Kap Sunion
Schuld waren die Frauen. Wie immer.
Es ging um die allbekannte Frage: Wo und wie wollen wir unseren nächsten Urlaub verbringen? Fest stand nur: In Griechenland. Aber wo? Und in welcher Form?
Ich selber wünschte mir einen Wanderurlaub in einer der wunderbaren griechischen Gebirgsregionen, zum Beispiel im Massiv des Götterbergs Olymp.
Und was wünschten sich meine Frauen, ich meine, Ehefrau und Töchterlein? Einen Badeurlaub, was sonst. Und da war ich natürlich überstimmt.
Nun gut, nach langwierigen und zum Teil sogar emotional aufgeladenen Diskussionen zu dritt einigten wir uns auf einen Kompromiss. Und der lautete: Die Insel Kos. Ein schönes Strandhotel, damit sich meine Damen nach Herzenslust die Sonne auf den Bauch scheinen lassen und jederzeit ins warme Wasser der Ägäis oder des Swimmingpools hüpfen können. Und damit ich mich nach Herzenslust auf den Bergen von Kos herumtreiben und eventuell einen Bootsausflug auf die kleine Nachbarinsel Nisyros unternehmen kann. Die ist nämlich genaugenommen ein einziger, aus dem Meer ragender Berg, fast 600 Meter hoch, wohlgemerkt, von null Meter Meereshöhe aus, und zwar ein Vulkan mit einem riesigen Krater, der Schwefeldämpfe ausstößt.
Nun, mit dieser Lösung zeigten sich meine Damen, wie sich herausstellte, hochzufrieden. Wer aber auf die Dauer noch zufriedener zeigen sollte als die beiden, sozusagen noch „höher zufrieden“, das war ich. Auf Kos entdeckte ich nämlich zwei faszinierende Dinge. Erstens: Dass sich Kos „the cycling island“, „die Fahrradinsel“ nennt. Dass es hier gepflegte Radwege gibt, was in Griechenland durchaus eine Seltenheit ist. Und dass es viele Radfahrer gibt – ebenfalls etwas ganz und gar Ungewöhnliches in Griechenland. Und dass es Dutzende von Fahrrad-Mietshops gibt. Ganz klar, dass ich mir ein Radl auslieh und damit praktisch die ganze Insel erkundete, nicht nur die Hauptsehenswürdigkeiten wie das berühmte Asklepieion oder die ausgedehnten Ausgrabungen in der Stadt Kos.
Und zweitens: Während einer meiner Fahrten über Land hatte ich eine faszinierende und folgenreiche Begegnung. Ich begegnete einer Kolonne von Radfahrern aus Oberösterreich, gab mich als Landsmann zu erkennen, kam mit ihnen ins Gespräch und erfuhr, dass sie äußerst komfortabel in einem kleinen „schwimmenden Hotel“ wohnten und per Fahrrad unter der Führung zweier Reiseleiter die Zauberwelt der griechischen Inselwelt erkundeten. Intensiver als mit Rad und Schiff, schwärmte eine der Oberösterreicherinnen, lasse sich diese nicht erleben. Das Ganze nenne sich Radkreuzfahrt und sei für die Ägäis die ideale Kombination.
„Es ist wie ein Schritt ins Paradies“, schwärmte eine andere. „Der Alltag ist unendlich fern. Die verheißungsvollen Sonnenaufgänge, das Versinken des Feuerballs im Meer, das einzigartige Farbenspiel am Himmel, die klaren Sternennächte – all das ist unglaublich faszinierend. Das sanfte Durchpflügen einer ruhigen See hat etwas Seelenberuhigendes. Das stürmische Meer mit meterhohen Wellen, die jede Aussicht und jeden Atem nehmen, sind ein Erlebnis, das dich so klein macht, dass nichts schöner sein kann, als wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Das Einlaufen in den sicheren Hafen schweißt zusammen und bringt ein unvergessliches Glücksgefühl. Sich abends an Bord oder in einer Taverne im Freundeskreis den Göttern für Augenblicke nahe fühlen zu dürfen – ja, das liebe ich an der Inselwelt der Ägäis.“
Und da wusste ich: So etwas ist genau das Richtige für mich. Denn Griechenland besser kennenlernen und immer gleich jemanden zur Hand haben, den man unbesorgt fragen kann, was man vielleicht immer schon wissen wollte, aber bisher nicht zu fragen wagte – das war meine alte Sehnsucht.
