Oktober 1949. Mitternacht. Ein freier Platz am Rande einer kleinen Stadt namens Forcall in den Bergen von Valencia.
Ausgehungert, verängstigt, übermüdet, entsteigen sechs österreichische Kinder, unter ihnen der kleine Schurli, zusammen mit dem Pfarrer von Forcall einem Autobus. Aus der Dunkelheit stürzt, in der Hand eine Sturmlaterne, eine unheimliche Gestalt auf sie zu. Es ist aber kein Gespenst. Auch kein Räuber. Es ist der Nachtwächter. Ein Weilchen palavert er mit dem Pfarrer. Dann schmettert er mit Stentorstimme das bekannte Nachtwächterlied: Hört, ihr Leut, und lasst euch sagen, und so weiter – wohlgemerkt, auf Spanisch. Natürlich verstehen die Kinder kein Wort. Aber sie kennen die Melodie. Später werden sie erfahren, dass der Nachtwächter verkündet hat, der hochwürdige Herr Pfarrer sei mit den sechs Kindern aus Österreich eingetroffen, und man möge sie jetzt abholen. Nach und nach tauchen weitere unheimliche Gestalten mit Laternen auf, halten sie den Kindern vors Gesicht, durchbohren sie mit ihren Blicken und scheinen zu beratschlagen, welches sie sich aussuchen sollen. Den Anfang macht der Pfarrer selbst. Er behält sich wie selbstverständlich das bestgenährte, genauer, das am wenigsten unterernährte Kind. Und so wird eines nach dem anderen fortgeführt.
Zuletzt steht, zitternd vor Angst, der Verzweiflung nahe, nur noch der kleine Schurli da. Ihn scheint niemand zu wollen. Kein Wunder, sieht er doch zum Gotterbarmen aus. Nicht umsonst liebt es sein Stiefvater, ihn im Spaß, aber zu Schurlis immerwährendem Ärger, in einem fort mit so ehrenden Bezeichnungen wie Gandhi oder halbe Portion zu bedenken; am Schurli sei ja gar nichts dran, es zahle sich nicht einmal aus, ihn schlachten zu lassen. Sachlich betrachtet, trifft er mit solchen Aussagen den Nagel auf den Kopf. Schurli wiegt gerade einmal 14 Kilo, und während der tagelangen Eisenbahnfahrt und der zwei oder drei Wochen im Quarantänelager hat er bestimmt nichts zugenommen.
Ja, zu Schurli verballhornte man damals seinen schönen Namen Georg, als er noch klein war und sich nicht dagegen wehren konnte.
Jetzt muss ich aber endlich mit der Wahrheit herausrücken. Jener ausgehungerte, spindeldürre Knabe, der kleine Georg, genannt Schurli – das war ich. Und ja, ich war wirklich so gefährlich unterernährt.
Aber genau dies, mein eklatantes Untergewicht, war der Grund, warum ich jetzt, mitten in der Nacht, mutterseelenallein in einem unbekannten Ort, in einem fremden Land, auf bessere Zeiten wartete und nicht daheim in Wien in meinem Bett schlummern konnte, um am nächsten Morgen für den Unterricht gerüstet zu sein. Und natürlich war ich kein Einzelfall. In den Notjahren nach dem Zweiten Weltkrieg war die Hälfte der österreichischen Kinder hochgradig unterernährt. Mangelkrankheiten und ein dramatischer Anstieg der Kindersterblichkeit waren die Folgen. Deshalb führten die Caritas und andere Organisationen sogenannte Kinderverschickungen ins Ausland durch. Butterkinder nannte man die so „verschickten“ Kinder. Als erstes Land nahm die Schweiz zahlreiche Butterkinder auf. Sie war ja, ebenso wie Spanien, von der Furie des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben.
