Vorwort
Als ich letztes Jahr mit dem Fahrrad los gefahren bin um China zu erreichen, da ist mein Ziel nicht nur ein Land gewesen. Ich bin gleichzeitig auf der Suche nach den sieben Taten der Barmherzigkeit gewesen. Ich bin der Meinung, gerade in der heutigen Zeit ist Barmherzigkeit der Zugang zu einer besseren Zukunft und durchstößt zwischenmenschliche Barrieren. Ich wollte die Barmherzigkeit nicht nur finden, ich wollte sie erfahren. Die Tatsache dass ich mit dem Fahrrad gereist bin, ermöglichte mir mich mit den Menschen zu unterhalten um ihnen näher zu kommen. Näher als jeder Pauschalreisende. So ergaben sich Geschichten und Situationen, die ich mir niemals hätte ausdenken können und deren Faszination noch heute Inspiration für meine Texte und Geschichten sind. Die sieben Taten der Barmherzigkeit sind die Basiselemente unseres Zusammenlebens und sind wie die zehn Gebote, Gesetze an den unsere Ethik gebunden ist. Belehrungen laufen ins Leere und so entschloss ich mich, meine Erfahrungen in Geschichten zu verarbeiten und eine Nachricht an die Menschen zu geben: Macht Barmherzigkeit.
Aufgrund meiner aktuellen Reise ist es mir nicht möglich, meine Geschichte zeitnah an die Menschen zu bringen. So sollen nun Kurzgeschichten Einblick in meine Arbeit geben und die Nachricht in die Welt tragen. Wir sind sieben Milliarden Menschen auf der Erde. Wenn jeder Mensch einmal in seinem Leben die sieben Taten der Barmherzigkeit umsetzen würde, wäre diese Welt ein besserer Ort.
"Mareks Vergangenheit" ist ein Auszug aus meiner Geschichte und erzählt von der Kindheit einer der Protagonisten. Dieser besinnt sich zurück und erfährt was seine Bestimmung ist und welche Tat sein Leben verändert hat und nochmal wird. Gerne dürft ihr erraten um welche der sieben Taten es geht. Welche gute Tat Marek begeht und damit den Grundstein für ein neues Schicksal legt. Ich wünsche euch viel Spaß beim lesen.
MAREKS VERGANGENHEIT
Teil 1\2
Das ist Marek, das ist sein Vater
Die Mundwinkel sind heruntergezogen und erzählen die Geschichte einer qualvollen Kindheit, falls man von den Bruchstücken der friedvollen Momente, von Kindheit sprechen kann. Sein langes ungepflegtes Haar sticht sofort ins Auge wenn man Marek erblickt. Das braune Haar steht hervor und riecht abscheulich. Lumpen bedecken seine graue Haut, durch die kein Blut zu fließen scheint und seine Erscheinung kalt wirken lässt. Keine Freude, keine Wärme berührt sein Herz dass nur zu pochen scheint um irgendwann stehen zu bleiben. Nicht zu leben, nicht zu atmen um nicht glücklich zu sein.
Es ist ein riesiger Wald der ihn umgibt. Die französische Stadt Arles liegt weit außerhalb des Waldes und die Blockhütte liegt inmitten der einzigen Lichtung. Marek sitzt in einem Verschlag auf dem Dachboden. Zwei Tücher liegen auf dem Boden. Sie dienen zum schlafen. Durch das schwache Licht ist die Farbe unerkennbar, was zur Begründung der grauen Haut dient. Das Holz um ihm herum ist dunkel und nass. Mit einer schäbigen Schale fängt er die Wassertropfen auf, die vom letzten Regen vom Holz abperlen. Die Tropfen ziehen Kreise, sobald sie in das spiegelglatte Wasser eintauchen. Die Kreise beruhigen ihn und lenken ihn von seinem Leben ab dass er nicht einzuordnen versteht. Ohne Glück kann man kein Leid spüren. Das Glück kennt er nur aus seinen Vorstellungen und aus der Ahnung heraus wenn er Frieden spürt. Die Kreise im Wasser spenden ihm den Frieden und sind die Quelle seines Glückes. Er hockt vor der Schale, schaut auf die Kreise und hofft den Moment des Friedens einzufangen, bis dumpfe Schritte die Konzentration brechen und seinen Frieden stören. Die Schritte verstummen und die Luke zum Dachboden geht auf. Aus dem Licht dass den Dachboden mit Leben füllt, tritt ein Mann ein. Seine wilde Frisur und Gesichtsbehaarung lassen keinen Platz für Augen oder Mund. Ein Schatten füllt seine Stirn und seine düstere Erscheinung lässt auf einen düsteren Charakter schließen. Ein rotes Wollhemd bringt Farbe in sein Aussehen, doch der braune Ledergürtel, fest gespannt um seine Faust, zeigt auf, jegliche Farbe in seinen Gedanken ist entschwunden. Er wickelt wortlos ein Teil des Gurtes ab. Marek ist nicht überrascht oder erschrocken. Die halboffenen Augen und die tiefen Mundwinkel scheinen etwas zu erwarten oder einfach hinzunehmen. Narben bedecken Mareks Gesicht und der Mann holt aus, prescht mit dem Gürtel auf ihn ein und fügt neue blutige Narben hinzu.
