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Es war im Frühjahr 2011, da erklärte Peter, der Jüngere unserer Söhne, zu meiner Verblüffung und zum Entsetzen meiner Frau aus heiterem Himmel, er plane, mit seiner Freundin Regina eine Rundtour durch die Türkei zu unternehmen, wohlgemerkt, per Fahrrad. Schließlich seien sie mit einer ganzen Reihe von türkischen Couchsurfern und Couchsurferinnen bekannt. Dadurch würden sich die Kosten in Grenzen halten. Und wohl um uns zu beruhigen und eventuellen Einwänden unsererseits vorzubeugen, versprach er im selben Atemzug, sich regelmäßig per Internet zu melden. Obendrein werde er einen Blog einrichten und dort regelmäßig Berichte und Fotos online stellen.

 Istanbul, Rüstem-Pascha-Moschee, İznik-Fliesen (16. Jahrhundert)

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Am 8. Mai war’s dann so weit: Die zwei Helden oder vielmehr Held und Heldin flogen mitsamt ihren Fahrrädern nach Istanbul zu ihrem ersten Couchsurfer.

Peters erster Blog erschien am 13. Mai.

Hurra, schrieb er, wir sind in Istanbul! Und wir durchstreifen schon den fünften Tag die Riesenstadt mit unseren Radln!

Zugegeben, als wir am Flughafen unsere Räder bestiegen, ging uns schon bisserl der „Reiß“, mit anderen Worten, es war ein reichlich komisches Gefühl, sich mit dem Fahrrad in eine Megacity zu wagen, in der, sagen wir einmal, „ein bissl andere Verkehrsregeln“ zu gelten scheinen als daheim und in der, ich weiß nicht, achtzehn oder zwanzig Millionen Menschen leben. Aber dann gestaltete es sich zu unserer Genugtuung relativ unproblematisch, durch Istanbul zu radeln und die Blaue Moschee zu finden, wo wir uns mit meinem Couchsurfer Mustafa trafen. Mit ihm haben wir uns mittlerweile wunderbar angefreundet. Seine Wohnung liegt auf der asiatischen Seite Istanbuls, im Stadtteil Kadıköy. Und das bedeutet, wir müssen täglich zweimal den Bosporus auf einer Fähre überqueren. Und ihr würdet es nie für möglich halten, was das für ein Vergnügen ist und was für einen phantastischen Anblick Stambul, die auf einer Halbinsel zwischen Marmarameer und Goldenem Horn gelegene Altstadt, mit ihren zahllosen Kuppeln und Minaretten bietet.

Über Istanbul könnte man einen eigenen Reisebericht, ja ganze Bücher schreiben. Jedenfalls, es ist eine Stadt, die man gesehen, mehr noch, die man erlebt haben muss. Allein das Essen ist unglaublich. Und dann erst die Sehenswürdigkeiten! Ein Wahnsinn!

Also gut. Morgen geht’s weiter in den Süden.

 

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Seinen nächsten Blog postete Peter am 24. Mai:

Wie schon erwähnt, ging unsere Reise zunächst einmal nach Süden. Und da war es für uns eine große Erleichterung, dass wir den tief ins Land einschneidenden Golf von Izmit nicht umfahren mussten, sondern gemütlich auf einer kleinen Fähre überqueren konnten.

Wir landeten in einem Ort namens Yalova und wurden von einem großen blauen Ortsschild empfangen, das uns Folgendes verriet: YALOVA, Nüfus: 101000, Rakım: 5. Der Groschen fiel nicht sofort. Es dauerte ein Weilchen, bis Regina die Idee hatte, Nüfus könnte die Einwohnerzahl bedeuten und Rakım die Seehöhe in Metern. Und so war es von nun an bei der Einfahrt in jede Stadt und in jedes Dorf. Überall teilt das Ortsschild den Besuchern mit, wie viele Einwohner der Ort hat und wie hoch es liegt.

Und sofort lernten wir die berühmte türkische Gastfreundschaft kennen. Es ist der reine Wahnsinn, wie viele Einladungen wir bisher schon bekommen haben, oft nur kurz hintereinander. Es ist unmöglich, sie alle anzunehmen. Nicht nur zum offenbar unvermeidlichen Çay werden wir eingeladen, sondern meistens auch zum Essen. Etliche Male wurden wir so mit Essen vollgestopft, dass wir uns kaum noch bewegen konnten. Und noch eine überraschende Erkenntnis haben wir gewonnen: In der Türkei findet man so gut wie überall jemanden, der Deutsch spricht.