An den Abschied von meiner Mutter am zerbombten Wiener Westbahnhof erinnere ich mich noch sehr genau. Versehen mit einer vor meiner Brust baumelnden rosaroten Karte, auf der alle meine Daten und dazu meine persönliche Nummer und auch die Waggon- und Abteilnummer verzeichnet waren, wanderte ich an der Hand meiner Mutter inmitten einer dichtgedrängten Schar von Kindern und Erwachsenen auf der Suche nach dem mir zugeteilten Abteil einen unendlich langen Zug entlang. Uns umtoste fast schon biblisches Heulen und Zähneknirschen. Und da sprach der kleine Schurli mit stolzgeschwellter Brust die geflügelten Worte: „Schau, Mutti, die weinen alle. Ich weine nicht.“
Nein, ich weinte nicht, auch nicht, als ich zusammen mit mindestens zehn anderen Kindern in einem Abteil dritter Klasse stand und ihr aus dem offenen Fenster zuwinkte, während sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Aber sie, sie weinte.
Weil ich so klein und leicht war, durfte ich in einem der Gepäcksnetze schlafen, während die meisten entweder auf den Holzbänken oder gar auf dem Boden liegen mussten. Nach fünf oder sechs Tagen erreichten wir den spanischen Grenzbahnhof in einem Ort namens Irún. Dort hieß es umsteigen, weil die spanische Eisenbahn eine breitere Spurweite hat.
(Heutzutage haben es die Reisenden bequemer. Ihr Zug wird an der Grenze einfach für die spanische Breitspur umgerüstet. Die neugebauten Strecken des Hochgeschwindigkeitsverkehrs AVE haben von vornherein die europäische Normalspur, und auf diese soll in einem regelrechten Mammutvorhaben das gesamte spanische Bahnnetz umgestellt werden.)
Damals hörte ich zum ersten Mal Zivilisten in einer fremden Sprache sprechen und staunte nicht schlecht. Bis dahin war ich ja der festen Überzeugung gewesen, alle, die eine fremde Sprache sprechen, seien entweder Soldaten oder Polizisten. Schließlich kannte ich keine anderen Ausländer als die Soldaten der Besatzungsmächte.
In einem großen Bahnhof, auf dessen Schild der Name Pamplona stand, war die Reise vorläufig zu Ende. Wir wurden aus dem Zug geholt, bildeten eine lange Kolonne und wurden durch die Straßen der Stadt in ein sogenanntes Jugendlager gelotst. Dort wurden wir gebadet, desinfiziert, neu eingekleidet. Auch unsere Kleider und sonstigen Besitztümer sollten desinfiziert werden.
Die zwei oder drei Wochen in diesem Lager waren für mich der reinste Horror. Es ging zu wie beim Militär oder in einem Strafgefangenenlager. Nun flossen auch bei mir die Tränen. Hier folterten mich zwei böse Dämonen, zumal des Nachts: Angst und Heimweh. Nach etwa einer Woche kam ein weiterer Dämon hinzu: Von nun an mussten wir jeden Morgen im großen Hof in Reih und Glied antreten. Ein weiblicher „Feldwebel“ brüllte bestimmte Nummern, die Kinder mit der jeweiligen Nummer hatten vorzutreten, und alle Aufgerufenen wurden, ohne dass man sich von ihnen verabschieden konnte, auf der Stelle fortgeführt – fast hätte ich gesagt: abgeführt. So haben wir es jedenfalls empfunden.
Eines Morgens wurde auch meine Nummer gebrüllt. Ich erschrak, trat vor, zitterte am ganzen Leib. Was sollte jetzt mit mir und den mit mir zusammen Aufgerufenen geschehen? Niemand verriet es uns.
