Ein süßer Traum:
Ich befinde mich in Melk, auf Besuch bei meinem Bruder und seiner Frau. Im Haus herrscht Katzenjammer. Das Töchterlein ist ausgerissen. Soeben hat unser französischer Onkel angerufen und mitgeteilt, dass sie bei ihm gelandet ist.
Brüderlein wirft mir einen durchdringenden Blick zu und sagt mit beschwörender Stimme: „Du, Ferdi? Du hast doch Zeit. Würdest du eventuell ...“
Er wagt sein Anliegen nicht auszusprechen.
„Schnell nach Nizza fahren und die Ausreißer abholen?“, ergänze ich. „Na klar. Ehrensache.“
„Jö, bist du ein Schatz“, jubelt meine Schwägerin, fällt mir um den Hals und küsst mich auf die Wange.
Diese Liebesbezeigung ist mir eigentlich schon Lohns genug, und ich sage lachend: „O fein! Wenn du mich auch noch auf die andere Wange küsst, fahre ich natürlich noch lieber, noch früher und noch schneller. Du kennst doch diese Bibelstelle, wo es heißt: Wenn dich eine schöne Frau auf die rechte Wange küsst, dann halte ihr auch die andere hin. Oder so ähnlich.“
Meine Schwägerin fällt mir tatsächlich noch einmal um den Hals und küsst mich auch noch auf die andere Wange, und Brüderlein klopft mir auf den Rücken und sagt: „Du, das ist aber echt nett von dir. Ich weiß nicht, was wir ohne dich ... Wir müssen ja beide arbeiten. Ja, wann ...“
Und er blickt sich fragend nach ihr um.
„Jetzt sofort!“
„Sofort? Aber das können wir doch unserem Ferdi nicht zumuten. Jetzt, mitten in der Nacht.“
„Warum nicht?“, sage ich. „Jetzt in der Nacht ist weniger Verkehr.“
Doch welch unglaubliche Überraschung mir auf dieser Fahrt bevorsteht, das ahnt niemand. Ich am allerwenigsten.
Ein nicht ganz so süßer Traum:
Ich befinde mich in einem ägyptischen Grabgewölbe und kauere über dem Grab meiner Geliebten. Aus meinen Augen schießen Tränen hervor, Tränen der Verzweiflung, Tränen des Zorns. Vor mir haben sich nicht weniger als fünf Mannsbilder, allesamt Ägypter, aufgebaut und grinsen spöttisch. Mit wachsender Wut rufe ich ihnen zu: „Ihr habt sie vergiftet, ihr Mörderbande, verfluchte!“
„O nein, lieber Herr Hahn“, flötet der eine, der Deutsch, genauer, steirischen Dialekt spricht. „Sie irren sich. Vergiften – so was tun doch nur die Weiber, keine arabischen Männer. Aber trösten Sie sich. Sie hat den verdienten Lohn bekommen. Und wissen Sie was? Jetzt sind Sie dran.“
„Was ...“
Weiter komme ich nicht. Denn im selben Augenblick wird mir etwas Weiches, Ekelerregendes in den Mund gestopft. Es würgt mich in der Kehle. Gleichzeitig reißt man mir die Hände nach hinten und bindet sie so fest am Rücken zusammen, dass ich vor Schmerz unwillkürlich aufschreie. Nur dass mein Schrei vom Knebel erstickt wird. Man stößt mich nieder, bindet mir die Füße zusammen.
„Liebende wünschen doch auch im Tod zusammen zu sein. Diesen Wunsch haben wir euch jetzt erfüllt, allen beiden. Also lebt wohl und genießt gemeinsam eure schändliche Liebe. Und danke, dass Sie jetzt so freundlich sind, meine Ehre wiederherzustellen.“
Und in plötzlich aggressivem Ton: „Die haben Sie nämlich verletzt, gekränkt, geschändet, mit Füßen getreten, Sie Lump, Sie Wüstling, Sie Schweinehund, Sie Scheißkerl, Sie.“
Die Tirade endet mit einem wohlgezielten, äußerst schmerzhaften Fußtritt gegen meinen Bauch und dann noch einmal gegen meine Körpermitte. Ich höre, wie die Tür geschlossen wird, der Riegel vorgeschoben wird. Und danach: Grabesstille, Grabesdunkel. Finsternis legt sich über meine Augen, über meinen Geist.
Die Grabesstille. Das Grabesdunkel. Die Todesangst. Die grenzenlose Verzweiflung. Die grauenhaften Gedanken. Die körperlichen Qualen. Die Geißeln der Furien. Die Peitschen der Dämonen. Die Folterwerkzeuge der Teufel. Der Pesthauch des Satans. Die lodernden Flammen der Hölle. Die stechenden Augen der Geister der Toten. Die liebevollen, traurigen Augen des Geistes meiner Geliebten.
Wie Aida im Grabgewölbe ihres Radames sehe ich schon den Todesengel sich nahen in Glanz und Strahlen.
Leb wohl, o Erde, o du Tal der Tränen!
Verwandelt ward der Freudentraum in Leid.
Schon öffnet sich des Himmels Tor,
Dort enden alle Qualen,
Frieden und Seligkeit und Glück,
Sie wohnen ewig dort.
So oder so ähnlich sind die Träume, die mich heute noch, nach so vielen Jahren, oft und oft entweder entzücken oder mir Todesangst einjagen und mich schweißgebadet aus dem Schlaf aufschrecken lassen.
