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Freitag, 23. März 2018. Abend.

Ein Herzenswunsch wohl jedes Reiseleiters geht heute endlich für mich in Erfüllung: eine Reise durch Andalusien zur Semana Santa. Im Deutschen nennt man sie Karwoche, und das bedeutet (laut Madame Wikipedia) so viel wie „Woche der Wehklage“. Im Spanischen spricht man von der „Heiligen Woche“. Für die spektakulären Festivitäten zu dieser Zeit ist Spanien hochberühmt, und da wieder vor allem Andalusien.

Herrlich! Bei frühlingshaften Temperaturen lande ich mit meiner Reisegruppe in Málaga, der Hauptstadt der Costa del Sol („Sonnenküste“). Ostern fällt heuer zwar extrem früh. Aber die Natur steht hier trotzdem schon in voller Blüte. Allüberall grünt und blüht es so wunderbar, dass es eine Freude ist. Und zum allgemeinen Gaudium beginnt eine meiner Damen im Bus während des Transfers zum Hotel das bekannte Liedchen der Eliza Doolittle aus My fair Lady zu trällern: Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blüh'n.

Lange habe ich mir überlegt, mit welchem Werk der reichen spanischen Literatur ich meine Reisegäste erfreuen soll. Schließlich griff ich zu einem Werk der französischen Literatur, der Novelle Carmen von Prosper Mérimée. Sie unterscheidet sich von der allbekannten Oper Georges Bizets, für die sie als Vorlage diente, vor allem durch eine Rahmenhandlung. Darin gibt der Autor vor, seine Hauptfiguren, Carmen und Don José, im Herbst des Jahres 1830 während einer archäologischen Studienreise durch Andalusien persönlich kennengelernt und mehrere Monate später von dem inzwischen zum Tod auf dem Schafott verurteilten Banditen dessen tragische Lebensgeschichte erfahren zu haben.

Damit nicht genug, habe ich auch ein Bändchen mit Rilke-Gedichten eingepackt. Und dazu Washingtons Irvings Erzählungen von der Alhambra. Gelten sie doch als Kultbuch für jeden Andalusienreisenden.

 

24. März 2018. „Passionssamstag“ (Sábado de Pasión).

Als Erstes besichtigen wir die grandiose Renaissance-Kathedrale, begonnen im frühen 16. Jahrhundert. Und sofort gibt es eine Anfrage an den Herrn Reiseleiter.

„Wieso ist diese Kathedrale nicht älter? Ich meine, Spanien ist doch berühmt für seine vielen romanischen und gotischen Gotteshäuser.“

„Vollkommen richtig“, erwidere ich. „Aber wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Teil Andalusiens zum Emirat von Granada, dem letzten maurischen Staatswesen auf der iberischen Halbinsel, gehörte. Málaga, sein wichtigster Hafen, wurde schon fünf Jahre vor Granada, also 1487, erobert. Und sofort befahlen die Katholischen Könige, Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragonien, die Moschee abzureißen und an ihrer Stelle ein christliches Gotteshaus zu errichten.

„Gibt’s heute, am Passionssamstag, schon Osterprozessionen?“

„Nein. Sie beginnen morgen Vormittag. Aber da sind wir leider schon fort aus Málaga.“

Wer ist der berühmteste Sohn der Stadt? Natürlich, Pablo Picasso. Nur verließ er sie schon sehr früh und kam nie wieder zurück. Schon während seiner Kindheit zog seine Familie zuerst nach A Coruña in Galizien und dann nach Barcelona. Und als Erwachsener hatte er seinen Lebensmittelpunkt stets in Frankreich. Wir besuchen sein Geburtshaus und das nahegelegene Picasso-Museum mit über 200 Kunstwerken des Malers.

Die ganze Zeit schon haben wir eine hochgelegene Festung vor unseren Augen. Sie überragt das Stadtzentrum ebenso, wie Salzburg von der Festung Hohensalzburg überragt wird. Málagas langgestreckter Festungsberg trägt sogar zwei Festungen, beide maurisch. Bevor wir uns zu dieser kleinen Bergtour aufmachen, staunen wir noch einmal. Denn in den Berghang eingebettet ist ein wunderschönes römisches Theater. Es stammt aus der Zeit des Kaisers Augustus, als die Stadt Malaca hieß.

Nach der Mittagspause besteigen wir den spanischen Reisebus, der uns jetzt über eine Woche durchs Land kutschieren soll. Hinterm Lenkrad lacht uns der fröhliche spanische Chauffeur vom gestrigen Transfer entgegen. Manolo nennt er sich. Und ich merke bald, dass er nicht einfach ein spanischer, sondern eben ein andalusischer Chauffeur ist. Woran ich das merke? Nun, ich dachte immer, ich kann ganz gut Spanisch. Und er versteht mich ja auch wunderbar. Aber ich verstehe ihn fast gar nicht und muss dauernd nachfragen, was er denn gesagt hat. Na ja, wenigstens bemüht er sich, langsam zu sprechen.

Nur habe ich fürs Erste sowieso wenig Gelegenheit, mit ihm zu plaudern. Unsere erste Ausfahrt führt uns nämlich in das berühmte, auf einem uneinnehmbaren Felsplateau gelegene „Adlernest“ Ronda, und ich muss währenddessen meine Reisegäste mit Vorträgen und Lesungen beglücken. Natürlich kann ich unmöglich die ganze Carmen von Mérimée vorlesen, obwohl sie ja zur Gänze in Andalusien spielt. Aber zumindest die Passage darf ich ihnen nicht vorenthalten, die im wildromantischen Bergland von Ronda spielt. Dort, so erzählt Don José, betrieben wir Schmuggel, zuweilen auch überfielen wir Reisende auf der Landstraße, wie ich gestehen muss, aber nur in der größten Not, und wenn wir nicht anders konnten. Auch misshandelten wir die Reisenden niemals und beschränkten uns darauf, ihnen das Geld abzunehmen.

Tatsächlich ist die stark bewaldete Serranía de Ronda altes Banditenland. Reichen Touristen wurde auf einsamen Bergstraßen Schmuck und Barschaft abgenommen und der Ertrag unter der armen Bevölkerung verteilt. Erst 1936 wurde der letzte dieser Volkshelden von der Guardia Civil, der Polizei, erschossen. In Ronda gibt es ein Museum, das an diese Zeit erinnert. Für Irving und Mérimée sind Schmuggler und Banditen noch gefahrvolle Gegenwart.

Rondas Hauptattraktion ist neben der reizvollen Altstadt seine spektakuläre Lage beiderseits einer schmalen, 100 Meter tiefen Schlucht. Drei Brücken überspannen sie. Berühmt ist die Neue Brücke aus dem 18. Jahrhundert mit ihrem unvergesslichen, schwindelerregenden Blick in den Abgrund. Sie ruht auf zwei fast 100 Meter hohen Pfeilern.

