Hurra, auf geht’s!
Die ätzenden Bemerkungen meiner Schwiegermutter, die unser Vorhaben als puren Wahnsinn apostrophiert, ignorierend, besteigen wir, meine Frau und ich, zusammen mit einem kleinen Grüpplein ebenso Wahnsinniger ein Flugzeug. Etwas über zwei Stunden später landen wir in Athen, um was zu tun?
Meine Schwiegermutter würde antworten: Um uns gemeinsam dem puren Wahnsinn hinzugeben.
Nämlich eine Radkreuzfahrt durch die Zauberwelt der Kykladen zu genießen.
Aber alles schön der Reihe nach!
Im Vorjahr machten wir Badeurlaub auf der griechischen Insel Kos. Und dabei entdeckten wir zwei faszinierende Dinge.
Erstens: Dass sich Kos „the cycling island“, „die Fahrradinsel“ nennt. Dass es hier gepflegte Radwege gibt. Und dass es hier mehr Radfahrer gibt als anderswo Griechenland. Ganz klar, dass wir uns Fahrräder ausliehen und damit praktisch die ganze Insel erkundeten, nicht nur die Hauptsehenswürdigkeiten wie das berühmte Asklepieion oder die ausgedehnten Ausgrabungen in der Stadt Kos.
Und zweitens: Während einer unserer Fahrten über Land hatten wir eine faszinierende und folgenreiche Begegnung. Wir begegneten einer Kolonne von Radfahrern aus Oberösterreich, gaben uns als Landsleute zu erkennen, kamen mit ihnen ins Gespräch und erfuhren, dass sie äußerst komfortabel in einem kleinen „schwimmenden Hotel“ wohnten und per Fahrrad unter der Führung einer Reiseleiterin die Inselwelt der Ägäis erkundeten. Intensiver als mit Schiff und Fahrrad, schwärmte eine der Oberösterreicherinnen, lasse sich diese nicht erleben. Das Ganze nenne sich Radkreuzfahrt und sei für die Ägäis die ideale Kombination.
„Es ist wie ein Schritt ins Paradies“, schwärmte eine andere. „Der Alltag ist unendlich fern. Die verheißungsvollen Sonnenaufgänge, das Versinken des Feuerballs im Meer, das einzigartige Farbenspiel am Himmel, die klaren Sternennächte – all das ist unglaublich faszinierend. Das sanfte Durchpflügen einer ruhigen See auf einem kleinen Schiff hat etwas Seelenberuhigendes. Das stürmische Meer mit meterhohen Wellen, die jede Aussicht und jeden Atem nehmen, sind ein Erlebnis, das dich so klein macht, dass nichts schöner sein kann, als wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Das Einlaufen in den sicheren Hafen schweißt zusammen und bringt ein unvergessliches Glücksgefühl. Sich abends im Freundeskreis an Bord oder in einer Taverne den Göttern für Augenblicke nahe fühlen zu dürfen – ja, das liebe ich an der Inselwelt der Ägäis.“
Und da wussten wir: Das ist genau das Richtige für uns. Nach Hause zurückgekehrt, machten wir uns unverzüglich übers Internet her und entdeckten etliche Reiseveranstalter, die solche Radkreuzfahrten anbieten. Wir entschieden uns für eine unter dem Motto „Der Zauber der Kykladen“.
Und nun sind wir also auf dem Flughafen von Athen gelandet und werden nicht von einer charmanten Dame, sondern von einem jovialen älteren Herrn empfangen, der sich als Panos Papadopulos vorstellt. Er lotst uns zu einem Transferbus, der uns in den Piräus bringt. Und in der Marina Zeas, dem größeren der beiden Jachthäfen des Piräus, erwartet uns Panagiota (sprich: Panajota). So heißt aber noch immer keine charmante Dame, sondern ein schmucker Motorsegler mit drei weißen Dreieckssegeln und zehn luxuriös ausgestatteten Kabinen, nicht zu vergessen die aus fünf würdigen Herren bestehende Crew, darunter Kapitän Gerasimos und Koch Petros. Und dieser verwöhnt uns sogleich mit einem köstlichen Mittagessen.
„Eigentlich heiße ich ja genau wie unser Schifflein, die Panagiota“, erzählt uns währenddessen Panos unter vielem anderen. „Panos ist nämlich nur die Kurzform des männlichen Namens Panagiotis. Und wissen Sie, was der bedeutet? Halten Sie sich fest: Seine Heiligkeit. Genauso spricht man den Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel an. Und ja, so heiße ich.“
Sobald die Mägen gefüllt, die Kabinen bezogen und die Mieträder verteilt sind, lädt uns Panos zu einer ersten Ausfahrt ein. Und wohin zieht es uns? Natürlich, in Richtung Akropolis, die in der Ferne vor uns majestätisch in die Höhe ragt. Unser erstes Ziel ist der Musenhügel (Museion, lateinisch Museum, so benannt nach einem nicht erhaltenen Heiligtum der Musen), auch genannt Philopapposhügel. Am Gipfel verschlägt es uns den Atem. Denn von hier aus hat man einen überwältigenden Blick auf die Akropolis mit ihren Wunderbauten. Auf die gewaltige Akropolisstützmauer, die man nur zu leicht übersieht, macht uns Panos eigens aufmerksam.