>Schon wieder<
Brüllt er dazu und wiederholt seine Worte mit jedem Schlag. Marek nimmt einfach hin und schon fast automatisch neigt er nach jedem Hieb seinen Kopf zur Seite und toleriert das Blut, welches an der Nase langsam nach unten fließt. Drei Schläge die ihm wie dreißig vorkommen und noch dreißig mal nachhallen. Der Mann ohne Gesicht stoppt.
>Gott hat dich nur zu einem Grund zu uns geschickt. Deswegen verzeihen wir dir alles und beten jeden Abend für dich. Bereite uns keinen Ärger.<
Eine Rechtfertigung die ihm das Recht gibt über dem Recht des Menschen zu stehen.
>Komm zum Essen<
sagt er noch bevor er die Treppe in Richtung Licht betritt und die Dunkelheit verlässt. Mit dem Schließen der Luke kehrt der Frieden zurück und mit dem Fall des letzten Tropfen Blutes, schwindet der Schmerz und er widmet sich vollkommen dem Frieden.
MUTTERS STILLE
Die Suppe steht dampfend auf dem Tisch. Das kleine Blockhaus, in der Lichtung des Waldes, besteht nur aus einem Raum, einem Keller und dem Dachboden, der Marek als Schlafplatz dient. Dreißig Meter vor dem Haus steht ein Steinbrunnen. Mittels Eimer und Seilzug wird das Wasser befördert. Ein riesiger Holzvorrat, in gleichgroße Stücke verarbeitet, liegt neben dem einfach gehaltenen Eingangsbereich. Der Raum und die komplette Einrichtung ist aus Holz. Neben einem einfachen Bücherregal und der Tischgarnitur, steht noch ein Sofagestell, aufgehübscht mit ein paar Kissen, ein Fernseher und ein Plattenspiele. Neben dem Eingang an der Wand hängt eine Axt. Der Kopf besteht aus glänzendem Metall, der Stiel aus schwarz lackiertem Holz. Gegenüber am Tisch hängt ein schmuckloses Kruzifix aus Holz. Mutter ist eine beugsame Frau. Mit gesenktem Kopf sitzt sie am Tisch vor der dampfenden Suppe. Der Mann ohne Gesicht ist Mareks Vater. Wie erstarrt sitzt er am Tisch und regt sich kein Stück. Ob er in Gedanken ist. Fühlt er sich schuldig in Hinsicht auf die Tat, die er gegen seinen Sohn begangen hat? Ein unwahrscheinlicher Gedanke. Die Luke zum Dachboden öffnet sich und Marek kommt mit gesenktem Kopf langsam die Treppe runter. Sein gefühlsloser Ausdruck im Gesicht, lässt keinen Raum für Vermutungen zu seinen Gedanken. Mit beängstigender Stille setzt er sich an den Tisch. Es ist still. Bis Vater anfängt die Stille zu brechen und mit tiefer Stimme das Wort erhebt.
>Füge dich Gott Marek. Befreie dich von deinen Sünden bevor dich deine Bestimmung erreicht. Lass nicht zu dass Völlerei deine Seele misshandelt<
Vater beugt sich nun zu Marek und spricht mit ernster Stimme
> Und stehle nie wieder von den Essensvorräten<
Marek bleibt stumm. Ob es Angst oder Respekt ist, ist unklar. Seine Augen wandern vom Tisch in Richtung Tür. Die Axt fällt ihm ins Auge und ganz schnell wandern seine Augen zurück zur Suppe. Seine Gedanken geraten außer Kontrolle und er versucht jeden Ausreißer seiner Fantasie wieder einzufangen. Vater faltet seine Hände für ein Gebet zusammen und Mutter folgt ihm in der Stille. Marek schließt sich ihm an und Vater beginnt.
Du mein Gott und König, dich will ich rühmen; immer, ohne Ende, will ich dir danken.
Jeden Tag, Gott, will ich dir danken; immer, ohne Ende, will ich dich preisen.
Ich will bekennen: Der Herr ist mächtig, groß ist sein Ruhm, unermesslich ist seine Macht.
Jede Generation soll es der nächsten sagen, sie soll rühmen, was du vollbracht hast und deine machtvollen Taten weitererzählen.
Deine Pracht und Hoheit sollen alle rühmen und ich will stets an deine Wunder denken.
Deine gewaltige Macht sollen sie verkünden und ich will erzählen, von deinen Taten.
Ich will den Ruhm des Herrn verkünden und alles, was lebt, soll ihm danken, ihm, dem heiligen Gott,
immer und ohne Ende.
Amen*
Widerspenstigkeit ist nie ein Thema für Marek gewesen. Doch mit zunehmenden Alter werden seine Gedanken immer ausgeprägter. Noch am Tisch schaut er immer wieder zur Axt und peinigt seine Seele für diese ungehorsamen Gedanken. Vater scheint das gar nicht zu bemerken, doch Mutter überkommt eine Ahnung aber sie schweigt. Sie ist still und es ist klar dass sie eine Gefangene ist, wie Marek auch.
