14. September 1994
„He, da geht’s ja zu wie beim Franzl Schubert – ich meine, in einem seiner Lieder, wo es heißt: Lachen und Weinen zu jeglicher Stunde. Und das ist angeblich neuerdings typisch für dich. Sagt deine Schwester. Und so viel reifer sollst du geworden sein.“
Ein verschworenes Häuflein von sechs jungen Freunden hat sich wie immer nach den großen Ferien des Jahres 1994 versammelt und tauscht die Erlebnisse der vergangenen zwei Monate aus. Fünf von ihnen, nämlich Stefan, Markus, Peter, Paul und Alexander, besuchen das Klagenfurter Akademische Gymnasium und haben soeben die höheren Weihen der Abschlussklasse empfangen, sprich: den ersten Unterrichtstag hinter sich. Nur Wolfgang, von seinen Freunden meist liebevoll Amadeus genannt, besucht die Klagenfurter Handelsakademie.
Der Ort ihrer Versammlung ist ein niedriger Bergrücken nahe dem durch seine Ausgrabungen berühmten Magdalensberg, nur wenige Kilometer nordöstlich von Klagenfurt, und zwar eine kleine Mulde, die Markus ausgesucht hat. Er findet sie erst nach längerer Suche, und nun passiert Unerwartetes: Er wird knallrot, beginnt zu kichern und bricht in einen sagenhaften Lachkrampf aus, falls es sich nicht um einen Weinkrampf handelt. Lässt sich nicht immer genau unterscheiden.
Und da tut Paul den bereits erwähnten Ausspruch: „He, da geht’s ja zu wie beim Franzl Schubert – ich meine, in einem seiner Lieder, wo es heißt: Lachen und Weinen zu jeglicher Stunde. Und das ist angeblich neuerdings typisch für dich. Sagt deine Schwester. Und so viel reifer sollst du geworden sein.“
Und Peter: „Ja, aber der Stefan auch.“
Und Amadeus: „Da müssen die zwei aber Aufregendes erlebt haben.“
Und Stefan, ebenfalls errötend: „Haben wir.“
Und Markus, inzwischen ruhiger geworden: „Ja, Stefan und ich, wir haben eine gemeinsame Ferienreise gemacht. Ihr wisst sicher noch, dass wir in früheren Ferien miteinander Sprachreisen nach England gemacht haben, um unsere Englischkenntnisse aufzumöbeln. Daraufhin fanden wir, dass wir so was eigentlich auch für Latein bitter nötig hätten. Nur, was tut man in so einem Fall?“
Und Amadeus, der selbst schon lange nicht mehr Latein lernt: „Zu den alten Römern fahren.“
Und Markus: „Du hast es erraten.“
Und nun bleibt den anderen zunächst die Spucke weg. Danach fallen sie über Markus und Stefan her, erst nur mit Worten, schließlich aber sogar mit den Fäusten – wohlgemerkt, nicht allzu heftig. Aber groß ist die Empörung, dass sie ihre jährliche Ferienbesprechung zu Jux und Tollerei missbrauchen.
Sobald sich der kleine Tumult gelegt hat, beginnt Markus mit eindringlicher Stimme: „Hört zu. Die letzten Sommerferien verbrachten wir, wie gesagt, in England. Dort fand Stefan in einer Buchhandlung ein Buch, das zuerst ihn und dann auch mich total faszinierte: The Time Machine. Darin wird von einer aufregenden Erfindung aus der Zeit um 1900 berichtet: Ein englischer Physiker entdeckte damals, dass die Zeit in Wirklichkeit nur eine vierte Dimension des Raumes ist und es daher möglich sein müsste, in ihr Reisen zu unternehmen, ebenso wie es möglich ist, sich in den übrigen drei Dimensionen fortzubewegen. Tatsächlich konstruierte dieser Physiker eine solche Maschine, die für Reisen in der Zeit geeignet war und mit der er selber in die ferne Zukunft reiste.
Das brachte uns auf die Idee, selber eine Zeitmaschine zu bauen und nicht in die ferne Zukunft, sondern in die Vergangenheit zu fahren. Jawohl, Amadeus, zu den alten Römern.
Nun aber sind mit einer Zeitreise, wie mit jeder Reise, Gefahren verbunden. Auf einige davon machte uns zum Glück das erwähnte Buch aufmerksam. So ist es beispielsweise keineswegs sicher, dass der Zeitreisende am Ziel seiner Reise dieselben topographischen Verhältnisse antrifft. Im Gegenteil, man weiß ja, dass sich das Bodenniveau seit der Römerzeit normalerweise gehoben hat. In einem solchen Fall wäre also ein unsanfter Absturz die Folge. Oder, noch schlimmer, der Zeitreisende würde inmitten einer Mauer stecken. Aber auch wenn nichts dergleichen passieren sollte, so lauern doch noch weitere Gefahren, zum Beispiel die, welcher der englische Zeitreisende zum Opfer gefallen ist: Seine Zeitmaschine ist ihm in seiner Abwesenheit versteckt worden. Schließlich kann und will man sie doch nicht überallhin mitnehmen. Er hat sie übrigens wieder gefunden, und zwar unbeschädigt. Aber was wäre gewesen, wenn er sie, sagen wir, stark beschädigt oder gar nicht mehr gefunden hätte? Auch erwähnt der Bericht die Unannehmlichkeit, dass die rasante Aufeinanderfolge von Tag und Nacht während einer Zeitreise für die Augen extrem schmerzhaft ist.
Für alle diese Gefahren und Unannehmlichkeiten haben wir eine gemeinsame Abhilfe gefunden: eine Höhle. Wir haben ja gelernt, dass die Formen, die man in Höhlen vorfindet, weit über 100.000 Jahre lang unverändert geblieben sein können, dass infolge der ewigen Dunkelheit, der kaum wechselnden Temperaturen und des fast totalen Fehlens von Leben in den Höhlen die Zeit stillzustehen scheint. Schauhöhlen, in denen Tag für Tag Massen von Besuchern durchgeschleust werden, wären für unser Unternehmen natürlich nicht geeignet gewesen, ganz abgesehen von der zusätzlichen Schwierigkeit, dass am Eingang Eintritt gezahlt werden muss, und so weiter. Aber gewöhnliche Höhlen ... Na, und da haben wir eben zum Glück ganz in der Nähe eine für unsere Zwecke geradezu ideale Höhle entdeckt. Ihr kennt doch sicher alle den Lamprechtskogel dort drüben.“
Markus zeigt in östliche Richtung.
„Stefan wusste, dass es in ihm eine ziemlich große Höhle gibt. Sie weist aber keine Besonderheiten auf, sodass sie kaum bekannt ist. Dazu kommt, dass es die Menschen der Umgebung von alters her aus abergläubischer Scheu vermieden haben, sie zu betreten. Sie glauben nämlich, dass übernatürliche weibliche Wesen in ihr leben. Aber das Beste kommt erst. In einer Art Seitennische entdeckten wir auf dem Boden die Überreste eines offensichtlich sehr alten menschlichen Skeletts und gleich daneben an einer besonders glatten Stelle der Felswand, ungefähr anderthalb Meter über dem Boden, eine lateinische Inschrift, die uns in ihrer Art sofort an die römischen Inschriften erinnerte, die uns aus dem Parkmuseum in Klagenfurt bekannt waren. Damit besaßen wir also einen schlagenden Beweis, dass sich die örtlichen Verhältnisse zumindest seit der Römerzeit nicht verändert hatten.
Diese Seitennische in der Höhle im Lamprechtskogel haben wir als die Stätte unserer geplanten Zeitreise ausersehen. Das war zu Beginn des letzten Schuljahres. Und sobald wir uns darauf geeinigt hatten, machten wir uns mit Feuereifer ans Werk. Dabei mussten wir natürlich noch zusätzlich darauf achten, dass unser Vorhaben geheim bleibt, und vor allem, dass unsere Eltern nichts merken.
Im Juni war alles fertig, und nun wurde es Zeit für die organisatorischen Vorbereitungen. Für unsere Familien mussten wir uns eine plausible Erklärung unserer Abwesenheit ausdenken. Wir gaben vor, durch Italien und Südfrankreich radeln und bei Bedarf Gelegenheitsjobs annehmen zu wollen. Gottseidank fielen sie darauf herein, und danke, lieber Paul, und danke, lieber Peter, dass ihr unsere im Voraus besorgten und beschriebenen Postkarten aus Florenz und Nizza, ohne Fragen zu stellen, übernommen und am richtigen Ort aufgegeben habt.
Dann brauchten wir nur noch eine Römertoga. Wir hatten nämlich keine Lust, so wie der englische Zeitreisende in der Tracht unserer Zeit auf die Zeitreise zu gehen und uns dann wie Wundertiere groß bestaunen zu lassen.“
„8. Juli. Letzter Schultag. Zum Schein hatten wir am Vorabend unsere Rucksäcke und Fahrradgepäcktaschen gepackt, brachten nach der Zeugnisverteilung unsere zum Glück halbwegs positiven Zeugnisse nach Haus und radelten gemeinsam zum Lamprechtskogel. An dem im Wald versteckten Höhleneingang angekommen, machten wir sozusagen letzte Rast ‘in der Gegenwart’ und nutzten diese Gelegenheit auch gleich dazu, uns umzuziehen: Wir ersetzten unser sämtliches Gewand durch die eine Toga und unsere Schuhe und Socken durch Sandalen. Dann hängten wir uns die Taschenlampen an einer eigens dafür angebrachten Schnur um den Hals, stopften alles, auch unsere Uhren, in die Rucksäcke, packten unsere Räder und trugen sie in die Höhle und hinunter zur Seitennische, wo unsere Maschine auf uns wartete.
Wir saßen auf, Stefan vorn, ich hinten. Das war längst ausgemacht. Der Computer war längst programmiert auf exakt 2000 Jahre minus. Stefan löschte seine Taschenlampe und legte sie auf den Boden. Während ich ihm mit meiner leuchtete, drückte er zuerst auf die Energietaste und dann auf die Starttaste. Darauf löschte ich meine Taschenlampe und warf sie auf den Boden.
Totale Finsternis. Totale Stille. Ein unbeschreibliches Gefühl, etwa wie auf einer Rutschbahn, oder besser so, wie wenn man auf einem Schlitten über eine gut ausgefahrene, leicht eisige Schlittenbahn zu Tal rast, aber bei sehr guter Schneelage, das heißt, ohne das Poltern, das sich einstellt, wenn man über Steine saust, die aus dem Schnee ragen. Es war überhaupt nicht unangenehm, im Gegenteil. Ich glaube, euphorisch nennt man einen solchen Zustand, wie eben bei einer herrlichen Schlittenfahrt.
Aber dann war diese Euphorie auf einmal wieder vorbei, und da wusste ich: Die Reise ist zu Ende, und dachte etwas enttäuscht: Was, schon aus? Genau wie bei einer Schlittenfahrt: Um den Schlitten zu ihrem Ausgangspunkt hinaufzuziehen, braucht man Stunden, und die Abfahrt selber dauert dann vielleicht eine halbe, Dreiviertelstunde, aber den Schlittenfahrern kommt es am Ende vor, als hätte sie höchstens fünf Minuten gedauert.
Also: Endstation! Wir waren am Ziel. Und wie sah das Ziel aus? Nun, das war eben die Frage. Es war natürlich nach wie vor stockfinster. Aber uns machte das nichts aus; wir kannten ja unsere Höhle wie die eigene Westentasche – das heißt, falls sich in der Zwischenzeit nichts Gravierendes verändert hatte. Unsere allererste Aktion war demnach, die Seitennische sorgfältig abzutasten. Und? Ja, also unsere Fahrräder waren verschwunden, unsere Rucksäcke waren verschwunden, vom Skelett keine Spur. Aber ansonsten schien alles unverändert. Ich wandte mich wieder unserer Maschine zu. Ich befingerte sie sorgfältig, ertastete die Batterie und hängte sie ab.
Danach: Aufstieg zum Ausgang der Höhle. Dort angelangt, standen wir geblendet im Freien und atmeten tief die frische, warme Sommerluft ein – römische Sommerluft? Hatte sich etwas verändert? Nun, das Gras schien tatsächlich kürzer zu sein als zuletzt, aber abgesehen davon waren keine Veränderungen festzustellen. Oder doch? Waren das dieselben Bäume wie zuletzt? Und das Gebimmel der Kuhglocken – war es dasselbe wie zuletzt? Waren wir nun im Jahre 1994 oder im Jahre 6 vor Christus? Wir wussten nicht, was wir glauben sollten, taten aber sehr sicher und redeten miteinander geradeso, als ob wir das alles schon Dutzende Male erlebt hätten.
‘Willkommen im Königreich Noricum!’, deklamierte Stefan feierlich. ‘Willkommen im imperium Romanum! Jetzt ist es ja schon einige Jahre her, dass Noricum von den Römern auf friedlichem Weg annektiert worden ist und der römische Kaiser Augustus sich zum Nachfolger des letzten norischen Königs erklärt hat.’
Wir wussten, dass wir in ein friedliches Land, in eine friedliche Zeit gekommen waren. Wir wussten auch, wohin wir gehen würden, nämlich in die nahegelegene Hauptstadt des Königreiches Noricum da oben.“
Markus zeigt auf die Gipfelkuppe des nahen Magdalensberges.
„Ihr erinnert euch garantiert an die vielen Werkstätten, die dort von den Ausgräbern aufgedeckt worden sind. Dort wollten wir uns eben um irgendeinen Job umschauen. Eines der Probleme bei unserer Art von Ferien besteht ja darin, dass wir nicht einfach zur nächsten Bank gehen können, um unsere Schillinge in Denare, Sesterzen und Asse umzuwechseln.
Wir hatten beschlossen, uns als zwei germanische Jünglinge auszugeben, die unterwegs nach Rom seien, um die lateinische Sprache und die römische Kultur kennen zu lernen. Wir hatten uns sogar schon germanische Namen ausgedacht, und zwar die einzigen antiken germanischen Namen, von denen wir je gehört hatten, nämlich Ariovist für Stefan und Armin für mich.
Während wir unschlüssig herumstanden und römische Sommerluft einzuatmen hofften, hörten wir’s unverhofft donnern und erschraken wir nicht schlecht über einen solchen Empfang. Also rafften wir uns auf und sausten den Berghang hinunter, so schnell es eben diese verdammten Sandalen erlaubten. Und dann kamen wir auf dem Talboden an und traten aus dem Hochwald heraus und blieben wie angewurzelt stehen. Da, wo sich heute das Dörfchen Waisenberg befindet, stand jetzt nur ein einzelnes Gehöft. Und auch sonst schien uns die Landschaft in zahlreichen Einzelheiten verändert.
Aber was uns besonders stutzig machte, das war die veränderte Jahreszeit. Zwar war es sommerlich warm, keine Frage. Aber an der Vegetation erkannten wir, dass wir mitten im Frühjahr gelandet waren. Hatte unser Computer versagt? Wir hatten ihn doch auf exakt 2000 Jahre minus programmiert. Wir hatten demnach erwartet, am 8. Juli des Jahres 6 vor Christus anzukommen.
Ein ohrenbetäubender Donnerschlag riss uns aus unseren Überlegungen und veranlasste uns, zurückzublicken. Über dem Lamprechtskogel kamen drohend schwarze Gewitterwolken hervor. Was tun? Neue und zunehmend heftige Donnerschläge. Die schwarzen Wolken kamen rasch näher. Da hörten wir aufgeregte Stimmen, und als wir in die Richtung schauten, wo diese herkamen, sahen wir vor dem erwähnten Gehöft mehrere Menschen uns zuwinken und zurufen. Da nahmen wir die Beine unter die Arme und rannten, was das Zeug hielt – und nicht zu früh; denn wir hatten kaum das rettende Obdach erreicht, da brach das Unwetter auch schon los, und der Himmel öffnete seine sämtlichen Schleusen.
Aber o Schreck! Befanden wir uns überhaupt in der Römerzeit? Die Leute schauten ja gar nicht aus wie Römer. Sie hatten lange Kleider in poppigen Farben an, und die Männer trugen enge Hosen. Und dagegen wir mit unserer weißen Toga! Was für ein Kontrast!
Mit tiefen Bücklingen und freundlichen Reden hießen sie uns eintreten, offenbar in ihre gute Stube, aber wir verstanden nicht ein Wort davon und dachten, wozu haben wir jetzt fünf Jahre Latein gelernt, und überhaupt, wie soll das mit uns weitergehen, wenn wir uns gar nicht verständigen können? Und ich erinnerte mich an meinen ersten Englandaufenthalt, und wie ich damals ebenfalls fast nichts verstanden hatte. Aber immerhin: Fast nichts, und die Sprache hatte ich durchaus als Englisch erkannt. Hier dagegen ...
Doch an diesem Punkt wurden meine Überlegungen durch ein noch überraschenderes Ereignis jäh unterbrochen. Denn kaum waren wir in die gute Stube eingetreten und hatten uns auf Geheiß eines würdevollen Opas auf eilig abgestaubte und unter unseren Allerwertesten gerückte Stühle gesetzt, da ließen sich alle wie auf Kommando mit einem lauten Plumps vor uns auf den Bauch fallen, sodass wir Mühe hatten, uns das Lachen zu verbeißen, und schienen uns wie zwei Götter anzubeten.
Da wurde uns klar, wie wir auf sie gewirkt haben müssen – durch unsere Aufmachung, durch den Zeitpunkt unseres Erscheinens genau bei Ausbruch eines Gewitters und durch unser Auftauchen am Fuß des Lamprechtskogels unterhalb der Höhle: wie Götter eben. Vermutlich glaubten also auch sie, dass die Höhle von irgendwelchen übernatürlichen Wesen bewohnt sei. Dieser Gedanke erfüllte uns, ehrlich gesagt, mit einer gewissen Genugtuung. Schließlich hatten wir ja unsere Zeitmaschine in ihr zurückgelassen, und es war uns natürlich weit lieber, sie durch den Aberglauben der Umwohnenden geschützt zu wissen, als damit rechnen zu müssen, dass sich irgendwelche Besucher der Höhle an ihr zu schaffen machen könnten.