„Man könnte glauben, sie sei modern. Aber nein, sie ist 2500 Jahre alt, aber tadellos erhalten.“
Hier wird uns auch der Name Philopapposhügel klar. Philopappos hieß der Inhaber des zwischen 114 und 116 nach Christus errichteten marmornen Mausoleums, dessen Ruine den Hügel krönt.
„Hier stand die venezianische Kanone“, erzählt Panos, „aus der am 26. September 1687 die Granate abgefeuert wurde, die den damals noch im Wesentlichen vollständigen, aber von den Türken schändlicherweise als Pulvermagazin missbrauchten Parthenon traf.“
„Aber auch noch als Ruine“, bemerkt er, während wir schließlich inmitten der Besucherscharen staunend unmittelbar davor stehen, „ist der Parthenon ein Wunder an Kunst und Schönheit.“
Wirklich wahr, denke ich bei mir. Die Schönheit des Parthenons ist erstaunlich. Man kennt ihn doch aus zahllosen Abbildungen. Darauf ist er halt ein weiterer griechischer Tempel, nichts weiter. Und jetzt steht man vor ihm und sieht ihn leibhaftig vor sich. Und ist einfach überwältigt. Wie gibt‘s denn so was? So bescheiden in seinen Ausmaßen, und so überwältigend in seiner Wirkung. Und ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, dass er das erregendste Bauwerk ist, das es gibt. Jetzt weiß ich, wie das gemeint war. Und dass es der Wahrheit entspricht.
Sobald wir diese Wunder der Kunst und der Schönheit zur Genüge bestaunt haben, widmen wir uns am Fuß der Akropolis weiteren Wundern. Erstens den Wundern der Literatur. Denn das am Abhang der Akropolis gelegene Dionysostheater gilt als die Geburtsstätte des europäischen Dramas. Hier erlebten ihre Uraufführung all die klassischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides, in denen diese drei Genies über die letzten Probleme der Menschheit nachdachten. Ebenso erlebten hier ihre Uraufführung die aus Witz und Phantasie, aus schallender Unanständigkeit und hochintellektueller Parodie, aus Buffonerie und lyrischer Schönheit gemischten Komödien von Aristophanes.
Und zweitens widmen wir uns dort den Wundern nicht nur der Kunst und der Schönheit, sondern auch denen der modernen Architektur. Wir besuchen das genau gegenüber dem Dionysostheater gelegene neue Akropolismuseum, einen Glaspalast, der nach fast dreißig Jahren Planung und zehn Jahren Bauzeit 2009 eröffnet wurde. Auch hier kommen wir aus dem Staunen nicht heraus und konstatieren übereinstimmend: Dies ist ohne jeden Zweifel die spektakulärste Ausstellung griechischer Kunst, die es auf der Welt gibt.
Ich erwache und erschrecke. Das Bett schwankt. Ein Erdbeben?
Aber nein. Sondern die Panagiota hat längst abgelegt und lässt sich von des Meeres (und der Liebe?) Wellen schaukeln. Zu unserer Linken (oder, wie die Seeleute sagen, backbords) erkennt man die Südküste Attikas, zuletzt das Kap Sunion mit dem hochgelegenen Poseidontempel. Und vor uns tauchen am Horizont bereits die ersten Kykladeninseln aus dem Meer auf.
Nach dem Frühstück hält uns Panos auf dem Sonnendeck einen schönen Einführungsvortrag. Er beginnt mit einem Zitat aus einem Werk des wohl bekanntesten griechischen Dichters des 20. Jahrhunderts, Nikos Kazantzakis: Ich fuhr mit einem Segelfrachter, der die anmutigen Inseln der Ägäis – Santorin, Naxos, Paros, Mykonos – anlief. Ich sagte es und sage es wieder: Eine der größten Freuden, deren der Mensch auf dieser Welt gewürdigt werden kann, ist, die Ägäis zu bereisen im Frühling, umhaucht von der leichten Brise; ich habe mir das Paradies niemals anders vorstellen können.
Hierauf erzählt Panos, dass die Inseln der Ägäis alle nur die Bergspitzen eines versunkenen Gebirges sind.
„Der Name Kykladen ist schon antik. Er bedeutet Ringinseln, von Kyklos (Ring, Kreis, davon lateinisch Cyclus). Gemeint ist: die rings um Delos liegenden Inseln. Später haben die hellenistischen Geographen die südlicheren Inseln, für die diese Erklärung nicht zutrifft, unter dem Namen Sporaden (Zerstreute Inseln) abgetrennt.
Ein Spezifikum von Kykladen und Sporaden ist die sogenannte Kykladenarchitektur. Ihre Kennzeichen sind kubische Formen, Flachdächer und schmale, verwinkelten Gassen. Hinzu kommen zahlreiche Kirchen (angeblich 365 auf jeder Insel), Windmühlen und Taubenhäuser. Diese weißen Häuser – nur die Teile aus Holz und die Kuppeln der Kirchen sind meistens blau – ohne dekorative Ornamente, weder gemeißelt noch gemalt, gelten als Archetyp einer minimalistischen ländlichen Architektur. Die weiße Farbe weist die Hitze ab. Frisches Weißeln nach den Regenfällen des Winters, zumal vor dem Palmsonntag ist geradezu kommunale Pflicht. Dann knien die Frauen sogar überm Straßenpflaster und ziehen die Kalkfugen zwischen den Marmorplatten mit dem Pinsel nach.