Nach Hause zurückgekehrt, machte ich mich unverzüglich übers Internet her und entdeckte nach nur kurzer Suche tatsächlich einen Reiseveranstalter, der im nächsten Frühjahr eine solche Radkreuzfahrt, wie ich sie mir vorstellte, anbot. Sie stand unter dem Motto: Rund um die Ägäis.
Der Tag der Abreise brach an. Es war der 17. Mai 2018. Ich küsste meine zwei Frauen zum Abschied – im Englischen lässt sich das eleganter sagen: I kissed them goodbye –, bestieg zusammen mit dem übrigen Grüpplein Wahnsinniger und einem Professor der Kunstgeschichte und der Altertumswissenschaft als Reiseleiter ein Flugzeug und landete etwas über zwei Stunden später auf dem neuen, nach dem früheren griechischen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos benannten Flughafen von Athen. Uns empfing ein Fremdenführer mit üppiger weißer Mähne, der sich als Periklís vorstellte und uns im Transferbus in den Piräus brachte. Und in der Marina Zeas, dem größeren der beiden Jachthäfen des Piräus, erwartete uns Panagiota (sprich, Panajota). Das war aber keine attraktive junge Dame, sondern ein schmucker Motorsegler mit drei weißen Dreieckssegeln und zehn luxuriös ausgestatteten Kabinen, nicht zu vergessen die aus fünf würdigen Herren bestehende Crew, darunter ein Koch. Und der verwöhnte uns sogleich mit einem köstlichen Mittagessen.
Sobald die Kabinen bezogen, die Mägen gefüllt und die Mieträder verteilt waren, lud uns Periklís zu einer ersten Ausfahrt ein. Und wohin zog es uns? Natürlich, in Richtung Akropolis, die in der Ferne vor uns majestätisch in die Höhe ragte. Unser erstes Ziel war der Musenhügel (Museion, lateinisch Museum, so benannt nach einem nicht erhaltenen Heiligtum der Musen) oder Philopapposhügel. Am Gipfel (er ist etwas niedriger als die Akropolis) verschlug es uns den Atem. Denn von hier aus hat man einen überwältigenden Blick auf die Akropolis mit ihren Wunderbauten, an ihrem Fuß das Odeion des Herodes Atticus und im Hintergrund der spitze Kegel des Athener Stadtbergs Lykabettos (Lykavittos). Auf die gewaltige Akropolisstützmauer, die man nur zu leicht übersieht, machte uns Periklís eigens aufmerksam.
„Man könnte glauben, sie sei modern. Aber nein, sie stammt aus der Zeit nach den Perserkriegen, ist aber tadellos erhalten. Man nennt sie die kimonische Südmauer der Akropolis. Kimon, Perikles’ Vorgänger, ließ sie errichten, um das Areal der Akropolis zu vergrößern. Wozu denn, werden Sie jetzt fragen. Nun, 480 vor Christus hatten die Perser Athen mitsamt der Akropolis verwüstet, alle Tempel niedergelegt und das zurückgelassen, was die Archäologen heute Perserschutt nennen. Sobald die Perser besiegt waren, stand Athen vor dem Problem: Wohin damit? Schließlich musste man die Tempel wieder aufbauen. Nur hatte sich der Baustil gerade damals rapide gewandelt, die Archaik war von der Klassik abgelöst worden. Außerdem waren alle diese Trümmer Eigentum der Göttin und durften ihr auf keinen Fall entzogen werden. Also vergrößerte man das Areal des Heiligtums durch diese Stützmauer und füllte den so entstandenen Zwischenraum mit dem Perserschutt. Diese Hinterfüllung diente als Stützterrasse für den geplanten neuen, größeren Parthenon. Und so kamen die Bauteile der alten Tempel und die Weihestatuen, sorgfältig geschichtet, unter die Erde, sodass das der Göttin Geweihte ihr auch weiterhin verblieb. Seine Auffindung im Rahmen von Grabungen im 19. Jahrhundert war eine Weltsensation.“
Hier wurde uns auch der Name Philopapposhügel klar. Philopappos hieß der Inhaber des zwischen 114 und 116 nach Christus errichteten marmornen Mausoleums, dessen Ruine den Hügel krönt. Laut der griechischen und lateinischen Inschrift war er Titularkönig von Kommagene (in der heutigen Südosttürkei), römischer Consul und athenischer Archon („Bürgermeister“). Hier stand übrigens die venezianische Kanone, aus der am 26. September 1687 die Granate abgefeuert wurde, die den damals noch im Wesentlichen vollständigen, aber von den Türken schändlicherweise als Pulvermagazin missbrauchten Parthenon traf.