DER MANN AM BRUNNEN
Vaters Herz schlägt für das Holzfällen. Gäbe es eine Kombination aus der höchsten Form des Glückes und der Leidenschaft, dieses Wort als Superlativ, wäre passend, um Vaters Emotionen für seine Tätigkeit gerecht zu werden. Ihn hält es nicht lange in der Blockhütte. Nur Gott weiß um welche Uhrzeit er aufsteht, sich zurecht macht und sein Frühstück zu sich nimmt, bevor er seine gewaltige Axt greift und in den Wald geht. Marek weiß nicht viel über sein morgendliches Ritual. Erst vor kurzem machte der Zufall es möglich dass Marek in der Frühe aufwachte und Vater sah. Er schlug die Falltür zum Keller auf und stieg hinab. Es ist das erste Mal für Marek gewesen dass er von der Existenz des Kellers erfahren hat. Das Interesse nach den Gewohnheiten Vaters ist nicht vorhanden. Zu tief sitzt die Verachtung entgegen seinem Peiniger. Jede Sekunde ohne Vater ist ein Geschenk. Der eingeprügelte Glaube stellt Gott und Vater auf eine Stufe seiner Treppe der Verachtung. Wo soll ein Gott sein, wo es solchen Schmerz gibt? Mareks Hass ist zu seiner Natur geworden. Eine unberechenbare Natur, die selbst für ihn, nicht zu kontrollieren ist. Jeden Tag wachsen neue Ideen und neue Pläne werden gestrickt, um sein schreckliches Umfeld zu tolerieren. Die Saat dieser Ideen hat Vater selber gepflanzt, sorgfältig wurde diese Saat gegossen. Ein ganzer Wald an Ideen ist in Marek herangewachsen. Ein düsteres Herz ächzt nach Schmerz, ein verzweifeltes Herz ruft nach Hilfe. Marek sitzt auf dem Dachboden. Durch das kleine runde Fenster durchstößt das Tageslicht, mit der letzten Kraft seiner Strahlen, den Dreck und lässt Marek am Draußen mithaben.
Er lässt seinen Kopf zur Seite fallen, als ein schwarzer Fleck die Lichtung betritt. Die dreckige Kruste lässt sich nicht vom Fenster kratzen. Doch seine scharfen Augen verfolgen die Geschehnisse und überanstrengen seine Sinne bis ins Unermessliche. Kein Fremder hat bisher die Lichtung betreten. Sie fürchten Vater. So ist der Tyrann die einzige Sicherheit für dieses Haus geworden. Marek weiss nicht ob er Angst oder Freude verspüren soll, als der Fleck sich dem Haus nährt. Ein Mensch. Vater ist noch lange nicht von seiner Arbeit zurück und dies erweist sich als glücklicher Moment für den Eindringling. Marek vervielfacht die Leistung seiner Augen und erkennt wie der Fremde am Steinbrunnen stehen bleibt. Er beugt sich über den Brunnen und scheint fast hinein zu fallen. Marek wird Zeuge eines schicksalhaften Momentes und fragt sich ob Mutter die selbe Beobachtung macht. Vater betritt die Lichtung. Die Axt lehnt über seine Schulter und die Sonne lässt den Glanz der polierten Klinge erstrahlen, wird dem schattigen Gesicht Vaters aber nicht Herr. Dieser geht auf den Brunnen zu und scheint sich seinem Ziel sehr bewusst zu sein. Ungeachtet seinem drohenden Schicksal hängt der Fremde noch im Brunnen und seine Beine tanzen in der Luft. Vater kommt Meter für Meter näher. Auf den letzten Schritten verlässt die Axt seine Schulter und er erhebt dieses monströse Werkzeug. Marek zweifelt daran Beobachter dieser Greultat werden zu wollen und bewegt seine Hand immer wieder zu seinen Augen. Das unschuldige Metall hat keine andere Chance als seinem Herren zu folgen und gerade als der Fremde den Kopf aus dem Brunnen erhebt, folgt ein dumpfer Schlag.