Nun, man drückte uns unsere Köfferchen mit unseren desinfizierten Habseligkeiten in die Hand und geleitete uns zurück zum Bahnhof, wo wir vor Wochen aus dem Zug gestiegen waren. Jetzt wartete auf uns ein anderer Zug, und der fuhr, wie ich später erfuhr, nach Valencia. Aber dort kam ich nie an. Denn schon unterwegs musste ich in einem Bahnhof, auf dessen Schild zu lesen stand Castellón de la Plana, überstürzt von einigen liebgewordenen Freunden Abschied nehmen und gemeinsam mit fünf anderen Kindern aussteigen. Ein geistlicher Herr nahm uns in Empfang und steckte uns in einen uralten, klapprigen Autobus. Es folgte eine stundenlange Rumpelei über staubige, kurvenreiche Straßen. Sie dauerte bis tief in die Nacht. Am Rande eines in tiefer Dunkelheit liegenden Dorfes hielt der Fahrer endlich an.
Ausgehungert, verängstigt, übermüdet, stiegen wir aus und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Der Nachtwächter rief unsere zukünftigen Pflegeeltern herbei. Nach und nach tauchten Menschen aus der Dunkelheit auf, begutachteten uns wie Schafe auf dem Tiermarkt und suchten sich jeder ein Pflegekind aus. Zuletzt stand, wie das Männlein im Walde, ich alleine da und machte mich bereits auf einen langsamen Hungertod in der Fremde gefasst, als zu meiner unsagbaren Erleichterung doch noch ein Mann und eine Frau erschienen. Freundlich lächelnd, nahm mir der Mann meinen Koffer aus der Hand. Ich hatte ihn, wohl aus purer Angst, nicht abgestellt. Die Frau reichte mir die Hand, und so marschierten sie mit mir davon. Sie führten mich in ein großes, überraschend schönes Haus und boten mir als Erstes duftendes Weißbrot und herrliche Butter an, beides für mich ganz ungewohnte Köstlichkeiten, dazu einen ganzen Krug voll Milch; und das war offensichtlich keine Magermilch wie daheim in Wien (und auch nicht bloß ein Viertelliter pro Tag). Aber trotz meines Hungers verschmähte ich die genannten Köstlichkeiten und trank nur die Milch. Ich konnte kaum mehr meine Augen offen halten und gab in der Zeichensprache zu erkennen, dass ich nur noch eines wolle: schlafen. Und hurra, auf mich wartete ein weiches Himmelbett. Die Frau zog mir die Kleider aus und ein Nachthemd an und deckte mich liebevoll zu wie eine Mutter, beide zeichneten sie mir mit dem Finger ein feierliches Kreuzchen auf die Stirn, und schon umfingen mich die weichen Arme des Schlafgottes.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, standen wie zwei gute Feen die Pflegeeltern an meinem Bett, lächelten mich an und sagten: „Buenos días.“ Aha, dachte ich, das heißt wahrscheinlich Guten Morgen, und versuchte die Worte nachzusprechen. Und dann hörte ich zu meiner Überraschung ein feines, hohes Stimmchen zwitschern: „Buenos días.“ Hinter den Beinen der Pflegemutter lugte neugierig ein kleines Mädchen hervor und blickte mich mit großen Augen an. Und das war ein so süßer Anblick, dass ich wie verzaubert die Kleine anstarrte, ehe ich auch ihr antworten konnte. Die Großen lachten, und der Mann zeigte auf sie und sagte: „Carmen.“ Dann zeigte er auf die Frau und sagte: „Mamá.“ Und indem er auf sich selber zeigte, sagte er: „Papá.“
Mich erwartete ein köstliches und unvorstellbar reichhaltiges Frühstück. Satt war ich allerdings sehr schnell. Mein Hunger war groß, mein Appetit war klein. Mamá und Papá machten darob ein bekümmertes Gesicht, ebenso Inés, die Haushälterin. Noch bekümmerter wurden ihre Gesichter, als sie mich auf die Waage stellten. Ich hingegen fühlte mich sofort ebenso geborgen wie in Muttis Armen. Das einzig Störende war der Umstand, dass ich mich mit ihnen nicht verständigen konnte außer in der Zeichensprache.