Auf unserer Suche nach weiteren Aussichtspunkten kommen wir an der Stierkampfarena aus dem 18. Jahrhundert vorbei, einer der ältesten Spaniens. Und dies erinnert mich daran, dass Ronda quasi die Geburtsstätte des Stierkampfes ist. Der „Erfinder“ heißt Francisco Romero und wurde um 1700 hier geboren.

Zuletzt erreichen wir das nach der englischen Königin Victoria benannte Hotel mit dem großen Garten. Und auf wen stoßen wir da? Auf Herrn Rilke höchstpersönlich. Zwischen Kakteen und Palmen begrüßt hier Rainer Maria Rilke jeden Besucher bei Tag und bei Nacht. Ja, Ronda war schon vor über hundert Jahren berühmt, und einer der prominentesten Besucher war Rilke. Drei Monate wohnte er in diesem damals neuerrichteten Hotel, von Dezember 1912 bis Februar 1913. Das Zimmer Nummer 34 im ersten Stock ist als kleines Rilke-Museum eingerichtet.

Die Ortschaft – phantastisch und überaus großartig, schreibt Rilke über Ronda. Es war für ihn die spanischste aller Ortschaften. Hier schrieb er eine ganze Reihe von Gedichten, darunter Die spanische Trilogie. Auf der Rückfahrt nach Málaga lese ich sie vor.

25. März 2018. „Sonntag der Zweige“ (Domingo de Ramos).

Heute beginnen teilweise schon am Vormittag die Prozessionen. Aber viel zu früh entführt uns Manolo, nein, das Reiseprogramm aus Málaga. Zum Trost versuche ich meine Leute auf Granada vorzubereiten.

Als wir wieder einmal an einem der weißen Dörfer vorbeifahren, erinnere ich mich an eine Formulierung des wohl berühmtesten Sohnes Granadas – Oh, weiße Mauer Spaniens, schrieb er über die Dörfer Andalusiens – und rezitiere zuerst einige seiner Gedichte, ehe ich ihn näher vorstelle als einen der größten Dichter und Dramatiker Spaniens: Federico García Lorca, Avantgardist und Populärstar zugleich.

„Ihm gelang etwas ganz Seltenes: Lyrikbände als Bestseller, so etwa seine Zigeunerromanzen. García Lorca schrieb hauptsächlich über seine Heimat Andalusien, fühlte sich verbunden mit der Landbevölkerung, besonders mit den Gitanos („Zigeunern“). Viele seiner Gedichte und Dramen sind gesellschaftskritischer Natur, haben die unterdrückte Stellung der Frau in der ländlichen Bevölkerung Andalusiens zum Thema. Dies machte ihn bei der politischen Rechten unbeliebt. Und als Franco im Juli 1936 in Spanisch-Marokko den Bürgerkrieg vom Zaun brach, um die damalige linksgerichtete Regierung zu stürzen, geriet García Lorca ins Visier der faschistischen Falange. Zwar suchte er bei einem Dichterfreund des rechten Lagers Zuflucht, und sein enger Freund Manuel de Falla setzte sich für ihn ein; aber vergeblich. Eine Falange-Milizgruppe nahm ihn gefangen und erschoss ihn und mit ihm noch weitere Gefangene ohne gerichtliches Verfahren. Zuvor zwangen sie sie, ihr eigenes Grab zu schaufeln, beschimpften García Lorca als „schwulen Roten“ und schlugen ihn mit dem Gewehrkolben. Dies geschah am 19. August 1936. Von Mitte Juli bis Mitte September wurden allein in und um Granada 20.000 Menschen von den Faschisten ermordet. Manuel de Falla ist Ihnen sicher ein Begriff: Weltberühmter spanischer Komponist, ebenfalls Andalusier. Er stammte zwar aus Cádiz, lebte aber lange in Granada.“

„Zwischenfrage: Ist García zweiter Vorname oder Familienname?“

„García ist der erste Familienname. Wissen Sie, die Spanier haben offiziell zwei Familiennamen. Der erste ist der des Vaters, der zweite der der Mutter. Erst neuerdings darf diese Reihenfolge auch umgekehrt werden. Dazu muss man wissen, dass die Spanierin nach der Verehelichung weiterhin ihren ersten Familiennamen behält. Nur selten fügt sie den des Ehemannes an mit dem Wörtchen de („von“). Wenn sich also die Schriftstellerin Carmen Laforet mit Señor González vermählt, so mag sie sich hinfort Carmen Laforet de González nennen. Adelszeichen ist das de nur, wenn es vor dem ersten Familiennamen steht, so bei der heiligen Teresa – damit meine ich nicht Teresa May, sondern Teresa de Cepeda y Ahumada. Jetzt werden Sie vielleicht fragen, was hat das y hier zu suchen? Nun, die beiden Familiennamen stehen entweder unverbunden nebeneinander wie bei García Lorca oder verbunden durch y („und“), zum Beispiel bei Manuel de Falla y Matheu. Im Alltag verwendet man gewöhnlich nur den ersten Familiennamen. Drum kommt es nicht selten vor, dass Spanier ausländische Ehepaare für Geschwister halten, weil diese denselben Familiennamen tragen.“

Gegen Mittag erreichen wir Granada. Und da frage ich sogleich an der Rezeption unseres Hotels, freilich ohne große Hoffnung, ob heute noch eine Prozession stattfindet, und erfahre, dass die Prozessionen am Palmsonntag hier erst ab 16 Uhr beginnen und sich bis tief in die Nacht hinziehen und dass ihr Mittelpunkt die Kathedrale ist. Also vereinbare ich ein extrafrühes Abendessen um sieben Uhr, damit wir nachher genügend Zeit für die Feiern haben.

Den Nachmittag widme ich der Besichtigung der Altstadt, speziell der Kathedrale – sie gilt als die schönste Renaissancekirche Spaniens –, und der an sie angebauten Capilla Real, der „Königlichen Kapelle“, mit den Grabmälern der Katholischen Könige, ihrer Tochter Johanna der Wahnsinnigen und des Schwiegersohnes Philipps I. des Schönen, des Sohnes Kaiser Maximilians.

Nach dem Abendessen treibe ich meine Leute hinaus ins feindliche Leben, nein, auf den Platz vor der Kathedrale. Nur, sehr übertrieben ist der Ausdruck feindlich nicht. Die Straßenbeleuchtung ist abgeschaltet (aber uns leuchtet ja der österliche Vollmond), und wir tauchen in einen See von Menschen ein, sodass ein Durchkommen schwierig ist. Übrigens sind, soweit ich sehe, auch alle Balkone dicht besetzt.