Schon kurz nach Yalova lief uns eine Landschildkröte vor die Räder. Und wie sich herausstellte, hatten wir noch des Öfteren eine solche Begegnung der ungewohnten Art. Überall findet man diese wunderbaren Tiere. Ebenso wie übrigens auch Schlangen. Die leben hauptsächlich auf den Bäumen und sind laut Auss

Aber das Beste kommt erst. Wir waren schon in der großen, sehenswerten Stadt Bursa, und es wurde Abend. Wir saßen in einer „Lokanta“ und verzehrten gerade unser Abendessen, da setzte sich ein älterer Mann zu uns und erklärte fröhlich, unsere Konsumation sei bereits bezahlt. Kaum hatten wir uns danach, schon auf der Straße, unter herzlichen Dankesbezeigungen von ihm verabschiedet und begannen zu überlegen, wohin jetzt mit uns, denn hier in Bursa hatten wir keinen Couchsurfer, da sprachen uns ein Mann und eine Frau an, fragten nach unserem Woher und Wohin, erwiesen sich als der deutschen Sprache mächtig und luden uns spontan ein, bei ihnen zu übernachten. Wir wurden neuerlich gefüttert, um nicht zu sagen gemästet, durften duschen und in ihrem Wohnzimmer schlafen. Und am nächsten Morgen gab es ein ausgedehntes Frühstück.

Drei Tage später erreichten wir Pergamon oder Bergama, wie die Stadt auf Türkisch heißt, und waren nicht nur beeindruckt von den antiken Ruinen, sondern obendrein erstaunt und erfreut, dass wir uns nicht auf die Akropolis hinaufschleppen mussten. Auf sie führt heutzutage ganz bequem eine Gondelbahn.

Gestern fuhren wir auf einer sechsspurigen Stadtautobahn in der Millionenstadt Izmir ein. Früher hieß diese Stadt, glaube ich, Smyrna. Aber das ist griechisch, nicht türkisch.

Hier haben wir heute einen Ruhetag eingelegt. Aber den haben wir uns ohne jeden Zweifel verdient. Denn die Fahrt auf besagter Stadtautobahn, sprich, auf ihrem Standstreifen, war abenteuerlich. Alles Mögliche kam uns auf unserer Spur entgegen: Pferdefuhrwerke, Traktoren, Radfahrer, Motorradfahrer, ja sogar Autos. Am schlimmsten sind die Dolmuş-, Bus- und Taxifahrer. Die überholen ganz knapp, schneiden uns und bremsen dann direkt vor uns, um Fahrgäste ein- oder aussteigen zu lassen. Das gleiche Spielchen geschieht, wenn sie wieder weiterfahren. (Dolmuş nennt man hier die allgegenwärtigen Kleinbusse, die als Sammeltaxis dienen.)

Von diesem Stress versuchten wir uns dann am Abend zu erholen. Da bummelten wir zuerst gemeinsam mit Ali, unserem Izmirer Couchsurfer, durch den stimmungsvollen Basar, danach über die benachbarte, wunderschön angelegte Strandpromenade mit Hunderten von Cafés und Restaurants. Und erlebten einen traumhaften, andere würden sagen, einen unglaublich kitschigen Sonnenuntergang. Hier trifft sich am Abend, scheint’s, ganz Izmir.

Sockel des Pergamonaltares

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Peters nächster Blog erschien am 6. Juni.

15 Kilometer, schreibt er, waren es bis zum Ortsende von Izmir. Dort konnten wir endlich von der Hauptstraße auf ein ruhiges Nebensträßlein abzweigen. Nun konnten wir nicht nur den Duft von Myriaden von Orangenblüten genießen, sondern vor allem, in geringem Abstand voneinander, drei kleine, idyllisch gelegene, touristenfreie griechische Ruinenstädte besuchen, ohne Eintritt bezahlen zu müssen. Kolophon, Klaros und Notion hießen sie. Und dann – welch ein Gegensatz! Von Notion war es nur ein Katzensprung bis Ephesos. Und das ist ein riesiges und absolut phantastisches Ausgrabungsgebiet. Aber dafür drängten sich hier unglaubliche Besuchermassen. Eine Art Kontrastprogramm war das nur wenige Kilometer außerhalb von Ephesos in idyllischer Waldeinsamkeit gelegene angebliche Wohnhaus von Mutter Maria (Meryem Ana), wie die Türken sie nennen. Denn wie wir zu unserer Überraschung erfuhren, pilgern auch die Muslime hierher, um sie als Mutter des Propheten Isa, so heißt Jesus auf Türkisch, zu verehren und das heilkräftige Wasser einer Quelle am Hang unterhalb des Hauses zu trinken. Es gibt sogar Berichte von Krankenheilungen. Lustig ist der Anblick von Tausenden Zetteln, die an der Mauer der Quelleinfassung befestigt sind und der Mutter Maria offenbar die Gebetswünsche der Pilger mitteilen.