Ihnen erging es offenbar nicht anders. Denn Papá nahm einen Zettel und einen Bleistift zur Hand und spazierte, begleitet von der neugierigen Kleinen, mit mir durchs ganze Haus, deutete auf verschiedene Gegenstände, sagte mir den jeweiligen Namen auf Spanisch vor, schrieb ihn auf den Zettel, drückte mir den Bleistift in die Hand, und ich schrieb die deutsche Bezeichnung daneben. Sobald wir auf diese Weise 30 oder 40 Vokabeln gemeinsam erarbeitet hatten, stellte er mir el sillón, den Lehnstuhl, auf die Terrasse, überließ mir unsere Aufzeichnungen und zog sich, aufmunternd lächelnd, zurück. Und damit wusste ich, jetzt soll ich mir die Vokabeln einprägen. Die Kleine aber setzte sich neben mir auf den Boden, blickte andächtig zu mir auf, korrigierte diensteifrig meine Aussprache und lachte sich über meine Fehler krumm und schief, zum Beispiel, als ich ihren Vater einmal Pápa statt Papá nannte. Da sauste sie in die Küche und kam mit einer Kartoffel zurück. Noch immer lachend, rief sie: „Pápa!“ (Später lernte ich, dass pápa nicht nur Kartoffel, sondern auch Papst bedeutet.)
Bald begann Papá mit mir ganze Sätze zu bilden, ebenso die kleine Carmen. Sie wich gar nicht mehr von meiner Seite, schien direkt einen Narren an mir gefressen zu haben. Oder vielleicht war sie einfach froh, nicht mehr als Einzelkind dahinleben zu müssen. Und obwohl ich zwei Jahre älter war als sie, genoss ich ihre Gesellschaft, sogar dann, wenn ich mit den anderen österreichischen Kindern herumtollte und Carmen sich getreulich an meine Fersen heftete.
Nach drei Wochen wurde ich zusammen mit den anderen Österreichern in die Schule geschickt. Das war eine einklassige Volksschule, das heißt, in einem Raum wurden vier Schulstufen unterrichtet, übrigens von einer gar gestrengen Klosterschwester. Auf diese Weise lernte ich die spanische Sprache rasend schnell.
Carmen ging zu meinem Bedauern noch nicht zur Schule. Nach und nach erfuhr ich, dass sie gar kein Einzelkind war, sondern die benjamina, das Nesthäkchen, von Papá und Mamá. Sie hatte nicht weniger als sechs ältere Geschwister. Aber die wohnten alle nicht mehr im Haus, sondern entweder im Internat oder in einer Kaserne oder im Priesterseminar. Auch Papá selbst entstammte einer kinderreichen Familie. Er hatte sieben Brüder und eine Schwester. Sie war eine Nonne und die sieben Brüder waren allesamt Geistliche. Auch Papá und Mamá waren sehr fromm. Vor jeder Mahlzeit wurde ein Tischgebet gesprochen, und am Abend bekam ich vor dem Einschlafen jedes Mal ein Kreuzchen auf die Stirn gezeichnet. Zwei Schwestern Carmens dachten daran, ins Kloster zu gehen. Über Mamás Familie erfuhr ich merkwürdigerweise nichts.
Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich es nicht besser hätte treffen können. Papá war als Altbürgermeister und Fabrikant der große patrón (Arbeitgeber) des Ortes. Praktisch alle Einwohner von Forcall gewannen ihren Lebensunterhalt direkt oder indirekt durch ihn. Somit verstand es sich von selbst, dass alle im Dorf ausnehmend freundlich zu mir waren, vor allem, wenn ich Carmen an meiner Seite hatte. Papá ließ in Heimarbeit Espandrillos produzieren. Das waren Leinenschuhe mit Hanfsohle. Die Heimarbeiter arbeiteten meistens vor ihren Häusern. Ihnen dabei zuzuschauen und zuzuhören war für uns ein spannendes Vergnügen. Denn dabei wurde fast immer geplaudert oder auch gesungen.