Auf dem Platz vor der Kathedrale empfängt uns eine Flut flackernder Kerzen. Begleitet von langsamer Marschmusik und dumpfen Trommelschlägen, schwanken in Dreierreihen Massen von hohen, spitzen türkisblauen Kapuzen auf uns zu. Und wir erkennen, dass sich die blaue Farbe bis zum Boden fortsetzt und dass unter dem blauen Stoff Menschen verborgen sind, von denen durch Schlitze allein die Augen sichtbar sind und deren in weißen Handschuhen steckende Hände lange, dicke Kerzen halten.

Dann erst kommt das eigentlich Sensationelle in Sicht: eine schwankende, blumengeschmückte, reich vergoldete, mit Schnitzereien verzierte, von brennenden Kerzen umgebene hölzerne Plattform mit einer lebensgroßen Figurengruppe: Jesus reitet auf einem Esel in Jerusalem ein. Aber wieso schwankt der Esel? Und Jesus mit ihm? Der Rätsels Lösung: Die zweifellos tonnenschwere Plattform wird von Männern getragen, von denen hinter einem blauen Vorhang bestenfalls die Schuhe zu sehen sind. Und man erkennt, dass sich die Schuhe in langsamen Trippelschritten im Rhythmus der Musik bewegen. Darum wohl nennt man solche Plattformen Pasos, „Schritte“. Dahinter folgen Männer mit einem Holzkreuz auf der Schulter und Ketten an den bloßen Füßen und Frauen in schwarzer Mantilla mit hauchdünnen schwarzen Schleiern vorm Gesicht.

Später kommt auf einem weiteren Paso unter einem vergoldeten und wiederum von zahllosen Kerzen erleuchteten Baldachin ein goldener Thron in Sicht. Und darauf thront die Jungfrau Maria mit ebenfalls goldener Krone auf dem Kopf. Während wir den ungeheuren Reichtum der Ausführung bestaunen, schreit ein männlicher Zuschauer plötzlich „Guapa“, und noch einer, und noch einer. Und dann wird aus weiblicher Kehle ein Aufschrei, ein jammervolles Schluchzen, laut, und die Stimme hebt zu einem Sologesang von grenzenloser Wehmut an. Der voranschreitende Anführer der Paso-Träger betätigt eine Art Türklopfer aus kunstvoll geformtem Silber, und der Paso hält an, wird abgestellt. Die Armen dürfen rasten. Der Gesang gilt offenbar der Jungfrau Maria und entstammt der Kehle einer wohlbeleibten Dame. Sie steht auf einem nahen Balkon und schmettert mit Hingabe ihr Liedchen. Die letzten Töne gehen in Applaus und unzähligen Olé-Rufen unter. Viele Zuhörer haben Tränen in den Augen.

Wieder ertönt der „Türklopfer“ (er heißt wirklich so: Llamador), und Maria schwebt, zusammen mit dem ganzen Paso, wie von Zauberhand wieder in die Höhe und setzt, begleitet von weiteren Klageliedern und Guapa-Rufen, ihren Triumphzug fort. Unterdessen beginnen die Kapuzenmänner in die Kathedrale einzuziehen. Und im selben Moment, wo sich die „banda de música“ dem Portal nähert, stimmt sie zu meiner Verblüffung die spanische Nationalhymne an (deren Melodie mir längst vertraut ist).

Ja, wer schon bettreif ist, kann jetzt schlafen gehen. Wer aber noch etwa zwanzig Minuten geduldig ausharrt, kann den Auszug der ganzen Prozession aus der Kathedrale und nur wenig später eine andere Prozession mit roten Kapuzen und so weiter und anders gestalteten Pasos beobachten, und entsprechend später eine dritte in Schwarz und eine vierte in Weiß.

 

26. März 2018. „Heiliger Montag“ (Lunes Santo).

Der Vormittag ist dem Wunder der wie eine Akropolis über dem Häusermeer schwebenden Märchenburg Alhambra, der meistbesuchten Sehenswürdigkeit Spaniens, geweiht. (Der Name ist arabisch: Al-Hamra, „die Rote“.) Sie vereint mehrere Superlative in sich: Sie ist das bedeutendste weltliche Denkmal maurischer Kunst auf spanischem Boden und eine der großartigsten Schöpfungen islamischer Baukunst überhaupt. Sie enthält große Steinskulpturen, etwas Unerhörtes in der gesamten islamischen Kunst, noch dazu in situ (die zwölf wasserspeienden Löwen im Löwenhof). Sie enthält den schönsten Renaissancebau Spaniens. Und sie ist nicht nur ein großer und überaus prunkvoller Palast, sondern zugleich eines der mächtigsten militärischen Bauwerke aller Zeiten.

Am Nachmittag begeben wir uns wieder in Manolos Obhut. Er macht mit uns einen erholsamen Ausflug in die Sierra Nevada. Ich nütze die Gelegenheit, um während der Fahrt all die Fragen zu beantworten, mit denen ich heute bereits überhäuft wurde. So zum Beispiel, was es mit den „Ku-Kux-Klan-Kapuzen“ für eine Bewandtnis habe. Einer meiner Herren nannte sie unehrerbietig Henkerkleidung.

Antwort: „Nun, so weit hergeholt sind beide Vergleiche gar nicht. Kapuzen haben stets die Aufgabe, Gesichter zu verbergen. Die Kapuzenträger bei diesen Prozessionen nennen sich Büßer, Penitentes oder Nazarenos. Mit der Teilnahme an den stundenlangen Märschen wollen sie ihre Sünden abbüßen. Vielfach tragen sie schwere Kreuze auf den Schultern oder Ketten an den Füßen. Wer aber seine Reue für alle sichtbar zur Schau trägt, meint es vielleicht gar nicht ernst. So kam die Tradition auf, das Gesicht zu verbergen.“

Eine andere Frage bezog sich auf die merkwürdigen Guapa-Rufe. Was bedeutet überhaupt Guapa?