Bis Ephesos sind wir mehr oder weniger entlang der türkischen Westküste immer nach Süden geradelt. Doch seither führt unsere Route stetig nach Osten, zunächst durch das berühmte Mäandertal. Das heißt, nicht das Tal als solches ist so berühmt, vielmehr der Fluss Mäander selbst; die Türken nennen ihn Großen Mäander, Büyük Menderes.

Hier fuhren wir an ausgedehnten Obstplantagen vorbei, darunter auch an solchen mit einer Art grünen Pflaumen, sogenannten Kirschpflaumen, die von pluderhosengewandeten Frauen jetzt schon, also grün, geerntet wurden. Wir hielten an. Regina fotografierte sie. Und was geschah? Die Frauen stürzten auf sie zu und schenkten ihr gleich mehrere Kilo von diesen Früchten, die sie Can Erik nannten; laut unserem Lexikon bedeutet das Seelenpflaume. Sie waren sauer, hatten aber einen herrlichen Geschmack.

Süße Früchte bekamen wir aber auch geschenkt, nämlich reife Erdbeeren. Und das ging so: Wir stehen an einer Ampel bei Rot. Neben uns hält ein Kleintransporter voller duftender Erdbeeren und ihren Pflückerinnen. Sie lachen uns zu und reichen uns einige ihrer Früchte heraus. Und ihr werdet uns nie glauben, wie süß und wie wohlschmeckend diese waren.

Und so sind wir immer wieder freudig überrascht über die selbstverständliche Gastfreundschaft der Türken. Ein weiteres Beispiel: Einige Tage später, in der wunderschön an einem See gelegenen Stadt Eğirdir. Wir spazieren durch einen Park und werden von jungen Leuten (auf Englisch) angesprochen. Sie laden uns spontan zum Essen und Trinken ein. Zum Çay werden wir in einem fort eingeladen. Und immer wieder laden uns am Abend freundliche Leute ein, in ihrem Haus zu übernachten.

Weitere Highlights unserer Reise waren das Märchenland von Pamukkale mit seinen strahlendweißen Kalksinterterrassen und den staunenswerten Ruinen eines antiken Kurortes, Konya, die heilige Stadt der Tanzenden Derwische (wo uns auffiel, dass deutlich mehr Frauen mit Kopftuch zu sehen waren als in Izmir) und schließlich Kappadokien, wo wir uns zurzeit befinden.

Unser erster Eindruck von kappadokischer Landschaft war das Ihlara-Tal. Unser englischer Türkeiführer nennt es „einen der hübschesten Wanderungen der Welt“. Und das erscheint uns nicht einmal übertrieben. Es ist ein teilweise sehr enges Tal mit faszinierenden Felswänden, durch das sich, begleitet von Vogelgesang und Froschgequake, ein schäumendes Flüsschen schlängelt. Und als wäre das nicht Wunders genug: In diese Felswände haben Mönche massenhaft Kirchen und Klöster geschlagen und mit herrlichen, aber leider großteils mutwillig beschädigten oder gar zerstörten Fresken ausgeschmückt.

Jetzt sind wir also im Herzen Kappadokiens und haben gestern im Freilichtmuseum Göreme nur so gestaunt. Kappadokien, das ist eine richtige Mondlandschaft, nein, eine Märchenlandschaft, nein, eine bizarre Fantasykulisse. Die Häuser stehen wie verloren quasi inmitten eines Waldes von markanten, vielfach ausgehöhlten Tuffsteinformationen, die wie Türme aussehen und die Häuser selbst weit überragen. Die Einheimischen nennen sie, sehr poetisch, Feenkamine. Was aber dieses Wunderland so besonders kostbar macht: Diese Felswände enthalten nicht nur zahllose Höhlenwohnungen, zum Teil noch immer bewohnt oder etwa als Schuppen verwendet, sondern vor allem Hunderte, wenn nicht Tausende von Kirchen, die zum größten Teil mit wertvollen, zum Teil allerdings ebenfalls stark beschädigten Fresken ausgemalt sind.