„Aber auch noch als Ruine“, erklärte uns Periklís, sobald wir schließlich inmitten der Besucherscharen staunend unmittelbar davor standen (ohne die 20 Euro Eintritt bezahlt zu haben, weil wir mit dem heutigen Tag zufällig den Internationalen Museumstag erwischt hatten), „aber auch noch als Ruine ist der Parthenon ein Wunder an Kunst und Schönheit.“
Die Schönheit des Parthenons ist wirklich erstaunlich, dachte ich bei mir. Man kennt ihn doch aus zahllosen Abbildungen. Da ist er halt ein weiterer griechischer Tempel, sonst nichts. Und jetzt steht man vor ihm und sieht ihn leibhaftig vor sich und ist einfach überwältigt. Wie gibt es so was: So bescheiden in seinen Ausmaßen, und so überwältigend in seiner Wirkung. Und ich erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben, dass er das erregendste Bauwerk ist, das es gibt. Jetzt wusste ich, wie das gemeint war. Und dass es der Wahrheit entspricht.
„Die mit unglaublicher Präzision und unermesslichem Arbeitsaufwand erreichten Feinheiten der Kurvatur“, fuhr Periklís fort, „sind ein Phänomen, das heutigen Ingenieuren, die die dazu erforderliche Exaktheit des Steinschnitts beurteilen können, stets unbegreiflich ist. Die Stufen des Stylobats (der, wie der Name sagt, die Säulen trägt) wölben sich an der Langseite um 11 Zentimeter auf, an den Fronten um 6 Zentimeter. Damit aber nicht genug. Diese Krümmung setzt sich nach oben durch den gesamten Bau fort. Alle vertikalen Glieder und Flächen sind nach innen geneigt, die mit einer leichten Schwellung, griechisch Entasis, auf Deutsch Anspannung, versehenen Säulen um 7 Zentimeter, die Ecksäulen sogar um 10 Zentimeter in diagonaler Richtung. Das Gebälk folgt der Neigung. Nach innen neigen sich auch die Außenflächen der Cella-Längswände. Nur ihre Innenseiten stehen senkrecht, sodass sich die Wände einseitig verjüngen. Wissen Sie, für die Zeitgenossen war ein Tempel Architektur und Skulptur zugleich. Und in all diesen Kurven hat das plastische Wesen des griechischen Tempels seinen differenziertesten Ausdruck gefunden. Aus ihnen quillt die eigentümliche, nur unbewusst erfassbare Lebendigkeit des Bauwerks. Dazu trug natürlich auch der Ornament-, Skulpturen- und Farbenschmuck bei.“
„Farben?“, riefen mehrere unserer Leute überrascht aus.