Mareks Vergangenheit
Teil 2/2
Der Fremde
Vater schleift die ohnmächtige Person, am Bein gegriffen, zum Haus. Mareks übernatürliche Neugier, ließ seine Hände unten wurzeln und er sah mit an, wie Vater den Fremden, mit dem Griff seiner Axt erschlug. Zehn Meter vor dem Haus konnte Marek den Fremden nun erkennen. Eine männliche Person, schwarzes Haar, dunkle Haut und Leinen bedecken seinen Körper. Er liegt auf dem Rücken. Durch das Schleifen öffnen sich seine Arme als er ihn über die spitzen Steine zieht, zeigt Vater kein Erbarmen. Als die Tür geöffnet wird weiss Marek, Mutter hat es mit angesehen. Vater schleppt den Mann rein und zieht ihn über die Stufen. Mareks Neugier steigt ins unermessliche denn, alle Gewalt, richtete sich bisher gegen ihn. Diese Situation lehrt ihm eines Besseren, eine andere Person wird zum Opfer, Vaters Gewalt. Marek presst sein Gesicht gegen den Boden, um jeden Millimeter nach einer Lücke zu durchsuchen. Neben dem Gepolter hört er Mutters Wimmern und als er schließlich einer Lücke fündig wird, sieht er wie Mutter versucht, jedes weitere Geräusch zu unterdrücken. Beide Hände bedecken Nase und Mund, sie ist Vater dem Rücken zugewandt und blickt gegen die hölzerne Wand. Regungslos liegt der Mann am Boden und Marek meint Blut erkennen zu können. Vater hat den Tisch beiseite geschafft und öffnet die Falltür wie an jenem Morgen. Die Axt ist an die Wand gelehnt und er packt den Mann wieder am Bein. Er schleift ihn zur Falltür und trotz aller Anstrengungen, wird Mutters Wimmern lauter. Vater brummt ihr ein >Sei still< entgegen und im gleichen Atemzug wirft er den Mann, durch die Falltür, die Treppe hinunter. Vater selbst steigt die Treppe hinab und lässt nur ahnen, welch böse Gedanken sein dunkles Gesicht verbirgt. Die Atmosphäre erkaltet die Luft und Marek fällt es schwer zu atmen. Seine Gedankenwelt dreht durch, bei der Vorstellung, was nun alles im Keller passieren kann und er stellt sich die Frage, Warum? Was ist Vaters Motiv für einen so gefühlslosen Akt? Ihm wird klar dass Vaters Gedankenwelt ein undurchdringlicher Wald ist, mit unzählbaren Gabelungen und tiefen Abgründen.
Es ist kurz vor Mittag und Mutter fängt an das Mittagessen zuzubereiten. Ihr Gesicht gibt keinen Einblick darauf, was wenige Stunden vorher geschah. Vater ist bisher nicht wieder aufgetaucht und Marek hat seinen Beobachtungsposten verlassen. Er hockt vor der Wasserschale um seinen Frieden zu finden und wechselt den Platz immer wieder zu der Lücke am Boden. Als die Falltür auf geht, vernimmt er nur ihr Geräusch. Er sitzt vor der Wasserschale und das Knarren der Falltür reißt ihn aus seinen Gedanken. Vater kommt empor, schließt die Falltür und hängt seine Axt wieder an die Wand. Eine unheimliche Ruhe und Gelassenheit füllt dieses Haus. Alles scheint Marek vorspielen zu wollen dass nie etwas geschehen sei. Dies ändert sich auch nicht beim Essen. Mutters und Vaters Stille sind Symphonien der Unterdrückung. Mutters stille Violine schreit und scheint dem Orchestra ausbrechen zu wollen. Doch die Melodie folgt stets Vaters Fagott. Er führt die Komposition und was das Spiel der Violine zu beherrschen. Marek traut sich nicht nach unten zu schauen. Er weiß wer sich, zwei Meter unter ihm, aufhält. So verstreicht das Mittagessen und auch der Abend. So verstreicht der nächste Tag und die nächsten Tage. Die anfängliche Neugier wird zur Angst und aus der Angst heraus, entsteht die Gleichgültigkeit. Sollte sie zu Anfang auch nur gespielt worden sein, um der Angst zu entfliehen, so wird sie Realität und ist bereit für den Übergang zur Vergessenheit. Nichts scheint auf einen fremden Mann im Keller hinzuweisen. Doch bevor die Grenze zur Vergessenheit überschritten wird, kommt der Tag an dem die Neugier ihre Rückkehr, mit Triumph feiert.
Wasser für einen Freund
Die Gewohnheit schreibt vor dass Vater das Blockhaus in der Frühe verlässt. Mutter ist mit dem beschichten der Holzlagen beschäftigt und Marek verlässt die Befehlshoheit der Gewohnheit. Er öffnet die Dachluke und stiehlt sich hinunter. Seine Vorahnung dass niemand zugegen ist, bestätigt sich und er schreitet weiter tapfer zur Fortführung seiner Tat. Aus der Hosentasche zieht er eine Taschenlampe, die er auf dem Dachboden fand und sein Blick geht zur Falltür. Der Tisch beschwert diese, doch ist dies kein Hindernis für ihn. Schnell verschiebt er den Tisch um wenige Zentimeter und die Falltür liegt frei. Marek atmet schwerer und seine Venen scheinen Knoten zu schlagen. Imaginäre Fesseln scheinen ihm von seinem Vorhaben abbringen zu wollen und seine Fantasie durchläuft die bösesten Szenarien. Doch inmitten des Konfliktes zwischen Vernunft und Neugier, handelt seine Hand eigenständig und öffnet die Falltür einen Spalt breit. Ein modriger, nasser Geruch kommt auf und Dreck zieht, durch den Luftzug, nach oben auf. Dies beeinträchtigt seine Sinne nicht im geringstem. Es ist der alltägliche Zustand auf dem Dachboden. Er leuchtet mit der Taschenlampe hinunter um einen schnellen Blick zu erhaschen, bevor er seinen ganzen Mut zusammen nimmt und >Bonjour< runter ruft. Der Ruf bleibt unbeantwortet und es dauert nicht lange und er schickt ein zweites Bonjour hinterher. Marek steht unter Druck, die Zeit ist nicht sein Verbündeter und er kann nicht einschätzen ob der Tag auf seiner Seite ist. Den Entschluss nach unten zu steigen fiel er jedenfalls noch bevor er seinen Dachboden verließ. Es folgt ein Blick zur Eingangstür und ein flinkes Bein und Marek verschwindet aus dem Raum
Es ist dunkel. Das Licht der Taschenlampe öffnet jedem Schritt den Weg. Der schlammige Boden verrät dass der Keller ohne jede Mühe oder Liebe gebaut wurde und eher zweckmäßig errichtet wurde. Doch bleibt der Zweck schleierhaft, sowie die Verwendung.