Aber schon beim Frühstück auf der Terrasse unserer des Hauses in Üçhisar, wo uns abermals ein freundliches Paar zum Übernachten eingeladen hatte, trauten wir unseren Augen nicht. Da konnten wir nämlich ein tolles Spektakel beobachten. Nicht voller Geigen hing der Himmel, sondern voller Heißluftballons. Und die schwebten vielfach im Tiefflug über die Felsgebilde hinweg. Ich fragte Regina, ob wir uns dieses Vergnügen auch gönnen sollten. Und was war ihre Antwort? „Ach, das ist doch nur was für reifere Semester. Und sauteuer ist es wahrscheinlich obendrein.“

 

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Am 15. Juni meldete sich Peter aus Erzurum in Ostanatolien.

Unser nächstes Ziel, schrieb er, war die Millionenstadt Kayseri am Fuß eines schneebedeckten, fast 4000 Meter hohen Vulkankegels. Hier merkten wir deutlich, dass Parlamentswahlen bevorstehen. Permanent fahren Wahlkampfbusse und Autos mit Lautsprechern durch die Straßen. Erdoğans Sieg, so hat man uns erzählt, scheint unausweichlich. Seit acht Jahren ist er schon Ministerpräsident, und heute steht die Türkei stärker da als je zuvor.

Nur, wie sie sich seither gewandelt hat, darüber gibt es zumindest zwei Wahrheiten. Hat uns soeben Hadschi, unser Couchsurfer hier in Erzurum, erzählt. (Ja, er heißt wirklich so. Nur geschrieben wird sein Name natürlich Hacı.) Erstens: Die Wirtschaft wächst rasant, und mit megalomanischen Bauvorhaben will Erdoğan den Boom befeuern. Er hat die Türkei moderner und vielleicht auch etwas demokratischer gemacht. Die andere Wahrheit ist, dass sie bigotter geworden ist. Jetzt sind die Islamisten an der Macht, und die verfolgen ihre Gegner unerbittlich und versuchen die demokratischen Errungenschaften wieder abzuwürgen. Sie schikanieren Künstler und Intellektuelle, sie knebeln Medienhäuser, sie lassen Kritiker verhaften.

Die nächsten 200 Kilometer bis Sivas legten wir bequem im Bus zurück und waren froh darüber. Denn die Strecke verlief vielfach auf ungewöhnlich rauem Asphalt, ganz schlecht mit einem Fahrrad zu befahren. Und vor allem blieben uns durch die Busfahrt viele lange Baustellen erspart.

Sivas war im Mittelalter zur Zeit der Seldschuken zeitweise Hauptstadt ihres Reiches. Davon zeugen einige der schönsten seldschukischen Bauten, die es überhaupt gibt. Hier werden wir besonders häufig angesprochen und gefragt, woher wir kommen, wie es uns in der Türkei gefällt, und so weiter. Und vor allem eingeladen. Nun ja, hier sind wir, scheint’s, die einzigen Touristen.

Auf Sivas hat mich übrigens mein Herr Papa vorbereitet mit der Frage: Was hat der Name Sivas mit Kaiser Augustus zu tun? Antwort: Er verewigt seinen Namen so wie Augsburg oder Aosta. Sebastos ist griechisch für Augustus, und Sebaste für Augusta. Und genau so heißt die Stadt seit damals, später auch Sebastia. So nennen sie die Griechen und Armenier noch heute.

Und dann erzählte er mir vom berüchtigten Sivas-Massaker. Am 2. Juli 1993 versammelte sich nach dem Freitagsgebet eine riesige Menschenmenge vor einem Hotel, in dem ein alevitisches Kulturfestival stattfand. (Die Aleviten, erklärte er mir, sind eine in der Türkei weitverbreitete islamische Konfession, die sich primär auf Ali, den Schwiegersohn Mohammeds, beruft, eine immer wieder diskriminierte und verfolgte Minderheit neben der vorherrschenden Konfession der Sunniten.) An diesem Kulturfestival nahm auch Aziz Nesin, ein prominenter Schriftsteller teil. Er hatte Salman Rushdies „Satanische Verse“ übersetzt und war daher ein Hassobjekt der Islamisten, die ihn in einer sogenannten Fatwa zum Abtrünnigen des Islams erklärten. Gegen das aus Holz gebaute Hotel wurden Brandsätze geschleudert. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Die wütende Menge vor dem Hotel ließ die Hotelgäste nicht ins Freie und behinderte obendrein die Feuerwehr bei ihren Rettungsbemühungen. Das Resultat: 37 Menschen verbrannten elendiglich.