Forcall liegt inmitten von steinigen Bergen auf einer Anhöhe zwischen zwei Flüssen. Auf den Abhängen waren Felder in Terrassenform angelegt, die mit einem ausgeklügelten System bewässert wurden. Unterhalb jeder Stützmauer verlief ein breiter Wassergraben. Diese Terrassenfelder waren tagsüber unser liebster Spielplatz. Nach einem Regen krochen massenhaft Weinbergschnecken über die Mauern. Und da drückte man uns Kindern einen Jutesack in die Hand und trug uns auf, die Schnecken einzusammeln. Von unten konnte man sie nicht erreichen; da war ja der Wassergraben. Also musste das von oben her geschehen. Einer legte sich auf den Bauch, zwei hielten ihn an den Füßen, und er ließ sich kopfüber hinunter und sammelte die Schnecken ein. Daheim wurden sie zu einem köstlichen Mahl mit einer herrlichen Sauce zubereitet. (Wenn ich daran denke, habe ich diesen wundervollen Duft noch heute in der Nase.) Sobald es finster wurde, tobten wir uns auf dem Hauptplatz, der Plaza Mayor, bis in die Nachtstunden aus. Und niemand schickte uns ins Bett oder schimpfte, weil wir lärmten.
Was mir besonders deutlich in Erinnerung geblieben ist, das waren die Familienfiestas, zu denen meist die ganze Großfamilie zusammenkam. Eine solche Fiesta wurde zum Beispiel zu Weihnachten gefeiert, und ich merkte, dass Weihnachten hier kein besinnliches, sondern ein ausgelassenes Fest ist. Zwar gab es zu meiner Enttäuschung weder einen Christbaum noch eine Bescherung. (Erst neuerdings gewinnt in Spanien der Christbaum inklusive Bescherung zunehmend an Beliebtheit.) Aber es wurde eine wunderschöne Krippe, spanisch Belén (Bethlehem), aufgestellt, übrigens nicht nur mit Ochs und Esel, sondern auch mit einem Stier, dem Symbol Spaniens. Rundherum versammelten sich alle und sangen Weihnachtslieder. Nur, gerade weihnachtlich klangen die für meine Ohren nicht. Das waren beschwingte, fröhliche Gesänge.
Am Heiligen Abend, sie nannten ihn Nochebuena (Gute Nacht), gab es zuerst ein fröhliches Festmahl mit Truthahnbraten und einer köstlichen Süßigkeit als Abschluss, die sie Turrón nannten. Sie bestand aus rechteckigen, länglichen Tafeln und wurde, laut Inés, hergestellt aus Mandeln, Honig, Zucker und Eiklar. Dazu konnten noch kandierte Früchte und Schokolade kommen. Danach besuchten wir gemeinsam die Mitternachtsmette. Man nannte sie Misa del gallo, Messe des Hahns, weil dieser, so erzählte mir Mamá, die Geburt des Jesuskindes als Erster verkündet hat. In der Kirche stand eine besonders kunstvolle Krippe, und weil alle das Jesuskind küssten, küsste ich es auch.
Und nach der Mette gingen wir schlafen? O nein, das ganze Dorf versammelte sich auf dem Hauptplatz zu einer fröhlichen Fiesta. Frieren musste niemand. Denn hier brannte bereits ein großes Feuer. Wein wurde ausgeschenkt, sogar uns Kindern, man plauderte und lachte bis in die frühen Morgenstunden, sang lustige Lieder, klatschte den Takt dazu und tanzte rund ums Feuer. Ob diese Nacht heilig war, weiß ich nicht. Still war sie jedenfalls nicht.
In gewisser Weise begann Weihnachten schon am 22. Dezember mit der Weihnachtslotterie, deren Ergebnisse von der ganzen Familie stundenlang im Radio mitverfolgt wurden. Papá erklärte mir, es gebe kaum jemanden im ganzen Land, der kein Los erworben hätte. Erheiternd fand ich zweierlei: Losnummern und Gewinne wurden singend vorgetragen, angeblich von Schülern aus einem Waisenhaus. Den Hauptgewinn, man nennt ihn El Gordo, Der Dicke, so erzählte man mir, gewann in diesem Jahr ein Mann, der die richtige Zahl angeblich geträumt hatte.