Antwort: „Hübsch, nämlich zu einer Frau gesagt, genauer, einer Frau zugerufen. Wissen Sie, wenn eine Frau in Spanien, speziell in Andalusien, alleine unterwegs ist, erhält sie garantiert von wildfremden Männern sogenannte Piropos. Entweder rufen sie ihr einfach „Guapa“ zu oder „Bonita“, beides heißt „hübsch“, oder ein möglichst blumiges Kompliment, zum Beispiel: „Ich wäre gern deine Haut, um immer bei dir zu sein und dich zu spüren“ oder: „Ich wäre gern eine deiner Tränen, um in deinen Augen geboren zu werden, auf deinen Wangen zu leben und auf deinen Lippen zu sterben.“ Dies ist für die spanischen Machos Volkssport Nummer eins. Es kursieren ganze Listen von Piropos. Obwohl diese, seit Spanien nicht mehr gar so sittenstreng ist, angeblich im Aussterben begriffen sind. Ich selber kann’s ja nicht beurteilen. Aber Achtung, meine Damen: Spanische Gigolos setzen Piropos immer noch gezielt ein, um Urlauberinnen zu bezirzen. Spanierinnen, heißt es, reagieren nur selten darauf. Und Sie haben ja gesehen, auch die heilige Maria hat überhaupt nicht reagiert. Stehen geblieben ist sie nur für das hübsche Lied der Dame vom Balkon. Ein solches Klagelied für Maria nennt man Saeta (sprich, Sa-eta, „Pfeil“, von lateinisch sagitta).“

„Aber das hat nicht gerade wie ein frommes Kirchenlied geklungen. Eher wie ein Flamenco. Und schließlich gehören doch auch diese Olé-Rufe zum Flamenco, oder? Wie passt das alles zu einer kirchlichen Veranstaltung?“

„Tatsache ist, dass sogar die Weihnachtslieder in Spanien einen flamencoähnlichen Charakter haben. Und dass sich kirchliche Veranstaltung und profanes Brauchtum vermischen, kennen wir ja auch aus den Alpenländern. Wissen Sie, die Karwochenprozessionen sind keine rein kirchlichen Veranstaltungen, sondern werden von weltlichen Vereinigungen, sogenannten Bruderschaften, organisiert. Zur Kunst der Träger gehört es, ihre biblischen Figuren manchmal quasi tanzen zu lassen. Und das wieder erinnert mich, dass Sie heute Abend Gelegenheit haben werden, einen richtigen Flamenco zu erleben.“

Unser Ausflug endet in einem Wintersportort namens Pradollano, dem höchstgelegenen Spaniens (2100 bis 3300 Meter Seehöhe) und südlichsten Europas mit nicht weniger als 100 Kilometern Skiabfahrten. Hier wurde 1996 die 33. Alpine Ski-WM ausgetragen. Schnee liegt trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit noch immer genug, und die Skilifte sind in Betrieb.

Und zum Abschluss des heutigen Tages also ein Flamenco-Abend. Wir werden mit einem eigenen Bus abgeholt und in den Vorort Sacromonte („Heiliger Berg“), das Viertel der Gitanos, gebracht, berühmt für seine zahlreichen Höhlenwohnungen. Eine davon ist unser Flamenco-Lokal.

Und, frage ich meine Leute nach der Vorführung, wie hat’s Ihnen gefallen?

Hier die Antworten: Schade, dass es schon aus ist. Ein unvergessliches Erlebnis. Einfach faszinierend. Mitreißend. Herzergreifend. Irgendwie exotisch. Direkt orientalisch, die Musik. Sicher ein Erbe der Araber.

Und der Tanz selbst?

Herrlich. Unbeschreiblich. Ausdrucksstark. Leidenschaftlich. Jeder Teil des Körpers ist beteiligt. Wie beim indischen Tanz. Aber was bedeutet eigentlich das Wort Flamenco?

„Ja, das ist witzig“, sage ich. „Das Wort ist vieldeutig. Abgesehen von diesem Tanz bezeichnet es: Erstens einen Flamingo. Zweitens einen Flamen. Und drittens einen Gitano. Bei Mérimée sagt Carmen zu Don José: Komm, es gibt Abhilfe für alles, wenn man eine flämische Romi zur Freundin hat. Und dazu erklärt der Dichter in einer Anmerkung: Flamenca de roma. Rotwelsch-Ausdruck, der die Zigeuner bezeichnet. Roma soll hier nicht die Ewige Stadt bedeuten, sondern das Volk der romi oder verheirateten Leute, wie sich die Zigeuner nennen. Die ersten, die man in Spanien sah, kamen wahrscheinlich aus den Niederlanden, daher ihr Name Flamen. Aber ich möchte nicht verschweigen, dass es auch andere Worterklärungen gibt. Übrigens, falls Sie noch nicht müde sind: Die heutigen Prozessionen dauern noch bis nach Mitternacht.“

 

27. März 2018. „Heiliger Dienstag“ (Martes Santo).

Manolo chauffiert uns durch landschaftlich reizvolles Hügelland, betupft mit Olivenhainen. Sie reichen bis zum Horizont, und, hat man den erreicht, wieder bis zum nächsten Horizont. Kein Wunder (versuche ich zu erklären), Spanien ist der größte Olivenproduzent der Welt, und Andalusien ist der größte Olivenproduzent Spaniens.

„Komisch“, so eine meiner Damen. „Und bei uns findet man vorwiegend italienische Öle.“

„Stimmt. Aber das liegt, glaube ich, daran, dass die Italiener im Marketing und Vertrieb den Spaniern um einiges voraus sind. Nur, das Kuriose daran ist, dass die Italiener vielfach spanisches Öl kaufen, in Italien abfüllen und als italienisches Öl verkaufen. Das ist nicht verboten. Wichtig ist der Abfüllungsort. Und der ist dann eben in Italien. Darüber beklagen sich übrigens auch die griechischen Produzenten.“

„Wem gehört überhaupt dieser unübersehbare Landbesitz?“, so einer der Herren. „Dem Staat wie früher im Ostblock? Oder ist das alles Privateigentum?“

„Alles Privateigentum. Wissen Sie, in Andalusien herrscht noch immer Latifundienwirtschaft vor, das heißt, einige wenige Großgrundbesitzer besitzen den Großteil des Bodens und lassen ihn von besitzlosen Landarbeitern bewirtschaften. Deshalb ist die Polarisation zwischen Arm und Reich in Andalusien extrem. Und da es naturgemäß weit mehr Besitzlose gibt als Besitzer, gilt Andalusien nach wie vor als Armenhaus Spaniens. Auf solchen Latifundien werden übrigens auch die für den Stierkampf benötigten Kampfstiere gezüchtet. Die leben dort in großer Freiheit mit möglichst geringem Kontakt zu Menschen.“

Nach exakt 100 Kilometern erreichen wir das auf einem Hügel inmitten der Olivenhaine gelegene Städtchen Baena (sprich, Ba-ena). Hier entlässt uns Manolo zu einem Bummel durch die bezaubernden Gässchen entlang der weißgetünchten Hauswände – sie werden, sagt er, jedes Jahr vor Ostern neu geweißelt – mit den schmiedeeisernen Fenstergittern. Würden wir nicht die spanischen Aufschriften sehen und die andalusischen Laute hören, wir könnten glauben, wir befinden uns in Marokko. Und wirklich, die auf dem oberen Teil des Hügels gelegene Altstadt nennt sich Almedina („Die Stadt“, wohlgemerkt, auf Arabisch).“

Eine Stunde später sind wir in Córdoba, der ehemaligen Hauptstadt von Al-Andalus, wie man das maurische Spanien des Mittelalters in seiner Gesamtheit nannte. Damals galt sie als größte, schönste, bedeutendste Stadt der Welt nach Konstantinopel und Bagdad.