„Oh, ich weiß, das steht in krassem Gegensatz zu den Erwartungen der meisten Menschen von griechischer Kunst, weil die Bemalung im Laufe der Jahrhunderte verblasst und nur mit wissenschaftlichen Methoden nachzuweisen ist. Ausnahmen sind extrem selten. Und das Vorherrschende war beim Tempel sicher der transparente Schmelz des Marmors. Stufen, Säulen, Wände, Architrave blieben unbemalt. Aber bestimmte Details, vor allem in der Dachzone, waren blau, rot oder golden getönt. Gleiches gilt für den Skulpturenschmuck. Gleiches gilt, nebenbei bemerkt, für alle Skulpturen. Darum hat die Entdeckung, dass griechische Statuen grundsätzlich bemalt waren, auch vielen Gelehrten einen ziemlichen Schock versetzt. Der Skulpturenschmuck des Parthenons war nicht nur ungewöhnlich reich, sondern vor allem ungewöhnlich qualitätvoll, oder sagen wir einfach: ungewöhnlich schön. So wie der Parthenon als Höhepunkt der griechischen Architektur gilt, gelten seine Skulpturen als Höhepunkt der griechischen Bildhauerei. Jetzt suchen Sie natürlich vergeblich nach diesen Wundern der Bildhauerkunst. Ja, sie erkennen einige wenige Metopen mit fast vollplastischen Figuren über den Säulen. Aber die sind unansehnlich, weil stark verstümmelt. Und falls Sie mich fragen: Wer hat sie denn so verstümmelt, so muss ich antworten: Die frühen Christen in ihrer moralischen Entrüstung über deren heroische Nacktheit. Im Ostgiebel werden wir eine ebenfalls verstümmelte Liegefigur und einen in seiner Wahrhaftigkeit fast lebendigen Pferdekopf sehen. Goethe nannte ihn einen der herrlichsten Reste der höchsten Kunstzeit. Aber das sind sowieso nur Abgüsse von den Originalen. Diese fehlen nämlich. Und was ebenfalls zum Großteil fehlt, das ist der Figurenfries, der weltberühmte, schon in der Antike vielbewunderte Parthenonfries, der einst in einer Länge von fast 160 Meter am oberen Rand die gesamte Außenwand der Cella umzog, ein für einen Tempel einzigartiger Schmuck. Wie es scheint, wurde er aber nicht absichtlich verstümmelt, wahrscheinlich, weil die Figuren der damaligen Wirklichkeit entsprechen und daher alle bekleidet sind. Er ist eines der berühmtesten Kunstwerke der Welt und gilt als Höhepunkt der griechischen Reliefkunst. Natürlich haben an dem riesigen Programm viele Hände unter der Führung eines leitenden Meisters gearbeitet. Und das war Pheidias (Phidias). Niemand kann Phidias übertreffen, sagte einer, das es beurteilen konnte, nämlich Auguste Rodin im Angesicht der Parthenonskulpturen. Aber leider befindet sich nur ein kleiner Teil an der Westseite noch am Tempel. Und wo ist der Rest, werden Sie jetzt fragen. Antwort: Der Großteil im Britischen Museum. Und dort sind sie ein Besuchermagnet.“
Hierauf meldete sich unser Professor – Pfeifer sein Name – zu Wort.
„Der griechische Schriftsteller Plutarch, er lebte im 1. und 2. Jahrhundert nach Christus, also über fünfhundert Jahre nach Erbauung des Parthenons, bewundert in seiner Perikles-Biographie (12,1ff.) nicht nur die Schönheit der Bauwerke der Akropolis, sondern auch die Schnelligkeit, mit der man sie errichtete. Ich zitiere:
Kapitel 13, 1-3: Als die Bauten emporwuchsen, groß und stolz, unnachahmlich an Form und Anmut ... da war doch das Wunderbare die Schnelligkeit. Denn jedes dieser Bauten, glaubte man, würde auch nach vielen Generationen kaum zu einem Ende kommen. Aber sie alle erreichten in der glänzenden Zeit einer einzigen Regierung ihre Vollendung. Und deshalb bewundert man die Bauten des Perikles, die für ewige Zeit in kurzer Zeit entstanden.
Für den Parthenon wurde 447 vor Christus der Grundstein gelegt, 438 vor Christus konnte der Bau der Stadtgöttin übergeben werden, und 431 vor Christus stand er mit seinem gesamten Skulpturenschmuck fertig da. Die Errichtung der Propyläen dauerte laut Plutarch sogar nur fünf Jahre. Ein Heer von Künstlern, Handwerkern, Fuhrleuten und Handlangern war da am Werk; Plutarch zählt sie alle auf. Die Athener haben für die Errichtung der Akropolisbauten große finanzielle Opfer gebracht. Die Gesamtkosten betrugen nach einer antiken Angabe 2012 Talente Gold, eine unerhört hohe Summe für eine griechische Polis (Stadtstaat), die von ihren Bürgern keine direkten Steuern erhob. Aber Perikles nutzte die Machtstellung Athens im attisch-delischen Seebund aus, um seine Baupläne auszuführen: Ein Teil der Kosten wurde dem Bundesschatz entnommen, den man von Delos auf die Akropolis überführt hatte. Dafür wurde Perikles von der Opposition in den Volksversammlungen und auch sonst heftig angefeindet:
Kapitel 12,1: Was aber Athen den herrlichsten Schmuck und der übrigen Menschheit Staunen und Bewunderung bereitete ..., die Errichtung der heiligen Tempel, das bekämpften und schmähten die Oppositionellen unter den öffentlichen Maßnahmen des Perikles am meisten.
