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Warum ich mit Lyrik nichts am Hut habe. Ein literarischer Scherz

Als Prosa-Autor wird man häufig gefragt, ob es denn nicht eigentlich angebracht wäre, sich zusätzlich auch auf dem Gebiet der Lyrik zu betätigen. Denn was ein rechter Autor werden will – na, und so weiter. Mir bleibt dann nichts anderes übrig, als jedes Mal entsetzt abzuwehren und zu betonen, nein, nein, mit Lyrik habe ich nichts am Hut – aber schon gar nicht.

Ja, in drei Teufels Namen, warum denn nicht? Wo doch die Lyrik ein so lohnendes Betätigungsfeld wäre, et cetera.

Nun ja, so heißt es eben stets aufs Neue mühsam begründen, warum nicht. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, gibt es da nicht nur eine Begründung, sondern deren zwei. Aber meinen lieben Mitmenschen verrate ich natürlich immer nur die eine. Und diese lautet so:

Ich habe ja nie Musik studiert. Wie könnte ich mich da mit Lyrik ...?

Wieso Musik, wendet daraufhin der Inquisitor (oder die Inquisitorin, je nachdem) mit schöner Regelmäßigkeit ein, ohne mich ausreden zu lassen (Inquisitor bedeutet ja eigentlich nichts anderes als neugierig Fragender). Ja, natürlich ist Lyrik in gewisser Weise Musik; das ist schon richtig; aber eben keine Musik der Töne, Melodien und Harmonien, sondern im übertragenen Sinn eine Musik von Sprache und gedanklichen Vorstellungen.

Und ich antworte: Aber woher denn. In Wirklichkeit ist Lyrik, soviel ich weiß, echte Musik, Musik der Töne, Melodien und Harmonien, wie du so schön sagst. Schließlich bedeutet Lyrik nichts anderes als Kunst der Lyra, und die Lyra (oder Leier) ist doch, wie allgemein bekannt, ein Musikinstrument.

Aber nein. Versteh mich richtig. Ich meine doch Gedichte, Dichtungen. Warum du dich nicht als Dichter betätigst.

Nun, selbstverständlich erlaube ich mir in dieser Phase des Gesprächs nicht den dummen Scherz zu antworten: Weil ich halt kein Klempner bin. Nach einer solchen Antwort würde man mich ja nicht mehr ernst nehmen. O nein, sondern ich antworte wahrheitsgetreu etwa Folgendes: Ich bin ja kein Diktator und will es auch nicht sein. Und dies ist, bitte schön, absolut kein Scherz. Das Wort Dichter bedeutet in der Tat Diktator, oder anders ausgedrückt: einen, der diktiert. Und wer’s nicht glaubt, möge es bitte im Duden nachlesen. Dichten leitet sich nämlich vom lateinischen dictare diktieren her, und wer diktiert, qui dictat, ist eben ein Diktator (dictator).

Nein, nein, du missverstehst mich total. Ich meine natürlich die Poesie. Warum du dich nicht als Poet betätigst.

Als Poet? Aber ich bitte dich. Ich bin doch weder Fabrikant noch gar Politiker. Poet ist doch ein wunderschönes griechisches Wort, weißt du, und bedeutet, wortwörtlich, Macher oder Produzent, von poiein oder, im Dialekt Athens verkürzt, poein machen, produzieren. Und Poesie (poiesis oder poesis) ist darum eigentlich nichts anderes als Herstellung, Produktion.

Daraufhin, zumeist schon leicht verzweifelt, der neugierig Fragende (oder die neugierig Fragende): Himmel, ich meine doch die Herstellung von Versen.

Von Versen, wiederhole ich mit genüsslichem Schmunzeln. Mein Lieber (oder, je nachdem: meine Liebe), du scherzt. Ich bin doch weder Gärtner noch Bauer. Nichts gegen die Gärtner und Bauern. Aber ich hasse eben alle Gartenarbeit und dergleichen.

Wieso ...?