>Bonjour, ist jemand hier?<
flüstert Marek und sieht sich mit dem spärlichen Licht um. Das Licht scheint auf die zierlosen Regale, bepackt mit belanglosem Zeug. Die Wände bestehen nur aus Erdschichten und ihm wird klar, hier wurde einfach nur ein Loch gegraben. Die rechte Seite scheint verdächtig zu sein. Eine Holzverkleidung ziert diese Wand. Das verwendete Holz ist modrig, brüchig und sehr schlecht verbaut. Doch Marek bekommt das Gefühl dass die hölzerne Wand ein Geheimnis birgt. Das schwache Licht der Taschenlampe, tastet die Wand ab und entdeckt in der vorderen Ecke so etwas wie eine Tür. Er sucht in der Wand nach einer breiten Spalte und ist sich beim Anblick der unsauberen Arbeit sicher, er wird eine finden. Und ehe er sie gefunden hat, vernimmt er ein Husten. Marek hält inne. Ein weiteres Husten ist zu hören. >Bonjour< versucht es Marek noch einmal und es ertönt ein schweres >Bonjour< hinter der Holzwand. Marek fragt,
>Wer bist du?<
>Ein Gefangener, wahrscheinlich wie du.<
Marek antwortet nichts drauf und versucht mit dem Licht, den Schleier der Dunkelheit zu durchbrechen, um ein Gesicht zu erkennen. Das Licht wandert, bis es an einem ausgemergelten Gesicht ankommt. Marek schreckt zurück. Er blickt in ein lederiges Gesicht. Ein Gesicht, seiner Umstände gepeinigt, seiner Hoffnung beraubt. Der moderige Geruch nimmt urinale Züge an und viel mehr als ein schwaches Auge, sieht Marek nicht. Das verzweifelte Auge ruft nach Hilfe und schreit und kämpft und weiß, dies ist der letzte Ort dass es erblicken wird. Marek verlässt seine Starre und beginnt zu flüstern,
> Wie heißt du?<
> Ich bin Jahed Tende, wie heißt du?<
> Ich bin Marek <
> Bist du der Sohn von diesem Mann?<
> Ja bin ich, was hat Vater dir angetan?<
> Ich bin durch den Wald gelaufen, autsch<
Die Stimme verstummt und Marek hört ein lautes Stöhnen und dann fragt er,
> Bist du Franzose?<
>Nein, mein Land wird zurzeit angegriffen und ich bin nach Europa geflohen. Ich bin auf dem Weg nach Port Lligat in Spanien.<
Beide bleiben stumm und lauschen der Stille. Marek fasst gerade den Entschluss zu gehen. Er weiß nicht warum, aber seine Schultern drehen seinen Körper in Richtung der Falltür. Die Tatsache mit dem Fremden gesprochen zu haben, lässt ein unbehagliches Gefühl aufkommen. Er macht gerade den ersten Schritt, da hört er Jahed sagen,
>Bevor du gehst, kannst du mir noch einen Gefallen tun?<
Marek bleibt still. Er wartet ab und stellt sich stumm zugleich.
> Ich werde sterben hier. Ich habe seit Tagen, weder gegessen noch getrunken. Ich brauche lediglich Wasser.<
Marek bleibt immer noch still. Er wartet auf die gezielte Frage, von der er weiß dass er sie nicht abschlagen kann.