Sivas liegt, wie uns das Ortsschild verriet, bereits auf fast 1300 Meter Seehöhe. Von nun an ging es aber so richtig ins ostanatolische Hochland, und bald warteten auf uns zwei über 2100 Meter hohe Pässe. Und immer wieder wurden wir angesprochen und eingeladen, zu Çay und zu Keksen und zum Übernachten. Einmal wollte uns ein Lkw-Fahrer aus Mitleid mitnehmen und konnte es nicht fassen, dass wir sein Angebot dankend ablehnten. Aber die Landschaft war gerade so ergreifend schön, dass wir die Strapazen gern auf uns nahmen. In der Stadt Erzincan erreichten wir das Tal des Euphrat, den die Türken Fırat Nehri nennen, und folgten ihm viele Stunden lang. Und heute machen wir Ruhetag in Erzurum.

 

Sivas, Buruciye-Medrese (13. Jahrhundert)

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Nächster Blog, aus Doğubayazıt. 21. Juni.

Schon vor unserem Abflug habe ich daheim gelesen, dass Erzurum früher einmal die Hauptstadt von Armenien war. Heute, erzählte uns Hadschi, pardon, Hacı, gibt es dort keine Armenier mehr, nicht in Erzurum und auch sonst nirgends in der östlichen Türkei. Während des Ersten Weltkrieges wurden die christlichen Armenier auf Befehl des damaligen Innenministers Talaat Bey systematisch entrechtet, beraubt, erschlagen, ersäuft, erschossen, zu Tode gefoltert oder sonst eben vertrieben, und man ließ sie in der Wüste Syriens verhungern. Man nimmt an, dass von 1915 an bei Massakern und Deportationen bis zu 1,5 Millionen Armenier ums Leben gekommen sind. Manche Schätzungen gehen bis zu drei Millionen. Jedenfalls war dies der erste Holocaust des 20. Jahrhunderts. Die offizielle Türkei leugnet diese Untaten hartnäckig und schreckt nicht davor zurück, deswegen internationale Verwicklungen auszulösen. Als beispielsweise die französische Nationalversammlung vor fünf Jahren ein Gesetz verabschiedete, das die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe stellen sollte, kam es zu einem schweren diplomatischen Konflikt und sogar zu einem Wirtschaftsboykott durch die damalige türkische Regierung Erdoğan 1. Inzwischen haben Dutzende weiterer Staaten diese Gräueltaten als Genozid verurteilt, unter ihnen auch Deutschland, Österreich und die Schweiz.

Jetzt aber wieder zurück zu unseren eigenen Abenteuern.

Kaum hatten wir Erzurum verlassen, kamen uns fünf Radler entgegen. Wir winkten fröhlich, sie fuhren auf unsere Straßenseite herüber, hielten vor uns an, und wir kamen ins Plaudern. Es waren Iraner, unterwegs nach Istanbul. Auf dieser Strecke begegneten wir auch vielen Lastwagen aus dem Iran, meistens meterhoch beladen.

An diesem Tag hieß unser Ziel Horasan. Hier hatten wir keinen Couchsurfer und wurden auch nicht zum Übernachten eingeladen. Daher mussten wir mit einem Hotel vorliebnehmen. Beim Einchecken fragte uns der Mann an der Rezeption aus heiterem Himmel, ob er unseren Trauschein sehen könne.

„Trauschein?“, wiederholte ich, während Regina hemmungslos kicherte. „Wir sind doch nicht verheiratet. Genauer, noch nicht verheiratet.“

Daraufhin schaute er uns eine kleine Ewigkeit schweigend an, so wie man arme Irre anschaut, und sagte dann: „Na gut, Sie haben Glück. Sie sind ja keine türkischen Staatsbürger. Die dürfte ich bei mir nur dann einquartieren, wenn sie mithilfe eines Trauscheins beweisen können, dass sie verheiratet sind.“

Nun ja, das Hotel kostete zwar nur 8 Euro für eine Nacht. Aber dafür war unser Zimmer leider unglaublich dreckig, und gestunken hat es obendrein, dass der Sau grauste. Nur waren wir dann viel zu müde, um uns ein besseres Hotel zu suchen, falls es ein solches überhaupt gibt. Das bezweifelten wir nämlich sehr.

Doch zurück zu Horasan. Schon am Stadtrand rannten Kinder auf uns zu und schrien: „Hallo, hallo, money, money!“ Wie immer winkten wir freundlich. Aber stellt euch vor, sie versuchten doch tatsächlich, Regina den Rucksack herunterzureißen. Das gelang ihnen nicht. Jetzt warfen sie mit Steinen nach ihr und trafen sie am Oberarm. Ich stieg sofort vom Rad, und daraufhin rannten sie schreiend davon. Von solchen Erfahrungen in Ostanatolien hat schon gar mancher Radler berichtet. Jetzt hat sie Regina machen müssen. Zum Glück blieb nach anfänglichen Schmerzen nur ein blaues Andenken.