Der berühmte österreichische Architekt Adolf Loos hat 1902 auf seiner Hochzeitsreise die Kykladen bereist. Von da an kam er regelmäßig mit seiner Bauschule hierher, um die Kykladenarchitektur zu studieren und sich von ihr inspirieren zu lassen. Er war der erste Vertreter einer ornamentlosen Architektur. Später studierte auch der Schweizer Le Corbusier die Architektur der Inseln. So haben also die Kykladen die Architektur der funktionalistischen Moderne beeinflusst.“
Später erkennen wir, laut Panos, backbords am Horizont der Reihe nach die Inseln Kea und Kythnos und danach rechter Hand, also steuerbords, Seriphos und Siphnos. Gegen Mittag landen wir im Hafen von Paros, der Hauptstadt der gleichnamigen Insel, an der Stelle der antiken Hauptstadt Paros (die freilich eine wesentlich größere Ausdehnung hatte als der heutige Ort).
Bei einem gemütlichen Spaziergang durch dieses reizende Kykladenstädtchen stoßen wir an vielen Stellen auf Überreste aus der klassischen Antike. Sensationell finden wir jedoch die Burgmauer, die vom venezianischen Kastro übriggeblieben ist. Sie besteht nämlich unübersehbar aus antiken Marmorquadern und Säulentrommeln. Die größte Sehenswürdigkeit der Stadt liegt aber an ihrem Rand: die große Kathedrale Panagia Hekatontapyliani aus dem 5. Jahrhundert. Sie enthält frühchristliche Elemente wie Emporen (Gynaikeion, Frauenraum), Synthronon (theaterförmige Stufenreihen in der Apsis als Sitze für den Klerus mit dem Bischofsthron in der Mitte der obersten Reihe), Ciborium (Kuppelbaldachin über dem Altar auf vier antiken Säulen) und Baptisterium (Taufkapelle).
„Aber“, so eine scharfe Beobachterin nach der Besichtigung, „etwas fehlt: ein Glockenturm.“
„Richtig“, erwidert Panos lachend. „Aber die Glocken fehlen nicht. Sehen Sie? Dort hängen die Glocken. An diesem Baum.“
Uns bleibt noch Zeit für eine erste kurze Ausfahrt mit den Fahrrädern in Richtung Süden. Unser Ziel ist das Tal der Schmetterlinge, ein paradiesisch grünes Biotop in der sonst so kargen Landschaft, gespeist von einer sprudelnden Quelle auf dem Gelände. Nur, wo sind die Schmetterlinge? Ah, sie sitzen reglos auf den Bäumen und meditieren. Erst wenn sie aufflattern, kann man ihre schwarz-gelbe Farbenpracht bewundern.
Bevor wir wieder in unser schwimmendes Hotel zurückkehren, belohnen wir uns für unsere heutigen Mühen mit einem Bad an einem der schönen Sandstrände von Paros und später mit geruhsamem Schlendern durch die abendlichen Gassen.
Unsere Drahtesel tragen uns heute nach Osten, aber nur wenige Kilometer weit. In der Nähe eines Steinbruchs, in dem, wie man hören kann, fleißig gearbeitet wird, machen wir vor einer auffallend weißen Felswand halt, die von weitem wie schneebedeckt aussieht. Drei Stollen führen in sie hinein. Aber das ist natürlich kein Schnee, sondern?
Panos: „Marmor war von der Steinzeit bis zum 15. Jahrhundert die Quelle des Ruhms und des Reichtums von Paros. Aber in seiner feinsten Qualität wurde er in diesen Stollen hier bei Lampenschein unter dem Namen Lychnites (von Lychnos, Lampe) gewonnen und galt als bester Statuenmarmor der Welt. Das Licht durchdringt ihn so weit wie keinen anderen. Dies ist der Grund, warum Skulpturen aus Lychnites eine so magische Lichtwirkung haben.“
„Und jetzt wird er nicht mehr abgebaut?“
„Ach, viel zu teuer. Teuer war der parische Lychnites schon immer. Seit dem 6. Jahrhundert vor Christus war er ein begehrtes Baumaterial für die Bauten in allen großen Heiligtümern Griechenlands und wurde für kostbare Statuen bevorzugt.“
Von den Marmorsteinbrüchen ist es nur eine kurze Fahrt bis nach Leukes (sprich: Lefkes, Pappeln), einem reizenden Ort mit imposanter Kirche, der sich malerisch über einen Berghang ausbreitet. Im 17. und 18. Jahrhundert, als viele Inselbewohner aus Angst vor den Raubzügen der Piraten ins Landesinnere flohen, diente Lefkes als Hauptstadt von Paros.
Panos: „Paros hat eine kleine Schwester, die Insel Antiparos, von der großen Schwester nur durch eine schmale Meerenge getrennt. Amerikanische Filmstars haben sie inzwischen als Urlaubsort entdeckt.“
Also, auf zur kleinen Schwester! Während des Mittagessens steuert Kapitän Gerasimos den Hauptort von Antiparos nahe der Nordspitze der Insel an. Er heißt, große Überraschung, Antiparos und besitzt ein venezianisches Kastro. Hier besteigen wir unsere Räder. Unser erstes Ziel? Eine höchst eindrucksvolle Tropfsteinhöhle. Und unser zweites Ziel? Ein wunderschöner Badestrand.