Nun, Tatsache ist, dass Verse der bäuerlichen Sphäre angehören ...

So?

Ja, mit Versen sind doch, soviel mir bekannt, schlicht und einfach Furchen gemeint. Die Grundbedeutung von Vers, lateinisch versus, ist nämlich das Umwenden oder Umdrehen der Erde mit Hilfe des Pfluges. Es sei denn, du meinst die Fersen, an denen dem rüstigen Wanderer so gern die blutigen Blasen blühen ...

Aber geh, ich meine ... nun ja, Strophen eben, die aus Versen bestehen.

Die aus Fersen bestehen? Oder genauer: die mit Hilfe der Fersen gemacht werden?

Wie ...?

Schau, Strophe, griechisch strophé, bedeutet ja ebenfalls das Umwenden oder die Drehung, aber nicht das Umwenden der Erde mit Hilfe des Pfluges, sondern die Drehung der Tänzerinnen beim Tanz mit Hilfe der Fersen oder der Zehen, je nachdem.

Wirklich?

Aber wenn ich‘s dir sage. Im Prinzip dieselbe Bedeutung hat übrigens katastrophé. Und das, nämlich eine Katastrophé, wäre der ganze Erfolg, wenn ich mich auf dem Gebiet der Lyrik ...

Ach, wie soll ich dir verständlich machen, was ich meine? Ich meine ... nun ja, so etwas wie zum Beispiel Balladen.

Balladen? Aha, passt wunderbar hierher. Weißt du, was Balladen sind? Sehr einfach: Tänze. Abgeleitet von Ball – nicht vom Fußball, natürlich, und auch nicht vom Tennisball, auch wenn die Spieler noch so anmutig tänzeln, sondern vom Faschingsball. Alles klar?

Hilfe! Was soll ich noch sagen? So etwas wie Oden halt.

Ah, die Ode an die Freude, nicht wahr? Nun, Beethoven hat schon gewusst, warum er sie vertonte, vertonen musste. Ode (richtig hieße es übrigens Odé) bedeutet nämlich nicht mehr und nicht weniger als Gesang.

Ach, zum Kuckuck! Hör zu:

Da steh ich nun, ich armer Tor,

Und bin so klug als wie zuvor.

So etwas meine ich. Verstehst du mich jetzt endlich?

Ach so, du meinst die sogenannte gebundene Rede, ja?

Ja, ja!

Warum ich mich nicht einmal zur Abwechslung in gebundener Rede versuche?

Ja, ja! Endlich.

Ah, das kann ich dir schon sagen. Erstens, weil das eben schon der alte Goethe geschrieben hat, und nicht nur das Da steh ich nun, ich armer Tor, sondern auch alles andere, was es in gebundener Rede jemals zu schreiben gegeben hat. Und zweitens: Denk doch an die Grammatik- und Stilfehler, von denen es in gebundener Rede geradezu wimmelt.

Grammatik- und Stilfehler?

Also bitte, erinnere dich doch an deine Schulzeit und sag ehrlich: Was wäre wohl passiert, hättest du dir in einer Deutschschularbeit erlaubt zu schreiben: Ich bin so klug als wie zuvor. Nun?

Gut, ja, da hast du schon recht. Das wäre mir selbstverständlich als Fehler angestrichen worden.

Nicht wahr? Und zwar als schwerer Fehler. Als wie zuvor! Und das bei Goethe himself! Oder:

Bin weder Fräulein, weder schön,

Kann ungeleitet nach Hause gehen.

Na, und dann erst die Neueren! Da kommt man ja, scheint mir, aus dem Fehlerzählen gar nicht mehr heraus. Ich will da gar nicht erst anfangen, mit Beispielen anzurücken. Ein Germanist, ein Deutschlehrer müsste, glaube ich, alle ihre Hervorbringungen samt und sonders mit Nichtgenügend beurteilen. Zum Glück sind nicht alle Leser Deutschlehrer oder Germanisten.

Na ja ... was soll ich sagen ...

