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Brave Kinder kommen in den Himmel, oder: Was hat „Kappe“ mit Kappadokien zu tun?

Neugierige Kinder nerven ungeduldige Eltern. Das ist bekannt. Früher sagten sie ihnen sogar: Seid schön brav, weil, neugierige Leute sterben bald. Und neugierige Kinder sind – natürlich – keine braven Kinder.  Oder?

Das Gegenteil ist richtig, keine Frage, egal, ob die Eltern geduldig oder ungeduldig sind. Brave Kinder kommen in den Himmel. Neugierige Kinder werden kluge Erwachsene.

Wir, meine Frau und ich, haben auch so ein furchtbar neugieriges Kind. Aber wir sind zum Glück keine ungeduldigen Eltern.

Unser Sohn Martin ist zwar erst zwölf Jahre alt, machte aber trotzdem mit Begeisterung eine Studienreise durch Zentralanatolien mit und war mit Sicherheit der aufmerksamste Zuhörer unserer Reiseleiterin im ganzen Bus. Die Reise begann in Ankara und berührte zuerst Boğazkale, auch als Boğazköy bekannt, den Ort der hethitischen Hauptstadt Hattuscha. Danach erlebten wir das Weltwunder Kappadokien, jenes berühmte Felskegel- und Höhlengebiet von Göreme (und Umgebung), und Konya, die Hauptstätte islamischer Mystik – Stichwort Tanzende Derwische. Und zuletzt durften wir ein weiteres Weltwunder erleben, nämlich Istanbul.

Was hat unseren kleinen Martin in Ankara am meisten beeindruckt? Nicht das Mausoleum von Atatürk und auch nicht die Ruine des Tempels des Augustus und der Roma mit der „Königin der Inschriften“ (so nannte sie der deutsche Historiker Mommsen), nämlich der Kopie des Rechenschaftsberichts des römischen Kaisers Augustus. Sondern, ich konnte nur staunen, der Vortrag unserer Reiseleiterin zur Frage, ob das deutsche Wort „Anker“ etwas mit dem Namen Ankara zu tun hat.

Das hat es nämlich in der Tat.

„In der klassischen Antike, als Hauptstadt der aus dem Neuen Testament bekannten Galater“, erwiderte sie, „hieß die heutige Hauptstadt der Türkei Ankyra. Nun gibt es im Griechischen, und zwar im Alt- wie im Neugriechischen, das gleichlautende Wort ánkyra. Und das bedeutet nichts anderes als: Anker. Diese Homonymie mit dem Namen der Stadt ist laut Auskunft der Sprachforscher zweifellos Zufall, auch wenn der antike griechische Autor Pausanias in seiner Beschreibung Griechenlands schreibt, König Midas habe hier einen Anker gefunden und die von ihm gegründete Stadt danach Ankyra benannt; dieser Anker werde heute noch, also im 2. nachchristlichen Jahrhundert, im Zeustempel aufbewahrt. Und die Münzen von Ankyra zeigen als Münzbild einen Anker. Faktum ist, dass Ankyra als Name einer Stadt und ánkyra im Sinne von Anker homonym, also gleichlautend sind so wie zum Beispiel im Deutschen das Wort Kapelle als Bezeichnung eines Gebäudes und einer Gruppe von Musikern. Nun passierte Folgendes. Die Römer entlehnten ánkyra ins Lateinische und machten daraus áncora. Und dann entlehnten die Germanen das lateinische áncora und machten daraus unser Wort Anker. Wissen Sie, die Germanen verankerten ihre Schiffe ursprünglich mit schweren Steinen. Als sie durch die Römer am Niederrhein und an der Nordsee den Anker kennenlernten, übernahmen sie mit dem Gerät auch dessen Namen. Und die Römer ihrerseits hatten, wie erwähnt, beides von den Griechen übernommen.“

Ja, und dann kamen wir also nach Kappadokien und hatten drei Tage Zeit, die Wunder dieser wirklich einmaligen Landschaft mitsamt ihren überwältigenden Kunstschätzen zu bewundern. Während einer der gemütlichen Wanderungen zu den spektakulären Tuffsteinformationen, die die Einheimischen Feenkamine nennen, bearbeitete unser neugieriges Kind die arme Reiseleiterin mit einer eher unerwarteten Frage.

„Bitte, ist der Name Kappadokien türkisch, oder sagen wir, modern? Oder auch schon antik so wie Ankara?“

„Oh, so hieß diese Landschaft schon in der klassischen Antike.“

„Aha. Dann kommt jetzt meine eigentliche Frage. Ob das deutsche Wort Kappe etwas mit dem Namen Kappadokien zu tun hat, oder doch mit dem griechischen Buchstaben Kappa. Ich kann nämlich schon das griechische Alphabet.“

„Ah, tüchtiger Bursche! Aber ich fürchte, diese Frage kann ich nicht beantworten.“

„Ach, schade.“

Diesem Dialog hatte ich als stiller Beobachter schmunzelnd gelauscht. Und nachdem die Reiseleiterin quasi die Flucht ergriffen hatte – nein, sondern nachdem sie an die Spitze unserer Wandergruppe geeilt war, um wieder die Führung zu übernehmen, nahm ich Martin beiseite und sagte: „Soll ich dir deine Frage beantworten?“