Kapitel 5,2f.: Da wurde er einmal auf der Agora den ganzen Tag lang von einem ekelhaften und hemmungslosen Menschen nach Strich und Faden beschimpft, und er ertrug es schweigend. Dabei hatte er dringende Geschäfte zu erledigen. Am Abend ging er dann vollkommen unbeeindruckt nach Hause. Aber der Kerl folgte ihm nach und überhäufte ihn weiterhin mit aller Art von Schmähung. Als er zu Hause ankam, war es schon finster. Da trug er einem seiner Diener auf, den Menschen mit einer Laterne zu begleiten und nach Hause zu führen.
Aus der Erbauungszeit der Akropolisbauten gibt es hochinteressante Dokumente, nämlich die Bauabrechnungen für das Erechtheion, die sich in seltener Vollständigkeit erhalten haben. In dem einzigen Jahr 408/407 vor Christus wurden über 2600 Schriftzeilen in Marmortafeln eingraviert und zur ewigen Rechenschaft aufgestellt. Zunächst registrierte eine Kommission den Bestand des kriegsbedingt seit Jahren stillgelegten Baus. Jeder unfertige Quader ist mit seinen Maßen verzeichnet. In den nun folgenden Abrechnungen ist Name, Heimatort, Arbeit und Lohn jedes einzelnen Handwerkers notiert. Laut diesen Abrechnungen bezogen alle, vom Architekten, der hier offenbar als Bauführer fungierte, über den Vergolder, den Zimmermann bis zum letzten Steinmetzen den gleichen Tagelohn von einer Drachme, egal, ob Freier oder Sklave. Der freie Bürger hatte, nebenbei bemerkt, nichts dagegen, mit Sklaven zusammenzuarbeiten. Deren Arbeit war eben gleich viel wert wie die eines Freien. In einer späteren Bauphase des Erechtheions wurden Arbeiten bereits pro Lauffuß oder pro Stück bezahlt. So kostete eine Figur des Frieses 60 Drachmen, eine Rosette der Kassettendecke 14, das Wachsmodell dafür allein 8 Drachmen. Nur für die einfachen Arbeiten wurde weiterhin ein Tagelohn von einer Drachme bezahlt.“
Nachdem wir uns bald darauf diese Wunder der Kunst und, möchte ich hinzufügen, der Schönheit zur Genüge bestaunt hatten, widmeten wir uns am Fuß der Akropolis weiteren Wundern. Erstens den Wundern der Literatur. Denn das am Abhang der Akropolis gelegene Dionysostheater gilt als die Geburtsstätte des Theaters und des Dramas überhaupt. Hier erlebten die klassischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides ihre Uraufführung, in denen diese drei Genies über die letzten Probleme der Menschheit nachdachten. Ebenso erlebten hier ihre Uraufführung die aus Witz und Phantasie, aus schallender Unanständigkeit und hochintellektueller Parodie, aus Buffonerie und lyrischer Schönheit gemischten Komödien von Aristophanes und anderen Komikern der sogenannten Alten Komödie.
Und zweitens widmeten wir uns am Abhang der Akropolis den Wundern nicht nur der Kunst und der Schönheit, sondern auch denen der modernen Architektur: dem neuen, genau gegenüber dem Dionysostheater gelegenen Akropolismuseum, einem Glaspalast, der nach fast dreißig Jahren Planung und zehn Jahren Bauzeit 2009 eröffnet worden ist. Und warum hat das so lang gedauert? Periklís gab die Antwort: Weil während des Baus die Überreste eines antiken Wohnviertels entdeckt wurden. Und jetzt schwebt das Gebäude auf (erdbebensicheren) Stelzen über den klaffenden archäologischen Wunden und gibt durch gläserne Bodenplatten den Blick frei auf die Strukturen des antiken Athen.