Zusammenfassend lässt sich also, wiederum mit Meister Goethe, konstatieren: Ihr fühlet nicht, wie schlecht ein solches Handwerk sei. Und darum lasse ich eben die Finger davon und halte mich lieber an die ungebundene, die gelöste, die befreite Rede ...

Also: an die Prosa?

Genau, an die Prosa, wie es im Lateinischen heißt. Und weißt du, was prosa, wörtlich übersetzt, bedeutet?

Hm, ist es vielleicht von Prosit abgeleitet, etwa um anzudeuten, dass die Prosa-Autoren beim Schreiben unentwegt saufen müssen?

Aber woher denn. Prosa-Autoren saufen doch nie, ganz im Gegensatz zu den Verfassern gebundener Rede, was übrigens schon der gute, alte Platon wusste. O nein, prosusprosaprosum (wiederum eine Kurzform; eigentlich prorsusprorsaprorsum) bedeutet schlicht und einfach schlicht und einfach – also, die schlichte und einfache Rede im Gegensatz zur gebundenen Rede, die damit als das Gegenteil von schlicht und einfach gekennzeichnet wird, nämlich als aufgemascherlt, hochgestochen, pompös, pathetisch, schwülstig, salbungsvoll, oder wie immer man dazu sagen will. Na, da lob ich mir demgegenüber die schlichte und einfache Prosa (oder Prorsa, nicht wahr). Weißt du übrigens, wie sie die Griechen nannten?

Nein? Die unaufgemascherlte Rede vielleicht?

Aber nein. Sondern, vielleicht etwas umständlich, aber wörtlich übersetzt, die zu Fuß daherkommende Rede, im Gegensatz nämlich zu der quasi auf dem hohen Ross sitzenden gebundenen Rede. Auch nicht schlecht, wie?

Aha. Und darum schreibst du also nur Romane und dergleichen, oder wie seh ich das?

So ist es. Darum beschränke ich mich auf Romane, Erzählungen, Geschichten – nenn sie, wie du willst, nenn sie meinetwegen sogar, vielleicht etwas hochtrabend, Epen. Ja, da fühle ich mich zu Hause und betrachte folglich Homer, den Vater aller Epik, im geheimen quasi als geistigen Ahnherrn, sprich, als Vorbild, wenn auch selbstredend als unerreichtes und unerreichbares Vorbild. Aber gut, er hatte ja auch die Muse als Souffleuse. Das sagt er nämlich selber: Von dem Mann erzähl mir, Muse, dem vielgewandten, der schrecklich viel umhergeirrt ist, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstört hatte ... Davon – du magst beginnen, wo du willst, Göttin, Tochter des Zeus – sage auch uns. (Homer meint natürlich Odysseus.) Ebenso hatten bekanntlich die Verfasser der Heiligen Schrift den Heiligen Geist als Souffleur. Das heißt, der Heilige Geist inspirierte sie, hauchte ihnen die Worte ein, die sie nieder schreiben sollten. Auch das gibt einer der betreffenden Autoren, nämlich der Apostel Paulus, offen zu, indem er klipp und klar erklärt: Jede Schrift ist von Gott eingehaucht (oder: inspiriert). Ja, von solchen Privilegien kann unsereins nur träumen. Aber was soll’s. Die Welt ist eben ungerecht. Übrigens, um wieder auf unser eigentliches Thema zurückzukommen. So hochtrabend du die Bezeichnung Epos empfinden magst, sie ist es strenggenommen überhaupt nicht; denn sie bedeutet schlicht und einfach Wort, im engeren und zugleich im weiteren Sinn. So verwendet sie ja auch Homer selber, zum Beispiel: Was für ein Wort (epos) ist dem Gehege deiner Zähne entflohen! Oder: Und er sprach zu ihr die geflügelten Worte (epea). Und siehst du, Worte (epea): Genau das ist es, wonach mir zu schreiben gelüstet, schlichte und einfache Worte, die ganz prosaisch (prorsaisch) oder, wenn du willst, banal einen Tatbestand berichten oder eine Geschichte erzählen; nicht mehr und nicht weniger. Und ob sie nun Geschichten, Erzählungen oder Romane heißen, spielt für mich daneben gar keine Rolle. Übrigens ist mir die Benennung Roman sogar besonders lieb, weil in ihr ja der Name der Ewigen Stadt steckt ...