Als Erstes lassen wir uns von dem überwältigenden Säulenwald der berühmten Moschee-Kathedrale verzaubern – sie gilt als die schönste Moschee der Welt – und danach von der unbeschreiblichen Lieblichkeit der Gassen der Judería, des Judenviertels, mit wohlerhaltener Synagoge aus dem 14. Jahrhundert und der eindrucksvollen Ruine eines ungewöhnlich großen römischen Marmortempels. (Zu seiner Erbauungszeit hieß die Stadt Corduba.) Unglaublich reizvoll der freie Blick in die Innenhöfe (Patios) der weißgetünchten Häuser. Córdoba gilt in ganz Spanien als die Stadt mit den schönsten Patios des Landes. Jedes Jahr wird hier deshalb im Mai das Festival der Patios gefeiert.

Zuletzt stehen wir vor der fotogenen maurischen (ursprünglich römischen) Stadtmauer mitsamt Stadttor.

Ha, und wem begegnen wir in dem hübschen Park davor? Dem berühmtesten Sohn der Stadt, dem römischen Dichter-Philosophen Seneca, der als Berater Neros mit seinem Freund Burrus fünf Jahre lang fast unumschränkt das römische Weltreich regierte. Auf hohem Sockel stehend, in der linken Hand eine Schriftrolle, blickt er auf uns herab und freut sich über unseren Besuch. Und er zwinkert mir vergnügt zu, weil ich nicht vergesse zu erwähnen, dass er noch in der Neuzeit als Gründungsvater des europäischen Dramas gewirkt hat.

Noch einem wichtigen, mit Buch bewehrten Sohn Córdobas begegnen wir vor der Stadtmauer: Averroës (arabisch Ibn Ruschd), jenem berühmten arabischen Philosophen des 12. Jahrhunderts, der größten Einfluss auf das europäische Denken, ja auf die kulturelle Entwicklung Europas nahm. Als großer Verehrer des Aristoteles kommentierte er viele von dessen Werken und versuchte nachzuweisen, dass seine Philosophie mit den Lehren des Korans harmoniert. Dies brachte ihm (bis heute) den Zorn der frommen Muslime ein, zugleich die Hochachtung der Christen.

„Konnten die Christen alle Arabisch? Natürlich nicht. Sondern da bedurfte es der Dienste der Übersetzer. Im 12. Jahrhundert, als Toledo wieder christlich war, hatte sich die Übersetzerschule von Toledo gebildet. Im 9. und 10. Jahrhundert waren durch die Übersetzerschule von Bagdad viele wissenschaftliche und philosophische Schriften der Griechen ins Arabische übersetzt worden, woraus eine eigenständige arabische Wissenschaft und Philosophie erwuchs. Diese Übersetzungen wurden in Toledo ihrerseits ins Lateinische übersetzt. Wissen Sie, im Gegensatz zum arabisch-islamischen Kulturkreis war im lateinischen Westen kaum jemand des Griechischen mächtig. Die lateinischen Übersetzungen gelangten mitsamt den übersetzten Kommentaren des Averroës und anderer arabischer Philosophen zu den Gelehrten der Sorbonne in Paris, und riefen die geistige Bewegung der Scholastik ins Leben, die ihrerseits als Vorläufer der Renaissance angesehen werden kann. Denn diese Gelehrten waren alle Theologen. Und die Theologie hatte bisher seit Augustinus einzig die Philosophie Platons und der Neuplatoniker als bibelkonform akzeptiert. Nun konnte man darangehen, dasselbe mit den Lehren des Aristoteles zu tun und das von seinen Schriften zur Logik ausgehende Verfahren zur Klärung wissenschaftlicher Probleme einzusetzen.“

Einem weiteren berühmten Sohn Córdobas begegnen wir in der Altstadt selbst: Moses Maimonides, einem der bedeutendsten jüdischen Gelehrten aller Zeiten. Er thront auf einem Marmorblock und drückt ein Buch an seinen Bauch. Er versuchte Aristoteles und die Bibel in Einklang zu bringen und übte damit ebenso großen Einfluss auf die christliche Scholastik aus wie sein Zeitgenosse Averroës.

Nicht vergönnt ist es uns, in Córdoba den abendlichen Prozessionen beizuwohnen. Denn das Reiseprogramm treibt uns erbarmungslos weiter nach Sevilla. Unterwegs besuchen wir Carmona, ein weißes, arabisch anmutendes Kleinod mit schönen Barockbauten, römischen Stadtmauern und großer römischer Nekropole davor. Die kleine Stadt liegt auf einem Hügel und blickt weit über die Getreidefelder der baumlosen Ebene des Guadalquivir.

Aber in Sevilla ist es uns vergönnt. Da dauern die Prozessionen bis lange nach Mitternacht. Ja, eine der daran beteiligten Bruderschaften ist sogar die ganze Nacht und bis in den Nachmittag des nächsten Tages hinein unterwegs.

28. und 29. März 2018. „Heiliger Mittwoch, Heiliger Donnerstag“ (Miércoles Santo, Jueves Santo): In Sevilla.

Herrlich! So viel Zeit in Sevilla, um tagsüber all das Schöne und Interessante in dieser heißesten und schönsten Stadt Spaniens (so behaupten jedenfalls die Sevillaner) zu genießen, so vor allem den riesigen Alcázar, die königliche Residenz, mit einem der schönsten Beispiele andalusischer Gartenbaukunst, und die Kathedrale mit dem Grabmal von Christoph Kolumbus, die größte Kirche Spaniens und die größte gotische Kathedrale der Welt. Und sie ist die einzige, die als Glockenturm ein maurisches Minarett besitzt. Sie erhebt sich nämlich auf den Grundmauern der Großen Moschee. Diese haben die Christen also, wie üblich, abgerissen. Das Minarett hingegen muss sie durch seine Schönheit so beeindruckt haben, dass sie es stehen ließen. Allerdings wurde es im 16. Jahrhundert durch einen fünfstöckigen Aufsatz im Renaissancestil auf fast 100 Meter erhöht und mit einer dreieinhalb Meter hohen Figur des Glaubens gekrönt, die sich beim geringsten Windhauch dreht und deshalb Giralda, Wetterhahn, genannt wurde, ein Name, der auf das ganze Minarett übergegangen ist. Heute nennt man die Figur selbst Giraldillo, Wetterhähnchen.