(Die Weihnachtslotterie gibt es seit 1812, und sie gilt noch immer als die größte Lotterie der Welt.)
Groß gefeiert wurde auch die Nochevieja (sprich: Notschevi-écha), wörtlich übersetzt: Alte Nacht. So nannte man den Silvestertag. Zuerst gab es wieder ein fröhliches Festmahl, und gegen Mitternacht versammelte man sich von neuem auf der Plaza Mayor. Neu war allerdings, dass vorher jedem eine Weintraube in die Hand gedrückt wurde. Aber, so schärfte mir Papá ein, die darf ich nicht sofort verschlingen, sondern erst, wenn die Kirchturmuhr zwölfe schlägt. Und dann soll ich bei jedem Schlag eine Weinbeere essen. Das macht man so in ganz Spanien. Es bringt Glück. Und wirklich, jeder auf der Plaza Mayor trug, soweit ich sehen konnte, eine Weintraube mit sich herum und steckte feierlich bei jedem Glockenschlag eine Beere in den Mund. Danach wünschten sich alle gegenseitig ein glückliches Neues Jahr.
Bald danach war schon wieder etwas los: das Fest der Heiligen Drei Könige: Día de los Reyes, Tag der Könige. Schon am 5. Jänner zogen die Reyes Magos in feierlicher Prozession hoch zu Ross durch die Straßen, während wir Kinder mit Blechdosen Krach machten, und warfen uns Süßigkeiten zu. In der Nacht legten sie uns Geschenke unter die Krippe. Auch mir. Ich erhielt neue Kleider und dazu etwas Sensationelles: einen Fotoapparat. Und wieder gab es ein ausgedehntes Festmahl.
Das größte Fest war aber Ostern und davor die Karwoche. Am Karfreitag wurden in einer feierlichen Prozession reich geschmückte Figurengruppen, die die Leidensgeschichte Christi und das Leiden seiner Mutter darstellten, durch die Straßen getragen. Ein schauriger Anblick waren Männer, die sich selbst blutig geißelten. Am Ostersonntag fand eine große Fiesta statt mit Musik, Tanz, Essen, Trinken.
Beim Trinken lernte ich eine merkwürdige Gewohnheit kennen. Der selbstgemachte Hauswein wurde in einer zweihenkeligen Glas- oder Tonkaraffe mit langem, spitzem Ausguss gereicht, aus dem man, ohne am Mund anzusetzen, in weitem Bogen den Wein in den Mund laufen ließ. Ich musste beim Zuschauen jedes Mal lachen, und wenn ich es selbst probierte, war ich nachher stets von oben bis unten nass.
(Wein gilt in Spanien nicht als alkoholisches Getränk, sondern als wesentlicher Bestandteil jeder Mahlzeit. Kinder sind davon in keiner Weise ausgeschlossen.)
Apropos Trinken. Im Zentrum der Plaza Mayor, des schönsten Spielplatzes, den man sich nur denken kann – er war rechteckig und umgeben von einer geschlossenen Häuserfront mit Arkaden – stand der Dorfbrunnen. Von dort holte man das Wasser. Wasserleitung gab es nämlich keine. Und ein ungeschriebenes Gebot lautete: Wenn du irgendwohin gehst, sollst du deinen Tonkrug mitnehmen, beim Dorfbrunnen abstellen, am Rückweg anfüllen und auf der Hüfte oder auf dem Kopf nach Hause tragen und das Wasser in eine Zisterne schütten. Auch wir Kinder hatten jeder einen kleinen Krug und trugen unser Scherflein zur Wasserversorgung des Hauses bei, auch schon die kleine Carmen. Wäsche gewaschen wurde allerdings im Fluss am Fuß des Berges. Dies war Aufgabe der Frauen, die jedes Mal einen langen und steilen Weg zurückzulegen hatten. Dass die Hygiene keinen besonders hohen Stellenwert besaß, versteht sich unter diesen Umständen wohl von selbst. Badezimmer gab es keines, und eine Ganzkörperwäsche fand nur zu den Feiertagen statt. Und Toiletten? Nun, die waren wie Balkone an die Häuser angebaut, und es ging im freien Fall zwei Stockwerke tief hinunter in den Schweinestall.