Paros hat auch eine große Schwester: Naxos, die größte Insel der Kykladen. Dorthin setzen wir gegen Abend über.
Ehe wir in den Hafen der ebenfalls an der Westküste gelegenen Inselhauptstadt Naxos einlaufen, passieren wir ein Inselchen, auf dem das große Wunder von Naxos alle Ankommenden begrüßt: ein monumentales, sechs Meter hohes Tempeltor aus marmornen Monolithen aus dem 6. Jahrhundert vor Christus.
Die Panagiota legt an, und schon springen wir an Land und stürmen über einen Damm auf dieses Inselchen, um besagtes Tempeltor von der Nähe zu bewundern. Vom Tempel selbst sind nur noch die Fundamente aus Marmor erhalten. In frühchristlicher Zeit wurde in den Tempel eine Kirche eingebaut. Später diente die Ruine als Steinbruch. Trotzdem ist das Erhaltene durch die Pracht des Marmors, selbst in den Fundamenten, höchst eindrucksvoll, zumal wenn, wie jetzt gerade, die Sonne im Meer versinkt und nicht nur das Meer, sondern auch das Tor glühen lässt.
Als überaus reizvoll erweist sich im Übrigen auch in Naxos ein abendlicher Bummel durch die malerischen Gässchen, in denen Venedig viele Spuren hinterlassen hat. Auch hier krönt ein venezianisches Kastro den antiken Akropolishügel.
„Wieso muss ich seit gestern Abend“, bemerkt Panos schmunzelnd beim Frühstück, „ständig an Richard Strauss denken?“
„Ariadne auf Naxos“, rufen wir im Chor.
„Ach ja“, sagt er und greift sich (zum Spaß) auf den Kopf. „Hier ließ ja Theseus auf der Rückfahrt von Kreta nach Athen seine Geliebte Ariadne zurück.“
Den Tag beginnt ein Besuch des kleinen Archäologischen Museums im Bereich des Kastro vor allem wegen seiner Sammlung von Kykladen-Idolen aus dem 3. Jahrtausend vor Christus, der bedeutendsten nach der in Athen. Von ihren abstrakten Formen haben sich moderne Künstler wie Picasso oder Henry Moore inspirieren lassen.
Danach führt unsere erste Ausfahrt nach Osten, d. h. ins Landesinnere. Und wir staunen: Reich an Wasser ist die Insel der Ariadne, grün und fruchtbar ihre Täler, ungewöhnlich schön die Landschaft.
Auch Naxos ist eine Marmorinsel. Denn nach kaum einem Stündchen erreichen wir eine Region mit großen antiken Marmorsteinbrüchen. Und siehe da, wer schläft denn da im Schatten eines Paradiesgartens und wartet seit fast 2600 Jahren auf unseren Besuch? Es ist der kolossale (sechs Meter lange), aber unvollendete archaische Kuros von Phlerio, wie üblich unbekleidet, das rechte Bein auseinander gebrochen; die Füße fehlen überhaupt. Er hat einen gleich großen Bruder, den Kuros im Steinbruch von Phlerio. Um ihn zu besuchen, steigen wir ein Stück einen Berghang hinauf. Laut Panos liegt auch nahe der Nordspitze der Insel eine unvollendete Kolossalstatue, fast doppelt so lang wie dieser hier, aber bärtig und bekleidet. Übrigens besitzt die Insel einen weiteren Schatz, den Marmorbildhauer als Schleifmittel benötigen und den Naxos daher seit Urzeiten exportiert hat: Schmirgel.
Ein zweiter Ausflug führt uns nach Südosten, und da haben wir ständig die imposante Kulisse des Zeus vor uns.
„Kein Scherz, meine Lieben“, lacht Panos. „Zeus oder Zas (so nannte man den Göttervater in Olympia) heißt der höchste Gipfel von Naxos, 1004 Meter hoch.“
Und schon fast an seinem Fuß, am Ende eines langen, schmalen Wegleins, inmitten von Äckern, erhebt sich vor uns blendendweiß das zweite Wunder von Naxos: der Tempel von Sangri (ca. 530 vor Christus), „übrigens“, so Panos, „erst seit wenigen Jahren wieder. Er wurde in jahrzehntelanger Arbeit aus 1600 Fragmenten rekonstruiert, soviel eben noch vorhanden war; die Hälfte der Steine fehlte. Er bestand von den Fundamenten bis zu den Dachziegeln ausschließlich aus naxischem Marmor.
In Sangri selbst besichtigen wir die Kirche des heiligen Nikolaus und bewundern die prachtvollen Fresken aus dem 13. Jahrhundert. Und in der Nähe staunen wir über einen der imposanten venezianischen Geschlechtertürme von Naxos.
„Das sind eigentlich Burgen, in denen sich die feudalen Familien bei Gefahr in Sicherheit bringen konnten. 1207 eroberte der Venezianer Marco Sanudo die Kykladen und machte Naxos zum Sitz seines Herzogtums Archipelagos, auch Herzogtum Naxos genannt. Erst 1579 fiel es an das Osmanische Reich.“
Nach der Rückkehr in die Hauptstadt bleibt noch Zeit für ein genussvolles Bad an einem der endlosen, unsagbar schönen weißen Sandstrände der Insel.