Jetzt aber zurück ins Jahr 1979!
Es ist Mitte September. Müde von einem langen Arbeitstag in Wien, sitze ich im Nachtzug nach Graz. Ab Wiener Neustadt teile ich das Abteil nur noch mit einem jüngeren Mann von orientalischem Aussehen. Nach einiger Zeit spricht er mich auf Englisch an und fragt, ob Graz mein Ziel sei und ob ich in Graz wohne. Beide Fragen bejahe ich.
„Dann kennen Sie vielleicht meinen Bruder? Er studiert in Graz, wissen Sie.“
Er greift in seine Jackentasche, holt ein Stück Papier hervor, hält mir dieses unter die Nase und strahlt mich mit blitzenden Zähnen an. „Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich da hinkomme?“
Ich beäuge den Zettel und erkenne auf ihm eine Grazer Adresse. Der Name der Straße ist mir unbekannt. „Diese Straße kenne ich nicht. Aber jeder Taxifahrer sollte sie kennen.“
Beim Wort Taxifahrer zuckt er zusammen, als hätte ihn ein Skorpion gestochen. „Mein Bruder verkauft Zeitungen, wissen Sie. Am Bahnhof.“
„Na also. Da wird es sicher kein Problem sein, ihn am Bahnhof aufzuspüren.“
„Und würde es Ihnen etwas ausmachen, mir dabei zu helfen? Ich kenne den Grazer Bahnhof ja nicht. Ich bin heute zum ersten Mal in Österreich, wissen Sie.“
„Ah! Darf man fragen, wo Sie zu Hause sind?“
„Aber gern: In Assiut. Das ist in Ägypten, wissen Sie.“
So entwickelt sich allmählich ein angeregtes Gespräch, und wir fragen uns gegenseitig aus, er mich über Österreich, und ich ihn über Ägypten, das ich, vor allem infolge meiner Tätigkeit als Reiseleiter, schon mehrere Male bereist habe, allerdings, ohne dabei jemals Assiut zu berühren.
Wir erreichen Graz, betreten gemeinsam die Bahnhofshalle. Der Mann aus Assiut stutzt, stößt einen Freudenschrei aus, setzt seinen riesigen Koffer ab und stürmt, ohne diesen weiter zu beachten, auf einen schwarzgelockten Zeitungsverkäufer nahe dem Ausgang zu, fällt ihm um den Hals und küsst ihn ab, dass es eine Freude ist. So etwa muss Adam seine Eva abgeküsst haben, als er aus dem tiefen Schlaf, in den ihn Gott, der Herr, versetzt hatte, aufwachte und sie an dessen Hand zum ersten Mal erblickte. Mir aber fällt ein Stein vom Herzen. Mit meiner freien Hand ergreife ich den verteufelt schweren Koffer und wanke meinem Schützling nach. (Reisekoffer mit Rollen gab es damals ja noch nicht.)
„Mein Bruder!“, ruft er mir zu. „Wir haben ihn gefunden. Darf ich Ihnen meinen Bruder Gamal vorstellen?“
Das finde ich nun zwar reichlich überflüssig, aber was hilft’s? Die unglaubliche Empfindlichkeit der Orientalen ist mir von meinen Reisen zur Genüge vertraut. Also schüttle ich Bruder Gamal die entgegengestreckte Hand und murmle verlegen: „Very pleased to meet you.“
Da lacht dieser übers ganze Gesicht und sagt auf Deutsch, oder genauer, in breitestem steirischem Dialekt mit entzückendem arabischem Akzent: „Mit mir können S’ ruhig deutsch reden. Gamal. Genau wie der von allen Ägyptern hochverehrte frühere Präsident Gamal Abdel Nasser. Gamal Muhi ad-Din mein Name.“
„Ah, sehr erfreut“, murmle ich jetzt auf Deutsch. „Ferdinand Hahn.“
„Ach, wirklich? Hahn? So wie Hendl?“
Ich muss ebenfalls lachen. „Nein, so wie Gockel.“
Er zeigt auf meinen Schützling. „Und das ist mein lieber Bruder Hassan, der sehr Schöne. Das bedeutet nämlich der Name Hassan. Und Muhi ad-Din bedeutet: Der, der die Religion stärker macht. Und wissen Sie, was mein Name Gamal bedeutet? Schönheit. Na, was sagen Sie jetzt?“
„Aha, sehr interessant“, murmle ich und versuche mit etwas Mühe, ein möglichst beeindrucktes Gesicht zu machen. Ich schüttle auch Brüderlein Hassan, dem sehr Schönen, die Hand und sage auch ihm meinen Namen vor.
Hierauf fühle ich mich allerdings bemüßigt, Gamal, die personifizierte Schönheit, darauf hinzuweisen, dass sein Bruder wohl schon zum Umfallen müde sein dürfte.
„Ah, das glaub ich gern. Aber ich hab jetzt sowieso schon Dienstschluss. Das war nämlich eh der letzte Zug aus Wien.“
„Aha. Und wie kommen Sie dann nach Hause?“
„Zu Fuß. Etwas anderes kann ich mir nicht leisten.“
„Oje, oje. Da wird aber Ihr Bruder keine große Freude haben, noch dazu mit diesem sauschweren Koffer hier.“
Antwort: Betroffenes Schweigen.