Aber alles recht und schön. Nur, was macht man konkret in einer solchen Situation? Stefan glaubte einen Ausweg zu finden, indem er eine Donnerpause ausnutzte, um sein schönstes Latein hervorzukramen und kurz und bündig zu verkünden: ‘Germani sumus’, also: ‘Wir sind Germanen’. Und diesen Satz wiederholte er mehrmals. Da verstummten die immer noch vor uns auf dem Bauch liegenden Beter, und derselbe Opa, der uns vorhin eingeladen hatte, auf den Stühlen Platz zu nehmen, flüsterte mit einem in seiner Nähe liegenden Bürschchen, und dieses gab im selben Flüsterton eine Antwort, in der ich das Wort Germani ausmachen konnte. Daraufhin redete er uns an, und die ganze Versammlung begann uns jetzt noch inbrünstiger anzubeten.
Jetzt waren wir natürlich total durcheinander. Viel später erst ist uns ein Licht aufgegangen, wieso Stefans Rettungsversuch derart grandios danebengegangen war. Das lateinische Wort germani hat ja noch eine ganz andere Bedeutung, nämlich ‘Brüder’. Aus der Reaktion der Leutchen zogen wir daher nachträglich den Schluss, dass sie überzeugt waren, dass ein göttliches Brüderpaar, eventuell vergleichbar mit den griechischen Dioskuren, in der Höhle lebt und wie diese den Menschen bei Not und Gefahr, zum Beispiel während eines schweren Gewitters, beisteht.
Nach Stefan meinte ich an der Reihe zu sein, irgendwas auf Lateinisch zu sagen, und beteuerte, wir seien Menschen, keine Götter. Wieder dasselbe Gemurmel zwischen dem Opa und dem Bürschchen wie vorhin, wieder eine Ansprache des Opas, und wieder inbrünstige Gebete. Sie glaubten mir also nicht, dachten vielleicht, ich wolle sie auf die Probe stellen oder so was Ähnliches. Eins aber war mir inzwischen klar geworden: Die sprachen gar nicht Latein, und abgesehen von dem Bürschchen, das ihnen als Dolmetsch diente, verstanden sie es offenbar nicht einmal.
Glücklicherweise zog das Gewitter bald ab. Da sprangen die Leutchen plötzlich wie auf Kommando auf, riefen irgendwas im Chor, das Bürschchen rief auf Lateinisch so was wie ‘Wir danken euch’, und dann passierte was Urkomisches: Sie legten alle die Finger an ihren Mund und schickten jedem von uns ein Küsschen. Wir ahnten damals nicht, dass wir diese Art der Verehrung von Göttern noch oft genug erleben sollten.
Nun brach große Hektik aus. Zwei Burschen, jeder mit einer riesigen Tonschüssel voll dampfend heißem Wasser, pflanzten sich vor uns auf, zogen uns die Sandalen aus und wuschen uns die Füße. Nach ihnen kamen zwei junge Frauen mit langen blonden Zöpfen, jede mit einer kleineren Schüssel voll dampfend heißem Wasser, und wuschen uns die Hände. Dann wurde uns ein tolles Abendessen serviert, wobei vor allem die Portionen toll waren – aber kein Besteck! Wo blieb das Besteck? Wo bleibt das Besteck?, versuchten wir in der Zeichensprache zu sagen. Aber die Leutchen schienen von Göttern gar nichts anderes zu erwarten und hätten sich vermutlich sehr gewundert, wenn wir uns wie hungrige Wölfe aufs Essen gestürzt hätten. Sie deuteten uns freundlich lächelnd, wir mögen nur zugreifen – mit den Fingern.
Nach längerem Zögern griffen wir eben mit den Fingern zu, und es schmeckte gar nicht übel. Allerdings war’s so reichlich, dass wir beim besten Willen nicht alles aufessen konnten. Aber auch darauf schienen die guten Leute nur gewartet zu haben. Denn kaum hatten wir erschöpft die Schüsseln von uns geschoben, als sie sich der Reihe nach über diese hermachten und mit feierlicher Miene alles, was wir übriggelassen hatten, verzehrten. Hätten wir das geahnt, wir hätten ihnen mit Freuden noch viel mehr übrig gelassen.
Inzwischen wuschen uns die zwei jungen Frauen von vorhin erneut die Hände, und der Opa deutete er uns, wir mögen aufstehen, und veranstaltete für uns eine Privatführung durch das Wohnhaus, die Ställe und die Werkstätten. Wahrscheinlich erhoffte er sich davon unseren göttlichen Segen. Wir konnten klarerweise nicht mehr tun als pausenlos „hold lächeln“, aber er scheint sich sowieso nicht mehr erwartet zu haben und machte einen höchst zufriedenen Eindruck.
Schließlich verabschiedete er sich von uns mit einer tiefen Verbeugung und übergab uns denselben zwei jungen Frauen, die uns die Hände gewaschen hatten. Sie führten uns in ein mit Frühlingsblumen und blühenden Zweigen geschmücktes Zimmer, in dem ein massives Bett, mit makellos weißen Leintüchern und Überzügen bedeckt, stand. Auf zwei Hockern grüßten uns die uns bereits bekannten Waschschüsseln, wieder mit dampfend heißem Wasser gefüllt. Lächelnd zogen sie jedem von uns die Toga und die Sandalen aus und schrubbten uns gründlich ab. Und wir – na, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie peinlich das uns war! Ebenso gründlich trockneten sie uns ab und steckten uns, nackt, wie wir waren, ins Bett unter die eine Bettdecke. Schließlich sagten sie was zu uns, verbeugten sich tief, packten die Waschsachen und zwitscherten ab.
Ja, und nun?
‘Na, und jetzt?’, maulte ich. ‘Glauben die vielleicht, Götter müssen nicht aufs Klo?’
Stefan pflichtete mir bei, hatte aber dann eine Idee: Er sprang aus dem Bett, ging auf die Knie und tastete mit der Hand den Fußboden unter dem Bett ab; es war nämlich inzwischen schon fast finster geworden. Und was fand er dort? Einen Nachttopf.
Also gut, nun konnte der gemütliche Teil des Abends beginnen. Ich warf die Frage auf, welche Sprache die Leute wohl gesprochen haben könnten. Stefan, Geistesgröße wie immer, antwortete: ‘Keltisch, was sonst? Die Noriker sind ja Kelten, und nachdem Noricum erst seit einigen Jahren zum Römischen Reich gehört, ist es doch ganz klar, dass die Landbevölkerung noch kein Latein versteht.’
‘Na, hoffentlich versteht die Stadtbevölkerung auf dem Magdalensberg Latein, sonst sind wir aufgeschmissen und müssen schauen, dass wir uns irgendwie nach Italien durchschlagen. Schließlich wollten wir ja lateinische Sprachferien machen und keine keltischen.’
‘Das werden wir morgen ja sehen. Übrigens muss der eine Knabe sein Latein ja auch von irgendwo herhaben.’
Aber viel mehr plauderten wir nicht mehr. Denn bald setzte sich das Traummännlein auf unsere Augen, oder bei den Römern heißt es natürlich: nahm uns Gott Morpheus in seine Arme. Und jetzt soll Freund Stefan weitererzählen, ja?“
Und Stefan: „Also gut. Nächster Morgen. Wir geruhten, uns wieder den Menschen zu zeigen, wurden erneut mit übergroßer Ehrfurcht begrüßt und mit einem Frühstück bewirtet. Dann erteilten wir allen unseren Segen, will heißen, dankten allen und verließen die gastliche Stätte und deren brave Bewohner, die wahrscheinlich nicht schlecht staunten, als sie uns nicht wieder auf den Lamprechtskogel in unsere Höhle hinaufstapfen, sondern in die entgegengesetzte Richtung davonwandern sahen.
Ganz eigenartig war uns zu Mute, wie wir da nun durch die uns so wohl bekannte und doch irgendwie veränderte Landschaft wanderten, den Rücken von der Morgensonne angenehm gewärmt. Der Weg, den wir eingeschlagen hatten, verlief zum größten Teil genau in der Linie des Fahrweges, den wir schon so oft mit dem Fahrrad befahren hatten. Es fehlte eigentlich nur der Asphaltbelag. Links und rechts von uns erstreckten sich abwechselnd wohl bebaute Äcker und Weideflächen, auf denen wohl genährte Rinder grasten und uns neugierig anstarrten. Und da hatten wir sie nun direkt vor unseren Augen: die Kuhglocken, deren Gebimmel uns gestern so verwirrt hatte. Übrigens starrten uns die Menschen nicht weniger neugierig an. Sie winkten uns freundlich, manche riefen uns irgendwas zu, vermutlich auf Keltisch. Hie und da kamen wir an schmucken Bauernhäusern vorbei. Sie waren ebenso aus Holz wie das unserer „Anbeter“ und wirkten überhaupt nicht römisch.
In einer knappen Stunde erreichten wir die Gurk, und jetzt wurde es kritisch, denn sie mussten wir überqueren. Doch nach einer weiteren Stunde sahen wir in der Ferne vor uns eine Brücke, eine richtige römische Bogenbrücke aus massiven Steinquadern. Am anderen Ufer erhob sich direkt neben der Straße ein merkwürdiger, niedriger Turm, der unter dem Dach von einem hölzernen Balkon umgeben war; und auf dem konnten wir einen Mann erkennen, der nun schon eher wie ein Römer aussah. Er hielt nach irgendwas Ausschau, kümmerte sich aber nicht um uns.
Als wir die Brücke erreichten, sahen wir, dass eine gut gebaute Straße über sie führte, noch dazu begleitet von einem Gehsteig auf jeder Seite. Aber halt! War das überhaupt eine Römerstraße? Unter einer Römerstraße hatten wir uns, ehrlich gesagt, was anderes vorgestellt. Sie war nämlich nicht gepflastert, wie sich’s für eine Römerstraße gehört, sondern hatte einen richtigen Betonbelag. Zwar war das nicht so einer feiner Beton wie heutzutage, sondern ein relativ grober, wie wenn man Schotter mit Zement verbindet, aber Beton war’s, das stand fest. Während wir noch zweifelten, ob wir auch wirklich im richtigen Zeitalter gelandet waren, kam uns mit Karacho ein von zwei Pferden gezogener Wagen entgegen, der dem Wagen auf dem euch wohl bekannten römischen Relief an der Kirche von Maria Saal so ähnlich sah, dass unsere Zweifel einigermaßen zum Schweigen gebracht wurden. Und ein kleines Stückchen weiter stießen wir dann auf ein nun absolut eindeutiges, unwiderlegliches Indiz für die Römerzeit, nämlich einen dieser typischen Meilensteine: eine übermannshohe Säule mit einer Inschrift aus großen, rot leuchtenden Buchstaben. Ganz zuoberst erkannten wir, wenn auch abgekürzt, die Namen CAESAR AVGVSTVS – was uns nicht wunderte, denn wir befanden uns ja – hoffentlich – in der Zeit des Kaisers Augustus. Allerdings beunruhigten uns dann doch ein wenig die Namen TIBERIVS und CLAVDIVS unmittelbar davor. Wir konnten uns nicht erinnern, den Namen von Augustus jemals so gehört zu haben, und die Kaiser Tiberius und Claudius konnten damit wohl nicht gemeint sein. Oder doch?
Aber weit interessanter war für uns im Augenblick die unterste Zeile. Da stand nämlich zu lesen: A·VIR·M·P·VII, und nach einigem Überlegen kamen wir zur Überzeugung, dass das heißen müsse: a Viruno milia passuum VII (‘von Virunum 7 Meilen’). Und damit glaubten wir dreierlei zu wissen: Erstens, dass die Stadt auf dem Magdalensberg ebenso Virunum hieß wie die später gegründete Stadt, an deren Rand wir hier momentan sitzen oder liegen und von der es sicher bezeugt ist, zweitens, dass die Straße direkt zu ihr hinaufführte, und drittens, dass wir noch sieben Meilen zu marschieren hatten.
Wie es sich herausstellte, hatten wir in Wirklichkeit sogar weniger zu marschieren. Denn plötzlich hielt neben uns ein schöner Wagen, und ein eleganter Herr, auf den ersten Blick als Römer kenntlich, lud uns mit freundlichem Lächeln, ebenso freundlichen Worten, die wir auch sofort als lateinisch erkannten, und höflicher Gebärde zum Einsteigen ein. Na, das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Mit unserem schönsten ‘gratias’ nahmen wir auf einer Sitzbank dem netten Herrn und einem zweiten, jüngeren Mann gegenüber Platz. Die Sitzbank war weich gepolstert und ebenso wie die Wände mit gestickten Decken bedeckt. Also, für Götter wurden wir hier offensichtlich nicht gehalten, aber irgendwie verwundert kam uns der nette Herr doch vor, und er musterte uns mit lustigen und zugleich erstaunten Augen. Dann sprach er uns wieder mit größter Freundlichkeit an, und was er sagte, war ohne jeden Zweifel lateinisch. Nur, es ging uns wie beim ersten Mal in England: Wir verstanden fast nichts. Wir versuchten gerade zu sagen, er möge bitte langsam sprechen, da redete er den Mann neben ihm an, und darauf sagte der zu uns etwas, was sicher nicht lateinisch war, sondern so ähnlich klang wie die Sprache unserer „Anbeter“ von gestern Abend, also keltisch gewesen sein muss. Als wir daraufhin nur den Kopf schüttelten, versuchte es wieder der nette Herr selber mit noch einer anderen Sprache, und die erkannten wir eindeutig als Griechisch, das wir beide ja schon seit der fünften Klasse lernen. Aber leider, wieder viel zu schnell gesprochen.
Da gab er seine Bemühungen auf, wandte sich wieder seinem Begleiter zu und redete mit ihm lateinisch. Und je länger, umso mehr glaubten wir hie und da ein Wort zu verstehen. Beispielsweise fiel mehrere Male der Name Claudia, aber den zu verstehen war natürlich keine große Kunst. Dann wurde der Ältere sozusagen offiziell und begann zu diktieren, und der Jüngere schrieb auf Wachstafeln mit. Übrigens muss er mitstenographiert haben, denn der andere sprach dabei kaum langsamer als bisher.
Plötzlich machte der Wagen eine scharfe Wendung nach rechts, und als wir durch die Tür hinausschauten, sahen wir, dass er von der Straße abgezweigt war und eben durch ein Tor rollte. Einige Augenblicke später hielt der Wagen, und es hieß aussteigen.
Hier schaute es ja aus wie auf einer Baustelle. Der Rohbau schien schon fertig zu sein und sah aus wie die Ruine einer großen römischen Villa. Offensichtlich sollte er eine solche werden. Daneben standen mehrere ältere Gebäude, viel kleiner und einfacher, aber trotzdem aus ordentlichem, massivem Mauerwerk bestehend, nicht zu vergleichen mit den Holzhäusern, wie wir sie bisher gesehen hatten. Die Mauern des Villenrohbaues, die abwechselnd aus Ziegeln und Steinen bestanden, wurden gerade an der Außenseite mit regelmäßig zugehauenen Steinplatten verkleidet, die die Arbeiter von einem großen Wagen mit offener Ladefläche holten. Sie hatten richtige Minikleidchen in bunten Farben an und schwitzten nicht schlecht. Und – oho, jetzt sah ich’s erst – unter ihnen stand ein auffallend hübsches Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Sie hielt mit beiden Händen eine aufgerollte Buchrolle und las daraus den Mannsbildern vor.
Während ich ihr noch fasziniert zuschaute, blickte sie auf, schaute sich um, begann übers ganze Gesicht zu strahlen und rannte im nächsten Moment wie ein junges Reh auf unseren netten Herrn zu, ohne die Buchrolle aus den Händen zu legen. Und dabei übersah sie irgendein achtlos auf den Boden geworfenes Werkzeug und stolperte darüber und wäre sicher schwer gestürzt, hätte ich sie nicht aufgefangen. Da schenkte sie mir, sobald sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte, das süßeste Lächeln, das ich je erlebt hatte, und mit der bezauberndsten Stimme, die ich je gehört hatte, sagte sie etwas zu mir. Aber ach, herrje, ich verstand schon wieder nichts. Darauf sagte der nette Herr etwas zu ihr, vermutlich in dem Sinn, dass ich keine der bekannten Sprachen spreche. Sie schenkte mir noch einmal einen hinreißenden Blick, wandte sich dann zu ihm und begrüßte ihn mit einem Küsschen auf die Wange. Er redete sie an als mea Claudia, ‘meine Claudia’. Das also ist die während der Fahrt so oft erwähnte Claudia. Sie wird doch nicht ... Dabei könnte er ihr Vater sein.
Wir wurden ausnehmend freundlich mit einer zünftigen Jause bewirtet und setzten danach unsere Wanderung fort. Bald kamen wir wieder an einem Meilenstein vorbei und lasen: ‘Von Virunum 2 Meilen.’ Der Verkehr wurde zusehends dichter, und wir kamen nun immer häufiger an seltsamen denkmalähnlichen Bauwerken vorbei, die sich bei genauerer Betrachtung als Grabmäler herausstellten.
Und jetzt kommt’s: Nach einer Engstelle, in der wieder so ein Straßenturm wie bei der Brücke über die Gurk stand, weitet sich das Tal, und uns weiteten sich die Augen: Vor uns lag eine richtige, große Stadt. Na klar, werdet ihr jetzt sagen, das wissen wir ja alle und wird euch doch kein Geheimnis gewesen sein, dass hier am Fuß dieser Anhöhe, auf der wir’s uns jetzt gemütlich gemacht haben, eine Römerstadt gestanden ist, nämlich Virunum. Und ich sag euch jetzt: Denkt doch einmal nach! Haben wir nicht gelernt, dass Virunum unter Kaiser Claudius auf vorher nicht besiedeltem Boden gegründet worden ist? Und wann hat Kaiser Claudius regiert? Na?“
„41 bis 54 nach Christus“, so Peter.