> Bringst du mir eine Schale Wasser?<
Mareks Hand geht, ohne jedes Geräusch, zum Geländer. Er weiß dass, sollte er ihm Wasser bringen, zu tiefst ungehorsam gegenüber Vater ist. Die Strafe liegt außerhalb seines Vorstellungsvermögen. Er antwortete nicht, da die Situation ihm seiner Worte beraubt. Auch sind seine Gedanken durcheinander und der bloße Versuch, all diese Gedanken zu ordnen bringt ein noch größeres Chaos in seinen Kopf. So schreitet er weiter zur Falltür. Das matte Licht der Taschenlampe, verlässt die Holzverkleidung und mit dem Knarren der Falltür weiß Jahed, das ist der Abschied. Und obwohl Mareks Gedankenwelt einem Sturm auf dem Pazifik gleicht, teilen beide den selben Gedanken. Jahed trauert nicht und als Marek oben ankommt und die Falltür schließt, geht sein Blick als erstes in Richtung Eingangsbereich. Der Raum ist leer. Marek hat sich vielleicht zehn Minuten im Keller aufgehalten und seine Augen schwenken zum Wasserhahn. Er weiß, wenn er es tut dann muss es schnell gehen. Warum tut er das? Ihm ist nicht klar, wann der Gedanke kam Jahed zu helfen oder gar zu retten. Während er einen großen Becher mit Wasser füllt, füllen Selbstzweifel, Verachtung und Hilflosigkeit seine Gedanken. Ein nicht zu kontrollierbarer Wald aus verschiedensten Gedankensträngen die versuchen, den Handlungen seines Körper Herr zu werden. Doch es schlägt fehl und nach einem kurzen Blick zu Mutter, ist er auch schon wieder an der Falltür und öffnet sie. Das Knarren bestätigt Jaheds Vermutung und Marek schreitet hinab. In Begleitung des Lichtes, geht er zur Holzverkleidung und durch einen schmalen Spalt, überreicht er den Becher. Marek sieht zwar nichts aber er vernimmt Jaheds Geräusch, wie er sich zum Becher tastet und wenig später das Wasser gierig trinkt. Der Becher setzt wieder am Boden auf und es ist ein Geräusch der Erleichterung zu hören. Marek greift zum Becher und geht zurück zur Falltür und bevor er sie öffnet ist ein leises, danke, aus der Dunkelheit zu hören. Als er den Keller verlässt und auf dem Weg zum Dachboden ist, beschleicht ihm ein unglaublich gutes Gefühl. Eine nie gekannte Wärme erobert sein Herz und füllt seinen Körper mit Blut. Es scheint als komme die Farbe seiner Haut zurück und mit einem Lächeln öffnet er die Luke und verschwindet auf dem Dachboden.
Von Wasser zu Freundschaft
Die Sonne erreicht mit dem oberen Scheitel den Horizont und flutet die Welt mit Licht. Marek sitzt am Fenster und wartet auf Vater. Wie jeden Morgen, steigt Vater in den Keller hinab und Marek fragt sich, was er wohl im Keller macht, jetzt da er Jahed dort gefangen hält. Vater greift zu seiner Axt und verlässt das Haus. Marek wartet noch, bis er in der tiefen Dunkelheit des Waldes verschwunden ist. Als er ihn nicht mehr sieht, reißt er die Luke auf und rennt runter. Mutter ist noch im Haus und wundert sich über Mareks plötzliches Erscheinen. Sie ist verwundert und beobachtet wie er sich auf einer der Stühle setzt und sie beobachtet. Ein, guten Morgen, ist zu hören und Mutter erwidert es. Mutter und Marek haben nie viel miteinander gesprochen. Ganzgleich dass sie ihm nie Leid zugefügt hat, war Marek schon immer auf Distanz und hält dies auch bei. Mutter kann Mareks Plan nicht durchschauen, aber der Wille ihn zu unterstützen, mag auch nur Gott wissen was er vor hat, ist gegeben.
> Marek, ich bin für eine Stunde draußen. Mach deinen Vater nicht wütend und sei ein braves Kind, okay?<
Marek nickt ihr zustimmend zu und schaut auf die Uhr um mit der Zeit zu sein. Mutter verlässt das Haus und eine Minute später öffnet Marek die Falltür, bewaffnet mit der Taschenlampe und einem großen Becher Wasser.
>Bonjour Jahed. Wie geht es dir? Ich habe Wasser dabei<
Ein lautes Stöhnen geht durch den dunklen Keller. Trotz dass es ein Stöhnen ist, klingt die Melodie des Glückes im Hall.
> Danke mein Freund, ich habe gehofft dich wieder zu sehen <
> Mich oder das Wasser? <
> Das Wasser. <
Jahed fängt an zu lachen. Seine Art zu lachen klingt zu qualvoll als das Marek über seine Antwort nachdenken kann. Er reicht Jahed den Becher und er verschlingt das Wasser sowie er es das erste Mal getan hat. Der zufriedene Jahed stellt den Becher zurück und Marek der die ganze Zeit steht, setzt sich im Schneidersitz vor ihm hin, angelehnt an die Holzverkleidung.
> Aus welchem Land kommst du? <
> Ich komme aus Afghanistan. <
Marek überlegt kurz und fragt,
> Wo liegt das? <
Verwundert über die Frage und die damit verbundende Unwissenheit, stammelt Jahed zunächst und führt dann aus.
> Du weißt nicht wo Afghanistan liegt? Von Frankreich aus gesehen im Osten. Ich reiste durch den Iran, durch die Türkei und floh über Griechenland und Italien nach Frankreich. Hier bin ich nun. <
Marek, der mit all diesen Ländern nichts anfangen kann, grummelt nur und eine Aufzählung der Länder stößt nur auf widerwärtiges Interesse. Eine Unterhaltung mit Marek zu führen ist auch fast unmöglich. Wann hatte er in der Vergangenheit auch die Möglichkeit dazu? Einzig seine Neugier führt das Gespräch und enthüllt seinen Fragekatalog.