Rom? Aber geh, das ist doch nicht dein Ernst.

Oh, das kannst du mir ruhig glauben. Ich scherze nicht. Der Roman (schon wieder so eine Kurzform; eigentlich Romanz) heißt bekanntermaßen deshalb so, weil er ursprünglich, konkret, zur Zeit des hohen Mittelalters, eine Erzählung bezeichnete, die nicht, wie alle übrigen Schriftwerke, Latine, das heißt, in der Gelehrtensprache des klassischen Latein, sondern Romanice, in lateinisch-romanischer, das heißt, altfranzösischer Volkssprache verfasst worden ist. Na, und romanisch bedeutet eben nichts anderes als römisch, gleichgültig, ob von einer Sprache oder einem Baustil die Rede ist. Davon leiten sich, nebenbei bemerkt, auch Romantik und Romanze her.

 

Spätestens an dieser Stelle geben es die wohlmeinenden Inquisitoren und -torinnen auf, mich wegen der Lyrik zu bedrängen, und treten, vermutlich restlos frustriert, den Rückzug an, und ich habe wieder meine heilige Ruh. Aber wie bereits erwähnt: Was ich in diesem Gespräch von mir gegeben habe, ist nur die eine der zwei Begründungen, warum ich die Finger von der Lyrik lasse, und somit nur die halbe Wahrheit. Die zweite Begründung habe ich wohlweislich verschwiegen. Ich will mich ja nicht blamieren und will andererseits auch niemandem zu nahe treten. Sie lautet nämlich schlicht und einfach: Ich kann es nicht. Ich kann keine Lyrik schreiben. Es würde mir nie gelingen. Ich bin dafür entweder zu unbegabt. Oder aber nicht wahnsinnig genug.

Letzteres ist, wohlgemerkt, keine Beleidigung all meiner geschätzten Kollegen und Kolleginnen, die sich tatsächlich an die Lyrik heranwagen. Nein, es handelt sich wieder einmal um eine Erkenntnis des guten, alten Platon. Dieser lehrt nämlich Folgendes: Die dritte Art von Besessenheit und Wahnsinn stammt von den Musen. Erfassen diese eine sensible und reine Seele, so erweckt und begeistert sie der Wahnsinn zu Gesängen (odas) und all der übrigen Poesie (poiesin) ... Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen zu den Pforten der Poesie kommt, im Vertrauen darauf, nur vom Handwerklichen her (ek technes) ein rechter Dichter (poietes) zu sein, der bleibt selbst unfertig, und die Poesie der Vernünftigen wird von der der Wahnsinnigen stets in den Schatten gestellt werden.

Gleich anschließend liest man: So viele und noch mehr schöne Wirkungen des von den Göttern geschickten Wahnsinns könnte ich dir erzählen.

Und wieder kann ich nur sagen: von solchen Privilegien kann ich nur träumen. Mich haben die Götter, so scheint es, übersehen oder vielleicht sogar absichtlich benachteiligt. Die Wahrheit lautet nämlich: Ich beneide alle die, denen die Götter besagten Wahnsinn geschickt haben. Oh, wie heftig, wie glühend beneide ich sie! Wie gern würde ich auch selbst eine schöne Musik von Sprache und gedanklichen Vorstellungen, genannt Lyrik, schaffen!

Aber wie gesagt, die Welt ist ungerecht.

Impressum

Cover: Herculaneum: Eroten spielen mit einer Lyra. By WolfgangRieger - Filippo Coarelli (ed.): Pompeji. Hirmer, München 2002, ISBN 3-7774-9530-1, p. 167, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6238089
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2019

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