Überhaupt erwies sich Horasan als recht trostloser Ort. Auch in den nächsten Tagen stellten wir fest, dass die wenigen Menschen, die hier wohnen, überwiegend in armseligen Behausungen leben. Auch die Qualität der Straße ließ sehr zu wünschen übrig.

Vor drei Tagen erreichten wir Doğubayazıt, die östlichste Stadt der Türkei, leider weder besonders attraktiv noch besonders sauber. Aber sie liegt in Sichtweite des schneebedeckten Ararat und nahe den Ruinen eines Märchenschlosses, von dem man glauben könnte, es stamme direkt aus Tausendundeiner Nacht. Und wir haben hier eine Couchsurferin, mit der Regina in Kontakt steht.

Per Bus haben wir inzwischen zwei Ausflüge unternommen, einen zur iranischen Grenze, vor der sich über mehrere Kilometer auf drei Spuren die Lkws stauten und auf ihre Abfertigung warteten, und einen nach Van, wo wir von der Burg aus eine grandiose Aussicht auf die Stadt, den Vansee und die weißen Berge am Horizont genossen.

Heute verbrachten wir einen Großteil des Tages damit, die Weiterreise zu planen und übers Internet unseren Rückflug ab Trabzon zu buchen. Leider sind die Wetterprognosen für die nächsten Tage niederschmetternd.

 

Ararat

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Am 30. Juni erschien wiederum ein Blog, diesmal bereits aus Trabzon am Schwarzen Meer..

Bis zu meinem letzten Couchsurfer in Kars, schrieb Peter, schafften wir es noch mit den Fahrrädern. Aber am nächsten Tag regnete es unentwegt, noch dazu in Strömen. Daher gönnten wir uns den Abstecher nach Ani mit dem Taxi. Diese berühmte armenische Ruinenstadt aus dem Mittelalter liegt direkt an der Grenze zur heutigen Republik Armenien. Leider ist es nicht möglich, dorthin einzureisen. Die Türkei hat alle diplomatischen Beziehungen zu Armenien abgebrochen. (Oder umgekehrt; was weiß ich.)

Nach einem erneuten Blick auf die Wetterprognose beschlossen wir schweren Herzens, die Strecke bis zur Küste mit dem Bus zurückzulegen. Die Fahrt über einige Pässe mit bis über 2600 Meter Seehöhe erscheint uns bei diesem Wetter und den hiesigen Straßenverhältnissen einfach zu riskant.

Sieben Stunden sollte die Fahrt nach Hopa am Schwarzen Meer dauern. Gedauert hat sie schließlich neun Stunden. Denn die teilweise unasphaltierte Straße, die hundert Kilometer weit durch eine eindrucksvolle Schlucht verlief, war eine Zeitlang durch eine Gerölllawine blockiert. Unterdessen, hören wir, ist man dabei, eine neue, unglaublich aufwendige Straße zu bauen, die sehr der Brennerautobahn ähneln soll.

Am Schwarzen Meer war es Gott sei Dank wieder schön; nur in den nahen Bergen hingen noch dunkle Regenwolken. Darum entschlossen wir uns, von Hopa aus mit den Fahrrädern einen Abstecher nach Batumi in Georgien zu machen. Ebenso durften wir uns auf der vier- bis sechsspurigen Autobahn zwischen Hopa und Trabzon (die meist unmittelbar an der Küste verläuft und diese natürlich total verschandelt) über Sonnenschein freuen, kamen aber bei dem uns inzwischen ungewohnt feuchtheißen Wetter ordentlich ins Schwitzen.

Hier, stellten wir fest, sind die Hänge voller Teeplantagen. Von hier kommt all der Tee, der in der Türkei konsumiert wird. Das hatte uns schon Mustafa in Istanbul erzählt. In den kleinen tulpenförmigen Gläsern, sagte er, trinken wir den Tee zu jeder Tageszeit und bei jeder Gelegenheit, daheim zum Frühstück und tagsüber am Arbeitsplatz, wo der Teebursch mit seinem Tablett regelmäßig erscheint. Und da bei uns die Gastfreundschaft großgeschrieben wird, genießen wir ihn am liebsten in Gesellschaft. Ich glaube, in wenigen Ländern ist der Genuss von Tee so tief im Alltag verwurzelt wie in der Türkei. So weit unser Mustafa.

Wie gesagt, an der Küste freuten wir uns über Sonnenschein. Aber an dem Tag, den wir für den Besuch des berühmten Klosters Sumela nutzten – die Türken nennen es Sümela –, regnete es wieder ohne Unterlass.