> Warum hält Vater dich hier gefangen? <
> Er sagt, der Herr hat ihn geschickt um mich zu prüfen. Ich habe diese Prüfung angenommen. <
> Du machst DAS hier freiwillig? <
> Nein, ich sehe es als eine Prüfung. Allah prüft seine Kinder. Mein Ziel ist viel größer und der Weg dorthin ist mit Prüfungen gespickt. <
> Wer ist Allah? <
> Allah bedeutet Gott in der Sprache meiner Religion. Es ist der selbe Gott wie im Christentum. <
> Eine andere Religion? <
> Ja ich bin Muslim. Aber keine Sorge, wir sind Brüder. <
Marek ist geschockt und bringt dies auch zum Ausdruck
> Wie kannst du nur so doof sein und dich von Vater prüfen lassen? Vater ist unbarmherzig. <
> Es ist Teil meines Weges. Auch du wirst geprüft. Du musst dich dem nur bewusst sein. Gott liebt seine Kinder und stellt ihnen Prüfungen um sie stärker zu machen und auf neue Prüfungen im Leben vorzubereiten. <
> Ich glaube nicht an Gott. <
Erwiderte Marek harsch. Seine durch Gott gefolterte Seele, verspürt nur Zorn gegenüber diesem Gott. Doch Jahed antwortete ihm gelassen.
> Das Universum dass dich geschaffen hat, prüft dich. Nenne es Gott, Allah, oder einfach Universum, als das was es ist, es umgibt dich. <
> Warum sollte das Universum mich prüfen? <
> Damit du wächst. Jeder hat ein Ziel im Leben, auch wenn du dein Ziel noch nicht kennst, bereitet das Leben dich darauf vor und prüft dich. An den Prüfungen wächst du, um bereit für dein Ziel zu sein. <
> Du meinst Vater ist unsere Prüfung? <
> Er ist wenigstens Teil dieses Lebens dass dich auf dein Ziel vorbereitet. Lerne daraus, wachse und gedeihe. Erfreue dich über jede Lektion die dir erteilt wird und trotze jeder Prüfung. <
Marek kann das Gefühl nicht einschätzen dass ihn überkommt. Ein anderes Gefühl als das von gestern. Sein Herz fängt an zu pochen und er denkt an Vaters Schläge zurück. Eine Träne kämpft sich durch sein Auge und läuft entlang der Narben runter zum Kinn. Kein Schluchzen, kein Jammern entkommt seinem Mund. Ein stilles Gefühl, ein stiller Gedanke, aber von Trauer keine Spur. Kein Wort wird nun mehr gewechselt. Auch nicht, nachdem Marek ihm einen Becher frisches Wasser bringt. Mutters Stunde ist fast um und Marek macht sich auf den Weg zurück. Er öffnet die Falltür, wartet einige Sekunden und lauscht der Stille. Dann steigt er hinauf und schließt die Falltür. Er verlässt die Dunkelheit, den dunklen Pfad und betritt den erleuchteten Raum, einen neuen Weg. Jaheds Worte sind Gespenster in seinem Kopf und sie bleiben. Während des Essens starrt er Vater an. Das dunkle Gesicht vermag er noch nicht zu erkennen, dennoch hinterfragt er seine Handlungen. Soll das ganze Leid, die gestohlene Freiheit und das freudlose Leben, wirklich eine Prüfung sein? Für Gott ist er nicht bereit. Das Universum kennt er nicht. Was soll ihn dann prüfen? Marek nennt es das Leben. Das Leben lernt er jetzt erst kennen und es prüft ihn, hat er gelernt. Warum sollte dieser Gott einmal als Gott und einmal als Allah in Erscheinung treten? Die Suppe steht kalt. Inzwischen ist Vater auf Mareks Träumerei aufmerksam geworden. Er schaut zu Mutter und sie schaut runter. Für einen kurzen Augenblick scheint es als überkomme Vater eine Ahnung, von dem was Marek getan hat.
> Marek, magst du deine Suppe nicht? <
Fragt Vater und klingt schon fast fürsorglich. Marek ist erschrocken und steht auf. Er geht zur Luke und verschwindet ohne jegliche Worte auf dem Dachboden. Er denkt über Jaheds Worte nach. Er denkt über seine eigenen Ziele nach und ist kurz bleichfarben im Gesicht, erschrocken durch die Tatsache dass Jahed nichts gegessen hat. Jahed hat immer nur nach Wasser gefragt, niemals nach Essen. Doch die Zeit für heute ist um. Vater geht zwar nach draußen um einen Holzwürfel um den Steinbrunnen zu bauen, aber das Risiko ist zu groß. Er denkt an den hungernden Jahed und hungert innerlich mit ihm.