Da gebe ich mir einen Ruck und lade die beiden kurzerhand ein, mir in dem Taxi, mit dem ich zu Frau und Kind heimzukehren gedenke, Gesellschaft zu leisten und sich vor Gamals Wohnhaus absetzen zu lassen. Und der Lohn der guten Tat? Ich schrecke mich nicht schlecht: Alle zwei tun, als wollten sie mich genauso abküssen, wie sie das gerade miteinander vorexerziert haben, lassen aber zum Glück im letzten Moment von ihrem Vorhaben ab.
Diese Begebenheit hätte ich wahrscheinlich rasch vergessen, hätte ich nicht gerade damals jede Woche einmal in Wien zu tun gehabt. Denn dabei hielt ich von nun an regelmäßig Ausschau nach Gamal und sah ihn brav seine Zeitungen feilbieten. Seinen Adleraugen entging ich ohnedies nie. Jedes Mal hatte er mich längst erspäht und winkte mir schon von weitem zu. Ganz klar, dass ich vor ihm haltmachte, seine entgegengestreckte Hand schüttelte, mich nach seinem Bruder erkundigte und ihn fragte, wann er heute Dienstschluss habe. Darauf war seine stereotype Antwort: „Jetzt, nachdem dieser letzte Zug aus Wien angekommen ist.“ Und da konnte ich nicht umhin, meine Einladung zur Heimfahrt im Taxi zu wiederholen.
So erfuhr ich nach und nach, dass er schon seit sechs Jahren in Graz lebt, Medizin studiert und sich seinen Lebensunterhalt als Zeitungsverkäufer verdient, dass er außer dem einen Bruder neun Schwestern hat und seit knapp einem Jahr verheiratet ist, aber noch kein Kind hat.
Einmal ersparte ich mir die Taxifahrt. Beim Einsteigen am Wiener Südbahnhof war ich, wie es der Zufall wollte, auf einen befreundeten Rechtsanwalt gestoßen. Keine Frage, dass ich mich zu ihm gesetzt hatte. Und ebenfalls keine Frage, dass ich ihn schon unterwegs auf das, was uns am Grazer Hauptbahnhof erwartete, vorbereitet hatte. Für ihn wieder war es „selbstverständliche Freundespflicht“, mir anzubieten, ja, mich sogar zu drängen, mich von ihm nach Hause chauffieren zu lassen. Und nun ließ er es sich nicht nehmen, seine Einladung auf Gamal auszudehnen und ihn bis zu seiner Haustür zu bringen.
Ja, aber dann kam eine Zeit, in der ich nicht mehr so häufig und so regelmäßig nach Wien zu fahren brauchte. Als ich nun nach mehrwöchiger Abstinenz wieder einmal mit dem gewohnten Nachtzug nach Graz zurückkam, war ich einigermaßen verwundert, Gamal nicht an seinem Stammplatz in der Bahnhofshalle anzutreffen. Ich konnte ihn einfach nicht finden, so sehr ich mir nach ihm die Augen ausschaute, weder in der Halle noch sonst wo am Hauptbahnhof und auch nicht auf dem Gelände davor. Schließlich gab ich die Suche auf und bestieg eben ohne ihn ein Taxi, um an den häuslichen Herd zu gelangen.
Als ich einige Wochen später, inzwischen war es Anfang Dezember geworden, auf der Rückfahrt von Wien erneut die nächtliche Grazer Bahnhofshalle betrat, sah ich Gamal wieder nicht an seinem gewohnten Platz stehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz sah ich ihn dann aber doch. Er stieg gerade in einen Sportwagen ein, und zwar auf der Beifahrerseite. Hinter dem Lenkrad saß eine tolle Puppe, schmuckbehängt, mit langen, platinblonden Haaren und ausgesprochener Kriegsbemalung. Und im nächsten Moment brauste sie auch schon mit ihm davon.
Verblüfft blickte ich ihnen nach. Er scheint ja das Große Los gezogen zu haben, dachte ich. Ob die tolle Puppe seine Frau ist?
Es war Mitte Jänner, und wir schrieben bereits 1980.
Eines schönen Abends läutete bei mir zu Hause das Telefon. Wie üblich, stürzte meine Eheliebste ans Telefon und hob ab. Wie heißt es doch so schön: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Sie wird schon gewusst haben, wieso es nie schaden kann, ihrem Mustergatten ein wenig auf die Finger zu gucken. Im Übrigen hätte der Anruf ja auch für sie sein können. Klar. War er aber nicht. Sie überreichte mir den Hörer mit säuerlicher Miene und zischte: „Eine Dame will dich sprechen.“
„Welche Dame?“, zischte ich verwundert zurück. Aber sie zuckte nur mit der Schulter. Ich übernahm den Hörer und meldete mich. Mir antwortete eine mir unbekannte, sehr angenehme, aber bedrückt klingende Frauenstimme mit fremdländischem Akzent. Sie stellte sich vor mit „Hier Muhi ad-Din“ und fragte, ob ich jener nette Mensch sei, der ihren Ehemann des Öfteren im Taxi heimgebracht habe. Sie entschuldigte sich hunderttausend Mal für diese Belästigung. Aber sie wisse nicht, an wen sie sich sonst um Hilfe wenden könne.
Im nächsten Moment hörte ich sie bitterlich weinen, und als ich, verwundert und unangenehm berührt, fragte, ob ich mit Gamal sprechen könne, wurde aus ihrem Weinen ein herzzerreißendes Schluchzen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, noch irgendein vernünftiges Wort aus ihr herauszubringen, erklärte ich kurzerhand, ich käme am besten sofort zu ihnen, und legte auf.