„Sehr richtig. Und wir befanden uns im Jahre ...?“
„1994 minus 2000 ist gleich 6 vor Christus“, so Amadeus.
„Na eben. Kapiert ihr jetzt, weshalb wir total aus dem Häuschen waren? Aber dann sagten wir uns, was soll’s, vielleicht haben wir da was Falsches gelernt. Jedenfalls stand fest: Direkt vor unseren Augen lag eine richtige Römerstadt. Das war nun schon ein erhebender Anblick. Natürlich verglichen wir sie sofort automatisch mit Klagenfurt und überhaupt mit den Städten der Gegenwart. Und wenn ihr uns jetzt fragt, was wir damals bei der Betrachtung aus der Ferne als auffallendsten Unterschied empfanden, so muss ich sagen: Das Fehlen der Kirchtürme und eventuell auch der rauchenden Fabrikschlote. Ja, und dabei fiel uns ein, dass eigentlich auch Smog und Dunstglocke unbekannte Begriffe sein müssten.
Inzwischen war der Verkehr bei weitem dichter geworden, aber den Hauptanteil an ihm schienen nicht die mehr oder weniger schnittigen, von Pferden oder Ochsen gezogenen Wagen auszumachen, sondern die Reiter auf Eseln, Maultieren und Pferden und natürlich die vielen, die sich wie wir per pedes apostolorum fortbewegten. Das alles ging, wie ihr euch leicht ausmalen könnt, keineswegs leise vor sich. Und trotzdem kam’s uns märchenhaft ruhig vor, denn es fehlte der ohrenbetäubende Krach des motorisierten Verkehrs von heute.
Als wir näher kamen und schon den letzten Meilenstein mit dem Vermerk ‘Von Virunum 1 Meile’ passiert hatten, fiel uns auf, dass ein Unterschied gegenüber den Städten der Gegenwart, den wir eigentlich erwartet hatten, gar nicht bestand: Es gab keine Stadtmauer.
Und nun schwenkte die Straße nach rechts ein, und unvermittelt fanden wir uns in Virunum wieder. Wieso das so plötzlich vor sich ging? Weil ohne jeden Übergang das dicht verbaute Gebiet begann. Und weil wir uns am Beginn einer schnurgeraden Straße sahen und buchstäblich durch die ganze Stadt hindurchschauen konnten. Als wir weitergingen, kamen wir zu einer Kreuzung, und die Querstraße war ebenfalls schnurgerade, und das galt, wie sich herausstellte, auch für alle anderen Querstraßen und überhaupt für sämtliche Straßen, und es war wie in New York – abgesehen davon, dass die Häuser natürlich keine Wolkenkratzer waren. Die Straßen selber waren überraschend breit, wir schätzten: 15 Meter, wobei der größte Teil dieser Breite von Gehsteigen eingenommen wurde, sodass für die Fahrbahn – immer noch mit demselben Betonbelag wie bisher – höchstens 5 Meter übrigblieben. Im Übrigen waren die Gehsteige irrsinnig belebt mit farbenfroh gekleideten Menschen, und die Luft war voll von ihrem Stimmengewirr, und irgendwie kam es uns vor, als würden sie uns alle neugierig mustern.
Da rief auf einmal Markus aus: ‘Schau, schau, da haben ja auch die Sprayer zugeschlagen’, und zeigte auf die Hausmauern links und die Hausmauern rechts. Tatsächlich: Die Hausmauern waren voll mit Bildern und Inschriften, aber natürlich nicht gesprayt, sondern fein säuberlich gemalt. Hier zum Beispiel, wo wir momentan standen – und ihr erinnert euch, wir waren noch nicht weitergekommen als bis zur ersten Kreuzung –, da war auf einer Hausmauer bildlich dargestellt, wie Steinblöcke zugehauen werden und wie Inschriften eingemeißelt und die eingemeißelten Buchstaben mit roter Farbe ausgemalt werden, alles sehr bunt und absolut realistisch. Darüber stand in großen roten Lettern gemalt: LAPIDARIVS, das musste also ‘Steinmetz’ oder so was Ähnliches bedeuten, denn lapis, lapidis heißt bekanntlich ‘Stein’. Und über LAPIDARIVS stand ein Name: M·CVRIVS·SYRVS, also Marcus Curius Syrus. Während ich gerade lachend zu Markus sagte, da heiße einer genauso wie er, ging daneben ein großes Tor auf, und ein mit Steinquadern vollbeladenes Maultierfuhrwerk verließ einen großen Hof, der offensichtlich zur Werkstätte eines Steinmetzen gehörte.
Von da an reihte sich ein Geschäft an das andere, wobei oftmals die Kundschaft gar nicht hineingehen musste, sondern außen unter einem breiten Vordach oder Balkon stehen konnte, und die Theke war ein Teil der Hausmauer. Da gab’s eine Bäckerei, aus der es appetitlich nach frischem Brot duftete, es gab Imbissstuben, wo aus Behältern, die in die Theke eingelassen waren, für durstige Seelen Getränke geschöpft wurden. Ha, das wär was für uns! Wir hatten nämlich wieder einen fürchterlichen Durst, nur eben leider kein Geld. Aber siehe da, an der nächsten Kreuzung stand ein öffentlicher Brunnen, und da stillten offenbar Habenichtse wie wir ihren Durst.
Natürlich kann ich jetzt nicht alle Sehenswürdigkeiten aufzählen, an denen wir vorbeikamen. Aber eine möchte ich doch nicht unerwähnt lassen. Aus einem Haus drangen merkwürdige Geräusche und noch merkwürdigere Gerüche. Neben der Eingangstür hing ein auffallender länglicher Topf mit breiter Öffnung. Während wir uns noch überlegten, was das alles zu bedeuten habe, trat ein Mann an den Topf heran, hob seine ungefähr knielange Tunica und – wir trauten unseren Augen nicht – pinkelte in den Topf hinein. Und die anderen? Was sagten die dazu? Regten sie sich auf? Nein, überhaupt nicht. Die beachteten ihn nicht einmal. Offenbar empfanden das alle als die selbstverständlichste Sache der Welt.
Wir hätten es ihm übrigens nur zu gern nachgemacht, trauten uns aber nicht. Zum Glück kamen wir einen Häuserblock weiter an einer Tür vorbei, über der in großen roten Lettern geschrieben stand: LATRINAE. Da erinnerte ich mich, dass es dieses Wort ja auch im Deutschen gibt. Während wir noch zögerten, ermunterte uns ein freundlicher Passant, der gerade hineinging, ihm zu folgen. Natürlich kostete die Benützung Geld, aber als wir dem Kassier deuteten, wir hätten keins und müssten sowieso nur „klein“, da lachte er und ließ uns ohne Bezahlung hinein.
Da gab es nun zwei Eingänge, einen für Männer und einen für Frauen, und als wir die für uns bestimmte Tür öffneten, glaubten wir, wir träumten: Vor uns ein Raum, dessen Wände reich mit Mosaikgemälden geschmückt waren. An drei Wänden waren Holzbänke angebracht, und jede Holzbank hatte oben vier Löcher, die sich nach vorne und an der Vorderseite zu einer Art U-Form erweiterten. Und auf einigen von diesen Löchern saßen Männer, die Tuniken aufgeschürzt, die neben der Tätigkeit, wegen der sie eigentlich hergekommen waren, zugleich in ein lebhaftes Gespräch vertieft waren. Wie die uns nun hereinkommen sahen, begrüßten sie uns mit großem Hallo und redeten alle gleichzeitig auf uns ein. Wir grinsten schüchtern zurück und suchten uns rasch freie Löcher, wo wir möglichst weit von den anderen entfernt waren. Erst als wir uns über so ein Loch setzten, merkten wir, dass vor unseren Füßen in einer Rinne Wasser floß und dass daneben Stöckchen lagen, an denen Schwämme befestigt waren, und dass wir über einem Graben saßen, in dem, um mit Goethe zu sprechen, das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll.
Als wir zur nächsten Kreuzung kamen, sahen wir links und rechts vor uns zwei besonders große, prächtige Gebäude, die ganz anders ausschauten als die Häuser, an denen wir bis dahin vorbeigekommen waren. Das rechts vor uns besaß drei große offene Tore, durch die zahlreiche Leute ein- und ausgingen, und unsere Neugier trieb uns dazu, zum nächstgelegenen Tor zu gehen und hineinzuschauen. Da fiel unser Blick in eine interessante Halle, die auf der anderen Seite durch eine Reihe von Pfeilern abgeschlossen war. Dahinter erstreckte sich eine Säulenreihe, und hinter dieser war ein offener Platz zu erkennen.
Wir betraten die Halle und sahen, dass sie in der Querrichtung erstaunlich lang war. Im Übrigen schien sie noch gar nicht fertig zu sein, denn entlang der Wand, durch die wir hereingekommen waren, standen Gerüste, und es herrschte ein Betrieb wie auf einer Baustelle. Und als wir die Pfeilerreihe durchquert hatten und auf die Säulenreihe zugingen, sahen wir, dass vor uns ein riesiger rechteckiger Platz lag, zu dem zwei niedrige Stufen hinunterführten und der auf drei Seiten von doppelten Säulenreihen, das heißt, von jeweils zwei Säulenreihen übereinander, umgeben war. Auf der uns gegenüberliegenden vierten Seite aber stand auf einem erhöhten, seinerseits von Säulen umgebenen Platz, zu dem Stufen führten, ein Tempel, und an dem wurde ebenfalls noch gebaut.
Wir befanden uns zweifellos auf dem Forum. Es war sehr schön mit großen Steinplatten gepflastert, zahlreiche Statuen standen herum, und zwischen diesen waren massenhaft Verkaufsstände. Und genau in der Mitte des Platzes stand ein großer Brunnen mit einem hohen Obelisken in der Mitte, aus dessen Spitze Wasserkaskaden über alle seine vier Seiten herunterrauschten.
Und ein Menschengewimmel, sag ich euch! Auf den zwei Stufen, die das Forum umgaben, saßen oder standen Leute in Gruppen beieinander, und als wir uns einer von diesen Gruppen vorsichtig näherten, erkannten wir, dass sie mit Würfeln und großen Holzfiguren spielten, und dann sahen wir, dass in die Stufen Linien eingeritzt waren, und das waren eben die Spiele.
Was gab’s noch? Ach ja: Straßenmusikanten. Ja, hier hörten wir zum ersten Mal römische Musik. Sehr seltsam, sag ich euch. Sehr seltsam und gewöhnungsbedürftig, und mit Worten nicht zu beschreiben, aber hochinteressant.“
„Wir hörten also gerade fasziniert einer Gruppe von vier Musikanten zu, als wir von einem auffallend elegant gekleideten Herrn angesprochen wurden. Er bedeutete uns mit umwerfend freundlicher Miene und in ebenso freundlichem Ton, wir mögen ihm folgen. Wir hätten zwar, ehrlich gesagt, recht gern noch länger den Musikanten zugehört, dachten aber an die freundliche Einladung, die uns heute schon einmal zuteil geworden war, und folgten ihm willig nach.
Er führte uns über den ganzen Platz bis zu einer Straße, die das eigentliche Forum von den zum erhöhten Tempelplatz führenden Stufen trennte. Dort bogen wir nach links ein, überquerten die Straße, auf der wir hergekommen waren, und betraten bald danach einen Hausflur. Hier empfing uns mit größter Liebenswürdigkeit eine ältere Dame mit dick aufgetragenem Make-up und geleitete uns in einen wunderschönen, auf allen vier Seiten von Säulen umgebenen und mit Springbrunnen und allerhand Statuen ausgestatteten Garten, und ... Ja, also wir glaubten zu träumen: Entweder auf Bänken sitzend oder zwischen Blumenbeeten oder in den Gängen hinter den Säulen auf- und abschlendernd, vergnügten sich hier eine Anzahl meist jüngerer Frauen, teilweise auch ganz junger Mädchen, in Minikleidchen oder gar Bikini.
Waren wir hier richtig? Wir schauten uns fragend nach der Dame um, die uns empfangen hatte, aber sie hieß uns nur, freundlich lächelnd, weiterkommen und auf einer der Bänke Platz nehmen. Das taten wir auch, reichlich verunsichert und zugleich total begeistert von der unglaublichen Freundlichkeit der Römer. In unserer grenzenlosen Naivität dachten wir, alle Gäste einer römischen Stadt würden auf solche Weise willkommen geheißen.
Die Mini- und Bikinimädchen stellten sich vor uns auf einer kreisrunden Fläche zwischen den Blumenbeeten rund um einen kreisrunden Springbrunnen auf und strahlten uns an, dass es eine Freude war. Eine, die ich besonders interessiert anschaute, kam plötzlich auf mich zu, setzte sich ungeniert auf meinen Schoß, legte mir ihren Arm um die Schulter und flötete mir in fließendem Latein die Ohren voll; und dabei betäubte sie mich fast mit ihrem Parfum. Dann stand sie wieder auf, reichte mir die Hand, hieß mich aufstehen und entführte mich ganz einfach. Sie entführte mich zurück ins Haus, und dort fiel mir jetzt auf, dass an den Türen große Tafeln hingen und dass auf jeder Tafel in großen roten Buchstaben ein Name aufgemalt war; und das waren alles Frauennamen. Über eine Treppe führte sie mich in den ersten Stock, machte vor einer Tür mit der Aufschrift LYDIA Halt und zog mich in ein Zimmer, in dem ich ein Bett, einen Stuhl mit Tüchern und ein Waschtisch mit Wasserbecken erkannte.
Ich glaubte zu träumen: Ohne Vorwarnung fiel sie mir um den Hals und küsste mich, wie ich noch nie geküsst worden war. Danach begann sie mich, ohne mit der Wimper zu zucken, zu entkleiden. Und verwirrt, wie ich war, ließ ich das alles willenlos über mich ergehen. Ich fühlte mich wie gelähmt.
Ach was, jetzt soll zuerst der Markus berichten, wie es ihm ergangen ist.“
Und Markus: „Wie du meinst. Also, nachdem dich deine Lydia ...“
Und Stefan, mit Nachdruck: „Sie ist nicht meine Lydia.“
Und Markus: „Na gut: Nachdem dich ... Nachdem ich allein mit dem Mädchenflor im Garten zurückgeblieben war, fiel mir plötzlich eine auf, die ... Naja, was genau mir an ihr auffiel, könnte ich gar nicht sagen. Wie von einer magischen Kraft angezogen, stand ich auf und ging auf sie zu. Sie lächelte süß, nahm mich an der Hand und führte mich ins Haus zu einer Tür mit der Aufschrift MELISSA. Und ich war total hingerissen von ihrer zarten Schönheit und unbeschreiblichen Anmut und unfähig, irgendeinen Gedanken zu fassen. Nur, was sie von mir wollte, das hatte ich in der Zwischenzeit trotzdem ganz gut mitgekriegt. Na, und so erfüllte ich ihr eben ihre Wünsche und begann an ihr zu naschen, oder wie man da sagt, und naschte immer unersättlicher an ihr und vernaschte sie schließlich mit Haut und Haaren, und, Kinder, ich sag euch, so was hatte ich noch nie erlebt. Es war ein geradezu wunderbares, mehr noch: ein elementares Erlebnis.
Und der Erfolg war, dass ich ihr danach richtiggehend verfallen war. Das versuchte ich ihr in meinem holprigen Latein klar zu machen, und sie verstand mich und flüsterte, sie liebe mich auch. Und nachdem sie vom Bett aufgestanden war und sich gewaschen hatte, tat sie etwas, womit ich absolut nicht gerechnet hatte: Sie begann mir was vorzusingen und sich dabei selber auf der Lyra zu begleiten. Und zwischen zwei Liedern umarmte und küsste sie mich unglaublich zärtlich und flüsterte, das mache sie nur, weil sie sich furchtbar in mich verknallt habe.
Ja, ja. Aber jetzt ist wieder Stefan dran.“
Und Stefan: „Also gut. Nun, bei mir ist dieses Erlebnis nicht annähernd so wunderbar verlaufen. Wie schon gesagt, ich fühlte mich total gelähmt. Und das war ich auch. Ich war gar nicht in der Lage, die Lydia zu vernaschen, und das, obwohl sie alle möglichen Tricks anwandte, um diesen peinlichen Zustand zu beseitigen.
Im Übrigen stand mir eine noch peinlichere Überraschung bevor. Auf einmal war nämlich draußen lautes Geschrei zu hören, und gleich darauf wurde heftig an unsere Tür gepoltert. Erschrocken sprang die Lydia aus dem Bett, warf sich ihr Kleidchen über und schob den Riegel zurück. Die Tür flog auf, und herein stürmte, kreischend und fuchsteufelswild, dieselbe fürchterlich geschminkte Dame, die uns doch zuvor mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit empfangen hatte, und vor der Tür stand Markus, verstört und kleinlaut, umringt von einigen der Minimädchen. Ich sprang natürlich auch sofort auf, zog mich blitzartig an und fragte einigermaßen empört, was denn da los sei, und Markus erklärte, sie verlange Geld.
Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ihr dürft ruhig grinsen über meine Naivität. Jetzt erst wurde mir klar, wo uns der freundliche Herr hingebracht hatte. Im Übrigen konnte ich beobachten, wie eben dieser freundliche Herr näher kam, begleitet von zwei weiteren Herren, die jeder so einen entzückenden kleinen Stock in der Hand trugen. Betont langsam und deutlich, damit ich’s ja verstehe, sagte er zu mir: ‘Asses octo’, das heißt, ‘Acht As’, dann zu Markus: ‘Asses octo’, und auf uns beide gleichzeitig zeigend: ‘In summa unum denarium’, und das verstand ich wunderbar: ‘In Summe einen Denar’.
Was war da zu tun? Hätte ich sagen sollen, dass bei mir eh nichts gewesen sei? Der einzige Ausweg schien die Lösung zu sein, die wir ohnedies vorhatten, also irgendeinen Job zu suchen und Geld zu verdienen. Also versuchte ich zu radebrechen: ‘Arbeiten ... Geld verdienen ... Dann zahlen.’