Am späteren Nachmittag legt unsere Panagiota ab und nimmt Kurs nach Süden. Schließlich taucht vor uns die Insel Ios auf. Wir fahren entlang der Westküste, umrunden ein durch ein entzückendes Kirchlein ausgezeichnetes Kap und biegen in eine tiefe, fjordähnliche Bucht ein.
Dieses blendendweiße, formenreiche Kirchlein, so Panos – es besteht aus Kuben, Halbtonnen und einer ebenfalls weißen Kuppel, an der sich die Trittsteine für die Tüncher spreizen wie die Pistazienkerne auf einer Hochzeitstorte, und hat vorn und hinten je eine offenes Glockentürmchen – dieses Kirchlein ist der heiligen Irene (Irini) geweiht. Sie hält seit Jahrhunderten Wacht für die Fischer und Seeleute, die, besonders wenn die sommerlichen Meltemi-Stürme toben, hier Zuflucht suchen.
Je tiefer wir in die Bucht eindringen, ein umso hübscheres Landschaftsbild sehen wir vor uns: Im innersten Winkel das Hafenstädtchen, nein, Hafendörfchen Hormos (Ormos, Ankerplatz), umgeben von zahlreichen Hotels. Dahinter erhebt sich ein kegelförmiger Berg, an dessen Hang sich, mystisch beleuchtet von der untergehenden Sonne, in strahlendem Weiß die Chora schmiegt (Chora nennen die Griechen jeden Hauptort einer Insel) und dessen Gipfel ein Kirchlein krönt. Und sobald unsere Panagiota angelegt hat, stürmen wir an Land und hinauf in die lockende Chora, um diese zu erkunden. Nur Panos beschließt, der Crew Gesellschaft zu leisten. Und das hat Folgen. Denn die malerische, autofreie Chora ist ein Labyrinth aus schmalen Gässchen. Und da verlieren wir gar schnell die Orientierung. Ist aber halb so schlimm. Denn wir entdecken eine Menge Tavernen, Imbisse, Bars und Diskotheken. Und da fällt mir ein, dass Ios während der Sommermonate als Partyinsel bekannt ist.
Heute dirigiert Panos unsere Fahrradkarawane nicht zur Chora hinauf, sondern an ihr vorbei nur einen Kilometer weit bis zum auffallend runden Hügel von Skarkos. Auf ihm wurde erst kürzlich eine außergewöhnlich gut erhaltene bronzezeitliche Siedlung aus dem 3. Jahrtausend vor Christus ausgegraben.
Danach dirigiert er uns über Sträßchen, die sich durch eine bukolische Landschaft schlängeln und wo eine tolle Aussicht die nächste jagt, auf einen Hügel nahe der Nordküste mit Blick auf die Nachbarinsel Herakleia (Iraklia). Hier gibt es eine sensationelle Sehenswürdigkeit: das Grab Homers. (Damit ist natürlich keine Zeichentrickfigur gemeint, sondern der „Vater“ der abendländischen Literatur.) Tatsächlich finden sich hier die (wenig beeindruckenden) Ruinen von Grabanlagen aus der Zeit des Hellenismus, Jahrhunderte nach Homer, und eine davon ist (auf Englisch) als Grab Homers beschrieben.
Zuletzt kommt die Chora dran. Hier führt uns Panos an Plätze, die wir gestern Abend glatt übersehen haben: Erstens nicht weniger als zwölf alte Windmühlen, die wie Gardesoldaten in Reih und Glied stehen. Und zweitens, in den Hang geschmiegt, ein kleines, nagelneu aussehendes griechisches Theater aus weißem Marmor mit kreisrunder Orchestra, aber ohne Skene (Bühne). Es ist wirklich neu, wurde 1997 eingeweiht und heißt nach seinem Schöpfer, dem berühmten Dichter und Träger des Literaturnobelpreises 1979 Odysseas Elytis. Seither werden die meisten kulturellen Events von Ios hier ausgetragen, vor allem das Festival Homeria, das seit 1991 jährlich in der ersten Maihälfte stattfindet und international beachtet wird.
Von hier erreichen wir in kurzer, rasanter Talfahrt unser letztes Ziel auf Ios: Einen der schönsten Sandstrände Griechenlands.
Ja, aber nur allzu bald heißt es heimkehren in unser Schifflein. Schon mitten am Nachmittag verlassen wir Ios, setzen, begleitet von springenden Delphinen, durch die Meerenge zwischen Ios und Sikinos unsere Inselreise nach Süden fort und erreichen eine Stunde später die südlichste Kykladeninsel, zugleich die berühmteste und ungewöhnlichste Insel der Ägäis, denn sie unterscheidet sich von allen anderen grundlegend.
Santorin.
Schon das Nahekommen ist ein überwältigendes Erlebnis: Man durchfährt eine Meerenge zwischen zwei Inseln, rechts Therasia (Thirasia) und links die 300 Meter hohe, nackte, zerklüftete Steilwand von Santorin selbst, schwarz, rot und weiß.