Auch hier kamen wir aus dem Staunen nicht heraus und konstatierten übereinstimmend: Dies ist ohne jeden Zweifel die spektakulärste Ausstellung griechischer Kunst, die es auf der Welt gibt. Die Ausstellungsobjekte selbst stammen ausschließlich von der Akropolis, zum großen Teil aus dem sogenannten Perserschutt. Unter den daraus geborgenen Skulpturen ragt die große Zahl an Koren heraus. Das sind archaische Mädchenfiguren, modisch gekleidet und frisiert, mit ihrem archaischen Lächeln. Besonders faszinierend fand ich persönlich die „Kore mit den Mandelaugen“ oder „mit den Augen einer Sphinx“, desgleichen den berühmten archaischen Kalbträger, einen Mann, der ein Kalb um seinen Hals gelegt hat, während das Kalb seinen Kopf vertrauensselig an seinen Kopf lehnt, und schließlich ein ergreifendes, bereits frühklassisches Relief der trauernden (oder nachdenklichen) Athene. Periklís wies uns auf die zum Teil noch deutlichen Spuren der ursprünglichen Bemalung hin.
Am nächsten Morgen war unser erstes Ziel das Archäologische Nationalmuseum. Und auch dieses fanden wir absolut spektakulär. Es ist in der Tat die reichste und kostbarste Sammlung von Kunstwerken und Gebrauchsgegenständen der griechischen Antike. Was mich persönlich vielleicht am meisten fasziniert hat, das waren die Funde aus dem Meer. An erster Stelle zu nennen ist da zweifellos die überlebensgroße frühklassische Bronzestatue des Poseidon vom Kap Artemision, auch genannt Gott aus dem Meer, weil 1928 aus einem antiken Schiffswrack am Meeresgrund geborgen. Majestätisch steht er da in lebhaftester Bewegung, im Begriff, seinen (nicht erhaltenen) Dreizack zu schleudern. Aus demselben Schiff stammt der reitende Knabe auf einem Rennpferd in vollem Galopp, eine packende, mit äußerstem Realismus gestaltete hellenistische Bronzeskulptur. Eindrucksvoll auch die spätklassische Bronzestatue des Jünglings von Antikythera, gefunden 1900 von Schwammtauchern in einem riesigen Schiffswrack, das zwischen 70 und 60 vor Christus vor der Insel Antikythera gesunken ist. Im selben Schiff lag der bestürzend lebensechte Kopf eines stirnrunzelnden Philosophen.
Eine große Überraschung war für alle, als wir plötzlich vor einer Vitrine mit höchst unerwarteten Exponaten standen: drei merkwürdigen flachen Bronzefragmenten.
„Ich will Sie nicht lange auf die Folter spannen“, sagte Periklís. „Sie stehen vor den drei größten Fragmenten des ersten Computers der Menschheitsgeschichte – so jedenfalls die Überzeugung der meisten Experten. Man nennt ihn den Mechanismus von Antikythera. Er wurde als Klumpen aus zusammenkorrodierten Metallteilen, die inzwischen in viele Fragmente zerbrochen sind, in demselben Schiff gefunden wie der Jüngling von Antikythera, aber kaum beachtet. Sechzig Jahre mussten vergehen, bis sich die Wissenschaft für ihn zu interessieren begann. Und so entdeckte man, dass mindestens dreißig Zahnräder mit einem Durchmesser von 9 bis 132 Millimeter, die sich im Innern mit verschiedenen Geschwindigkeiten drehten, ihre Bewegungen nach außen auf Zeiger übertrugen, die sich über Inschriftenflächen mit Gradeinteilung und detaillierter Gebrauchsanweisung drehten. Daraus darf man schließen, dass dieser Mechanismus kein Einzelstück war, sondern serienmäßig hergestellt wurde. Dafür spricht auch, dass er mindestens einmal repariert wurde. Er muss also oft benutzt worden sein.“
„Und wofür hat er gedient?“, fragte ich.
„Vielleicht als astronomischer Kalender. Auch ein Olympiade-Kalender war enthalten. Aber seine Geheimnisse hat er noch lange nicht preisgegeben.“
„Das Sensationelle daran“, ergänzte unser Professor, „ist nicht das daraus ablesbare physikalische und mathematische Wissen. Dass es in Griechenland bekannt war, wissen wir seit langem. Das Besondere ist vielmehr die außergewöhnliche Feinmechanik, zu der unsere Zivilisation erst ab dem 19. Jahrhundert wieder imstande war. Bisher dachte man, Zahnräder, zumindest eine Ansammlung so vieler und kleiner Zahnräder, hätte es im hellenistischen Zeitalter noch gar nicht gegeben. Die in der Neuzeit nur als rein philosophische Tätigkeit gedeutete griechische Wissenschaft habe sich zwar auf die erfolgreich betriebenen Zweige Mathematik und Physik ausgedehnt, aber keinen praktischen Nutzen zur Folge gehabt. Die Erkenntnisse der Griechen wären daher erst nach ihrer Wiederentdeckung in der Zeit der Renaissance in Apparate und Verfahren eingegangen und hätten erst jetzt die Kultur der Technik begründet. Diese alte Lehrmeinung wird durch dieses Gerät glänzend widerlegt. Die heutige Lehrmeinung lautet daher: Die Technik des 18. Jahrhunderts wurzelte in den hellenistischen Werken.
