

Zwei Winter ging das so, und jedes Mal konnten die zwei Geschwister das Frühjahr kaum erwarten. Aber dann kam das Frühjahr im Jahre 1953. Und da brachte der Mai gar sonderbare Post aus Marbach ins Haus der Familie Robineau: einen Brief mit schwarzer Umrandung, adressiert an Johann Pischinger. Hansi entdeckte ihn auf seinem Schreibtisch, als er zu Mittag mit Poldi von der Schule heimkam. Sein erster Gedanke, während er das Kuvert gemächlich öffnete, lautete: Na, wer ist denn da gestorben? Etwa der Onkel? Oder die Tante? Oder einer ihrer Freunde, den ich kaum kenne?

Doch dann erstarrte er wie Lots Frau in der Bibel zu einer Salzsäule (gemeint ist natürlich: zu einer Statue aus Salz). Denn sein Blick fiel als Erstes auf einen groß und fett gedruckten Namen. Und der lautete: Maria Pischinger. Und wie zur Bestätigung war außerdem zu lesen, dass Maria Pischinger „im zehnten Lebensjahr durch einen tragischen Unfall am Freitag, dem 1. Mai 1953, plötzlich und unerwartet aus unserer Mitte gerissen wurde. Wir verabschieden uns von unserer lieben Verstorbenen ...“

Der Rest der Todesanzeige verschwamm vor Hansis Augen zu einem chaotischen Buchstabensee, und ihm wurde schwarz vor den Augen, und seine Knie drohten nachzugeben, und er musste sich rasch niedersetzen und hörte kaum Poldis besorgte Stimme. Und erst, als dieser seine Frage, denn eine solche war es, wiederholte, fand Hansi seine Sprache wieder. Und wie er sie wiederfand! Er bekam einen sagenhaften Schreianfall, den man im ganzen Haus hören musste. Jedenfalls kamen gleich mehrere Kinder und hinter ihnen das Dienstmädchen angerannt, und hinter dieser kam die Mama angerannt und fragte, ganz außer sich vor Schrecken und vor Sorge, nach dem Grund der Aufregung. Ein artikuliertes Wort brachte Hansi noch immer nicht heraus. Durch diesen Auflauf eingeschüchtert, war er unterdessen verstummt. Schweigend hielt er der Mama den Partezettel unter die Nase. Und nun erstarrte sie selbst zu einer zweiten Frau Lot. Dann schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen, rief „O Gott!“ und drückte Hansi, der inzwischen in heiße Tränen ausgebrochen war, schweigend an ihren Busen.

Ja, Hansi war außer sich vor Schmerz und an diesem und dem nächsten Tag kaum ansprechbar. Und immer wieder brach es aus ihm heraus: „Durch welchen tragischen Unfall, möcht ich wissen?“ Und Mama oder Papa konnten ihn nur trösten mit den Worten: „Wir werden’s früh genug erfahren.“ Nur, dass dieser Trost völlig wirkungslos blieb, ja bleiben musste.

Durch welchen tragischen Unfall Mitzi „aus unserer Mitte gerissen wurde“, wie es so salbungsvoll in der Parte hieß, erfuhr man exakt eine Woche danach, am 8. Mai. Da fand nämlich das Begräbnis statt, und Hansi hatte vom Pater Direktor freibekommen, um daran teilnehmen zu können. Begleitet wurde er von der Mama. Zu diesem Zweck fuhren sie natürlich nicht mit dem Fahrrad, sondern mit dem Zug. Ihr Ziel

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Karl Plepelits
Cover: Michelangelo: David, die Steinschleuder bereits auf der Schulter angelegt (1501-1504). Closeup. By George M. Groutas - https://www.flickr.com/photos/22083482@N03/48170193252/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85729017
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2021
ISBN: 978-3-7487-7689-5

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