Ich wandte mich nach meiner Frau um und sagte: „Ich muss sofort hinfahren.“
„Ah, zu ihr?“, sagte sie mit kaum unterdrücktem Sarkasmus in der Stimme.
„Nein, zu ihnen“, brummte ich verärgert.
Da will man jemandem zu Hilfe kommen, und sie glaubt gleich ... Na gut, soll sie doch, wenn’s ihr Spaß macht.
„Du erinnerst dich doch an den ägyptischen Zeitungsverkäufer vom Hauptbahnhof. Ja? Dem seine Frau hat angerufen. Es muss irgendwas passiert sein. Sie war ganz untröstlich und ...“
„Na, dann tu halt, was du nicht lassen kannst.“
Nun gut, so tat ich halt, was ich nicht lassen konnte. Wenig später stand ich – nein, nicht vor der tollen Puppe vom Hauptbahnhof, sondern vor einem ungeschminkten, ungeschmückten Geschöpf mit langen, pechschwarzen, nein, dunkelbraunen Haaren, verweinten Augen und entsprechend zerknittertem Gesicht. Sie führte mich ins Wohnzimmer, hieß mich Platz nehmen und begann: „Was darf ich Ihnen ...“
„Bitte, gar nichts. Sagen Sie lieber, wo’s brennt.“
„Wieso? Es brennt nirgends.“
Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln. „Ach, das ist bloß so eine Redensart. Ich habe gemeint: Was haben Sie auf dem Herzen?“
Sie setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl, blieb aber stumm, schaute mich nur mit traurigen Augen an. Ihre großen, schönen, traurigen braunen Augen – nun erst fielen sie mir auf, um nicht zu sagen, wurde ich von ihnen gefesselt. Überhaupt gewann ich, je länger ich dieses zerknitterte Gesicht betrachtete, umso stärker den Eindruck, dass es eigentlich recht hübsch sein muss. Hübsch und rassig. Aber es wirkte in keiner Weise so orientalisch wie Gamals Gesicht.
Die Frau Muhi ad-Din setzte ein paarmal zum Reden an und gab es jedes Mal wieder auf. Um es ihr zu erleichtern, begann ich: „Ist Gamal nicht daheim?“
Dann musste ich an meinen ursprünglichen Schützling denken und fuhr fort: „Oder Hassan?“
„Ach, Hassan. Der wohnt schon lang nicht mehr bei uns.“
„Ach so? Und ich hatte den Eindruck, dass er länger bei Ihnen bleiben wollte. Bei dem riesigen Koffer, den er mithatte.“
„Wollte er auch. Aber dann hat er sich mit meinem Mann zerstritten.“
„Aber, aber. Dann war es also mit der brüderlichen Liebe zwischen den zweien doch nicht gar so weit her. Sie hätten die Begrüßungsszene miterleben sollen. Die war einsame Spitze.“
„Ja, ja, am Anfang, da war auch alles in Käse.“
„Sie meinen, in Butter?“
„Ach so, ja: In Butter. Sie müssen meine mangelhaften Deutschkenntnisse entschuldigen. Aber ich bin noch nicht so lang in Österreich.“
„Ach, ich finde, Sie sprechen hervorragend, bestimmt besser als Ihr Herr Gemahl.“
„O nein, der hat viel mehr Übung und versteht alles.“
„Aber schöner sprechen Sie, finde ich.“
„O danke. Sie sind sehr freundlich.“
„Na, wenn’s wahr ist. Also, Sie sind noch nicht so lang in Österreich wie Gamal?“
„Nein, bei weitem nicht. Er ist schon sechs Jahre hier und ich erst zwei Jahre und ein paar Monate ... seit September 77, um genau zu sein.“
„Aha. Aber Sie wollten gerade davon erzählen, dass am Anfang alles in Butter war zwischen Hassan und Gamal.“
„Ach ja! Aber leider hat der Friede und die Eintracht zwischen ihnen nicht sehr lang gehalten. Und schuld daran ... Schuld war ich.“
„Waren Sie? Wie soll ich das verstehen?“
„Na ja, ich glaube, ich habe Hassan ganz gut gefallen.“
„Oh, das kann ich gut verstehen.“
Sie warf mir einen sonderbaren Blick zu und errötete.
„Na ja, und Gamal hat bald angefangen, mich zu beschuldigen, dass ich Hassan schöne Augen mache.“
„Ah ...“
„Was gar nicht stimmt. Er hat auch mit ihm gestritten und ihm vermutlich ebenso Vorwürfe gemacht.“
„Wieso vermutlich? Hat er ihm diese Vorwürfe nur dann gemacht, wenn Sie nicht dabei waren?“
„Aber nein, überhaupt nicht. Er hat sich vor mir keinen Zettel vor den Mund genommen ...“
„Sie meinen: kein Blatt vor den Mund genommen?“
„Oh, entschuldigen Sie! Jawohl, kein Blatt vor den Mund genommen und mit ihm immer häufiger und immer heftiger gestritten.“
„Jetzt versteh ich aber noch immer nicht, wieso Sie nur vermuten, dass er ...“
„Nun, sie haben miteinander natürlich in ihrem Heimatdialekt gesprochen.“
Ich muss sie daraufhin ziemlich entgeistert angeschaut haben, denn ihre – wie mir erst jetzt bewusst wurde – ausgesprochen sinnlichen Lippen zeigten einen Anflug von Schmunzeln.