Und wir haben Zeit, um die zweitwichtigste Gemäldegalerie Spaniens nach dem Prado, das Museum der Schönen Künste, zu besuchen und auf dem hübschen Platz davor Señor Murillo zu begrüßen. Er steht auf einem so hohen Sockel, dass er sicher nicht hört, wie ich von ihm als einem der berühmtesten Söhne Sevillas schwärme. Seine Werke können wir anschließend im Museum selbst bewundern. Ebenso die von Velázquez, dem wohl bedeutendsten Maler Spaniens, ebenfalls einem gebürtigen Sevillaner. Pinselschwingend steht er, auf ähnlich hohem Sockel, in einem nahegelegenen kleinen Park.

Und dann entdecken wir während eines Bummels durch die schmalen, schattigen Gassen des Barrio de Santa Cruz (Heiligenkreuzviertels) Señor Tenorio, mit vollem Namen Don Juan Tenorio. Ob er wirklich gelebt hat, ist höchst ungewiss. Wir kennen ihn nur als Helden des 1624 uraufgeführten spanischen Dramas Der Verführer von Sevilla oder Der steinerne Gast von Tirso de Molina, einem der größten spanischen Dramatiker, und zahlloser literarischer und musikalischer Bearbeitungen, unter denen Mozarts Don Giovanni weit herausragt.

Müsste dann also nicht auch Mozart durch ein Denkmal geehrt werden? Sevilla hat er ja auch durch Die Hochzeit des Figaro verewigt. Und siehe da, neben dem neuen Opernhaus, das zwischen der maurischen Torre del Oro, dem „Turm des Goldes“, am Ufer des Guadalquivir und der berühmten Stierkampfarena errichtet und 1991 eingeweiht wurde, steht er ja höchstpersönlich. Er steht über einen Stuhl gebeugt, stellt ungeniert den rechten Fuß auf die Sitzfläche und liest in einer Partitur, die er in der Linken hält; in der Rechten hält er eine Violine. Eingeweiht wurde die Statue an seinem 200. Todestag, dem 5. Dezember 1991, ein halbes Jahr nach dem Opernhaus selbst.

Zwei neue, spektakuläre Brücken überspannen den Guadalquivir, ein Erbe der Weltausstellung 1992. Aus diesem Anlass wurde auch zwischen Madrid und Sevilla Spaniens erste Hochgeschwindigkeitsstrecke in Betrieb genommen. (Unterdessen sind schon erstaunlich viele weitere hinzugekommen.) Aber die Weltausstellung hat auch hohe Schulden hinterlassen, und viele Bauten, die für sie errichtet worden waren, sind inzwischen abgerissen worden oder stehen leer.

Zur Freude meiner Damen (und zum Entsetzen meiner Herren) ist auch Zeit genug für einen ausführlichen Einkaufsbummel.

„Und wo, Herr Reiseleiter, geht das am besten in Sevilla?“

„Ah, da lassen wir uns am besten von Monsieur Mérimée beraten. Er lässt seinen Don José erzählen: Wir (Don José und Carmen) hatten den Weg nach Sevilla eingeschlagen. Eingangs der Schlangenstraße kaufte sie ein Dutzend Orangen ... Etwas weiter erstand sie ein Brot, Wurst und eine Flasche Manzanilla; schließlich betrat sie eine Zuckerbäckerei ... Sie kaufte alles, was gut und teuer war. Jetzt wissen wir’s: In der Schlangenstraße, Calle Sierpes oder einfach Sierpes. Fragen Sie mich bitte nicht, warum sie so heißt. Sie schlängelt sich nämlich überhaupt nicht. Aber sie ist ganz nahe unserem Hotel. Ich werde Sie am Abend hinführen.“

Und damit habe ich mir die ewige Liebe meiner Damen erworben.

Wir haben sogar noch Zeit für einen Ausflug in die Römerstadt Italica, keine 9 Kilometer von Sevilla entfernt und eben deshalb eher schlecht erhalten, weil man ihre Ruinen das ganze Mittelalter hindurch ausgeplündert hat, um billiges Baumaterial zu gewinnen, aber trotzdem äußerst sehenswert.

"Auch sie rühmt sich zweier berühmter Söhne. Sie heißen Trajan und Hadrian, beide ihres Zeichens römische Kaiser. Übrigens, Sevilla hieß damals Hispalis. Daraus machten die Araber Ischbilijja. Und daraus machten die christlichen Spanier Sevilla."

Und was treiben wir in den Sevillaner Nächten? Natürlich, Semana Santa feiern (und sinnberauschende Geruchsmischungen einatmen: Weihrauch, Kerzenduft, Orangenblüten, Wein, die Nelken in den Haaren der Frauen, das Parfum der Dame, die einem auf die Zehen steigt, weil man so dichtgedrängt steht). Schließlich gelten die Festivitäten in Sevilla als die berühmtesten von allen.

"Vom Palmsonntag bis zum Ostersonntag lebt die ganze Stadt im Bann der Prozessionen. Der Höhepunkt ist die Nacht von Donnerstag auf Freitag. Man nennt sie Madrugada oder Madrugá („früher Morgen“). Da verlassen die einzelnen Bruderschaften frühestens um Mitternacht ihre jeweilige Pfarrkirche, ziehen im Morgengrauen in die Kathedrale ein und haben danach noch den ganzen Rückweg zurückzulegen. Bis zu zwölf Stunden dauern diese Prozessionen."

„Warum dauert das alles so elendslang, Herr Reiseleiter?“

„Sie sehen ja, hier in Sevilla gibt es Tausende kapuzentragende Büßer. Die müssen alle zuerst im Schneckentempo vorüberziehen, ehe endlich der Paso mit einer Szene der Passion Christi in Sicht kommt. Und dann vergeht wieder endlos Zeit, bis der Paso mit der lieblichen, kostbar geschmückten, Tränen vergießenden Maria erscheint und die Saetas und Guapa-Rufe laut werden.“

Ich selber kann mir wenigstens die Zeit vertreiben, indem ich mich gelegentlich mit Einheimischen unterhalte. Und da verrät mir eine freundliche Sevillanerin, wie sehr sie „diesen grausigen Massenauftrieb“ und „die blöde Herumwarterei“ hasst. „Noch dazu mitten in der Nacht. Und in zwei Wochen das Gleiche noch einmal.“

„Wie? Noch einmal?“

„Na ja, da wird das Aprilfest“ (im O-Ton: Feria de Abril) „gefeiert. Das beginnt in der Nacht vom Sonntag auf Montag um 12 Uhr und endet genau eine Woche später, also wieder um Mitternacht, mit einem Feuerwerk. Man nennt es das Oktoberfest Spaniens. Nur dass man hier statt Bier mehr Sherry trinkt. Wir Frauen stecken uns dann Blüten ins Haar und ziehen unsere schönsten und buntesten Flamenco-Kleider an, wenn möglich, an jedem der sechs Festtage ein anderes. Und dann darf wenigstens nach Herzenslust getanzt werden. Gitarren, Flöten, Kastagnetten machen fröhliche Musik, dazu tanzen wir Fandango und Bolero, Sevillanas und Seguidillas ...“

„Ah“, rufe ich dazwischen und beginne zu rezitieren, zuerst auf Deutsch, dann auf Spanisch:

Draußen am Wall von Sevilla

wohnet mein Freund Lillas Pastia.