Jetzt sind wir also in Trabzon. Und wohnen wieder bei einer netten Familie, die uns spontan, direkt von der Straße weg, zu sich eingeladen hat. Und werden bewirtet, dass uns bald die Bäuche platzen.

Von meinem Herrn Papa wissen wir, dass Trabzon eine ehemalige Kaiserstadt ist. Im Mittelalter war sie die Hauptstadt des Kaiserreiches Trapezunt; so hieß diese Stadt damals auf Griechisch. 1204 wurde nämlich Konstantinopel zum ersten Mal erobert, nicht von den Türken, sondern von den christlichen Kreuzrittern des Vierten Kreuzzuges, und das Byzantinische Reich wurde zerschlagen und unter den Siegern aufgeteilt. Erst 1261 wurde es wiederhergestellt. Damals, also 1204, gründeten zwei Angehörige der byzantinischen Kaiserdynastie der Komnenen das Kaiserreich Trapezunt. Es überlebte das Byzantinische Reich nur um acht Jahre, bis zur türkischen Eroberung 1461.

In Trabzon, hatten wir gelesen, gibt es eine Hagia Sophia. Denn nachdem die Kathedrale von Konstantinopel Hagia Sophia hieß, wollte man eben in der neuen Hauptstadt auch eine Hagia Sophia haben. Offenbar sollte Trapezunt zu einem Klein-Konstantinopel ausgebaut werden.

Diese Hagia Sophia besichtigten wir mit hohen Erwartungen und waren schwer enttäuscht. Sie kann sich nicht im Geringsten mit der weltberühmten Istanbuler Hagia Sophia vergleichen, weder an Größe noch an Schönheit. Aber das liegt wahrscheinlich an der Bauzeit im hohen Mittelalter, während die in Istanbul aus dem 6. Jahrhundert stammt.

Damit ist unsere Reise quer durch die Türkei glücklich beendet. Ja, trotz aller Strapazen und Unannehmlichkeiten sind wir unsagbar glücklich, diese Reise unternommen zu haben. Die Menschen in der Türkei sind unvorstellbar gastfreundlich und herzlich (und neugierig). Egal, wo wir hinkamen, überall wurden wir begeistert begrüßt, oft auch eingeladen, nicht nur zum jederzeit verfügbaren Çay, sondern sogar zum Essen oder Übernachten. Als Radfahrer braucht man sich eigentlich kaum Sorgen um die Unterkunft zu machen, selbst wenn es einmal kein Hotel gibt. Man muss nur zehn Minuten unschlüssig auf der Straße stehen, und schon kann man sich der Einladungen kaum erwehren. Oder, angenommen, man kommt nicht so schnell weiter wie geplant oder kann sich vor Erschöpfung kaum mehr im Sattel halten, dann stellt man sich einfach an den Straßenrand, und der nächste Lkw hält an und nimmt einen mit: Grenzenlose Hilfsbereitschaft.

Ja, wir haben unglaublich viel erlebt, Schönes und weniger Schönes, aber hauptsächlich Schönes. Und haben, wie gesagt, jede Menge unwahrscheinlich hilfsbereiter und gastfreundlicher Menschen kennengelernt. Haben unglaublich viel Çay in diesen typischen tulpenförmigen Gläsern getrunken und unglaublich viel geschwitzt, frei nach dem berühmten Hesiod-Zitat: Vor das Gedeihen haben die Götter den Schweiß gesetzt.

Morgen heißt es also Abschied nehmen. Zuvor wollen wir noch die Villa Atatürks besichtigen, einen Basarbummel machen und unser Abenteuer in einem Teegarten bei einem letzten Çay ausklingen lassen. Aber die Türkei, speziell die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Menschen hier (ich kann’s nicht oft genug betonen), hat uns so fasziniert, dass dies sicher nicht unsere letzte Türkeireise war.

Übrigens, Erdoğan feierte am 12. Juni mit über fünfzig Prozent der Stimmen einen triumphalen Wahlerfolg.

Kloster Sumela

Weitere Neuerscheinungen aus der Feder von Karl Plepelits

 

Was Sie schon immer über die Türkei wissen wollten.

Mit 34 Abbildungen.

Katze, Teppich und ein Schiff auf blauem Meer: Was kann das wohl bedeuten?

Natürlich, die Türkei.

Und übrigens, warum ist das Meer an den türkischen Küsten überhaupt so unverschämt blau? Ganz einfach, weil es den unverschämt blauen türkischen Himmel widerspiegelt.