Daraufhin schaltete sich einer der beiden Polizisten ein – übrigens war, wie ich später erfuhr, die korrekte Bezeichnung witzigerweise servi publici, also ‘Gemeindesklaven’ – und sagte im selben Ton zu mir: ‘Wo arbeiten?’
Ja, wo arbeiten? Eine gute Frage. Aber da musste ich auf einmal an die Steinmetzwerkstatt denken, an der wir bei unserem Einzug in Virunum vorbeigekommen waren, und sagte spontan: ‘Apud lapidarium’.
Es folgte eine längere Debatte zwischen dem Polizisten und dem freundlichen Herrn. Dann sagte dieser eine Polizist irgendwas zum anderen, und der entnahm daraufhin seinem sinus – das ist der so genannte Gewandbausch, der durch den über den Gürtel hängenden Teil der Tunica gebildet wird und gern als Tasche dient – einen langen Strick, fesselte uns die Hände und führte uns in Begleitung des freundlichen Herrn hinunter ...“
„An meiner herzzerreißend schluchzenden Melissa vorbei“, wirft Markus ein. „Und ich konnte nichts tun als ihr schmachtende Blicke zuwerfen.“
„... und hinaus auf die Straße. Na, das war vielleicht peinlich! Endlich erreichten wir die Steinmetzwerkstatt, der eine Polizist klopfte, nicht am Hoftor, durch das wir den mit Steinquadern beladenen Maultierwagen hatten herausfahren sehen, sondern an der Haustür daneben, ein Mann öffnete und ließ uns hinein, und der Polizist sagte irgendwas zu ihm, wovon ich nur die zwei Wörter ‘dominum’ und ‘magistrum’ verstand, also ‘den Herrn’ und ‘den Chef’.
Das Vorzimmer hinter der Eingangstür führte in diesem Haus direkt in einen von Säulengängen umgebenen Garten, aber hier erwartete uns keine Schar leicht bekleideter Mädchen, und wir wurden auch nicht mit liebenswürdigen Worten eingeladen, im Garten Platz zu nehmen. Sondern bevor wir noch den eigentlichen Garten erreicht hatten, bogen wir in den Säulengang nach rechts um und gelangten geradeaus in einen großen, von Werkstätten umgebenen Hof, in dem mehrere Arbeiter sich an Steinblöcken zu schaffen machten.
Während diese neugierig von ihrer Arbeit aufblickten, hieß es für uns jetzt warten, bis der dominus et magister, also Meister Marcus von einer Ausfahrt zurückkommen und entscheiden würde, ob er seinen Namensgefährten aus der fernen Zukunft und dessen Freund als Mitarbeiter brauchen könne oder nicht. Doch halt! Nicht vergessen: Wir heißen ja gar nicht Markus und Stefan, sondern Armin und Ariovist und kommen aus Germanien.
Plötzlich ging das Hoftor auf, und ein Fuhrwerk rollte in den Hof. Und wen sehe ich auf dem Kutschbock neben dem Kutscher sitzen? Sie ist’s, die Claudia von heute Vormittag! Ein überwältigendes Glücksgefühl durchrieselte mich, und gleich darauf überkam mich ein derartiges Gefühl der Beschämung, dass ich mich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen hätte. Aber die Claudia hatte mich sowieso schon längst erspäht und begrüßte uns nun mit reichlich verwunderter Stimme, während ich ihr nicht in die Augen zu blicken wagte und keinen Ton von mir gab. Markus war zum Glück weniger auf den Mund gefallen und erwiderte ihren Gruß mit der gebührenden Höflichkeit.
Sie ließ sich von den Polizisten wahrscheinlich alles – alles! – erklären und schaute eine Zeit lang recht nachdenklich drein. Dann sagte sie zu den Polizisten und zum freundlichen Herrn etwas, wovon ich wieder einige Worte zu verstehen glaubte, nämlich ‘Pater meus brevi venturus est’, also: ‘Mein Vater muss bald kommen’. Und während sie noch mit den Polizisten und dem freundlichen Herrn redete, ging das Hoftor ein zweites Mal auf, und genau das Fuhrwerk, das wir bei unserem Einzug in Virunum voll beladen hatten ausfahren sehen, kam nun leer zurück, und der Mann, der damals wie jetzt neben dem Kutscher saß, war, wie sich herausstellte, tatsächlich der dominus et magister, auf den wir alle schon so sehnsüchtig gewartet hatten und der nun von den Polizisten als Syrus begrüßt wurde. Ach ja, dachte ich bei mir, Syrus: Das war der dritte seiner drei Namen, die ihn, wie ich aus dem Unterricht wusste, als römischen Bürger zu erkennen gaben. Er hatte kohlrabenschwarze Haare und ebensolche Augen, und seine Gesichtsfarbe war auffallend dunkel, und überhaupt wirkte er auf mich eher wie ein Orientale als wie ein Römer oder gar ein Kelte. Und das sollte Claudias Vater sein? Aber offenbar war er’s tatsächlich.
Er hörte sich den Bericht der Polizisten an und begaffte uns die ganze Zeit, und sein Gesicht schien mir einen zunehmend zufriedenen Ausdruck zu zeigen. Dann sagte Claudia was zu ihm, und mir kam vor, es hatte was mit unserer Begegnung vom Vormittag zu tun, und ich bildete mir ein, dass sie dabei erwähnte, dass sie gestürzt wäre, hätte ich sie nicht rechtzeitig aufgefangen. Und auch das schien ihrem Vater zu gefallen. Nach einem weiteren Blick auf uns beide holte er aus seinem Gewandbausch einen Lederbeutel hervor, schnürte ihn auf, holte daraus eine kleine Silbermünze hervor und überreichte diese dem freundlichen Herrn, worauf der Polizist, der uns gefesselt hatte und immer noch an der Kandare hielt, uns unverzüglich losband, den Strick wieder einsteckte und sich zusammen mit seinem Kollegen und dem freundlichen Herrn trollte. Syrus, Claudias Vater, reichte uns beiden die Hand und sagte etwas zu uns. Und damit waren wir offenbar in seinen Betrieb aufgenommen.
Claudia selbst war inzwischen im Inneren des Hauses verschwunden, und wir standen einsam und verlassen im Hof und wussten nicht, was wir tun sollten. Aber man hatte uns keineswegs vergessen. Denn nach einiger Zeit kam Claudia mit einer älteren Dame im Schlepptau wieder heraus. Diese hatte ein metallenes Fläschchen und einen merkwürdigen, gebogenen metallenen Stab in der rechten Hand und verschiedene Tücher und Stoffe über dem linken Arm und deutete uns, wir mögen ihr folgen.
Also gut. Sie ging mit uns auf die Straße und führte uns in ein nur wenige Schritte entferntes Gebäude, in dem es sehr interessant roch und seltsame Geräusche zu hören waren. Sie überreichte einem Kassier eine kleine Kupfermünze, erhielt von ihm zwei kleine Scheiben aus Blech und führte uns danach in einen großen Saal mit Mosaikfußboden, herrlich bemalter Gewölbedecke und zahlreichen Wandnischen in Kopfhöhe. Hier stellte sie sich vor und sagte, sie heiße Primitiva, und fragte nach unseren Namen. Schließlich entkleidete sie uns mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie gestern die zwei jungen Frauen, wusch uns aber nicht in der gleichen Weise, sondern bedeutete uns, wir sollten uns auf der Bank, die an den Wänden um den ganzen Saal herumlief, niedersetzen, öffnete das Metallfläschchen, goss daraus Öl auf ihre Hand und schmierte uns damit sorgfältig ein. Dann nahm sie den gebogenen Stab, der, wie sich herausstellte, gar kein Stab war, sondern ziemlich flach und breit und den sie, als wir fragten, was das sei, als strigilis bezeichnete, fuhr uns damit über den ganzen Körper und schabte so das Öl zum größten Teil wieder herunter und wischte es in eines der mitgebrachten Tücher.
Sobald sie damit fertig war, führte sie uns, splitternackt, wie wir waren, zu einer anderen Tür, vor der im Mosaikfußboden die Worte BENE LAVA, also ‘Gutes Bad!’ zu erkennen waren, wünschte uns ebenfalls ‘Gutes Bad!’, und schob uns durch die Tür, und wir befanden uns in einem mit phantastischen Mosaikbildern geschmückten und mit einer großen Kuppel gedeckten kreisrunden Saal, der fast zur Gänze von einem ebenfalls kreisrunden Wasserbecken eingenommen wurde, zu dem rundum Stufen hinunterführten. Das fanden wir nun toll, gerade nach einem so anstrengenden und aufregenden Tag wie diesem. Mit Vergnügen stürzten wir uns in die kühlen Fluten. Natürlich tummelten sich im Wasser außer uns noch zahlreiche andere Nackedeis, allerdings ausschließlich männliche. Aber mit der Zeit fiel uns auf, dass die meisten nur kurz im Wasser blieben und rasch in einem weiteren Saal verschwanden. Daher trieb uns bald die Neugier aus dem Wasser und in den nächsten Saal. Hier war’s auffällig warm, vor allem der Fußboden und auch die Wände, und hier fühlten sich die meisten offenbar viel wohler. Auch das Wasser im großen rechteckigen Becken war herrlich warm, und wir wären noch länger drin geblieben, hätten wir nicht beobachtet, dass da noch eine weitere Tür war, vor der eine Unzahl von Holzpantoffeln standen, und dass jeder, der durch diese Tür in den nächsten Saal ging, in ein Paar solcher Pantoffeln schlüpfte. Also machten wir’s ebenso und kapierten auch sofort, wozu das gut war. Der Boden war hier nämlich so heiß, dass man sich ohne Pantoffel die Fußsohlen verbrannt hätte. In diesem Saal gab’s nicht nur ein großes rechteckiges Becken mit heißem Wasser, sondern auch ein kreisrundes Waschbecken, das zugleich ein Heißwasserspringbrunnen war. Na, und zuletzt gab’s noch eine richtige Sauna. Also toll, sag ich euch.
Und wie kamen wir da wieder hinaus? Sehr einfach, indem man den ganzen Weg durch alle diese Säle wieder zurückging und sich noch einmal in alle drei Becken schmiss, in das mit dem heißen, in das mit dem warmen und schließlich in das mit dem kalten Wasser. Bevor wir diesen letzten Saal verließen, lasen wir im Mosaikfußboden noch die Worte SALVOM LAVISSE, was ungefähr soviel heißt wie ‘Wir hoffen, das Bad hat dir gut getan.’
Als wir in den Umkleideraum hinaustraten, erwartete uns die gute Primitiva mit Handtüchern und trocknete uns fein säuberlich ab. Und dann hatte sie noch eine Überraschung für uns auf Lager: Sie hatte für jeden von uns eine ungefähr knielange, rotbraune Tunica mit, ‘damit ihr anständig gekleidet seid’, wie sie schmunzelnd bemerkte, und zeigte uns auch, wie man sie richtig anzieht. Da steckte bestimmt wieder diese süße Claudia dahinter!
Daheim nahm sie uns gleich wieder in Empfang, die süße Claudia. Wir kramten unser allerschönstes Latein hervor und bedankten uns für alles. Da schaute sie sehr erstaunt drein und fragte, ob wir tatsächlich Lateinisch könnten, und wir antworteten, ja, an und für sich schon, nur, man müsste halt langsam und deutlich mit uns reden.
Darüber zeigte sie sich sehr erfreut und begann, uns durch das ganze Haus zu führen. Zuerst erklärte sie, der von Säulen umgebene Garten sei das Zentrum des Hauses, von dem alle anderen Teile des Hauses erreicht werden könnten, und heiße peristylium. Das sei griechisch und bedeute so viel wie ‘Säulen rundherum’. Gleich links vom Eingangskorridor sei die Küche. Und das hätte sie gar nicht zu sagen brauchen. Aus ihr drangen nämlich köstliche Düfte, die unsere Nasen in helles Entzücken versetzten und uns das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, zumal wir ja schon fast verhungert waren. Aber man höre und staune: ‘Ihr werdet heute zum Abendessen die Gäste meines Vaters sein. Und es wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis es beginnt. Eigentlich warten wir nur noch auf Curius. Das ist der, der euch heute Morgen im Wagen mitgenommen hat.’
Aha, dachte ich, mein Verdacht scheint sich zu bestätigen: Sicher ihr Liebhaber – und könnte leicht ihr Vater sein. Diese Römer!
Inzwischen hatten wir unseren Rundgang fortgesetzt.
‘Dieser Raum neben der Küche ist die Latrine.’
Und ein Blick, den wir hineinwarfen, zeigte uns dieselbe Art von Sitzen, wie wir sie schon aus der öffentlichen Latrine kannten, nur, dass das Ganze wesentlich kleiner war.
Weiters lagen rund um den Peristylgarten links das Esszimmer, das Schlafzimmer von Claudias Bruder und Claudias eigenes Schlafzimmer, sodann im Trakt gegenüber dem Eingang zuerst der Heizraum, neben diesem der oecus (das Wohnzimmer) mit dem lararium (dem Schrein der Hausgötter), und schließlich das tablinum (Büro und Bibliothek), und rechts, auf der Seite zum Werkstättenhof, unter anderem das Schlafzimmer von Claudias Vater und das Schlafzimmer von Claudias Mutter.
Zwischen oecus und tablinum führte uns ein Gang in einen allerliebsten Obst- und Gemüsegarten, in dem es herrlich blühte und der viel größer wirkte, als er in Wirklichkeit war, weil die ihn umgebenden Mauern mit Darstellungen von Gärten und Landschaften bemalt waren. Er erstreckte sich auch hinter den Werkstätten, und durch die kamen wir auf den Werkstättenhof zurück. Dieser lag nun verwaist. Offensichtlich war schon Feierabend.
‘Hier’, sagte Claudia, ‘werdet ihr also ab morgen arbeiten, um eure Schulden abzutragen. Mein Vater wird euch die Arbeit zuteilen und zeigen, wie man arbeiten muss. Und ich werde euch jetzt zeigen, wo ihr wohnt.’
Und damit führte sie uns durch den uns bereits bekannten Korridor ins peristylium zurück und über eine Holztreppe neben dem Eingang in den ersten Stock, öffnete eine Tür nahe dem oberen Treppenabsatz und ließ uns eintreten.
‘Leider war nur dieses eine Zimmer frei. In den übrigen Zimmern heroben schlafen unsere Sklaven und Sklavinnen. Ich hätte zwar auch mehrere Sklaven in ein Zimmer zusammenlegen können, damit jeder von euch beiden sein eigenes Schlafzimmer hätte. Aber dadurch wäre die unter den männlichen Sklaven und den freien Lohnarbeitern herrschende zelotypia nur noch vergrößert worden.’
An dieser Stelle unterbrachen wir Claudia, weil wir das Wort zelotypia nicht kannten. Darauf sagte sie: ‘Es ist seltsam, aber seit einiger Zeit herrscht in unserem Haus irgendwie eine beschissene Stimmung.’ (Das ist, wohlgemerkt, wörtlich übersetzt. Sie sagte tatsächlich: ‘affectus quidam animorum cacatus’.) ‘Einige unserer Sklaven und alle drei Lohnarbeiter bilden sich nämlich ein, weil ich zu allen immer gleichmäßig freundlich sei, sei ich darauf aus, ihre Geliebte zu werden. Und deshalb betrachten sie jeden anderen als ihren Rivalen und sind voller Misstrauen und haben voreinander Angst, ein anderer könnte mich ihnen wegschnappen.’“
„Ah, Eifersucht!“, rufen Paul, Peter und Alexander wie aus einem Munde. „Wieso lernen wir so was nicht in Latein?“
Nur Amadeus, der kein Latein hat, schweigt.
„’Wenn ich jetzt jedem von euch zweien ein eigenes Zimmer gäbe und dafür mehrere Sklaven zusammenlegen müsste’, fuhr Claudia fort, ‘würde die Stimmung noch viel beschissener, denn dann würden sie alle glauben, dass ich euch oder einen von euch bevorzuge ...’
O wär’s doch nur so!, dachte ich.
‘... und dann würde sich ihre zelotypia gegen euch richten, und das wäre weder mir noch euch angenehm.’
‘Aber das macht uns doch überhaupt nichts aus’, sagte Markus, während ich gedankenverloren Claudias ausdrucksvolle blaue Augen betrachtete.
‘Ich danke euch. Ich werde gleich dafür sorgen, dass ein zweites Bett hereingestellt wird. Und sobald Curius kommt, lasse ich euch holen.’
Und sie war gerade im Hinausgehen, als man von unten helle Kinderstimmen hörte. Da drehte sie sich um und sagte: ‘Aha, unsere zwei Buben sind soeben vom Lehrer heimgekommen.’
‘Deine kleinen Brüder?’, sagte Markus.
‘Mein kleiner Bruder und ein verna’ – dieser Ausdruck bezeichnet ein im Haus geborenes und mit den freien Kindern wie Bruder oder Schwester aufwachsendes Sklavenkind. ‘Kommt ihr mit? Ich zeige sie euch.’
Also begleiteten wir sie hinunter, fanden aber nur das Sklavenkind, einen ungefähr zehnjährigen Buben, der uns höflich begrüßte und auf Claudias Frage, wo Secundus sei, wortlos auf die Tür der Latrine zeigte. Er war ein sympathisches Bürschchen mit aufgeweckten Augen, schmalem Gesicht und strohblonden Haaren. Claudia stellte ihn uns als Ucco vor. Bald ging die Klotür auf, und Secundus, ihr kleiner Bruder, trat heraus. Da blieb mir beinah die Spucke weg: Was für ein Kontrast, nicht nur zu Ucco, sondern vor allem zu Claudia! Er besaß genau die schwarzen Augen und Haare seines Herrn Papa und hatte im Übrigen sehr hübsche und feine Gesichtszüge. Leider erwies sich die Unterhaltung mit den beiden als recht mühsam, da wir ihr Latein besonders schlecht verstanden.