Dort tanze ich die Seguidilla

und trink Manzanilla.

„Erkennen Sie’s?“

Meine Gesprächspartnerin strahlt. „Aber sicher. Carmen von Georges Bizet. Klar, Seguidilla tanzen, das ist Lebenslust. Aber hier ...“

„Ja, aber wieso ...“

„Wieso ich trotzdem hier stehe? Wissen Sie, mein Mann ist einer der Musiker. Er darf Trompetensolo blasen und ist furchtbar stolz auf diese Ehre. Aber viel lieber würde ich so wie viele andere aus der Stadt flüchten. Und das habe ich früher auch getan. Aber seit ich verheiratet bin ...“

Den Rest des Satzes ersetzt sie durch ein leises Seufzen und ein Verdrehen der Augen.

„Und wir“, sage ich lachend, „kommen extra deshalb angereist.“

„Na ja, wenigstens ist es manchmal ganz lustig, wenn zum Beispiel die Männer den Jungfrauen“ (sie meint, den Madonnen) „derbe und leidenschaftliche Worte zurufen. Umgekehrt rufen sie den Jungfrauen verfeindeter Stadtviertel Schmähungen zu. Die Macarena und die Jungfrau der Gitanos des Vororts Triana sind von alters her Rivalinnen und haben eifersüchtige Verehrer.“

„Eifersüchtig?“, werfe ich verwundert ein. „Und wer ist die Macarena?“

„Ach so, ja. So nennen wir abgekürzt die Jungfrau von der Kirche des Vororts Macarena. Ich heiße übrigens auch Macarena mit Vornamen so wie viele Sevillanerinnen. Und apropos eifersüchtige Verehrer. Als ich noch klein war, habe ich erlebt, wie ein Mann seiner eigenen Jungfrau zuprostete und danach einer fremden Jungfrau das volle Weinglas mitten ins Gesicht schleuderte. Für dieses Sakrileg soll er aber ins Gefängnis gekommen sein.“

30. März 2018. „Heiliger Freitag“ (Viernes Santo).

Am Nachmittag des „Heiligen Freitags“ müssen wir zum Bedauern aller Sevilla wieder verlassen. Wir verlassen es in südlicher Richtung und gelangen so nach Sanlúcar, einer pittoresken, maurisch wirkenden Stadt. Ihr Hafen war früher enorm wichtig. Von hier brach 1498 Kolumbus zu seiner dritten Reise in die Neue Welt auf, ebenso 1519 Magellan zu seiner ersten Weltumsegelung.

„Und wo, bitte, brach Kolumbus zu seiner berühmten ersten Entdeckungsreise auf?“

„Das geschah am 3. August 1492 in Palos de la Frontera. Dieses Städtchen liegt nahe der portugiesischen Grenze am Mündungstrichter des Río Tinto. Erinnern Sie sich an die Manzanilla? Sie verwendet Mérimées Carmen, um Don José zu verführen. Es handelt sich um eine besondere Sorte von Sherry, die ausschließlich hier, in Sanlúcar, hergestellt wird. Der Name Manzanilla bedeutet übrigens Kamillentee. Ihr Aroma erinnert angeblich an Kamillentee.“

Von hier ist es nicht weit nach Jerez de la Frontera, ebenfalls eine außergewöhnlich hübsche Stadt. Die Straßen werden von reizenden, weißgetünchten Häusern und eleganten Palästen im Renaissance- oder Barockstil gesäumt. Berühmt ist Jerez für seine Rassepferde und natürlich für den Jerez, außerhalb Spaniens besser bekannt als Sherry. (Diese englische Bezeichnung stammt von der alten Aussprache des Namens der Stadt. Sie lautete Scheres (geschrieben Xerez), abgeleitet vom arabischen Namen Scherisch.)

In Jerez wimmelt es natürlich von Weinkellereien. Nur, für eine Weinverkostung wie bei früheren Spanienreisen ist heute, am Karfreitag, wohl nicht der richtige Zeitpunkt. Deshalb setzen wir unsere Fahrt in den Süden bald wieder fort und erreichen schließlich eine unerhört lange Brücke, die einen unerhört breiten Fluss überquert. Aber das ist natürlich gar kein Fluss, sondern ein Meeresarm, und am anderen Ufer taucht vor unseren entzückten Augen wie eine Fata Morgana eine weiße Stadt aus den Fluten: Cádiz. Sie liegt auf zwei (ehemaligen) Inseln. Auf der kleineren westlichen Insel liegt die barocke Altstadt von Cádiz, auf der langgestreckten östlichen Insel die moderne Neustadt. Die Einwohner nennen Cádiz die älteste Stadt Europas, weil sie laut griechischen und römischen Historikern schon um 1100 vor Christus gegründet wurde. Ihr lateinischer Name lautet Gades.

Unser Hotel liegt nahe der barocken Kathedrale mit der Grabstätte von Manuel de Falla (übrigens auch nahe dem erst 1980 entdeckten und teilweise ausgegrabenen großen römischen Theater). Daher können wir ohne großen Aufwand den nächtlichen Karfreitagsprozessionen beiwohnen. Diese sind heute in besonderer Weise ergreifend, ja direkt aufwühlend. Sobald nämlich die Lichter erloschen sind und nur noch der österliche Vollmond die Straßen erleuchtet, tritt andächtige Stille ein. Keine Musik, kein Getrommel, keine Saetas, keine Olé- oder Guapa-Rufe – in völligem Schweigen schwebt die trauernde Muttergottes durch die dunklen Straßen. Ein unglaublich bewegender Moment.

31. März 2018. „Heiliger Samstag“ (Sábado Santo).

Als Erstes fährt uns Manolo heute über einen langen Damm, der die Insel Cádiz zu einer Halbinsel macht, aufs Festland zurück und weiter in zumeist südöstlicher Richtung. Bald passieren wir einen niedrigen Berg, dessen Gipfel von der blendendweißen Stadt Vejer de la Frontera gekrönt ist – ein überaus hübscher Anblick. Dahinter liegt eine kleine Landzunge mit großem Namen: das Kap Trafalgar, berühmt durch die Seeschlacht 1806 und den gleichnamigen Platz in London.