„Ich beherrsche nämlich zwar das klassische Arabisch, kann aber das Arabisch, wie es in ihrer Heimat gesprochen wird, fast nicht verstehen. Ach so, Sie glauben wahrscheinlich, ich komme auch aus Ägypten. Aber das stimmt nicht. Ich komme aus dem Iran.“
„Ah, Perserin sind Sie? Da sprechen Sie also mit Ihrem Herrn Gemahl vermutlich deutsch?“
„Richtig: Ich spreche deutsch, und er spricht steirisch. Er ist sehr stolz darauf, steirisch sprechen zu können.“
„Aha. Ja, jetzt ist mir alles klar.“
„Sie dürfen übrigens ja nicht glauben, dass ich Hassan schöne Augen gemacht habe.“
„Nein, nein. Aber er hat vermutlich versucht ...“
„Das stimmt. Er hat ständig versucht ... Aber Sie dürfen wirklich nicht glauben, dass ich ... Das hätte ich nie gewagt, noch dazu, wo sie beide Ägypter sind.“
„Wo sie beide Ägypter sind? Wie meinen Sie das?“
Sie zögerte auffallend lange, ehe sie weitersprach.
„Sie kennen die ägyptischen Männer nicht. Ich kannte sie anfangs auch nicht. Wissen Sie, was immer man gegen den Schah einwenden konnte, eins kann man ihm nicht abstreiten: Er hat den Iran zu einem fortschrittlichen Land gemacht, bestimmt zum fortschrittlichsten unter allen islamischen Ländern. Jetzt, nach der islamischen Revolution unter Khomeini, ist ja zu befürchten, dass unser Land in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen wird und dass auch im Iran wieder die Sitten eingeführt werden, die in den weniger fortschrittlichen Ländern des Islam an der Tagesordnung sind. Wissen Sie, weshalb Hassan nach Österreich gekommen ist? Um der ägyptischen Justiz zu entgehen.“
„Oho! Hat er was ausgefressen?“
„Ausgefressen?“
„Ach so. Ich meinte, hat er sich was zuschulden kommen lassen?“
„Mhm, das kann man wohl sagen. Er hat seine Frau getötet.“
„Was?“ Jetzt war ich wie vom Donner gerührt. „Seine eigene Frau? Umgebracht? Also nein! Das hätte ich ihm nie zugetraut.“
„Ja, in vielen islamischen Ländern, darunter offenbar auch Ägypten, gehört es zu den geheiligten Pflichten des Mannes, seine Ehefrau zu töten, wenn er den Verdacht hat, dass sie ihm untreu ist oder gewesen ist.“
„Nein! Meinten Sie; falls sie ihm untreu ist, oder falls er nur den Verdacht hat, sie könnte ihm eventuell untreu sein?“
„Der Verdacht allein genügt.“
Ich war sprachlos. Dann fiel mir ein, was sie vorhin gesagt hatte. „Sagen Sie, Frau Muhi ad-Din, habe ich Sie vorhin richtig verstanden, dass Sie Angst hatten ...“
„Sie haben mich ganz richtig verstanden. Ich hatte tatsächlich Angst, Gamal könnte mir etwas antun, falls er den Verdacht haben sollte, dass ich ihm untreu bin, auch wenn das überhaupt nicht stimmt. Aber das hätte mir im Ernstfall überhaupt nichts genutzt. Dazu kannte ich ihn schon viel zu gut.“
„Wie meinen Sie das? Schlägt er Sie?“
„Selbstverständlich. Drum war ich heilfroh, als Hassan eines Tages seine Sachen packte und auszog.“
„Ist er noch in Graz?“
„Nein, glücklicherweise nicht. Ich glaube, er ist jetzt in Deutschland.“
Und nun ging, wie man so schön sagt, ein Engel durchs Zimmer.
Plötzlich fiel mir ein, wozu ich eigentlich hier saß, dieser verheulten und trotzdem unglaublich faszinierenden Frau gegenüber: Nicht, um mit ihr gemütlich zu plaudern, sondern um ihr zu helfen. Sie hatte mich ja selbst darum gebeten, mir allerdings noch immer nicht verraten, wo es eigentlich brannte, beziehungsweise was sie auf dem Herzen hatte. Und sie machte auch keinerlei Anstalten, es mir zu verraten. Eins hatte sie mir immerhin verraten: Dass sie von ihrem Mann geschlagen wird und Angst hat, er könnte sie genauso abmurksen, wie sein Bruder dessen Ehefrau abgemurkst hat. Wegen eines bloßen Verdachtes. Wo sie doch beide Ägypter sind.
„Und was Sie nun auf dem Herzen haben, ich meine, Ihr konkretes Problem, hat das vielleicht mit Ihrem Mann zu tun?“
„Ach, ich schäme mich ja so“, murmelte sie.
„Ist es der Umstand, dass er Sie schlägt? Oder dass Sie Angst haben ...“
„Ach nein, das ist es nicht.“
„Das ist es nicht? Ja, was ist es dann?“
Ich musste an die Szene neulich vor dem Hauptbahnhof denken. „Ist es vielleicht, dass Sie befürchten, er könnte Sie betrügen?“
In ihrem so verschlossen wirkenden Gesicht vollzog sich nun eine erstaunliche Wandlung: Ihr Blick hellte sich auf und verdüsterte sich zugleich – ein interessanter Widerspruch, fand ich.