Panos: „Schwarz ist Lava, rot ist Tuff, weiß ist Bimsstein. Was wir hier sehen, ist der Kraterrand eines Vulkans. Denn Santorin war einst ein 2000 Meter hoher, kreisrunder Vulkanberg, an dessen Hängen Menschen siedelten und Kretas minoische Kultur übernahmen. Ca. 1450 vor Christus zerbarst er in einer der gewaltigsten Naturkatastrophen, riss sie in Stücke und bedeckte sie mit einer bis zu 60 Meter hohen Bimssteinschicht. Die Eruption muss einen ungeheuren Tsunami ausgelöst haben, der nach Auffassung mancher Wissenschaftler die minoische Kultur auch auf Kreta selbst auslöschte. In den tiefen Einsturzkessel, der damals entstand, ergoss sich das Meer und bildete die Caldera, das Binnenmeer zwischen den beiden heutigen Inseln. In seinem Zentrum führten neue Ausbrüche in historischer Zeit zur Bildung zweier Vulkaninselchen.“
Nun befinden wir uns also in der Caldera und können links die hohe Kraterwand und darüber die wie Adlerhorste thronenden makellos weißen Siedlungen bestaunen, während wir die Nordküste der Vulkaninsel Nea Kameni (Neue Verbrannte) ansteuern. Und in einer kleinen Bucht, in der schon mehrere Jachten vor Anker liegen, landen wir und betreten Land, das erst in der Neuzeit aus der Tiefe des Erdinneren emporgestiegen ist und seine heutige Gestalt zuletzt 1953 erhalten hat. Es ist eine richtige kleine Bergtour, aber auf einem aus erstarrter schwarzer Lava bestehenden Berg, und ihr Ziel ist der Hauptkrater, und aus Rissen im Lavagestein steigen heiße Schwefeldämpfe auf, und man könnte glauben, der jüngste Tag sei angebrochen.
Nach der Rückkehr zur Panagiota steuert Kapitän Gerasimos eine noch kleinere Bucht an, legt aber nicht an. Denn die Bucht ist voll von Schwimmern, und nahe dem Ufer ist das Wasser nicht blau, sondern rötlich-braun. Warum, wissen wir inzwischen.
Panos: „Rund um die Vulkaninsel entspringen heiße Quellen, und ihrem schwefelhaltigen Wasser sagt man therapeutische Eigenschaften nach. Und da diese Quellen in dieser Bucht besonders stark sind, ist das Baden hier sehr beliebt. Übrigens, in einer Bucht der Nachbarinsel Palaia Kameni, der Alten Verbrannten, kann man sich sogar in heißem Schlamm wälzen.“
Also springen auch wir ins kalte Wasser und stellen fest: Je näher man dem Ufer kommt, desto wärmer wird es.
Die Panagiota hat inzwischen am Kai des neuen Fährhafens Athenios (Athinios) angelegt. Hier gehen wir mitsamt unseren Rädern an Land und müssen erst einmal auf gezählten acht Serpentinen die Kraterwand überwinden. Der Lohn der Müh‘ folgt auf dem Fuß: Uns erwartet ein atemberaubender Blick auf das tiefblau leuchtende Meer unter uns, auf die zwei „Verbrannten“ und den übrigen Archipel, der vom vorzeitlichen Vulkan übriggeblieben ist.
„Das ist der schönste Panoramablick der Welt“, kommentiert unser Ältester. (Und der muss es wissen.)
Eine Genussfahrt entlang dem Kraterrand bringt uns in den Hauptort Pherá (Phirá). Offiziell heißt er Théra (Thíra) wie auch die Insel selbst.
„Dies“, so Panos während einer Rast- und Bewunderungspause vor Hagios Menas (Minas), der meistfotografierten Kirche der Insel, „ist der antike Name der Insel. Phira ist eine türkische Verballhornung von Thira. Die Türken können nämlich kein griechisch-englisches TH aussprechen und machen daraus ein F. Außerdem betonen sie normalerweise auf der letzten Silbe.“
„Und der Name Santorin?“
„Ja, vor der Türkenherrschaft gehörte die Insel zum venezianischen Herzogtum Naxos. Und die Venezianer nannten die Insel zunächst Santa Irini nach einer der heiligen Irene geweihten frühchristlichen Kirche, und daraus wurde mit der Zeit Santorini. Nach der Befreiung von der Türkenherrschaft erhielt die Insel wie viele Orte wieder ihren antiken Namen, nur dass der mittelalterliche Name hier noch immer fortlebt.“
Schließlich spazieren wir staunend durch die schmalen, verwinkelten Gassen zwischen den schneeweißen Häusern von Thira-Phira über dem schwarzen Kraterrand, vorbei an den zumeist „shoppenden“ Passagieren eines Kreuzfahrtschiffes, das inmitten der Caldera vor Anker liegt. Sie wurden in den winzigen alten Hafen Skala (Landeplatz) direkt unterhalb von hier ausgebootet.