Aber vielleicht sollte ich noch schnell diese schon mehrfach erwähnten historischen und kunsthistorischen Begriffe klarstellen. Also, grob lässt sich die von den Griechen entwickelte Kunst und Kultur der Antike folgendermaßen einteilen: Erstens, die Archaik bis zu den Perserkriegen, also 490 vor Christus. Zweitens, die Klassik bis Alexander dem Großen, also, ganz grob, das 5. und 4. vorchristliche Jahrhundert. Drittens, der Hellenismus von Alexander bis Augustus, sprich, bis Christi Geburt. Und in der Folge verschmilzt die griechische Kunst mit der römischen zur kaiserzeitlichen griechisch-römischen Mischkunst. Sie dauerte bis ca. 300 nach Christus. Von 300 bis ca. 600 spricht man von der spätrömischen oder frühchristlichen oder frühbyzantinischen Kunst. Und diese ging schließlich in die byzantinische Kunst über.“
Dies waren also die für mich wichtigsten Eindrücke vom Nationalmuseum. Danach wandten wir uns einigen der zahllosen weiteren Sehenswürdigkeiten von Athen zu, was mit dem Fahrrad natürlich am allerunkompliziertesten geht. Besonders bedeutsam unter ihnen fand ich die Agora, das Zentrum des öffentlichen Lebens des antiken Athen und die Geburtsstätte einer damals und noch bis ins 20. Jahrhundert als revolutionär geltenden Staatsform, die die Griechen Volksherrschaft (Demokratia) nannten. Heute ist die Agora ein ausgedehntes Ausgrabungsgelände voller verwirrender Ruinen aus unterschiedlichen Epochen. Periklís tat sein Bestes, um uns Aussehen und Zweck der wichtigsten Bauwerke zu schildern.
Bei weitem interessanter fanden wir alle, was uns hier Professor Pfeifer zu erzählen wusste. Er ließ im Geiste einen der wenigen ganz Großen dieser Welt wiederauferstehen, die ihr Wesen und Denken im gesprochenen Wort entfaltet und dennoch eine unübersehbare Wirkung hervorgerufen haben: Sokrates, den Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phainarete (und Ehemann der berüchtigten Xanthippe), den Begründer der klassischen Philosophie. Und nun ließ uns Pfeifer miterleben, wie Sokrates, der Meister der Ironie („ein griechisches Wort, das allem Anschein nach erst durch Sokrates in Gebrauch gekommen ist“), die Athener ins Gespräch zieht und durch bohrendes Fragen, die „Sokratische Methode“, zu Wahrheit und Selbsterkenntnis führt (oder, dachte ich im Stillen, vielleicht auch nur nervt, wer weiß).
„Denn: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Sein Ende ist wohlbekannt: Anklage wegen Gottlosigkeit und Tod durch den Schierlingsbecher. Dies geschah 399 vor Christus. Aufgrund dessen hatte die athenische Demokratie bei späteren Philosophen und politischen Denkern einen denkbar schlechten Ruf, von Cicero bis zu Machiavelli und sämtlichen späteren Philosophen, bis zu den Revolutionären im Frankreich des 18. Jahrhunderts und in den jungen Vereinigten Staaten. Sokrates‘ Verteidigungsrede (Apologie) vor den Richtern, wie sie uns durch seinen Schüler Platon überliefert wurde, ist einer der bewegendsten Texte der europäischen philosophischen Literatur. Ihr Einfluss in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden war immens.
Übrigens haben die Athener diese Tragödie sofort bitter bereut. Aber die Reue kam, wie immer, zu spät. Allerdings haben sie sich geschworen, dass solches nie wieder vorkommen dürfe.