Aber was zählte das schon im Vergleich zur überwältigenden Herzlichkeit, die uns entgegengebracht wurde? In Forcall genoss ich damals eine himmlische, völlig heimwehlose Zeit in grenzenloser Freiheit und in einem wunderbaren Land mit herrlicher Vegetation, mit köstlichem Essen in Hülle und Fülle. Ja, und mit einer süßen kleinen Freundin. Übrigens hatte ich bald einen ungeheuren Appetit entwickelt. Und damit machte ich Papá, Mamá und Inés glücklich. Tatsächlich wog ich am Ende meines zehnmonatigen Aufenthaltes in Forcall nicht mehr 14, sondern 26 Kilo.
August 1950. Später Abend. Wien, Westbahnhof.
Übermüdet, unausgeschlafen, verschwitzt, aber glücklich und mit einer großen Sehnsucht im Herzen, entsteigt der kleine Schurli einem unendlich langen Zug, findet sich, verwirrt von biblischem Heulen und Zähneknirschen, inmitten einer dichtgedrängten Menschenmenge wieder und weiß nicht, wohin. Endlich taucht seine Mutter vor ihm auf und drückt ihn aufschluchzend an ihren Busen. Hinter ihr steht der Stiefvater und schluchzt zwar nicht, staunt aber über die wundersame Metamorphose der einstigen halben Portion.
„Der Schurli ist ja nicht wiederzuerkennen! Er hat sich fast zu einem Dickerl gemausert. Ja, ja, jetzt zahlt es sich bald sogar schon aus, ihn schlachten zu lassen.“
Von der Schluchzenden und den Schurli Umarmenden wird er dafür sanft gerügt. Er möge doch endlich mit diesen blöden Scherzen aufhören.
Aber trotz seiner blöden Scherze ist es gut, dass er mitgekommen ist. Denn im Gepäckswaggon warten nicht nur neue Kleidung und allerlei Spielzeug, sondern vor allem über 50 Kilo Lebensmittel und dazu eine Riesentraube Bananen darauf, entladen und in Schurlis Heim befördert zu werden.
Ja, so viel hatte mir Papá zum Abschied mitgegeben, damit ich in Wien nicht gleich wieder vom Fleisch falle. Der Abschied selbst war schwer und tränenreich. Und wer vergoss die meisten und die heißesten Tränen? Erraten: Die süße kleine Carmen. Dazu ein Dickerl namens Schurli. Und wie lautete Papás Kommentar dazu? „He, ihr tut ja so, als wärt ihr Romeo und Julia.“ Und damit mochte er nicht einmal so unrecht haben.
Und nun stand ich also auf dem Wiener Westbahnhof, wurde von meinen österreichischen Eltern mit Umarmungen, Tränen und blöden Scherzen begrüßt und musste ihnen mitteilen, dass wir nicht sofort nach Hause gehen können, sondern zuerst noch eine Unmenge an Lebensmitteln in Empfang nehmen müssen. Also wurde der Stiefvater losgeschickt, um unser Leiterwagerl zu holen. Das dauerte natürlich, denn bis zu unserem Domizil waren es mindestens drei Kilometer. Inzwischen bewachte ich mit Mutti auf dem Bahnsteig unsere Schätze und beantwortete ihre Fragen, freilich nur so lange, bis ich in ihren Armen eingeschlafen war.