„O ja, bitte!“

„Also, die Ähnlichkeit von Kappe mit dem Buchstaben Kappa oder dem Namen Kappadokien ist unbestreitbar, beruht aber ebenso auf reinem Zufall wie die Homonymie von ánkyra-Anker und dem griechischen Namen von Ankara. In Wirklichkeit kommt das deutsche Wort Kappe vom lateinischen Cappa. Mit Cappa bezeichneten die alten Römer einen ärmellosen Mantel mit Kapuze. Und auch im Italienischen bedeutet Cappa nicht Kappe, sondern Mantel, egal, ob mit oder ohne Kapuze. Übrigens ist wahrscheinlich auch die Kapuze von Cappa abgeleitet und sollte eigentlich ebenso mit Doppel-P geschrieben werden wie das Wort Kapelle.“

„Wieso denn?“, wandte Martin ein. „Kapelle hat doch nichts mit Kappe zu tun. Hast du doch gerade vorhin selber gesagt. Kapuze lass ich mir einreden. Aber Kapelle? Das gibt’s doch nicht.“

„Kluges Kind! Aber ja, das gibt’s. Ich muss gestehen, wie ich vorhin Kapelle als Beispiel für Homonymie nannte, hab ich ein kleines bisschen geschwindelt. Es sind nicht zwei gleichlautende Wörter, sondern es handelt sich um ein und dasselbe Wort. Und dieses eine Wort, also Kapelle, lateinisch Capella, hat sehr wohl etwas mit Kappe und cappa zu tun.“

Martin schüttelte den Kopf. „Das glaub ich jetzt aber nicht.“

„Hör zu. Tatsache ist, Capella ist, sprachlich gesehen, die Verkleinerungsform oder das Diminutivum, korrekt heißt es übrigens Deminutivum, von Cappa. Daher wurde es ursprünglich und wird heute noch im Italienischen mit Doppel-P geschrieben. Also Cappella. Und bedeutet also eigentlich ...?“

Ich schaute Martin auffordernd an, um ihm wie ein Lehrer seinem Schüler die richtige Antwort zu entlocken. Und wirklich antwortete er brav: „Mäntelchen mit Kapuze. Oder kleiner Mantel mit Kapuze.“

„Sehr gut, setzen.“

„Aber trotzdem. Was hat ein Mäntelchen, egal, ob mit oder ohne Kapuze, mit einer Kapelle zu tun?“

„Daran, mein lieber Martin, bist du selber schuld.“

„Was, ich?“

„Na ja, nicht direkt. Sondern dein Namenspatron.“

„Der heilige Martin?“

„Genau. Der heilige Martin von Tours.“

„Der für einen Bettler seinen Mantel ...?“

„Genau der. Es war Winter, und der Bettler war unbekleidet. Und Martin war noch römischer Soldat und hatte nichts bei sich als sein Schwert und seinen Militärmantel. Diesen schnitt er mit dem Schwert entzwei und schenkte die eine Hälfte dem Armen, damit er sich bekleiden kann. So lautet jedenfalls die Legende,“

„Das war dann also das Mäntelchen oder der kleine Mantel, ja?“

„Sehr richtig. Weißt du, wo Tours liegt?“

„Nein ...“

„In Frankreich. Er stammte zwar aus Savaria in der römischen Provinz Pannonien, dem heutigen Szombathely oder Steinamanger in Ungarn, diente aber als Soldat in der Provinz Gallien, dem späteren Frankreich, und wurde später Bischof von Tours. Nach seinem Tod wurde er bald als Heiliger verehrt, und sein halber Mantel kam als Reliquie in den Besitz der fränkischen Könige, die nach dem Untergang des weströmischen Reiches ihr Reich, das ehemalige Gallien, beherrschten. Sie bewahrten ihn in einem privaten Heiligtum innerhalb ihrer Pariser Residenz auf. Und dieses Heiligtum erhielt danach seinen Namen Sancta Cappella. So heißt es übrigens heute noch, nur halt auf Französisch: Sainte Chapelle, auf Deutsch Heilige Kapelle. Nur ist es nicht mehr jenes Gebäude aus dem sechsten Jahrhundert, sondern eine unerhört prachtvolle gotische Kirche aus dem dreizehnten Jahrhundert und enthält seit dieser Zeit auch noch viele andere kostbare Reliquien. Aber schon seit dem siebenten Jahrhundert ging die Bezeichnung Cappella zuerst auf jedes Privatheiligtum innerhalb einer Fürstenresidenz und dann auf überhaupt jedes kleinere Gotteshaus über. Alles klar, mein Sohn?“

„Ja, ja. Das heißt, nein. Weil, Kapelle hat ja noch eine ganz andere Bedeutung.“

„Ja, klar. Als Bezeichnung einer Gruppe von Musikern. Zum Beispiel der farbenprächtigen Trachtenkapellen in vielen Dörfern.“

„Genau.“

„Jedenfalls handelt es sich dabei um ein und dasselbe Wort. Unter einer Kapelle in diesem Sinn verstand man ursprünglich einen aus Sängern und Orchestermusikern bestehenden Chor, der in einer Fürstenkapelle zum Gottesdienst und anderen festlichen Anlässen aufspielte. Diese Bezeichnung wurde später sozusagen verweltlicht und dafür auf die Orchestermusiker beschränkt. Aber immer steckt im Wort Kapelle der halbe Mantel deines Namenspatrons, des heiligen Martin von Tours.“

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Angaben zum Autor

 Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.

 

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: CC0 Creative Commons Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig: Kappadokien, Feenkamine.
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2019

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