Begleitet von einem jungen Sklaven, traf schließlich Curius ein. Er begrüßte uns äußerst jovial, und diesmal versuchte er, gleich vom Anfang an langsam und deutlich zu sprechen. Es sei ihm schon mitgeteilt worden, dass wir ja doch Latein verstünden, und es freue ihn, uns so bald wieder zu sehen, und er sei uns so dankbar, dass wir heute Morgen Claudia vor Unheil bewahrt hätten.
Inzwischen hatten sich Claudias Vater, sichtlich frisch rasiert, gekämmt und gebadet, und auch Claudias Mutter zu uns gesellt, und es gab ein großes Händeschütteln. Und dann erst betraten wir das Esszimmer. Das war nun freilich eine ganz andere Art von Esszimmer als in dem Bauernhof gestern Abend. Erstens waren die Wände mit wunderschönen Malereien geschmückt. Vor allem aber saß man hier nicht auf Stühlen. Sondern rund um den Tisch standen an drei Wänden drei riesige, mit großen Decken überzogene Betten mit schräger Liegefläche, und zwar so, dass sie an der Wand niedriger, auf der dem Tisch zugewandten Seite höher waren. Während wir noch mit offenem Mund dastanden, merkten wir, dass uns die Schuhe ausgezogen wurden: Der kleine Ucco und ein junger Mann zogen allen die Schuhe aus, bevor sie sich auf die Betten legten, und dem guten Curius, der ja von auswärts gekommen war, wurden sogar die Füße gewaschen.
Inzwischen legte sich Syrus schräg auf das Bett links vom Tisch, und zwar auf seine linke Seite, indem er sich über einem dicken Polster auf den linken Ellbogen aufstützte. Curius legte sich auf die gleiche Weise zu Syrus aufs Bett, und zwar so, dass sich sein Kopf auf der Höhe von dessen Bauch befand. Ähnlich legten sich auf das Bett rechts vom Tisch Claudias Mutter Curius gegenüber und Claudia selber ihrem Vater gegenüber. Markus und ich wurden von Syrus angewiesen, auf dem mittleren Bett Platz zu nehmen; der Platz gleich links von ihm sei für den Ehrengast bestimmt. Nun, den überließ ich gerne Markus und begnügte mich mit dem angeblich weniger ehrenvollen Platz hinter ihm, das heißt, rechts von ihm. Denn ratet einmal, wessen Kopf sich auf diese Weise direkt vor meinen Augen befand!
Nur, zum Schnabulieren gab’s noch immer nichts. Die Schüsseln, die als Erstes hereingebracht wurden, enthielten nichts als heißes Wasser, in dem sich alle die Hände waschen mussten. Als „Beilage“ gab’s für jeden ein Handtuch zum Abtrocknen. Dieses durfte man sich sogar behalten, während die Wasserschüsseln wieder hinausgetragen wurden.
Nun wurde endlich das Essen serviert. Jeder bekam ein kleines Schüsserl mit Eiern und einer lecker duftenden Sauce und dazu einen Löffel. War das alles? Und überhaupt: Was heißt ‘Mahlzeit!’ auf Lateinisch? Ich warf einen fragenden Blick auf Claudia. Aber die löffelte schon eifrig. Also machte man’s offenbar wie die Engländer: Man begann ganz einfach zu schmausen, ohne den anderen einen guten Appetit zu wünschen.
Das Essen schmeckte ausgesprochen lecker. Aber es war schnell ausgelöffelt. Ucco sammelte die leeren Schüsseln wieder ein und wischte mit einem Tuch den Tisch ab, während der andere die Schüsseln forttrug und gleich darauf mit einer großen gefüllten Glasflasche zurückkam. Doch bevor wir noch erfuhren, womit sie gefüllt war, mussten schon wieder die Hände gewaschen und abgetrocknet werden, und jeder erhielt einen Becher aus Keramik. Die Flasche wurde nicht entkorkt oder so, sondern „entgipst“, und wieder ein anderer goss einen Teil ihres Inhalts durch ein Sieb in einen großen Krug mit zwei Henkeln, gab Wasser hinzu und schwenkte ihn mit feierlicher Gebärde. Dann füllte er mit dieser Mixtur jedem den Becher. Es war, wie ich vermutet hatte, Wein, und ich kostete, und er war ganz warm, schmeckte aber hervorragend. Aber leider war das ein Fehler gewesen, ich meine, das Kosten, und ich zog mir strafende Blicke zu. Offenbar durfte man beim Wein nicht einfach drauflostrinken. Da! Syrus hob seinen Becher und sagte etwas, was recht feierlich klang, und machte einen Schluck. Hierauf flüsterte Claudia mir zu, mein Vater habe uns begrüßt und nach Namen und Herkunft gefragt.
Hu, ich muss feuerrot angelaufen sein. Aber ich fasste mich und stellte Markus als Armin und mich als Ariovist vor und erklärte, wir seien Freunde und kämen aus Germanien (damit wir nicht wieder für göttliche Brüder gehalten wurden, nicht wahr).
Und jetzt müssten wir unsere Becher heben und dem Hausherrn etwas wünschen, flüsterte Claudia. Na gut, wir hoben unsere Becher, brachten aber nichts Vernünftiges heraus, sondern stammelten herum und sagten dann, um die peinliche Situation zu beenden, einfach, dass wir uns herzlich bedankten.
Dann kam Curius dran. Er sprach davon, dass, wenn wir so berühmte Namen tragen, aus berühmten und vornehmen Häusern kommen müssten.
Naja, dazu lächelten wir nur säuerlich.
Als Nächstes hob ihren Becher Claudias Mutter, die zu unserer Überraschung gar nichts sagte, und schließlich Claudia, deren Mund so nahe dem meinen war, dass ich ihn leicht hätte küssen können. Ihre Nähe begann mich, zumal mit diesem tollen Wein, immer stärker zu erregen. Claudia also wünschte uns, wenn ich richtig verstanden habe, viel Freude und gute Freundschaft, solange wir in diesem Haus weilten. Nachdem sie getrunken hatte, flüsterte sie mir zu: ‘Meine Mutter Vinda ist nämlich seit einiger Zeit stumm.’
Nun wurde endlich die Hauptspeise aufgetragen. Und jetzt wurde uns auch klar, wozu das pausenlose Händewaschen gut war: Wir speisten nämlich nicht mit Messer und Gabel, sondern mit den Fingern wie angeblich die Inder. Aber gut war’s, sag ich euch! So was Köstliches hatte ich, glaub ich, mein Lebtag noch nie schnabuliert. War das eine typisch römische Schlemmerei mit der berüchtigten Feder, mit der man sich die Kehle kitzelte, wenn man nicht mehr konnte? Oder war das Alltagskost? Na, man würde ja sehen.
Während dem Essen wurde eifrig geplaudert. Wir verstanden natürlich kaum was. Manches zwar schon, so zum Beispiel, wie sich die beiden Herren köstlich über unser Abenteuer im Haus mit den vielen spärlich bekleideten Mäderln amüsierten und dass eine Zeit lang über Vinda, Claudias Mutter, geredet wurde und dabei Ausdrücke fielen wie ‘Tempel’, ‘schlafen’, ‘träumen’. Und dann wandte sich Syrus wieder zu uns. Er sprach davon, dass es ihm gar nicht unwillkommen sei, dass wir jetzt eine Zeit lang für ihn arbeiten müssten. Denn es gebe gerade im Augenblick ungewöhnlich viel Arbeit für seinen Betrieb. Beispielsweise solle das Kapitol rasch fertiggebaut werden, und auch die Villa seines patronus Curius hier sei jetzt mit Marmorplatten zu verkleiden.
Daraufhin sagte Markus in seiner vorlauten Art: ‘Ich dachte, das Kapitol sei in Rom?’
Da rief Curius aus: ‘Na, was habe ich gesagt? Diese zwei germanischen Jünglinge hier kommen aus vornehmen Häusern. Ein einfacher Germane ist sicher nicht so gebildet, dass er die sieben Hügel Roms kennt.’
Und Claudia erklärte: ‘Kapitol nennt man auch den großen und berühmten Tempel des Jupiter, der Juno und der Minerva, der auf dem kapitolinischen Hügel steht und der wichtigste Tempel Roms ist. Einen solchen Tempel will auch die Bürgerschaft von Virunum haben, und zwar unter demselben Namen.’
Übrigens stellte sich bald heraus, dass da überhaupt keine Schlemmerei im negativen Sinn stattfand. Die Menge der Speisen war zwar absolut ausreichend, aber keineswegs übertrieben. Oder sollte ich mich getäuscht haben? O nein, nur ein Nachtisch werde noch serviert, flüsterte mir Claudia zu. Aber vorher gab’s noch einmal die schon bekannte Prozedur mit Händewaschen et cetera. Aber danach und noch vor dem Nachtisch passierte was höchst Merkwürdiges: Alle Becher wurden neu gefüllt, und bevor der erste Schluck getan wurde, wurde ein Tropfen auf den Boden ausgegossen, und dazu riefen sie aus: ‘Laribus!’, das heißt: ‘Für die Hausgötter!’ Danach wurde noch ein zweiter Tropfen ausgegossen, und dazu rief Syrus: ‘Genio imperatoris Caesaris Vespasiani Augusti feliciter!’ (Das heißt: ‘Es lebe der Genius des Kaisers Caesar Vespasianus Augustus!’)
Zuletzt gab’s, wie gesagt, einen Nachtisch, bestehend aus verschiedenen Süßspeisen, Rosinen und Datteln, und nach einem allerletzten Händewaschen wurden unsere Schuhe und Sandalen hereingebracht und, wie man so schön sagt, die Tafel aufgehoben.“
Und Markus: „Stimmt nicht. Entschuldige, aber das Wichtigste hast du vergessen.“
„So?“
„Ja eben. Nachdem wir die Hände zum letzten Mal gewaschen hatten, kam doch noch Klein-Ucco mit genauso einer Lyra herein, wie sie Melissa gespielt hatte. Und zuerst spielte er uns mit den bloßen Fingern genau wie Melissa ein hübsches Musikstück vor. Danach holte er aus seinem Gewandbausch so ein kleines Eisenstaberl, ein so genanntes Plektron, und begann damit die Saiten zu schlagen und, nach einem kurzen Vorspiel auf der Lyra allein, zu seinem Saitenspiel zu singen. Diese Musik war für mich ein größerer Genuss als das Abendessen, weil sie mich so an Melissa erinnerte. Ende der Durchsage.“
Und Stefan: „Ja, richtig. Mir tat nämlich der linke Arm und die linke Schulter schon so weh, dass ich gar nicht mehr wusste, wie ich liegen sollte. Ich war ja diese Art zu speisen überhaupt nicht gewohnt. So war ich einerseits froh, dass ich wieder aufstehen konnte. Andererseits fiel es mir schwer, mich von Claudia trennen und ihr gute Nacht sagen zu müssen. Aber sie schien schon irgendwas gemerkt zu haben und sagte, fast wie um mich zu trösten, morgen um die erste Stunde würden wir uns wieder sehen, und sie würde uns rechtzeitig wecken lassen. Und sie trug Ucco auf, für jeden von uns ein Öllämpchen zu bringen.
Unserem Markus tat natürlich genauso die linke Schulter und der linke Arm weh, und er hätte eigentlich noch ganz gern einen kleinen Spaziergang durch die Straßen des nächtlichen Virunum gemacht. Aber andererseits waren wir beide so erschöpft, dass wir heilfroh waren, ins Bett fallen zu dürfen. Ein zweites Bett war übrigens in der Zwischenzeit tatsächlich in das uns zugedachte Zimmer gestellt worden. Und ich wäre wahrscheinlich auch auf der Stelle eingeschlafen. Aber Markus hatte noch was auf dem Herzen.
‘Sag, ist dir was aufgefallen?’, sagte er.
‘Nein’, murmelte ich. ‘Was hätte mir denn ...’
‘Na, was Syrus beim zweiten Trankopfer gerufen hat.’
‘Da war doch nichts Auffälliges dran. Einfach ein Glückwunsch an den Genius des Kaisers Augustus, der jetzt, im Jahre 6 vor Christus, regiert. Oder nicht?’
‘Nein, eben nicht.’ Markus wurde ganz aufgeregt. ‘Ich hab genau zugehört. Er sagte: Der Genius des Kaisers Caesar Vespasianus Augustus. Welcher Kaiser ist das, möchte ich wissen? Hat sich Augustus jemals Vespasianus genannt? Eher hat sich doch der Spätere nach dem Früheren genannt, oder? Und was ist die Regierungszeit von Vespasian?’
‘Das weißt du doch: 69 bis 79 nach Christus.’
‘Eben. Und falls wir uns nun wirklich in dieser Zeit befinden ...’
‘... so heißt das, dass unsere Zeitmaschine uns um zirka 75 bis 85 Jahre zu früh abgesetzt hat.’
‘... so hat der Computer einen Fehler von zirka 75 bis 85 Jahren gemacht.’
‘Übrigens, habe ich das richtig formuliert: Unsere Zeitmaschine hat uns zirka 75 bis 85 Jahre zu früh abgesetzt? Hätte ich nicht sagen sollen: Um zirka 75 bis 85 Jahre zu spät?’
Aber Markus gab darauf keine Antwort. Er murmelte: ‘Das würde erklären, warum Virunum schon existiert.’“
„Nächster Morgen. Wir schauten erst einmal in die Küche, ob’s ein Frühstück gibt, und stießen dort auf Primitiva, die uns mit großen Augen anschaute, als sie unser Verlangen hörte, und uns je einen Becher mit Wasser reichte. Als wir, etwas verblüfft, fragten, ob das alles sei, schüttelte sie zwar über unsere Unersättlichkeit den Kopf, brach uns aber dann doch je ein großes Stück Brot aus einem runden Laib und reichte uns Vielfraßen noch je einen Becher Milch.
Wir dankten, stürmten die Latrine und gingen anschließend wieder in den Peristylhof hinaus, um zu sehen, ob wir dort vielleicht sonst noch jemanden antreffen würden, und überhaupt zu erkunden, was sich im Haus so alles tat. Und es tat sich allerhand. Mehrere Männer und Frauen waren bereits eifrig an der Arbeit, um, bewaffnet mit Eimern, Tüchern, Besen, Leitern und Stangen, an denen Schwämme befestigt waren, das Haus auf Hochglanz zu bringen. Sie streuten Sägemehl auf den Fußboden und kehrten es anschließend zusammen mit dem Schmutz fort. Mit den Schwämmen putzten sie die Säulen, Bänke und Simse und stiegen auf die Leitern, um die Decken zu reinigen.
Während wir fasziniert dieses Schauspiel betrachteten, klatschte plötzlich etwas direkt hinter unserem Kopf, sodass wir wie elektrisiert auffuhren und uns erschrocken umdrehten. Und wer stand da hinter uns und lachte uns fröhlich ins Gesicht? Die süße Claudia! Da konnte ich mich nicht zurückhalten und legte meine Hände um ihren Kopf und drückte ein Küsschen – nein, nicht auf den Mund, das hätte ich mich nie getraut, aber auf beide Wangen. Im nächsten Moment erschrak ich jedoch nicht schlecht über meine Kühnheit und machte vermutlich ein entsprechendes Gesicht.
‘Na, du bist mir aber ein stürmischer Liebhaber!’, sagte sie lachend. ‘Hoffentlich hat das keiner von denen dort gesehen.’
Sie fragte, ob wir für heroische Taten gerüstet seien. Und als wir eifrig bejahten, forderte sie uns auf, mit ihr in den Werkstättenhof zu gehen. Dort werde uns ihr Vater zeigen, was wir zu tun hätten. Sie selber müsse wie am Vortag zuerst mit einer Lieferung Marmorquadern zum Kapitol und dann mit einer Lieferung Marmorplatten zu Curius’ Villa.
Da musste ich an das letzte Gespräch mit Markus vor dem Einschlafen denken und sagte so unvermittelt, dass sie ganz erstaunt dreinschaute: ‘Claudia, wie heißt der Kaiser?’
‘Vespasianus. Wusstest du das nicht?’
‘Ich war nicht sicher. Ich meinte es eigentlich nur als Einleitung zu einer viel wichtigeren Frage, wo ich auch nicht sicher bin: Findest du mich nett?’
Da lachte sie hell auf und sagte spontan: ‘O ja, ich finde dich sehr nett.’
‘Ich dich auch. Und ich würde dich am liebsten überallhin begleiten. Ich glaube, du bist eine Zauberin. Du hast mich total verzaubert.’
‘Pst! Sag so was nicht! Gehen wir lieber in den Werkstättenhof! Aber dort dürfen wir nicht so miteinander reden. Du weißt: Die Eifersucht!’
Im Werkstättenhof herrschte lebhafter Betrieb. Mehrere Männer beluden gerade einen der Wagen mit regelmäßig zugehauenen Marmorquadern. Syrus begrüßte uns kurz, klatschte in die Hände, um sich bei allen Aufmerksamkeit zu verschaffen, stellte uns vor und erwähnte, dass wir Germanen seien.
Nun, wenn ich behaupten wollte, dass vonseiten unserer neuen Kollegen die Begrüßung übertrieben herzlich ausgefallen ist, so müsste ich lügen. Bei einigen kam’s mir sogar vor, als würden sie die Nase rümpfen, als sie hörten, wir seien Germanen.
Hierauf zeigte uns Syrus, was wir zu tun hätten. Er drückte jedem einen Meißel, einen Hammer und ein Winkelmaß in die Hand, führte uns zu einem Stapel roh zugehauener Steinblöcke und erklärte uns, wie man Schnüre, die in bestimmten Abständen Knoten hatten, in Behälter mit roter Farbe taucht und an die Blöcke anlegt, um diese mit Markierungen zu versehen, bis zu denen gemeißelt wird, und wie man dann mit Hilfe von Quarzschmirgel eine glatte Oberfläche erzielt. Nachdem er uns schließlich an einen Sklaven mit dem witzigen Namen Lotto verwiesen hatte, falls wir Fragen hätten oder Hilfe bräuchten, während er selber nicht hier sei, ließ er uns allein. Claudia war in der Zwischenzeit mitsamt ihrer Fuhre verschwunden.