„Ach, betrügen. Ein muslimischer Ehemann betrügt seine Frau doch nicht.“
„Nein?“, sagte ich gedehnt, reichlich erstaunt über diese doch einigermaßen kühne Behauptung.
„Nein. Er hat das heilige Recht, so viele Frauen zu haben, wie ihm beliebt.“
„Ach, so meinen Sie das.“
„Oder, um ganz exakt zu sein: Bis zu vier Ehefrauen und eine unbegrenzte Anzahl von Konkubinen.“
„Aha! Na, das ist ja toll. Aber dann verstehe ich nicht ...“
„Ja, wissen Sie, mein Mann liebte nämlich eine Frau, die, wie sagt man da, die sich dafür bezahlen lässt.“
„Ah, eine Prostituierte?“
Jetzt wurde mir einiges klar. Aber ich hütete mich, ihr das brühwarm auf die Nase zu binden.
„Ja, genau. Eine Prostituierte. Und die ließ sich viel Geld dafür bezahlen und teuren Schmuck schenken.“
„Soso.“
„Sie hat ihm nämlich total den Kopf verdreht. Er war heillos in sie verliebt.“
„Soso.“
Er lässt sich von einer Hure den Kopf verdrehen und bezahlt ihr viel Geld dafür und schenkt ihr obendrein teuren Schmuck und hat bei all dem wahrscheinlich noch ein vollkommen reines Gewissen. Aber wehe, ihm kommt auch nur der Verdacht, seine eigene hübsche, junge, attraktive Frau könnte ihm untreu werden. Dann ist es sein heiliges Recht, ja, seine geheiligte Pflicht, sie mir nichts, dir nichts abzumurksen. Und ich spürte, wie es in mir zu brodeln begann, wie eine Woge der Empörung in meiner Brust immer höher stieg. Und dann überkam mich lähmendes Entsetzen, als ich daran denken musste, was ihr Göttergatte wohl davon halten würde, sollte er plötzlich hereingeschneit kommen und uns zwei in so traulichem Gespräch vorfinden. Immerhin hatte ich mich ja selber eingeladen. Nach allem, was ich soeben gehört hatte, war ihm ohne weiteres zuzutrauen, dass er sich einbilden würde, uns sozusagen in flagranti ertappt zu haben. Na, und dann – gute Nacht!
Der Frau Muhi ad-Din schien dieses Wechselbad der Gefühle in meiner Brust nicht entgangen zu sein. „Ist Ihnen nicht gut? Soll ich Ihnen nicht doch einen Tee machen?“
„Nein, nein. Mir ist nur eingefallen, was Ihr Mann wohl sagen würde, wenn er jetzt bei der Tür hereinkäme und uns so zusammen ...“
„Ach so. Ja, da haben Sie schon recht. Aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Er wird nicht hereinkommen.“
„Sind Sie da so sicher?“
„O ja, ganz sicher.“
„Ist er bei dieser Frau?“
„Ach, ich schäme mich ja so.“
„Dass er bei dieser Frau ist? Aber deswegen ...“
„Er ist nicht bei dieser Frau. Wissen Sie, wo er ist? Halten Sie sich fest: Im Gefängnis.“
„Im Gefängnis?“
Jetzt verschlug es mir aber wirklich die Sprache, und ich muss ein Gesicht gemacht haben ... Ich weiß es natürlich nicht; ich habe mich ja selbst nicht gesehen. Ich schließe es nur aus der Reaktion der Frau Muhi ad-Din. Sie schien nämlich einen kurzen Augenblick lang zu schmunzeln, um hierauf aus heiterem Himmel in bittere Tränen auszubrechen, sodass ich mich, zumal in meinem momentanen Zustand, vollkommen hilflos fühlte.