Als ich wachgeküsst wurde, stand der Stiefvater mit dem vollbeladenen Leiterwagerl vor uns und blies mitnichten zum Aufbruch, sondern roch angelegentlich am Bananenbüschel und fragte, was denn das für Früchte seien. Ich sagte, bananas, und wie die auf Deutsch heißen, weiß ich leider nicht. So groß war die Neugier, dass ich auf der Stelle zeigen musste, wie man sie verzehrt. Und? Mutti war begeistert. Der Stiefvater hätte das schon abgebissene Stück am liebsten ausgespuckt und überließ mir dankend den Rest.
Am nächsten Morgen lag ein dicker Stoß Briefe aus Forcall auf dem Küchentisch, alle auf der linken Seite aufgeschlitzt und mit einem braunen Klebstreifen wieder verschlossen und überdies mit einem zusätzlichen Stempel der „österreichischen Zensurstelle“ versehen. Der gleiche Stempel zierte jede Seite des Briefes selbst. Und meine Aufgabe war es nun, alle diese Briefe vorzuübersetzen, soweit sie auf Spanisch abgefasst waren. Das war nämlich der überwiegende Teil ihres Inhalts. Auf Deutsch, sprich, aus meiner Feder stammten nur jeweils kurze Mitteilungen, wie „Mir geht es hir sehr gut, ich bien auf dem land“ oder einfach „Vile busi vom Schurli“, aber auch: „Wir haben eine Karmen sie ist 5. jare alt und furchtbar süs.“ Jetzt erfuhr ich also, was Papá und Mamá geschrieben hatten. Nun, es ging hauptsächlich um mein Befinden, mein Essverhalten und meine allmähliche Gewichtszunahme. Aber dann war auch Folgendes zu lesen: „Jorge“ (sprich: Chorche; so heißt Georg auf Spanisch) „spricht immer besser Spanisch. Ständig erklärt er uns, er wolle noch 20 Jahre in Spanien bleiben, und ob ihn nicht wenigstens unsere Carmen nach Wien begleiten könne. Aber wir hoffen, dass er nächstes Jahr wieder für einige Monate zu uns kommt.“
Und wann kam der kleine Jorge oder Schurli wieder zu Papá und Mamá, nicht zu vergessen „die furchtbar süse Karmen“?
Der kleine Jorje-Schurli leider gar nicht mehr. Zur allgemeinen Überraschung fiel ich nicht mehr allzu sehr vom Fleisch und kam daher für weitere Kinderverschickungen nicht in Frage. Und selber konnten wir uns eine solche „Weltreise“ unmöglich leisten, zumal wir auch den unbeschreiblichen Papierkrieg, der dafür erforderlich gewesen wäre, allein hätten durchstehen (und bezahlen) müssen. Aber dafür gingen zahllose Briefe hin und her, und anhand beigelegter Fotografien konnte ich mitverfolgen, wie die süße kleine Carmen im Laufe der Jahre immer größer und süßer wurde. Vergessen hätte ich sie sowieso nicht, vor allem nachdem ich im Lateinunterricht das Wort carmen gelernt hatte. Es bedeutet Lied und Gedicht, in mittelalterlichem Latein auch Zauber. Und das schien mir eine wunderbar passende Erklärung ihres Namens zu sein.
(Viel später lernte ich, dass er nicht, wie einst vermutet, lateinischen, sondern hebräischen Ursprungs ist. In ihm steckt der Name des israelischen Berges Karmel. Auf diesem liegt das Stammkloster des Karmeliterordens, mit vollem Namen, des Ordens der Brüder der seligen Jungfrau Maria vom Berge Karmel.)
Wann konnte ich also endlich wieder bei der süßen Carmen und meiner lieben spanischen Familie sein? Antwort: Erst zehn Jahre später, also 1960, aber nicht mit dem Zug, sondern per Fahrrad. Inzwischen war ich ja kein kleiner Schurli mehr und bestand auf meinem korrekten Namen Georg oder Jorge. Die Einzige, die mich nach wie vor Schurli nennen durfte, war „die furchtbar süse Karmen“.
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Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.
Texte: Karl Plepelits
Cover: Forcall, Plaza Mayor: CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=732259
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2020
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