„Und wie kommen die herauf und wieder hinunter?“
„Auf einem steilen Treppenweg, entweder zu Fuß oder auf dem Rücken störrischer Maulesel oder, seit 1979, in einer Seilbahn. Phira ist, wie Sie sehen, eine typische Kykladenstadt, allerdings mit einer Besonderheit. Santorin ist nämlich praktisch baumlos. Deshalb werden die auf anderen Inseln vorkommenden Dachkonstruktionen hier durch Tonnengewölbe ersetzt.“
Zwei Gebäude, stellen wir fest, überragen alle anderen: Die imposante und, vor allem im Inneren, prachtvolle Kathedrale mit ihrer hohen Kuppel und, jawohl, einem richtigen Turm, erbaut erst nach dem verheerenden Erdbeben von 1956 und trotzdem getreu dem uralten byzantinischen Kanon. Und, gleich daneben, ein hoher Kasten, die Fassade geprägt durch lange Reihen von Rundbögen: das Traditionshotel Atlantis (was Panos zu einem Minivortrag über den platonischen Mythos von Atlantis veranlasst).
Ein hypermoderner Bau in unmittelbarer Nähe erweist sich als das Prähistorische Museum. Es enthält Funde aus der Zeit vor dem katastrophalen Vulkanausbruch, so vor allem aus der verschütteten und dadurch wie Pompeji konservierten minoischen Stadt, die seit 1967 ausgegraben wird. Und da wir sie morgen besuchen wollen, ist dieser Museumsbesuch eine wunderbare Vorbereitung darauf. Vor allem sehen wir hier alle die Gegenstände, die in situ nicht mehr zu sehen sind, am eindrucksvollsten die Wandmalereien, soweit sie nicht nach Athen gekommen sind. Sie zeigen neben dekorativen Ornamenten vor allem Szenen und Motive aus dem Leben der Menschen. Faszinierend auch ein Steinbock- oder Ziegenidol aus Gold. Nicht sehr spektakulär, aber aufschlussreich sind mehrere mit der noch nicht entzifferten Linear-A-Schrift beschriebene Tontafeln.
Dieses Museum hat das Archäologische Museum mit seinen Funden aus der klassischen Antike ein wenig in den Hintergrund gedrängt. Aber ehrlich gesagt, es ist genauso sehenswert. Was die Herren der Schöpfung wohl besonders begeistert, das ist eine herrliche, leider kopflose nackte Aphrodite aus weißem Marmor, eine Schwester der Venus von Milo.
Danach radeln wir weiter entlang dem Kraterrand mit seinen phantastischen Fernblicken bis zum nordwestlichen Ende der halbmondförmigen Insel. Hier entzückt das Dörfchen Oia (Ia) Auge und Seele des Besuchers. Alle finden, dass es noch weit hübscher ist als Phira. Und dass der schon im Altertum berühmte Wein von Santorin, z. B. der Vinsanto, hier noch weit besser mundet.
Zurück auf demselben Weg und durch Phira, machen wir, bevor wir zum Hafen Athinios und zur Panagiota hinuntersausen, noch einen kleinen Umweg, um eine weitere Perle unter den Dörfern Santorins zu besuchen. Das ist Pyrgos, ebenfalls ein sehenswertes Kykladendorf mit einer überaus hübschen Kirche und einem venezianischen Kastro.
Und da wir noch immer genügend Zeit und Kraft haben, wird aus dem kleinen ein großer Umweg zum ungewöhnlichen Kirchlein Hagios Nikolaos Marmarites (aus Marmor errichtet). Ungewöhnlich ist es, weil unverputzt und zur Gänze, inklusive Dach, aus grauem Marmor bestehend. Und ungewöhnlich ist es vor allem, weil dies eigentlich ein hellenistisches Grabmonument aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert in Form eines kleinen Tempels ohne Säulenumgang, aber mit ionischen Säulchen im Inneren ist.
Wieder quälen wir uns die acht Serpentinen auf den Kraterrand hinauf, radeln von dort aber im Gegensatz zu gestern geradeaus weiter in den Badeort Kamari an der flachen Ostküste mit ihrem breiten schwarzen Sandstrand und am Fuß des höchsten Berges von Santorin, des Prophetes Elias (Prophitis Ilias, benannt nach dem gleichnamigen Kloster auf seinem Gipfel). Und da wir eine richtige Bergtour vorhaben, lassen wir die Räder stehen und machen uns zu Fuß auf den Weg. Nur eine unserer Damen zieht es vor, das Angebot der Eseltreiber anzunehmen und auf einem Esel zu reiten. Wir wollen nämlich die antike Stadt Thera (die Touristiker nennen sie Alt-Thera) besichtigen. Und diese zieht sich in unvergleichlich großartiger Lage über einen bis zu 366 Meter hohen und nach drei Seiten steil abfallenden Felsrücken hin. Es ist der Gipfel eines Ausläufers des Prophitis Ilias.
Wir stellen fest, dass Thera eine wunderschöne Ausgrabung ist. Erhalten sind ausgedehnte Reste: Straßen, Privathäuser, Amtsgebäude, Tempel, Zisternen, Thermen, Gymnasion, Theater und dergleichen mehr, obwohl vieles den mittelalterlichen Kalköfen zum Opfer gefallen ist. Überdies findet man zahlreiche Felsreliefs und Inschriften vor allem aus archaischer Zeit.