Sie beruhigte sich diesmal relativ rasch und murmelte schließlich: „Ja, im Gefängnis.“
„Na so was! ... Hm, und ich nehme an, das ist jetzt das konkrete Problem, bei dem ich Ihnen helfen soll?“
„Sie sind ja so nett. Ich wusste wirklich nicht mehr, an wen ...“
„Ja, aber wie ...“
„Mein Mann hat mir erzählt, dass Sie mit einem Rechtsanwalt befreundet sind, der auch sehr nett ist und ihn einmal mit seinem Auto heimgefahren hat.“
„Ach ja. Und Sie meinen ...“
„Ob der vielleicht so nett wäre, ihm zu helfen?“
„Sie meinen, ihn vor Gericht zu verteidigen?“
„Ja, genau das.“
„Aber ja, bestimmt. Warum nicht?“
„Weil ... Weil wir kein Geld mehr haben.“
„Ach so. Da liegt der Hase im Pfeffer.“
„Der Hase im Pfeffer?“
„Ich meine, das ist das eigentliche Problem. Hm, na gut, fragen kann ich ihn ja. Aber sagen Sie, was hat er denn eigentlich ausgefressen?“
„Ausgefressen? Ach so, Sie meinen, warum er im Gefängnis sitzt?“
„Hängt das vielleicht mit seiner Liebe zu dieser ... dieser Frau zusammen?“
„So ist es. Um sie bezahlen und ihr den teuren Schmuck schenken zu können ... Ach, ich schäme mich ja so. Ich könnte vor Scham in der Erde versinken. Also gut. Um zu Geld zu kommen, hat er einen Raubüberfall verübt.“
„Nein!“
„Ja. Er hat eine Tankstelle überfallen.“
„Nein!“
„Ja. Er hat sich von einem guten Bekannten ein Fahrrad und dazu eine Schussschreckpistole, oder wie das Ding heißt, ausgeliehen, ist damit mitten in der Nacht zu einer Tankstelle gefahren, hat den Tankwart mit der Pistole bedroht und die Kasse geleert ...“
„Nein! Und danach hat er sich wieder aufs Rad gesetzt und ist seelenruhig nach Hause geradelt?“
„Ja, ja, so ähnlich. Aber die hatten dort so eine Kamera, mit der man alles überwachen kann. Und die ist ihm dann zum Verhängnis geworden. Am nächsten Morgen, da lag er noch im Bett, war auch schon die Polizei in der Wohnung. Zuerst glaubte er noch leugnen zu können. Aber das nützte ihm gar nichts, denn die Polizisten durchsuchten die ganze Wohnung und fanden nicht nur die Pistole, sondern auch noch die gesamte Beute. Ja, und jetzt ...“
Sie verstummte mitten im Satz, und ich versuchte zu ergänzen: „Und jetzt hat er nicht einmal ein Geld für einen Rechtsanwalt, und diese ... diese Frau, für die er das alles getan hat, lacht sich ins Fäustchen. Stimmt’s?“
„Lacht sich ins Fäustchen? Wie meinen Sie das?“
„Das heißt, sie lacht ihn aus und denkt nicht daran, ihm jetzt in der Not beizustehen. Hab ich recht?“
„Sie haben vollkommen recht. Wahrscheinlich denkt sie sich: Er hat ja eh eine Ehefrau. Die soll ihm aus der Patsche helfen. So sagt man doch, nicht wahr? Was er braucht, ist ein guter Rechtsanwalt, der dem Richter klarmacht, dass er kein Verbrecher ist, sondern ein unglücklicher Mensch, mit dem das Schicksal ein böses Spiel getrieben hat. Glauben Sie, würde der Rechtsanwalt, den Sie kennen ...“
„Ihn unentgeltlich verteidigen?“, ergänzte ich, und sie nickte nur.
„Hm, versprechen kann ich’s natürlich nicht. Aber ich will’s versuchen. Wie meinen Sie das übrigens: Das Schicksal hat mit ihm ein böses Spiel getrieben? Dass er sich in diese Frau verliebt hat?“
„O nein. Sondern dass er mich geheiratet hat.“
„Was? Ich bitte Sie. Jeder normale Mann, der Augen im Kopf hat, würde sich alle zehn Finger abschlecken ... würde sich glücklich schätzen, Sie als Ehefrau zu haben.“
Wieder warf sie mir einen sonderbaren Blick zu. „Nein, jetzt nicht mehr.“
„Aber, aber. Sie werden sich doch nicht einbilden, zu alt oder zu wenig attraktiv ...“
„Nein, das ist es nicht.“
„Was dann?“
„Wissen Sie, die Sache ist die: Ich war das, was man im Deutschen, glaube ich, eine gute Partie nennt. Sogar eine sehr gute Partie. Genau das war, fürchte ich, auch der Grund, warum mich Gamal geheiratet hat. Wir waren Kommilitonen, studierten beide Medizin, waren beide fremd in Österreich, stammten beide aus dem gleichen Kulturkreis. So lernten wir uns kennen. Er war sehr arm, ich war sehr reich.“
„Sehr reich?“, entfuhr es mir.
„O ja, sehr reich. Ich war vermutlich reicher als die meisten österreichischen Studenten. Und wie gesagt, ich bin fast überzeugt, dass mich Gamal nur deshalb geheiratet hat.“
„Wirklich?“
„Bestimmt. Das konnte man sehr bald an seinem veränderten Verhalten merken: Er vernachlässigte mehr und mehr sein Studium und konzentrierte sich mehr und mehr auf das Nachtleben von Graz. Geld hatte er ja nun in Fülle und Hülle, oder wie man da sagt.“
„In Hülle und Fülle.“
„Ah, danke. In Hülle und Fülle. Umgekehrt fesselte er mich mehr und mehr ans Haus und erlaubte mir zuletzt nicht einmal mehr, die Vorlesungen zu besuchen, aus lauter Angst, ich könnte ihm untreu werden. Und überhaupt gehört eben eine verheiratete Frau ins Haus und nirgendwo sonst hin. So seine Worte. Selbstverständlich verbot er mir, Besuch zu empfangen. Na ja, und so habe ich nach und nach allen Kontakt zu meinen ehemaligen Kommilitonen verloren und wusste darum in meiner gegenwärtigen Not nicht mehr, an wen ich mich um Hilfe wenden sollte. Aber dann fiel mir ein, dass Sie mit einem Rechtsanwalt befreundet sind. Also wälzte ich das Telefonbuch, Ihr Name ist ja leicht zu merken, suchte mir Ihre Telefonnummer heraus, nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief an.“
Sie verstummte und schaute mich mit ihren dunklen, faszinierenden Augen dankbar an, falls ich ihren Blick richtig gedeutet habe, und wirkte irgendwie gelöst, entspannt, erleichtert. Ihr Gesicht schaute bei weitem nicht mehr so zerknittert und verheult aus. Und ich weiß noch, mit welcher Befriedigung ich in Gedanken konstatierte: Na, hässlich ist es ja wirklich nicht.