Aber selbstverständlich sind noch andere Sinnbilder für die Türkei bekannt. Zum Beispiel: Moscheen und Minarette. Tempel und Säulen. (O ja, viele, viele Säulen!) Und: eine einzigartige Kathedrale namens Hagia Sophia. Ferner: Sesamkringel, Raki, Çay, Efes, berühmte Fußballclubs. Und ziemlich bekannt ist neuerdings ein gewisser Herr namens Erdoğan.

Begleiten Sie ein Ehepaar, das im Rahmen dreier vergnüglicher Reisen praktisch die gesamte Türkei kennenlernt, und zwar ziemlich gründlich. Denn mit ihnen reisen ausgewiesene Fachleute und Kenner, übrigens sogar Kenner des Griechischen. Schließlich war die Türkei jahrtausendelang griechisches Kultur- und Sprachgebiet. Und das merkt man auf Schritt und Tritt. Falls man Bescheid weiß.

Und da erfahren nun die Reiseteilnehmer alles, was sie schon immer über die Türkei wissen wollten. Und es gibt ja kaum ein anderes Land, das so viel Wissenswertes in sich birgt, sprich, einen solchen Reichtum an Völkern und Kulturen. Und obendrein einen solchen Reichtum an Wundern der Natur.

Begleiten Sie auch den Sohn des Ehepaares, der zusammen mit seiner Freundin per Fahrrad die Türkei von West nach Ost bereist. Und dabei erstaunliche Dinge erlebt.

 

 

 

 

 

Was Sie schon immer über Griechenland wissen wollten.

Eine Radkreuzfahrt rund um die Ägäis

Mit 17 Abbildungen

 Ein Grüpplein verrückter Griechenlandfans erlebt die Freuden einer vergnüglichen Radkreuzfahrt durch griechische und türkische Gewässer auf einem schmucken Motorsegler. Und dabei haben sie Gelegenheit, nach Herzenslust zwei liebe Leute vom Fach zu fragen, was sie schon immer über Griechenland wissen wollten, und erfahren dabei (unter vielem anderen),

 wie Demokratie und Theater zusammenhängen,

 ob die vorchristlichen  Griechen wirklich schon das Gebot „Liebe deinen Nächsten“ kennen durften,

 wieso nicht nur Kultur und Wissenschaft im alten Griechenland ihre Wurzeln haben, sondern auch die moderne Technologie, 

 wie sich das mit der griechischen Liebe verhielt,

 ob es richtig Thasos oder Thassos, Chios oder Hios heißt,

 ob man statt Musik und Utopie nicht besser Mousik und Outopie schreiben müsste,

 ob unser Wort Alphabet nicht eigentlich Alphavit lauten sollte,

 wie viel Griechisches im Christentum steckt, und:

 wann zum ersten Mal der Erdumfang gemessen wurde, und zwar annähernd richtig.

Für alle Übersetzungen aus dem Griechischen (außer den zwei letzten) zeichnet der Autor selbst verantwortlich.

 

 

 

Was Sie schon immer über Ägypten wissen wollten

Ägypten und das Abendland

Mit 20 Abbildungen

 Eine buntgemischte Touristenschar erlebt die (heute selten gewordenen) Freuden einer vergnüglichen Studienreise entlang dem Nil von Kairo bis Abu Simbel. Dabei haben Alt und Jung Gelegenheit, nach Herzenslust zwei liebe Leute vom Fach zu fragen, was sie schon immer über Ägypten wissen wollten, und erfahren dabei (unter vielem anderen),

 welche kulturelle Bedeutung Ägypten hat, auch und vor allem für uns, also für das Abendland,

 wie es mit den Frauenrechten in Ägypten bestellt ist,

 wie die gigantischen Pyramiden gebaut werden konnten, noch dazu in einer Zeit, als in Mitteleuropa noch die Steinzeit herrschte,

 ob die Cheops-Pyramide als Grabmal diente oder als Einweihungstempel,

 was es mit Pyramidenmystik auf sich hat,

 ob es richtig der oder die Sphinx heißt,

 wie viel Ägyptisches im Christentum steckt, und was Alexander der Große mit den vier Evangelien zu tun hat,

 wann der ägyptische Tourismus angefangen hat, und:

 wann zum ersten Mal der Erdumfang gemessen wurde, und zwar annähernd richtig.

Angaben zum Autor

Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Stift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Bildmaterialien: Bildmaterialien: Pixabay, CC0 Creative Commons und Wikimedia Commons Freie kommerzielle Nutzung
Cover: CC0 Creative Commons (Freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis nötig)
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2018

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