Ich stieß Markus in die Rippen. ‘Hast du gehört, was Claudia gesagt hat?’
‘Klar. Dass sie dich sehr nett findet.’
‘Aber das meine ich ja nicht. Sondern wie der gegenwärtige Kaiser heißt.’
‘Ach so. Na klar. Also ist es doch Vespasian, wie wir schon vermutet oder befürchtet haben. 69 bis 79 nach Christus, oder 75 bis 85 Jahre zu früh – oder zu spät, wie man’s nimmt. Und das würde auch erklären, wieso wir offensichtlich nicht am 8. Juli, sondern irgendwann im Frühjahr gelandet sind.’
Nach einiger Zeit tat Markus einen Aufschrei und sagte ... Aber erzähl doch lieber selber, was du gesagt hast!“
Und Markus: „Ja, urplötzlich kam mir die Erleuchtung. Ich griff mir an den Kopf, rief ‘Heureka!’, und sagte: ‘Du, ich glaube, das ist wie bei einer Schifffahrt auf einem Fluss. Stell dir vor, du hast ein computergesteuertes Schiff und stellst die Antriebsenergie auf, sagen wir, 20 Kilometer ein. Je nach der Stärke der Strömung wird dann das Schiff flussaufwärts vielleicht nur 19 Kilometer, flussabwärts aber 21 Kilometer weit fahren. Und genau wie das Wasser im Fluss fließt doch auch die Zeit, und wir schwimmen mit ihr mit, und die Funktion einer Zeitmaschine ist es doch gerade, dieses Mitschwimmen mit dem Zeitfluss zu durchbrechen. Wenn man also wie wir in die Vergangenheit reist, so reist man damit gegen den Zeitfluss und hat entsprechenden Widerstand zu überwinden. Und deshalb hat uns unser Maschinchen um 75 bis 85 Jahre zu früh abgesetzt, und weil es gegen den Zeitfluss gereist ist, bedeutet zu früh eben zu spät. Alles klar?’“
Und Stefan: „Ich wollte Markus eben ein Kompliment machen, da kam einer der Kollegen zu uns herüber und sagte etwas zu uns, was wir zwar nicht verstanden; aber der nicht übertrieben freundliche Ton seiner Worte erweckte in uns den Verdacht, dass sie nicht gerade als Lob gemeint waren, zumal er zum Abschluss in deutlich abfälligem Ton die Germanen erwähnte. Wir erwiderten darauf nichts und nahmen auch unser Gespräch zunächst nicht wieder auf, sondern widmeten uns hingebungsvoll unserer Arbeit, bis schließlich Markus das Schweigen brach und meinte, wahrscheinlich habe er ihn durch sein ‘Heureka!’ auf sich aufmerksam gemacht, und leise könnten wir ruhig miteinander reden. Er setzte seinen Vorsatz auch gleich in die Tat um und fing an, von Melissa zu schwärmen, und fragte sich, ob er sie jemals wieder sehen werde.
Das Meißeln wurde uns bald langweilig und anstrengend, und wir begannen Pausen einzulegen. Dabei fiel uns ein sonderbarer Brunnen auf, der aber doch wieder kein Brunnen zu sein schien, weil er dafür viel zu klein war und der Wasserstrahl, der in das halbkreisförmige Becken rann, viel zu dünn war. Er erregte meine Neugier, und ich erlaubte mir, zu ihm hinzuschlendern und ihn in Augenschein zu nehmen.
Zuoberst war eine winzige Brunnenschale, und diese hatte in ihrem Innern eine Skala mit Zahlen von I bis XII. Während ich noch diesen Mechanismus studierte und gerade feststellte, dass das Wasser langsam anstieg und zur Zeit zwischen den mit III und IIII bezeichneten Linien stand, hörte ich, wie hinter mir ein Gemurre laut wurde. Den Sinn des Gemurres glaubte ich sogar zu verstehen: Ich könne es wohl nicht erwarten, bis die siebente Stunde komme und die Arbeit zu Ende sei. Jetzt war mir zwar nicht sehr behaglich zu Mute, dafür aber klar, was das für ein Ding war: eine Wasseruhr. Und nach der siebenten Stunde soll die Arbeit schon zu Ende sein? Na, mir soll’s recht sein.
Tatsächlich tat uns schon bald der ganze Körper weh, nicht bloß die Hände, von den blauen Flecken, mit denen sie inzwischen übersät waren, ganz zu schweigen, und wir glaubten es nicht einmal mehr bis zur siebenten Stunde auszuhalten. Und als das nächste Mal Lotto nachschauen kam, klagten wir ihm unser Leid. Er hieß uns aufstehen und mitkommen, führte uns zu einem Holzgestell, in dem mehrere Amphoren steckten, nahm zwei von ihnen heraus und drückte jedem eine in die Hand. Und dazu sagte er: ‘Da, holt frisches Wasser für die Wasseruhr und für uns zum Trinken und Händewaschen! Wisst ihr, wo der nächste öffentliche Brunnen ist?’
O ja, das wussten wir. Schließlich hatten wir erst gestern an ihm unseren Durst gelöscht. Dankbar packten wir die Amphoren mit beiden Händen und machten uns auf den Weg.
Amphoren: Das sind hohe, längliche Tonflaschen, die unten spitz auslaufen, damit man sie zum Kühlhalten in den Sand oder in die Erde stecken kann. Und darum benötigen sie andernfalls ein Gestell, damit sie nicht umfallen, oder man lehnt sie halt irgendwo an. Aber das Wesentliche an ihnen sind die zwei Henkel zu beiden Seiten des Flaschenhalses, die ihnen auch den Namen gegeben haben. Dieser drückt nämlich aus, dass man sie mit beiden Händen trägt.
Jetzt ließen wir uns Zeit. Wir schlenderten von Geschäft zu Geschäft und schauten und schauten und sahen vieles mit anderen Augen als gestern bei unserem triumphalen Einzug. Viel zu früh waren wir dann bei dem Brunnen angelangt. Also tranken wir halt erst einmal selber und hielten dann vorsichtig die Amphoren unter. Zuerst füllte Markus die seine, und dann ich die meine. Und ich war eben dabei, das inzwischen sauschwer gewordene Zeug mit beiden Händen anzupacken und aufzuheben, da stieß Markus einen markerschütternden Schrei aus, den ich vor Schreck gar nicht verstand, und dann noch einen. Und den verstand ich. Er lautete: ‘Melissa!’ Und als ich mich umdrehte, sah ich auch schon ein junges Ding mit einer großen Lyra im Arm knapp vor einem Wagen über die Fahrbahn flitzen, dass ich schon glaubte, sie müsste im nächsten Moment unter die Räder oder unter die Hufe kommen; und der Kutscher hob drohend die Hand und fluchte wie ein Autofahrer. Und dann schaute es einen Augenblick so aus, als wollte sie Markus um den Hals fallen. Aber das tat sie dann doch nicht, sondern schaute ihn schweigend an, und er schaute sie schweigend an, bis ich ihm sagte, er solle mir doch seine Amphore geben, ich würde damit schon zurechtkommen. Und tatsächlich gelang es mir irgendwie, meine Amphore mit nur einer Hand zu halten und mit der anderen ihm die seine zu entreißen – so muss ich’s fast nennen; er selber war ja zu dem Zeitpunkt wie in Trance – und beide unbeschädigt, und ohne allzu viel zu verschütten, daheim abzuliefern.
Das größere Problem war, das Verschwinden oder Ausbleiben unseres Markus zu erklären. Zuerst tat ich gegenüber Lotto so, als würde ich nichts verstehen. Dann fiel mir ein, was wir gestern nach dem Trinken am Brunnen als Nächstes unternommen hatten, und ich sagte: ‘Latrinae!’ Aber ganz befriedigt war er von der Antwort, glaube ich, nicht. Darum sagte ich gleich darauf: ‘Arbeiten für zwei!’ Ich habe keine Ahnung, wie er das auffasste, aber jedenfalls führte er mich zu einem wunderschönen fertigen Inschriftenstein (‘-stele’ sollte ich eigentlich sagen), drückte mir einen superfeinen Pinsel in die Hand und trug mir auf, die bereits eingemeißelten Buchstaben mit roter Farbe aus einem Farbtiegel auszumalen. Na, im Vergleich zum Meißeln war das ja direkt eine Erholung.
Markus kam nach mindestens einer Stunde wieder zurück. Und was er in der Zwischenzeit getrieben hat, soll er nur selber erzählen.“
Und Markus: „Naja, ich wartete also gerade mit der vollen Amphore in den Händen, bis Stefan die seine angefüllt hätte, da sehe ich auf der anderen Straßenseite die Melissa daherkommen, und zwar, wohlgemerkt, in normaler, langer Damentunica. Zum Glück hörte sie meine Zurufe, denn ansonsten hätte ich ja die Amphore fallen lassen müssen, um ihr nachlaufen zu können. Und wie schnell sie herüben war – wie der Blitz! Und dann stand sie bloß da und schaute mich mit ihren großen, dunklen Augen an und sagte kein Wort, und ich sah nur sie und wusste nicht, was um mich herum vorging, und spürte die Last der vollen Amphore überhaupt nicht mehr und merkte plötzlich, dass ich sie wirklich nicht mehr in meinen Händen hielt. Und da fiel ich ihr um den Hals und küsste sie ... und küsste sie ... Ich weiß nicht, wie lang ich sie so küsste, aber als ich aufhörte, sie zu küssen, und mich von ihr löste, gab’s ringsum Applaus, und da erkannte ich, dass wir von einem Kreis amüsierter Zuschauer umringt waren, und fragte sie, ob ich sie begleiten und ihr die Lyra tragen dürfe, und sie nickte nur und strahlte übers ganze Gesicht. Unterwegs erzählte sie mir, dass sie gerade aus der Musikschule komme. Die sei hier in der Nähe. In ihr bekomme sie Unterricht im Kitharaspiel und in Gesang. Ihr Instrument sei nämlich keine Lyra, sondern eine Kithara.
Wie oft sie in diese Schule gehe?
Täglich außer an Markt- und Feiertagen.
Und wie lange der Unterricht dauere?
Von der ersten bis zur vierten Stunde.
Und jetzt sei sie auf dem Heimweg?
Jetzt sei sie auf dem Heimweg.
Pause.
Ob ich sie am Nachmittag treffen könne, natürlich außerhalb ihres „Heims“?
Nein, leider nicht, da müsse sie arbeiten. Im Heim.
Und am Abend oder in der Nacht?
Nein, auch da nicht.
Ja, sie werde ja gehalten wie eine Sklavin.
Antwort: Sie sei Sklavin.
Pause.
Was könne man da tun?
Es gebe nur zwei Möglichkeiten: Entweder man miete sie, oder man kaufe sie frei. Ihr Herr und ihre Herrin verstünden keinen Spaß, wenn’s ums Geld gehe.
Lange Pause.
Wie alt sie sei?
17 Jahre.
Ob ihre Eltern das eigentlich erlaubten?
Sie kenne ihre Eltern nicht.
Inzwischen waren wir vor ihrem Heim angelangt. Ich fragte sie, ob wir nicht noch eine kleine Runde machen könnten, bevor wir uns trennen müssten. Begeistert nahm sie den Vorschlag an und zeigte mir noch einen Teil von Virunum. Hie und da küssten wir uns. Wir waren selig und unglücklich zugleich, weil wir wussten: Das Schicksal wird uns nicht zusammenbringen. Aber ich versprach ihr zu tun, was ich tun könne, nämlich auf sie warten, sie nach Hause begleiten, ihr die Kithara tragen, mit ihr plaudern, sie küssen, und bat sie, auf mich zu warten, sollte ich noch nicht beim Brunnen sein, wenn sie aus der Schule kommt. Dann fiel mir noch was ein, und ich versprach ihr, zu versuchen, sie am Morgen abzuholen und in die Schule zu begleiten. Schließlich versicherte ich ihr noch mindestens hunderttausend Mal, dass ich unsterblich in sie verliebt sei, und sie bezeichnete mich mit einem Ausdruck, den ich auf direkt groteske Weise missverstand. Sie flüsterte immer wieder: ‘Meus amor!’ Und ich fasste das so auf, als würde sie mich ‘ihren Amor, ‘ihren Liebesgott’ nennen, und musste dabei an unsere Erfahrungen mit den keltischen Bauersleuten denken. Erst später wurde mir klar, dass sie damit in Wirklichkeit meinte: ‘Mein Geliebter’.“
Und Stefan: „Ja, als nun Markus zurückkehrte, kam es zu einem kleineren Volksaufstand. Man wisse ja allgemein, dass die Germanen die meiste Zeit mit Müßiggang verbringen. Ihre Faulheit sei sprichwörtlich. Ihre Hauptbeschäftigung sei Schlafen, Essen und Vögeln. Das dürfte im Wesentlichen der Kern der Aussagen unserer lieben Kollegen gewesen sein, soweit wir sie überhaupt verstanden. Zum Glück zeigte Lotto einiges Verständnis für uns und versuchte die aufgeregte Volksseele zu beschwichtigen. Sobald aber wieder Ruhe eingekehrt war, belehrte er uns und speziell Markus, dass es so nicht gehe und dass, sollte das noch einmal vorkommen, er es dem dominus melden müsste.
Es war vielleicht eine halbe Stunde später, da ging das Hoftor auf, und Claudia fuhr auf ihrem Wagen herein, und mir begann das Herz zu klopfen. Fröhlich grüßte sie die ganze Runde und wurde ihrerseits von allen erwartungsvoll gegrüßt. Nachdem sie abgestiegen war, kam sie zu uns, besah sich unsere Hände und fragte, wie es uns gehe. Ich konnte mir eine anzügliche Bemerkung nicht verkneifen und sagte: ‘Ganz schlecht, seitdem du weg warst!’ Da lachte sie süß und fragte Markus, wie das bei ihm gewesen sei. Er erzählte ihr von seiner Begegnung mit Melissa und kündigte an, er habe vor, sich jetzt täglich mit ihr zu treffen außer an Markt- und Feiertagen.
‘Was sind eigentlich Markttage, und wie oft finden sie statt?’
‘Jeden neunten Tag’ (das heißt alle acht Tage). ‘Die Tage werden im Kalender in regelmäßigem Wechsel mit den Buchstaben A, B, C, D, E, F, G, H benannt, und der Tag H ist Markttag. Da kommen die Landleute in die Stadt, um einzukaufen und Behördengänge zu machen. Aber auch in der Stadt selber haben viele wie zum Beispiel wir in unserem Betrieb arbeitsfrei, und die Schüler gehen nicht zum Lehrer.’
‘Und welcher Tag ist heute?’
‘E.’
‘Das heißt, in drei Tagen werden die Schüler und Schülerinnen nicht zur Schule gehen?’
‘So ist es.’ Und nach einem Blick auf unsere Füße: ‘Was mir gerade einfällt: Primitiva hat mir erzählt, und jetzt ist es mir selber aufgefallen, dass ihr nur so komische Sandalen habt. Besitzt ihr keine ordentlichen Schuhe? Nein? Wisst ihr was? Gleich anschließend muss ich wieder weg, aber am Nachmittag oder besser am Abend nach dem Bad werde ich euch aus unserem Vorrat passende Schuhe heraussuchen. Ihr könnt doch nicht in der Öffentlichkeit immer mit Sandalen herumlaufen.’
‘Wieso denn nicht?’, so Markus erstaunt.
Da schaute sie ihn ihrerseits erstaunt an und sagte: ‘Weil das gegen die guten Sitten verstößt.’
Jetzt staunten wir noch mehr, und ich glaubte Markus zu Hilfe kommen zu müssen und sagte: ‘Na so was! Und wir dachten, die Römer tragen immer nur Sandalen.’
‘Wer hat euch denn diesen Unsinn erzählt? Übrigens sieht es heute sehr nach Regen aus. Und bei Regen könnt ihr ja wirklich nicht mit Sandalen herumlaufen.’
Sie ging ins Haus, ‘um rasch ein Mittagessen einzunehmen’, und kam nur wenige Minuten später wieder heraus, bestieg den inzwischen beladenen Wagen und fuhr mit einem fröhlichen Gruß an alle wieder davon.
Nicht ganz so fröhlich klang hingegen der Gruß, mit dem unsere Arbeitskollegen Claudia verabschiedeten. Und kaum war sie in die Straße eingebogen, da erhob sich lang andauerndes zorniges Gemurmel, und nach einiger Zeit rief einer von ihnen uns was zu, was wir nicht verstanden. Das sagten wir ihm und baten ihn, doch langsamer zu sprechen. Er redete daraufhin zwar nicht langsamer, aber lauter. Wir verstanden es noch immer nicht. Wir baten abermals, und nun sprach er so langsam, dass wir den Sinn seiner Worte begriffen. Er meinte schlicht und einfach, wir sollten ja die Hände von Claudia lassen.“
„Nun machte uns auch die Ersatzarbeit keine rechte Freude mehr, und wir waren ausgesprochen erleichtert, als Lotto eine Glocke läutete und damit das Ende des heutigen Tagewerks anzeigte – sozusagen Feierabend, abgesehen davon, dass es nicht Abend war, sondern Zeit fürs Mittagessen. Und gleich darauf erschien Primitiva mit Brot, Käse, jungem Zwiebel, Knoblauch und getrockneten Feigen, und jeder nahm davon im Stehen ein paar Bissen, und das war’s. Jetzt war uns auch klar, wieso Claudia so rasch mit ihrem Mittagessen fertig sein konnte.
Darauf verabschiedeten sich die drei freien Arbeiter und verließen das Gelände. Offenbar hatten sie also ihr eigenes Zuhause. Die Sklaven gingen ins Haus, und wir blieben allein zurück und machten lange Gesichter. Als Primitiva wiederkam, um die Tabletts in die Küche zurückzutragen, fragten wir sie, was man nach dem Mittagessen normalerweise so tue.