Panos: „Übrigens liest man überall in den Führern von der archaischen Stadt Thera. Das ist Unsinn. Oder zumindest irreführend. Fest steht, dass das Erhaltene fast ausnahmslos aus nacharchaischer Zeit stammt, also erst nach den Perserkriegen entstanden ist. Besondere Bedeutung hatte Thera nicht – mit einer Ausnahme: Von hier aus wurde die bedeutende Kolonie Kyrene in Libyen gegründet. Aus Kyrene stammte der berühmte Mathematiker und Geograph Eratosthenes (3. Jahrhundert vor Christus), der zum ersten Mal in der Weltgeschichte den Erdumfang berechnet hat, übrigens nahezu exakt. Ebenso der aus der Bibel bekannte Simon von Kyrene (die Theologen nennen die Stadt Cyrene), der das Kreuz des verurteilten Jesus trug.
Zurück in Kamari, besteigen wir wieder unsere Drahtesel und fahren zurück auf den Kraterrand der Westküste und dort diesen entlang nach Südwesten bis zum letzten Dorf nahe dem südwestlichen Kap. Es heißt Akroterion (Akrotiri, Kap) und ist neuerdings hochberühmt, weil in seiner Nähe jene durch den prähistorischen Vulkanausbruch verschüttete Stadt ausgegraben wird, die man in Unkenntnis des originalen Namens einfach Akrotiri nennt. Voller Neugier kommen wir an und sehen zunächst keine Ausgrabungen vor uns, sondern ein großes, aber niedriges Gebäude – ein Schutzdach, wie sich herausstellt.
Hier führt uns Panos durch eine überraschend gut erhaltene Stadt der Bronzezeit. Ihre Anlage unterscheidet sich kaum von den heutigen Siedlungen der Insel. Wir gehen durch schmale, gepflasterte Gassen, die sich da und dort zu kleinen unregelmäßigen Plätzen weiten.
Panos: „Unter dem Pflaster verbirgt sich die Kanalisation, die direkt mit dem Abwassersystem in den Häusern verbunden ist. Die bisher ausgegrabenen Häuser stehen bis zum dritten Stockwerk aufrecht und waren einst vielleicht vier Stockwerke hoch. Die Fenster waren nicht verglast, konnten aber mit hölzernen Läden geschlossen werden. Von hier stammen also die herrlichen Fresken, von denen wir gestern einige im Museum gesehen haben. Jedes Wohnhaus hatte mindestens einen ausgemalten Raum. Im Prähistorischen Museum konnten wir gestern Möbel aus Holz bestaunen. Dabei ist das Holz selbst längst verschwunden. Aber seine Negativformen waren in der hart gewordenen Asche erhalten geblieben und konnten durch Ausgießen mit Gips rekonstruiert werden. So erhielt man Tische, Stühle und Gestelle mit sichtbaren Resten des Geflechts zum Auflegen der Matratze. Sie gelten als die ältesten Betten Europas. So erlaubt also der exzellente Erhaltungszustand der Ruinen Einblicke in die Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Bronzezeit in der Ägäis.“
Tief beeindruckt, kehren wir aus der Bronzezeit zurück in die Gegenwart. Und was nun? Panos weiß Rat: Von hier sind es mit dem Fahrrad nur zwei, drei Minuten bis zum schönsten Badestrand Santorins, dem Roten Strand an der Südküste. Und auch wer nicht baden möchte, sollte ihn zumindest gesehen haben.
Und ja, Panos hat nicht übertrieben. Der Rote Strand liegt am Fuß hoher und auffallend roter Felsen, und auch der Strand selbst ist mit roten Kieseln übersät – ein großartiger Kontrast zum türkisblauen Meer.
Und dies ist das Ende unserer wunderbaren Reise durch die Zauberwelt der Kykladen. Doch zuerst gibt es noch quasi ein Letztes Abendmahl an Bord, ein geselliges Beisammensein gemeinsam mit der braven Crew und einen letzten kleinen Vortrag von Panos. Thema: Der Sirtaki.
„Es ist wohl nicht übertrieben, beim Sirtaki (eigentlich Syrtaki, abgeleitet vom Volkstanz Syrtos) von gelebter Alltagsmagie der griechischen Volkskultur zu sprechen. Dabei gibt es ihn erst seit 1964. Seine Schrittfolge wurde erstmals zur Filmmusik von Mikis Theodorakis für den Film Alexis Sorbas nach dem gleichnamigen Roman von Nikos Kazantzakis choreographiert. Aber durch den Film wurde der Sirtaki zum Inbegriff des griechischen Tanzes.“
Allmählich löst der Retsina oder auch der Ouzo die bisherige Zurückhaltung unserer Crew. Und dann springen sie und Panos wie auf Kommando auf, legen einander die Arme um die Schultern und beginnen zum allgemeinen Gaudium Sirtaki zu tanzen. Ihr Beispiel macht auch unter uns Gästen Schule, und so endet der Abschlussabend in überschäumender Fröhlichkeit.
Eine Nacht dürfen wir noch in unseren Kojen schlafen. Morgen in aller Herrgottsfrüh geht es zurück nach Athen. Und dort müssen wir ein Flugzeug besteigen und den uns inzwischen lieb gewordenen Panos, die brave Crew und das gastliche Griechenland verlassen.
Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Stift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.
Texte: Karl Plepelits
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Cover: Santorini Sunset: Von Andreas Winter - Imported from 500px (archived version) by the Archive Team. (detail page), CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71341314
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2019
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