Doch dann versuchte ich, all das, was sie mir zuletzt erzählt hatte, innerlich zu verarbeiten und sagte schließlich: „Aber sagen Sie, Frau Muhi ad-Din, wie ist denn so was möglich, wenn Sie wirklich so reich sind, wie Sie sagen? Sie haben doch vermutlich entsprechend wohlhabende Eltern. Die müssten eigentlich in der Lage sein, Ihnen unter die Arme zu greifen und für den Schwiegersohn ...“
Ich brach ab, denn ihr Gesicht wurde plötzlich zu Marmor, ihre Mundwinkel zuckten, und es sah ganz danach aus, als stünde der nächste Weinkrampf bevor. Sie beherrschte sich jedoch, seufzte und begann mit leiser Stimme: „Mein Vater war ein hoher Beamter in der Regierung des Schah. Als vor einem Jahr die Revolution ausbrach und der Schah aus dem Iran fliehen musste, wurde er verhaftet, vor ein Revolutionsgericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet.“
„Ihr Vater?“, rief ich entsetzt aus.
„Mein Vater. Es stand in sämtlichen Zeitungen. Was nicht in den Zeitungen stand, ist, was mit den übrigen Mitgliedern meiner Familie passierte: Sie sind alle gestorben – wie, das weiß kein Mensch.“
„Entsetzlich“, rief ich aus und: „Sie Arme!“
Sie schenkte mir einen, so schien es mir, dankbaren Blick und fuhr fort: „Und dazu ist das gesamte beträchtliche Familienvermögen konfisziert worden.“
„Ah! Ja, jetzt versteh ich: Damit war die Quelle Ihres Reichtums, wenn ich so sagen darf, versiegt.“
Sie nickte traurig. „So ist es.“
„Dann versteh ich aber eines nicht: Wieso hat Gamal sein Verhalten nicht den geänderten Umständen angepasst? Ich meine, wieso hat er nicht wieder aufgehört, Ihr Geld mit vollen Händen auszugeben? Er musste doch wissen, dass das nicht ewig so weitergehen kann.“
„Sie sagen es. Ich habe auch versucht, ihm das klarzumachen. Ein klein wenig hat er ja auf mich gehört: Er hat seinen alten Job als Zeitungsverkäufer wiederaufgenommen. Und er hat sich mit einer Konkubine begnügt.“
„Na, ob das viel gebracht hat?“
„Nein, natürlich nicht. Eher im Gegenteil. Aber er hatte ein unschlagbares Argument. Er sagte immer: Unser Präsident as-Sadat wird garantiert dem Schah helfen, seinen Thron zurückzugewinnen, und zwar bald. (Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass der Schah jetzt im Exil in Ägypten lebt.) Und dann wird dein gesamtes Familienvermögen zurückgegeben werden, und du wirst die Alleinerbin sein, und wir werden nie wieder Sorgen haben.“
„Wie? Glaubt er das wirklich?“
„Ja. Ja. Er ist felsenfest davon überzeugt.“
„Und Sie? Glauben Sie das auch?“
„Ich weiß nicht recht, was ich glauben soll. Er kennt den ägyptischen Präsidenten vermutlich besser als ich.“
„Ich kenn ihn gar nicht. Aber glauben Sie mir, das sind reine Hirngespinste.“
„Sie meinen, der ägyptische Präsident wird ...“
Sie sprach den Satz nicht zu Ende und sah plötzlich leichenblass aus.
„Der ägyptische Präsident wird sich hüten, sich für einen politischen Leichnam die Finger zu verbrennen. Nein, nein, darauf dürfen Sie sich keine Hoffnungen machen. Wenn das passiert – na, also, das wäre ein politisches Wunder ersten Ranges, etwa so, wie wenn die DDR den Kommunismus zum Teufel jagen und sich mit Westdeutschland vereinigen würde.“
Schweigend und sichtlich geknickt, starrte Frau Muhi ad-Din zu Boden, genauer, auf einen wunderschönen Teppich.
„Also wissen Sie was“, sagte ich, um sie aufzumuntern. „Ich verspreche Ihnen, meinen Freund zu überreden, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Er ist wirklich ein ganz patenter Kerl. Aber sagen sie, wovon leben Sie überhaupt?“
„Na ja, bisher habe ich Schmuckstücke, Teppiche und Ähnliches verkauft. Dieser Teppich hier ist mein letzter. Und mein liebster. Ansonsten verdiene ich mir gelegentlich ein paar Schillinge, indem ich für ein Übersetzungsbüro persische und arabische Texte übersetze, manchmal auch englische, französische und spanische.“
„Was, so viele Sprachen sprechen Sie?“
„Ja, wissen Sie, meine Eltern haben mich in die besten und teuersten Internatsschulen gesteckt. Sie waren nämlich außergewöhnlich fortschrittlich denkende Menschen. Sonst hätten sie mich niemals zum Medizinstudium nach Graz gehen lassen. Und sie hätten mir niemals erlaubt,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: andrea157; Jumblebelle; rita952009; Bajaplay; NadineDoerle; Tappancs; 12019; Pixounaut (alle. CC0 Creative Commons) und Katharina Schroll (Stift Melk, Abendstimmung)
Cover: blueaboy: Ausschnitt aus: William Adolphe Bouguereau: L’Amour et Psyché, enfants (Eros-Amor und Psyche, Kinder),1890, Privatsammlung
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7389-6
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