Antwort: ‘Schlafen. Und danach baden.’
Ob sie uns heute wieder ins Bad begleite?
Da schlug sie sich auf den Kopf und rief aus: ‘Ach, wie vergesslich ich schon bin! Ich habe ja noch die zwei tesserae, die mir der Kassier im Bad für euch gegeben hat!’
Sie bat uns, in die Küche mitzukommen. Dort suchte sie eine Zeit lang, aber ohne Erfolg. Danach ging sie mit uns in ihr Zimmer hinauf, und nach längerem Suchen fand sie das Gesuchte auf ihrem Bettvorleger. ‘Ah, die sind mir sicher beim Ausziehen der oberen Tunica unbemerkt aus dem Gewandbausch auf den Boden gefallen. Dorthin hatte ich sie nämlich gesteckt, statt sie euch in die Hand zu drücken.’
Wir sahen nun, was tesserae sind: Kleine Blechscheiben, wie sie ihr der Kassier im Bad gestern für die Geldmünze gegeben hatte. In ihnen waren einige Buchstaben und Zahlen eingestanzt.
‘Passt auf sie gut auf!’, sagte sie. ‘Damit könnt ihr einen ganzen Monat dieses Bad, in dem ihr gestern gebadet habt, benutzen, aber kein anderes.’
‘Gibt’s denn in Virunum noch ein zweites Bad?’, sagte Markus.
‘Fünf. Das größte und schönste ist gleich neben dem Forum. Aber wir gehen natürlich ins nächstgelegene.’
‘Wir?’, hakte ich ein. ‘Heißt das, dass auch die Frauen ins Bad gehen?’
‘Aber selbstverständlich. Welche Frage!’
‘Aber ich habe gestern keine Frauen im Bad gesehen.’
‘Natürlich nicht. Ihr seid ja in der Männerabteilung gewesen. Für Frauen gibt es eine eigene Abteilung mit eigenem Eingang. Und da ich ja selber auch baden möchte und ihr heute bestimmt früher ins Bad gehen werdet als gestern und daher wohl auch spielen und Sport betreiben werdet, kann ich euch heute nicht begleiten. Aber ihr seid ja schon groß und habt meine Begleitung sicher nicht mehr nötig.’
Wir dankten Primitiva und zogen uns in unsere Kemenate zurück, um das befohlene Mittagsschläfchen zu halten. Und tatsächlich tat eine kurze Bettruhe unserem rundum schmerzenden Körper nur gut. Danach gingen wir ins Bad, erinnerten uns dort an Primitivas Bemerkung bezüglich Spiel und Sport und entdeckten einen richtigen Sportplatz unter freiem Himmel und dazu ein großes Schwimmbecken. Dieses enthielt allerdings kein Wasser, offenbar weil heute kein Badewetter herrschte. Es sah tatsächlich nach Regen aus.
In diesem Hof ging es hoch her: Viele turnten mit bewundernswertem Eifer, aber noch mehr gaben sich verschiedenen Spielen hin. Am meisten Anklang fand einerseits das Kegeln mit steinernen Kugeln auf einer gepflasterten Bahn, andererseits eine Art Handballspiel mit ledernen Bällen. Außerdem entdeckten wir in den Säulengängen, die den Hof umgaben, Räume, wo man sich gegen ein Extrahonorar massieren lassen konnte, Imbissstuben, einen Saal, der wie ein kleines Theater aussah, und sogar eine Bibliothek mit unzähligen Buchrollen. Doch leider konnten wir alle diese interessanten Dinge nicht genießen. Wir hatten ja kein Geld, und außerdem trieb mich Markus ständig zur Eile an. Er wolle mit mir unbedingt noch einen Stadtbummel machen.
Also begaben wir uns möglichst bald in den uns schon von gestern bekannten Badetrakt und durcheilten die verschiedenen Badesäle im Schnellzugstempo. Ausziehen, abtrocknen und anziehen mussten wir uns heute selber. Und dann also sofort der Stadtbummel. Und wo führte dieser hin? Natürlich zu Melissas Heim. Dort wanderte der liebe Markus mit mir ein paarmal auf und ab und hoffte, dass irgendein guter Geist ihm Melissa herausführen werde, während mir nicht sehr behaglich zu Mute war. Und ich war heilfroh, als es zu regnen anfing und Markus das Unternehmen abblies.
‘Aber die Primitiva hat doch ausdrücklich gesagt’, sinnierte er vor sich hin, ‘dass auch die Frauen täglich das Bad aufsuchen! Wieso hat dann Melissa das nicht erwähnt? Ich muss sie fragen, gleich morgen früh.’
Daheim erwartete uns schon die liebe Claudia und empfing uns mit ihrem süßen Lachen. Sie führte uns gleich in die Kammer, in der sie am Vortag unsere Tuniken ausgesucht hatte, und kramte aus einem riesigen Vorrat verschiedenster Schuhe, Stiefel und Sandalen einige Schuhpaare heraus, die sie uns anprobieren ließ und unter denen sich tatsächlich für jeden ein Paar fand. Es waren richtige hohe Schuhe aus bläulichem Leder mit ledernen Schuhbändern und dicker, genagelter Sohle. Innen trugen sie alle beide auf der Sohle den Namen des Herstellers eingeprägt: L·AEB·THALES·T·F. Was sie nicht hatten, das waren Absätze.
Dann kramte die brave Claudia noch Kniestrümpfe und Stoffgamaschen für die Waden und dazu Unterhosen, Unterhemden und einen dicken Kapuzenmantel hervor ‘für den Fall, dass es kalt werden sollte. Im Mai kann es bei uns ja noch schneien.’
Mai? Aha, jetzt wissen wir endlich, in welchem Monat wir uns befinden. Bisher wussten wir ja nur: Frühjahr. Da könnte man ja gleich nach dem genauen Datum fragen. Und so fragte ich, der wievielte Mai heute sei.
Antwort: Der dritte Tag vor den Iden. Mit anderen Worten: Der 13. Mai.
Also vormerken: Am 11. Mai irgendeines Jahres zwischen 69 und 79 nach Christus sind wir angekommen. Jetzt fehlt nur noch das genaue Jahr. Eigentlich bräuchte ich nur nach dem Regierungsjahr Vespasians zu fragen. Aber noch traue ich mich nicht; der Schrecken von heute Morgen, als sich Claudia so erstaunt zeigte, dass ich nicht weiß, dass Vespasian Kaiser ist, steckt mir noch in den Knochen. Und Markus traut sich auch nicht.
Ich dankte ihr, blickte ihr in die Augen und sagte: ‘Ich könnte dich pausenlos anschauen! Dabei hab ich dich heute kaum gesehen. Und beim Abendessen ...’
Ich zögerte, und sie rief: ‘Ah, gut, dass du’s erwähnst! Das gestrige Abendessen war natürlich eine spezielle Einladung. Normalerweise werdet ihr mit der familia in ihrem Speisesaal im oberen Stockwerk abendessen.’
Familia, das wissen wir, glaube ich, schon vom Lateinunterricht, aber unser Amadeus weiß es wahrscheinlich nicht, bedeutet eigentlich die Dienerschaft, von famulus ‘Diener’.
‘Morgen aber seid ihr zusammen mit mir bei Curius zum Abendessen eingeladen.’
‘Oh, herrlich! Vielleicht lässt sich wieder diese wunderbare Tischordnung organisieren, dass ich im rechten Winkel neben dir zu liegen komme, sodass ich wie gestern meine Augen an deinem Gesicht weiden kann!’ (So sagt man auf lateinisch.)
Sie antwortete mit einem Blick, der mich total schwach machte, und sagte aus heiterem Himmel: ‘Wollt ihr vielleicht was zum Lesen für heute Abend?’
‘O ja, sehr gern!’, riefen wir begeistert aus. Allerdings kamen uns, während wir errötend ihren Spuren folgten, dann doch einige Bedenken, als wir an das mühsame Übersetzen im Lateinunterricht dachten. Aber da waren wir auch schon im Tablinum angelangt und standen staunend vor mehreren kleinen Schränken, die hinter ihren Türen Regale mit einer Anzahl von liegenden Buchrollen enthielten. Claudia fragte uns, was wir gern lesen möchten, aber das wussten wir natürlich selber nicht.
‘Vielleicht Ovidius?’, sagte sie und schaute dabei mich an. Und unter ihrem Blick schmolz ich wieder einmal total dahin, sodass ich einen Augenblick außer Gefecht gesetzt war und Markus genügend Zeit hatte, ‘Hier!’ zu rufen.
‘Die Liebeskunst oder die Metamorphosen (das heißt, die Verwandlungen)?’
‘Die Liebeskunst!’, rief Markus wie aus der Pistole geschossen. Ganz klar: Aktueller Anlass. Aber eigentlich hätte ich sie auch ganz gut gebrauchen können.
Während Claudia Ovids Liebeskunst hervorsuchte, sagte sie plötzlich: ‘Ah, wir haben ja auch die Liebesgedichte von Ovidius. Möchtet ihr die vielleicht lesen?’
Ja, und so empfing ich aus ihrer Hand die Liebesgedichte von Ovid und Markus die Liebeskunst von Ovid, und wir zogen uns mit den literarischen Schätzen und hungrigen Mägen in unser Zimmer zurück, bis es Zeit fürs Abendessen wäre.
Das war nun das erste Mal, dass wir Buchrollen in Händen hielten, und dementsprechend ehrfürchtig rollten wir sie auf. Natürlich alles Handschriften, von sichtlich routinierter Hand mit Tinte sorgfältig aneinandergefügte Großbuchstaben. Aber o Schreck! Die Zeilen sind ja alle eine lange Wurst! Die Worte werden ja gar nicht voneinander getrennt! Indes, bald erkennen wir, dass das nur eine Frage der Gewohnheit ist und das Lesen auch so geht, wenn vielleicht auch etwas langsamer.
Endlich hatten wir den Dreh heraus, und die Gedichte begannen uns eben Spaß zu machen, als wir eine Glocke läuten hörten. Wir schauten nach, was das zu bedeuten habe, und erfuhren, dass damit die familia zum Abendessen in dem dafür vorgesehenen Speisesaal zusammengerufen werde. Wir gehörten ja praktisch ebenfalls zur familia. Also beeilten wir uns, zur Wildtierfütterung zurechtzukommen. Es waren ohne uns so fünfzehn bis zwanzig Leutchen, die da versammelt waren, darunter auch unsere Arbeitskollegen, abgesehen natürlich von den drei Lohnarbeitern. Primitiva war da und mehrere Kinder, unter ihnen Ucco, und diesen fragten wir, wo denn heute Secundus sei, und er antwortete, mit Eltern und Claudia im Triclinium (so heißt der Speisesaal, in dem man beim Essen liegt und wo wir gestern gespeist hatten). Und dabei fiel uns erst auf, dass man hier ja ganz normal auf Stühlen sitzt, und darüber waren wir direkt froh. Das Essen war auch ganz gut, ebenso der Wein. Nur die Tischgespräche, die waren deutlich weniger gepflegt, denn irgend jemand muss uns mit Claudia zusammen gesehen haben. Jedenfalls schien dies das Hauptthema zu sein, und wir wurden von einigen mit scheelen Blicken angesehen, und es war wahrscheinlich gar nicht so verkehrt, dass wir das Meiste nicht verstanden.
Am nächsten Morgen ließ es sich unser Markus nicht nehmen, nach dem Minifrühstück hinauszurennen, um sich mit Melissa zu treffen und sie bis zu ihrer Musikschule zu begleiten. Syrus war stinksauer, als er ausliefern fuhr und Markus immer noch nicht da war, und mir war’s furchtbar peinlich. Nicht so dem lieben Markus. Fröhlich pfeifend kam er endlich zurück und kümmerte sich einen Dreck um die bösen Blicke und Bemerkungen der anderen. Er schaute auch öfters in die Wasseruhr, und als die vierte Stunde ihrem Ende zuging, stand er auf, holte zwei Amphoren, drückte mir eine davon in die Hand und erklärte Lotto, wir gingen jetzt wieder Wasser holen. Am Brunnen wartete wirklich schon Melissa, und die zwei begrüßten sich wie ein altes Liebespaar, und diesmal begleitete ihn Melissa zuerst bis vors Hoftor, damit ich nicht so weit zu schleppen hätte, bevor er sie nach Hause begleitete.
Später erzählte er mir, dass er ihr heute zwei dumme Fragen gestellt habe.
Erste dumme Frage: In welches öffentliche Bad sie gehe.
Antwort: In gar keines. Sondern sie benutze das private Bad in ihrem Heim.
Zweite dumme Frage: Ob sie die Pille (lateinisch pilula) nehme.
Antwort: ‘Welche Pille denn? Ich bin ja ganz gesund.’“
Und Markus kichert vergnügt.
„Ansonsten ereignete sich bis zum späten Nachmittag nichts Bemerkenswertes. Es war um die zehnte Stunde, als eine besonders hübsche Claudia und zwei germanische Jünglinge in Begleitung eines mit Hausschlüssel und Fackel bewaffneten Sklaven zusammen das Haus verließen, zunächst Richtung Forum wanderten und bei dem uns nun schon so wohl bekannten Brunnen nach rechts einbogen. Nach der nächsten Kreuzung kamen wir an einer großen Baustelle mit riesigen Kränen vorbei – na gut, vielleicht nicht so riesigen, wie sie heutzutage zu sehen sind, aber immer noch riesig genug: Sie bestanden im Wesentlichen aus langen, steil nach oben ragenden Holzbalken, die durch Seile in Schräglage gehalten wurden und offenbar in verschiedene Richtungen geschwenkt werden konnten. Von ihrem oberen Ende hing ein Flaschenzug herunter, der mit einem kleinen „Riesenrad“ kombiniert war. Meiner Claudia blieb unser Staunen nicht verborgen, und sie bemerkte mit sichtlichem Stolz, dass wir so was sicher noch nie gesehen hätten, und erklärte auf unsere Frage, das „Riesenrad“ sei ein Tretrad, das durch Arbeiter im Innern bewegt werde und durch welches man schwerste Lasten hochziehen könne.
Wir fragten Claudia, was hier gebaut werde, und sie antwortete, hier entstehe ein Theater, und ein Stück weit dahinter entstehe ein Amphitheater, und an beiden Bauvorhaben sei der Betrieb ihres Vaters beteiligt. Ob wir wüssten, was ein Theater und ein Amphitheater sei?
Hier fiel es uns wieder einmal recht schwer, ernst zu bleiben und mit unschuldiger Miene zu beteuern, o ja, das wüssten wir schon.
Das Theater lag übrigens genau dort, wo das Gelände anzusteigen beginnt“, und Stefan erhebt sich und zeigt auf die betreffende Stelle hinunter. „Man konnte bereits erkennen, dass es sich wie ein griechisches Theater in den Hang schmiegte. Auf diesen Hang führte also die Straße, und bald machten wir vor einem großen Haus mit prächtigem, säulengeschmücktem Portal Halt.
Claudia betätigte den bronzenen Türklopfer, die Tür ging auf, ein Bediensteter begrüßte uns und führte uns in eine prachtvolle Halle. Dort erwartete uns Curius, und Claudia drückte ihm – schon wieder! – ein Küsschen auf die Wange und mir damit einen kleinen Stich ins Herz. Uns begrüßte er mit den Worten: ‘Ah, da sind ja unsere beiden Dioskuren!’
Dioskuren? Was meine er denn damit?
Ah, das sei der gemeinsame Name für Kastor und Pollux, die beiden feschen Zwillingssöhne Jupiters und Ledas, die Brüder der schönen Helena. Der Name sei griechisch und bedeute ‘Söhne des Zeus’.
Ach, dachte ich, schon wieder die göttlichen Jünglinge! Die verfolgen uns ja direkt!
Curius führte uns in einen herrlichen Peristylgarten mit vielen Bildern und Statuen und durch ihn hindurch in einen zweiten, größeren Garten mit blühenden Bäumen und romantischen Laubengängen und sprudelnden Wasserläufen und rauschenden Brunnen und einem kleinen Teich und phantastischen Gemälden an den Mauern, die diesen Paradiesgarten begrenzten. Und unter einem Vordach entdeckten wir ein gemauertes Triclinium, also drei große Liegebetten rund um einen Tisch, wie wir das vorgestern schon erlebt hatten, aber eben gemauert. Auf dieses Triclinium wies Curius hin und sagte: ‘Hier, hatte ich gehofft, würden wir speisen können, in der frischen Luft und im Anblick des blühenden Gartens. Aber leider hat uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht. Manchmal hab ich immer noch Sehnsucht nach dem Klima Italiens.’
Nach diesem eindrucksvollen Rundgang kamen wir wieder in den Peristylgarten zurück. Und hier stellte uns Curius nun seine liebe Frau Gemahlin vor. Sie hieß Montana und hätte ebenfalls seine Tochter sein können. Danach wurden wir in den Speisesaal geführt, und dort erlebten wir eine Überraschung: Als wir eintreten wollten, erstarrten wir vor Schreck. Der gesamte Boden war über und über mit Küchenabfällen bedeckt: mit Knochen, einem Hühnerkopf und Hühnerkrallen, einem Fischskelett, Krebsscheren, Schneckenhäusern, mit Teilen von Gemüseblättern, Mohnkapseln, den unterschiedlichsten Kernen, Beeren, Schalen, Hülsen und dergleichen mehr. Und über eine halbe Nuss machte sich sogar schon ein Mäuslein her.
Während wir noch wie angewurzelt dastanden, lachten sich die anderen krumm und schief, sodass ich mir schon dachte, dass da etwas nicht ganz stimmt. Aber erst die Maus mit der Nuss zeigte mir des Rätsels Lösung: Als ich zum zweiten Mal hinschaute, merkte ich, dass sie sich nicht bewegte und das Ganze nur gemalt war, aber so täuschend echt – ich glaube, es hätte keinen gegeben, der da nicht drauf hereingefallen wäre. Jedes einzelne Ding warf sogar seinen eigenen Schatten. Es war übrigens natürlich auch kein Gemälde, sondern ein Mosaik. Dagegen waren die Wände voll mit Gemälden, leuchtend und farbenfroh.