Wieder kurze Zeit später biegen wir an die dünenreiche Küste ab. Und was gibt es hier zu sehen außer spektakulärer Landschaft? Erstaunliches: Die vollständigste römische Stadtanlage der gesamten iberischen Halbinsel. Die Ruinen einer kleinen römischen Stadt namens Baelo Claudia, komplett mit Stadtmauer, Forum, Curia (Rathaus), Geschäften, Marktgebäuden, Wohnhäusern, Handwerksbetrieben, Tempeln, Basilica (Stadthalle), Theater, Thermen (natürlich mit Fußbodenheizung), drei Aquädukten und Kanalisation unter den gepflasterten Straßen.

Wieder kurze Zeit später erreichen wir die Stadt Tarifa. Jetzt geht’s nicht mehr weiter nach Süden außer übers Meer. Denn hier befindet sich das „Südkap“ Europas. Es nennt sich passenderweise Punta Marroquí, „Marokkanisches Kap“. Und da das Wetter klar ist, sehen wir am Horizont die Berge Afrikas. Die Meerenge von Gibraltar ist hier nur, je nach Gewährsmann, 13 oder 14 Kilometer breit und, wie wir beobachten können, eine vielbefahrene Wasserstraße. Im Frühjahr und im Herbst herrscht auch zwischen den beiden Ufern starker Verkehr, allerdings in der Luft. Da setzen nämlich unsere Zugvögel von und nach Afrika über. Viele Ornithologen und Vogelfreunde kommen dann nach Tarifa, um sie zu beobachten.

Von nun an geht unsere Fahrt wieder in Richtung Norden. Und so erreichen wir bald darauf Algeciras („Die Insel“; einer der zahllosen arabischen Namen mit dem Artikel Al) und sehen am anderen Ufer einer Bucht den berühmten Felsen von Gibraltar, eine der beiden Säulen des Herakles (Herkules) der griechischen Mythologie. Gibraltar ist bekanntlich seit 1704 britisches Hoheitsgebiet und für Spanien ein ständiger Stachel in seinem Fleisch. Wie wir aus Mérimées und Bizets Carmen wissen, war Gibraltar für die andalusischen Schmuggler eine Goldgrube.

Nachdem wir die Abzweigung nach Gibraltar passiert haben, fragt eine Dame, wieso Gibraltar eigentlich nicht auf dem Programm steht.

„Vermutlich aus einer ganzen Reihe von Gründen“, antworte ich. „Der Hauptgrund dürfte sein, dass der Grenzverkehr immer wieder durch intensivierte, das heißt, schikanöse Kontrollen Spaniens behindert wird. Wenn man Pech hat, steht man stundenlang an der Grenze. Zum Schengen-Raum gehört Gibraltar nämlich nicht.“

Entlang der Küste der Costa del Sol, vorbei an Touristenhochburgen wie Marbella und Torremolinos, erreichen wir gegen Abend Málaga und beziehen dort das uns bereits bekannte Hotel. Und wie sieht es heute Nacht mit Prozessionen aus? Manolo weiß es: Am Karsamstag gibt es keine. Außer in Sevilla. Da ich es kaum glauben kann, frage ich an der Rezeption und erhalte dort die gleiche Antwort.

 

1. April 2018. „Ostersonntag, Auferstehungssonntag“ (Domingo de Pascua, de Resurrección).

Heute erreicht die Semana Santa ab 10 Uhr ihren Höhepunkt und Abschluss in der Prozession des Jesús Resucitado, des Auferstandenen Jesus, und der Himmelskönigin Maria. Denn alle die Bruderschaften Málagas, die in den Tagen davor getrennt ihre Heiligen durch die Stadt getragen haben, sind jetzt vereint. Und so erleben wir ja doch eine Prozession in Málaga.

Mir leistet heute beim Zuschauen Manolo Gesellschaft. Und dabei erzählt er mir allerhand Interessantes: Dass er gebürtiger Malagueño ist, dass er lange Zeit in der Altstadt wohnte und dass das während der Semana Santa nicht einfach war. Da kam er regelmäßig erst nach längerem Warten, oder nachdem er sich durch die Menge durchgekämpft hatte, bis zu seiner Haustür. Da blieb sein Motorrad die ganze Woche in der Garage, weil er weder heraus- noch hineinkonnte. Da lief er kilometerlange Umwege, weil viele Straßen wegen der Prozessionen nicht passierbar waren. Da machte er die ganze Woche hindurch kaum ein Auge zu, weil die Prozessionen Nacht für Nacht bis zum Morgengrauen mit Pauken und Trompeten unter seinem Balkon vorbeizogen. Obendrein kamen Besucher, die nicht in der Altstadt wohnten, in einem fort zu ihm, um die Prozessionen hautnah miterleben zu können. Und noch Wochen danach quietschten die Schuhsohlen auf Schritt und Tritt, weil die Straßen mit Kerzenwachs überzogen waren.

Dieser Trubel während der Semana Santa und dazu viele weitere Veranstaltungen übers ganze Jahr, oft nach Mitternacht, auch während der Woche, waren der Grund, weshalb er schließlich aus der Altstadt weggezogen ist. Ja, die Semana Santa sowie alle anderen Festlichkeiten in Málaga machen Spaß, aber nur, wenn man nicht mittendrin wohnt.

Aber schließlich wird es Zeit, seinen Bus zu besteigen, um zum Flughafen zu gelangen. Denn es heißt allmählich Abschied nehmen. Und da ergreife ich zum letzten Mal das Mikrophon und halte ihm zu Ehren eine schöne Laudatio. Ich halte sie in seinem andalusischen Dialekt. Denn ich habe ihn nicht nur von Tag zu Tag besser verstanden. Ich habe mir durch die vielen Gespräche mit ihm die andalusischen Eigenheiten fast schon angewöhnt, etwa dass ein S häufig nicht ausgesprochen wird, zum Beispiel „hata la vita“ statt „hasta la vista“ („auf Wiedersehen“), oder dass Sevilla nicht wie Sevilja, sondern wie Sevija ausgesprochen wird. Manolo freut sich sichtlich über meine Worte (und wahrscheinlich mehr noch über das Kuvert, das ich ihm am Ende meiner Laudatio überreiche). Und als es vollends Abschied nehmen heißt, umarmt er mich und küsst mich ab, dass es eine Freude ist.

Einige weitere Werke aus der Feder von Karl Plepelits

Angaben zum Autor

 

Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Stift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Bildmaterialien: CC0 Creative Commons und Wikimedia Commons Freie kommerzielle Nutzung
Cover: Virgen de la Victoria (Sevilla): Von CarlosVdeHabsburgo - Eigenes Werk
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2019

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