1857 veröffentlichte der deutsche Philologe und Philosoph Ernst von Lasaulx ein bemerkenswertes Büchlein unter dem Titel Des Sokrates Leben, Lehre und Tod. Darin vergleicht er Sokrates mit Jesus Christus, findet zahlreiche Parallelen, darunter ihren Tod, und schließt mit den Worten: Ich nehme darum keinen Anstand, ... zu behaupten, dass keine unter allen alttestamentlichen Persönlichkeiten ein so vollständiges Vorbild Christi ist als der Grieche Sokrates; und dass ebenso unzweifelhaft das Beste der christlichen Lebenslehre dem Hellenismus ungleich näher steht als dem Judaismus. Weshalb dieses Buch neben anderen seiner Werke auf den Index Librorum Prohibitorum der katholischen Kirche gesetzt wurde.
Dabei haben schon manche Kirchenväter des frühen Christentums eine unmissverständliche Parallele zwischen den Märtyrern Sokrates und Jesus gezogen. Für sie war Sokrates ein Vorläufer Jesu oder überhaupt schon ein Christ, so zum Beispiel für Justinus Martyr in seiner an Kaiser Antoninus Pius (138 bis 161) gerichteten Ersten Apologie (46,3). Und überhaupt erhielt das sokratische Gedankengut in der Exegese der Kirchenväter eine zentrale Bedeutung.
Sei dem, wie ihm sei. Faktum ist, dass Sokrates, wie Christus, eine ewig lebendige Wirkung entfaltet hat. Jede große Epoche der Menschheit hat sich mit ihm unmittelbar oder auch nur mittelbar auseinandersetzen müssen. Ja, die Menschheit ist ohne Sokrates eigentlich gar nicht mehr denkbar. Seine Bedeutung ist so gewaltig, dass man ihn immer wieder anders, ihn immer wieder neu zu deuten, zu preisen oder auch herabzusetzen unternahm. Die Sokratesliteratur stellt geradezu eine eigene menschliche Kulturgeschichte dar, schon allein deshalb, weil er zu uns nur durch andere spricht, vor allem durch Platon, dessen Geist in der Antike bis zu deren Ende lebendig fortgewirkt hat und durch die Renaissance wieder lebendig geworden ist. Im Übrigen steht fest, dass der Platonismus einer der wichtigsten Wegbereiter der Theorie des Christentums war.
An einem Spätnachmittag des Jahres 424 vor Christus wäre der Platonismus und überhaupt die Philosophie, wie wir sie kennen, beinahe im Keim erstickt worden. So stellt es Victor Davis Hanson, Professor für Klassische Philologie an der California State University, in dem bemerkenswerten Essay Sokrates fällt bei Delion, 424 v. Chr. dar, erschienen in dem von Robert Cowley herausgegebenen Sammelband Was wäre geschehen, wenn? Wendepunkte der Weltgeschichte (Originaltitel What if? 23 Eminent Historians Imagine What Might Have Been, New York 2001). Sokrates, der Vater der athischen Philosophie des Westens, nahm als einfacher Soldat an der erwähnten, für Athen sehr verlustreichen Schlacht teil. Und Professor Hanson geht in seinem Beitrag der Frage nach, was geschehen wäre, wäre Sokrates damals unter den Opfern gewesen – konkret, ob seine Ideen ohne Platon überlebt hätten. Platon, schreibt er, rund 42 Jahre jünger als Sokrates, war zur Zeit der Schlacht von Delion wahrscheinlich erst fünf Jahre alt. Wäre Sokrates damals gefallen, dann hätte sich das gesamte Gefüge der platonischen Dialoge wahrscheinlich radikal verändert und damit auch das Wesen des westlichen Denkens selbst.“
Zuletzt las Pfeifer Platons ergreifenden Bericht über den Tod des Sokrates aus dem Dialog Phaidon (115Aff.) vor.
Der nächste Tag war Pfingstsonntag – bei uns, aber nicht in Griechenland. Pfingsten kommt ja vom griechisch Pentekosté, die fünfzigste, und heißt so, weil es der fünfzigste Tag – der im Griechischen weiblich ist – nach dem Ostersonntag ist. Und beim Osterdatum richtet sich die orthodoxe Kirche Griechenlands noch immer nach dem nicht-reformierten
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl Plepelits
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Cover: Tina Tannwald, Bildmaterial Pixabay COO Common Lisence
Übersetzung: Karl Plepelits
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2018
ISBN: 978-3-7438-7840-2
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