Dieser Speisesaal, dessen Fußboden wir nun also endlich zu betreten wagten, war wieder so ein Triclinium, und das bedeutete: Wir mussten liegen. Nun war ich aber auf die Tischordnung neugierig. Zwar wurde meine Neugier noch ein bisschen strapaziert, denn zuerst gab’s die uns schon bekannten Zeremonien des Schuhe-Ausziehens und Füße-Waschens. Außerdem mussten wir noch mit einem Mann Hände schütteln, der uns als Privatus und Freigelassener des Curius vorgestellt wurde.“
„Freigelassener?“, wirft Amadeus ein. „Ehemaliger Häfenbruder?“
„Nein, nein“, so Markus, herzlich lachend, „sondern ehemaliger Sklave, und sein früherer dominus ist jetzt sein patronus.“
Und Stefan: „Zurück zur Tischordnung! Um es kurz zu machen: Mein Wunsch ging in Erfüllung. Ich wäre Curius fast um den Hals gefallen, dass er Claudia einen Platz direkt vor meinen Augen anwies – oder hätte ich lieber Claudia um den Hals fallen sollen, weil sie ihm meinen Herzenswunsch geflüstert hatte? Jedenfalls bekamen Markus und ich wie das letzte Mal das mittlere Bett zugewiesen, Markus links und ich rechts. Claudia und Montana legten sich auf das rechte Bett, und Curius und Privatus auf das linke.
Die verschiedenen Zeremonien waren im Wesentlichen die gleichen wie beim letzten Mal, nur dass der Wein gleich am Anfang geöffnet, gesiebt, gemischt und serviert wurde und auch das Trankopfer mit der Anrufung der Hausgötter und des Genius des Kaisers Vespasian gleich am Anfang vollzogen wurde. Auch hier war der Wein warm und exquisit und das Essen köstlich. Aber wahrscheinlich hätte ich nicht viel Unterschied gemerkt, wenn’s anders gewesen wäre, denn für mich war der Hauptgenuss eindeutig der Anblick und die Nähe der süßen Claudia, die mir gelegentlich einen neugierigen Blick und ihr allersüßestes Lächeln schenkte.“
„Und wieder“, so Markus, „vergisst er das Allerwichtigste: eine junge Frau, leider nicht Melissa, die wunderschön sang und sich selber mit der Kithara begleitete.“
„Stimmt. Und sie sang und spielte nicht nur zum Abschluss, sondern von allem Anfang an, natürlich nicht ständig. In den Pausen zwischen den Musikdarbietungen wurden hochinteressante Gespräche geführt, auch wenn Markus und ich nicht immer alles auf Anhieb mitgekriegt haben.
Gleich das erste betraf Claudias Mutter Vinda. Ich erinnerte mich, dass schon das letzte Mal über sie gesprochen worden war und dass Claudia mir zugeflüstert hatte, ihre Mutter sei seit einiger Zeit stumm. Mehrere Male fiel der Name einer Gottheit, der uns recht seltsam vorkam. Er lautet Genius Cucullatus, und wir dachten damals, das sein ein Eigenname wie Jupiter oder Juno. Erst später kamen wir drauf, dass der Name was bedeutet: Cucullus ist die Kapuze oder der Kapuzenmantel, und Genius Cucullatus heißt soviel wie ‘Kapuzengeist’.
Claudia erklärte uns, um was es ging. Curius habe vorgeschlagen, die Stummheit ihrer Mutter mit Hilfe eines Tempelschlafes zu kurieren. Ob wir wüssten, was das sei?
Tempelschlaf? Nein, nie gehört.
Nun, das geht so: Der Kranke wird in den Tempel oder in das Heiligtum eines Heilgottes gebracht und schläft dort mindestens eine ganze Nacht, und der Gott heilt ihn entweder durch ein Wunder oder erscheint ihm im Traum und gibt ihm Anweisungen, was er tun müsse, um geheilt zu werden, oder sonst irgendeine Prophezeiung. Nun gibt’s nicht weit von Virunum ein solches Heiligtum eines Heilgottes. Er heißt Genius Cucullatus und hat schon vielen Kranken, darunter unheilbar Kranken, durch eine Wunderheilung geholfen.
‘Und Curius ist überzeugt, dass er auch meiner Mutter helfen wird. Er drängt schon seit Monaten darauf, dass wir meine Mutter zum Genius Cucullatus bringen, aber wir wollten warten, bis die wärmere Jahreszeit anbricht. Denn die Kranken und ihre Betreuer müssen dort die Nacht oder die Nächte unter freiem Himmel verbringen.’
Nun meldete sich Curius wieder zu Wort und sagte, zu Claudia gewandt: ‘Weißt du, was ich glaube? Dass dein Vater diesen Grund nur vorschiebt. In diesem Frühjahr hat es ja schon mehrere warme Perioden gegeben. Wahrscheinlich ist er mit dem gegenwärtigen Zustand gar nicht so unzufrieden. Jedenfalls steht fest, dass es seither keinen Ehekrach mehr gegeben hat, und welcher Mann wäre darüber unglücklich? Und, wenn ich das so sagen darf, es kam mir manchmal so vor, als ob sie recht viel an ihm herumnörgelte. Dazu kommt, dass, seit du deine Mutter im Betrieb vertrittst, sein Geschäft einen enormen Aufschwung genommen hat, sodass er ständig mehr Arbeiter braucht. Deshalb war er auch ganz froh, dass sich unsere beiden Dioskuren hier so freundlich waren, sich bei ihm um Arbeit zu bewerben. Es lässt sich nicht bestreiten, dass du mit den Kunden einfach besser umzugehen verstehst und deshalb viel mehr Erfolg hast. Ich bin sicher, dass dein Vater, auch wenn deine Mutter geheilt werden sollte, auf deine Mitarbeit nicht mehr verzichten wird, obwohl sie sie schon jetzt missbilligt und damit sicher nicht hinterm Berg halten wird, sobald sie wieder sprechen kann.’
‘Ja, warum denn?’, warf der vorlaute Markus ein.
‘Weil sie ängstlich ist und glaubt, dass Claudia, wenn sie zu viel unter die Leute kommt, ihren guten Ruf verliert und dann keinen Ehemann mehr findet. Aber Syrus kennt seine Tochter wahrscheinlich gut genug, um zu wissen, dass hier gar keine Gefahr droht. Nicht wahr, Claudia?’
Aber Claudia war knallrot angelaufen und plötzlich ebenfalls am Leiden ihrer Mutter erkrankt. Es entstand eine Gesprächspause, und die Kitharaspielerin betrachtete das offensichtlich als Aufforderung, uns mit einer musikalischen Darbietung zu erfreuen. Hier konnte man nun deutlich erkennen, dass auch die Musik Wunderheilungen vollbringen kann, denn danach war Claudia geheilt: Ihr Gesicht zeigte wieder seine normale Farbe, und sie konnte auch wieder sprechen. Zu uns gewandt, setzte sie ihre Erklärungen fort, als ob sie nie unterbrochen worden wäre: ‘Und nachdem es vorgestern sehr warm war, meinte Curius, wir dürften jetzt auf keinen Fall mehr zuwarten. Inzwischen haben wir uns auf übermorgen geeinigt, denn das Wetter scheint nach dem gestrigen Regen rasch wieder wärmer zu werden, und wer weiß, wie lange das andauern wird. Jetzt gibt’s nur noch ein Problem: Meine Mutter sollte von mindestens zwei Betreuern begleitet werden, die abwechselnd bei ihr Nachtwache halten. Ich werde sie auf jeden Fall begleiten, aber ich fürchte, einzuschlafen und nicht die ganze Nacht durchzuhalten, geschweige denn mehrere Nächte.’
Da riefen Markus und ich spontan und wie aus einem Munde: ‘Ich komme mit!’
Daraufhin leuchteten Claudias Augen auf, und nach einem Moment des Schweigens sagte sie: ‘Wenn das wirklich euer Ernst ist ...’
‘Es ist unser Ernst.’
‘... so danke ich euch herzlich.’
Und sie trank uns mit ihrem Weinbecher zu und schenkte uns (oder mir?) wieder einen ihrer unbeschreiblichen Blicke mit dem bezaubernden Lächeln, das mich jedes Mal ganz schwach machte.
Sobald ich mich davon erholt hatte, sagte ich zu ihr: ‘Seit wann ist denn deine Mutter stumm? Und wieso?’
‘Das war vergangenen Herbst. Sie war bei einem Kunden in Alt-Virunum. Das ist die Stadt auf dem Berg, an dessen Fuß unsere Stadt liegt. Dieser Kunde war Inhaber eines Eisenverarbeitungsbetriebs. Während nun meine Mutter gerade mit ihm in seinem Büro sprach, gab’s in der Werkstatt daneben eine Explosion, die die beiden zu Boden riss – die Tür zwischen den beiden Räumen stand nämlich offen – und in der Werkstatt selber zwei Arbeiter tötete und mehrere verletzte. Ein Eisenschmelzofen war explodiert, wahrscheinlich weil er schon seit geraumer Zeit nicht mehr mit der nötigen Sorgfalt gewartet worden war. Dieser Betrieb war nämlich einer der letzten, die in Alt-Virunum noch bestanden, und sollte ebenso wie die meisten anderen aufgelassen werden, weil man ihn hierher verlegen wollte. Meine Mutter muss damals einen solchen Schock erlitten haben, dass sie ihre Stimme verlor und auch keiner der Ärzte, die wir konsultierten, ihr helfen konnte.’
Und Curius: ‘Ich glaube, für unsere Dioskuren sollte man das noch ein bisschen genauer erklären. Unsere Stadt wurde erst vor nicht einmal dreißig Jahren gegründet, nachdem das Königreich Noricum von Kaiser Claudius in eine Provinz umgewandelt worden war, damit sie die Hauptstadt dieser Provinz sei. Hauptstadt des Königreichs Noricum war bis dahin die auf dem Gipfel jenes Berges gelegene Stadt Virunum, die seitdem Alt-Virunum genannt wird. Die neue Stadt heißt zu Ehren des Kaisers, der dem Land das Provinzialstatut verliehen hat, offiziell Claudium Virunum, aber gewöhnlich sagt man Neu-Virunum oder die neue Stadt oder einfach Virunum. Mit dieser Neugründung im Tal wollte man, glaube ich, dokumentieren, dass man es nun, nachdem der römische Friede und die damit verbundene allgemeine Sicherheit im Lande eingekehrt ist, nicht mehr notwendig hat, auf dem Gipfel eines Berges zu wohnen, um vor Feinden und Räubern geschützt zu sein. Darum besitzt ja die neue Stadt auch keine Stadtmauer. Und da man hier im Tal weit angenehmer und bequemer wohnt als dort oben und es auch ungleich wärmer ist, sind die meisten entweder bereits in die neue Stadt übersiedelt oder haben vor zu übersiedeln, sobald es ihnen die Umstände erlauben. Und es ist ja ganz natürlich, dass sie, wenn sie wissen, dass sie ihr Haus oder ihren Betrieb über kurz oder lang aufgeben werden, nicht mehr dieselbe Sorgfalt für dessen Pflege aufwenden.
Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Meine in Aquileia beheimatete Familie besitzt ein Handels- und Transportunternehmen mit einer schon seit einigen Generationen bestehenden Niederlassung in Virunum. Ich selber bin in Aquileia geboren worden und dort aufgewachsen. Kennt ihr Aquileia? Sicher nicht. Nun, Aquileia ist eine der größten Städte des Erdkreises und trägt daher den ehrenden Beinamen ‘Zweites Rom’. Es ist die Hauptstadt von Venetien und Istrien, der nordöstlichsten Region Italiens, und liegt im innersten Winkel des Adriatischen Meeres und ist deshalb eine der wichtigsten Hafenstädte des Erdkreises. Und so ist Aquileia das Haupthandelszentrum für Virunum und ganz Noricum und darüber hinaus für die Donauländer und Illyrien.
Dort bin ich also aufgewachsen. Damals leitete unsere Niederlassung hier in Virunum mein Onkel. Da dieser kinderlos war, adoptierte er mich und übertrug mir, als er sich dafür zu alt fühlte, ihre Leitung. Das war ungefähr zehn Jahre nach der Gründung der neuen Stadt. Ich hatte damals schon längst erkannt, dass die Verlegung unseres Unternehmens in die neue Stadt im Tal mit ihren weit besseren Verkehrsbedingungen unausweichlich sein werde. Nur mein Onkel und Adoptivvater hatte davon nie etwas wissen wollen; ihr wisst ja, wie die alten Leute sind. Doch sobald ich die Leitung innehatte, setzte ich meine Erkenntnis in die Tat um, während er oben einen geruhsamen und würdevollen Lebensabend verbrachte.
Übrigens: Ich weiß nicht, ob ihr schon gehört habt, dass Syrus und Vinda, Claudias Eltern, beide meine Freigelassenen sind. Sie gehörten, als ich das Unternehmen übernahm, zum Inventar des Hauses. Während Vinda im Haus geboren und aufgewachsen war, war Syrus von meinem Onkel auf dem Sklavenmarkt gekauft worden. Der Verkäufer hatte angegeben, dass er aus Syrien stamme, und darum war er Syrus genannt worden. Das ist auch der Grund, weshalb er das Griechische so gut beherrscht. Ich entdeckte rasch, dass er tüchtig und fleißig ist, und überließ ihm daher einen unserem Unternehmen angeschlossenen Steinmetzbetrieb als peculium’ (das heißt, als Privatvermögen) ‘zur selbständigen Bewirtschaftung. Und er wirtschaftete so erfolgreich, dass er innerhalb weniger Jahre genügend verdient hatte, um sich freizukaufen. Bei dieser Gelegenheit ließ ich Vinda, die damals bereits seine Gattin war, aus eigenem Ermessen frei, sodass Claudia, die wenige Monate später zur Welt kam, eine Freigeborene ist. Und ihr, meine beiden Dioskuren, ihr seid doch bestimmt ebenfalls Freigeborene?’
‘Hm.’
‘Und ihr stammt doch sicher beide aus einem sehr vornehmen Haus?’
‘Hm.’
‘Nun, ich sehe schon, und es ist mir gleich zu Beginn aufgefallen, dass ihr sehr bescheiden seid, wie es sich eben für Jünglinge geziemt. Das spricht für eine gute Erziehung und damit für ein vornehmes Haus. Aus welchem Teil Germaniens kommt ihr denn, und welchem Stamm gehört ihr an?’
Teufel, Teufel, jetzt wird’s brenzlig.
Ich murmelte: ‘Wir kommen von jenseits der Donau, nördlich von Lentia.’ (So hieß damals Linz.)
Und Markus, dieser Schlaumeier, ergänzte: ‘Aus dem Land der Markomannen.’
‘Ah, der Markomannen!’, rief Curius aus und schien ganz entzückt zu sein. ‘Die sind ja Freunde des römischen Volkes. Es heißt, dass sie besonders großes Interesse an Dingen der römischen Kultur zeigen. Stimmt das?’
‘Hm. Ja, sicher.’
Da begann Curius davon zu schwärmen, dass er mit unserer Hilfe bei den Markomannen vielleicht gewinnträchtige Handelskontakte anknüpfen könnte, und hielt uns einen richtiggehenden Werbevortrag und hob dabei ganz besonders das ferrum Noricum, das norische Eisen, hervor, das absolut konkurrenzlos sei und mit Recht als das beste und haltbarste Eisen des gesamten Erdkreises gelte. Es werde in Virunum zu einer Vielfalt von Werkzeugen verarbeitet und in alle Länder der Welt verkauft. Dazu kämen noch viele weitere handwerkliche Produkte, die in Virunum hergestellt werden, und die aus Aquileia nach Virunum transportierten Waren, die aus Italien und der ganzen Welt dort zusammenströmen, vor allem Wein und Olivenöl, und die er infolge seiner familiären Beziehungen besonders günstig anbieten könne, et cetera, et cetera.
Plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich gar nicht mehr zuhörte. Ich war in meiner Aufmerksamkeit von den herrlichen Gemälden an allen vier Wänden abgelenkt worden. Irgendwie war mir Curius’ langatmiger Vortrag langweilig geworden. Ihm schien das nicht entgangen zu sein, denn er wechselte urplötzlich das Thema und sagte mit sichtlichem und hörbarem Stolz: ‘Gefallen euch die Gemälde? Ich finde, sie sind der größte und wertvollste Schmuck meines Hauses. Und den Schöpfer dieser Kunstwerke seht ihr hier.’
Er wies auf den neben ihm liegenden Privatus.
‘Erst wenige Jahre ist es her, dass er mit ihnen diesen Raum ausgeschmückt hat, und ich war so begeistert, dass ich ihn auf der Stelle freigelassen habe. Jetzt besitzt er sein eigenes Atelier und mehrere Gehilfen.’
So viel also über das Abendessen bei Curius. Auf dem Heimweg drückte ich dann Claudia gegenüber meine Verwunderung aus, dass Curius so spät geheiratet habe. Da lachte sie und sagte: ‘Montana ist ja nicht seine erste Frau.’
‘Ist seine erste gestorben?’
‘Montana ist seine dritte Frau. Und die früheren sind nicht gestorben, sondern geschieden.’
‘Geschieden? Können sich denn die Römer scheiden lassen?’
‘Selbstverständlich. Weißt du, Scheidung ist bei uns sehr häufig, um nicht zu sagen: alltäglich, und es ist ganz normal, dass ein Mann oder eine Frau nicht nur zweimal, sondern dreimal, viermal, fünfmal oder noch öfter heiratet.’
‘Auch Frauen? Können sich wirklich auch Frauen scheiden lassen?’
‘Aber sicher.’ Und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl Plepelits
Cover: Screenshot vom Trailer für den Film Cleopatra (1963). Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=459694
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9348-1
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