Die Flucht
Mit Schmerzen erinnert sich Marek an den letzten Versuch zurück, sich Essen zu beschaffen. Die Narben die der Gürtel hinterließ, zeugen noch heute von der unbarmherzigen Gewalt Vaters. Die schmerzhaften Erinnerungen lassen ihn erschaudern, bei dem Gedanken einen erneuten Beutezug zu riskieren. Es geschieht beim frühstücken. In der frühen Morgenstunden setzt der Regen ein und Vater bleibt Zuhause. Während Mutter das Haus schon sehr früh verlassen hat, lässt Vater seine Arbeit im Wald aus und sitzt am Frühstückstisch. Dieser Tisch ist ursprünglich morgens für Mutter und Marek gedeckt. Mareks Furcht dass Vater das Haus nicht verlässt, wird durch den aufkommenden Sturm verstärkt. Marek sitzt vor seinem Brot und starrt es an, sowie er es immer macht wenn er über etwas nachdenkt. Vater greift beherzt ein Brot nach dem nächsten und bemerkt wie Marek in Gedanken schwelgt. Tausende Gedanken und Ideen gehen durch Mareks Kopf und doch will ihm kein Weg einfallen, wie er sein Brot zu Jahed bringen kann. Das Frühstück mit Mutter verläuft grundsätzlich still, doch heute erhebt Vater sein Wort.
> Marek du isst nichts. Lauschst du zu Gottes großen Worte? <
Marek hebt den Kopf, starrt Vater an und ist verdutzt von Vaters Aussage. Ihm fehlen die Worte und er weiß nicht was er erwidern soll. Da passiert es. Vater steht auf und geht zur Garderobe. Der Frühstückstisch, unangetastet von Vaters Sinn für Ordnung, beherbergt noch alle Frühstücksleckereien. Marek dreht sich um und blickt mit Schrecken zu Vater. Der nimmt seine Jacke und auch nur ohne ein Wort zu sagen, geht er raus in den Sturm. Marek bleibt wie angewurzelt am Tisch sitzen und rührt sich nicht. Erst nach einer Weile taut er auf und läuft eilig zum Fenster um nach Vater zu sehen. Der Wind peitscht den Regen gegen Vaters halbdunkles Gesicht. Seine Miene ist zu erkennen, die konzentriert jeden Handschlag an seiner Arbeit beäugt. Ein hölzerner Würfel soll den Steinbrunnen umschließen. Der Würfel ist in Arbeit und scheint ihn zu beschäftigen, ganz unabhängig von der Witterung. Marek ist verwundert und glaubt wenige Sekunden an ein Wunder Gottes, doch der Zeitdruck gibt keinen Platz um sich über Wunder zu freuen. Marek rennt sofort zum Tisch, bestreicht Brote mit Butter, Marmelade und lässt sogar noch ein Ei vom Tisch verschwinden. Das Frühstück balanciert er zusammen mit einem Becher Wasser zur Falltür. Er öffnet sie und kommt mit dem Frühstück hinunter. Jahed, der das schimmernde Licht bemerkt, kommt zur Holzverkleidung.
> Jahed, ich habe dir gar nichts zum essen gebracht, hier sollte genug sein. <
Das Frühstück wird durch das Schlupfloch gedrückt und Marek ist im Helferrausch als plötzlich Jaheds Hand das Loch verdeckt. Ein paar abgemagerte, braune Finger verdecken das Loch. Nein, sagt Jahed mit ruhiger Stimme und gibt das beschmierte Brot wieder durchs Loch zurück. Nur Wasser, fügt er hinzu. Marek ist erschrocken und versteht nicht wie Jahed nach vier Tagen ohne etwas zu essen, nein sagen kann. Er reicht Jahed das Wasser, welches begierig getrunken wird. Wieder ist ein Danke zu hören.
> Du musst doch vor Hunger umkommen. <
> Ich habe meine Gründe. Ich weiß nun dass du ein sehr barmherziger Junge bist. Aber nicht hinter jeder irrationalen Entscheidung, steht ein irrationaler Grund.<
> Was meinst du damit? <
> Damit ist gemeint dass du lernen solltest, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, um sie zu begreifen. Zum Beispiel kannst du dir unsere Religionen nehmen, die durch kleinste Übereinstimmungen, alle miteinander verbunden sind. Die Menschen auf der Welt sind eine Familie, die einfach vergessen haben, wie ihre Brüder und Schwestern aussehen. <
Ungläubig stellt Marek die Frage,
> Soll das bedeuten, wir sind Brüder? <
> Ganz recht. Du bist mein Bruder und mein Freund. Du wirst nie alleine auf der Welt sein. Irgendwo wird sich immer jemand daran erinnern dass du zur Familie gehörst. <
Es scheint als hat Jahed, Mareks Herz getroffen. Kleine Tränen kullern über sein vernarbtes Gesicht. Er sieht auf und fragt
> Wie finde ich diese Familie? <
> Zieh hinaus in die Welt. Bereiste und entdecke diese Welt und ich verspreche dir dass du deine Familie finden wirst. Die Welt ist voller Wunder und auch für dich hält sie ihre Überraschungen bereit. <
Marek lenkt ein
> Es gibt keine Überraschungen für mich. Schon gar nicht in meinem Leben. Wenn du mein Gesicht sehen würdest, könntest du mich verstehen. Ich muss Vaters harte Hand erdulden während er von Gott spricht. Jedesmal erzählt er von dem Schicksal das Gott, sich für mich erdacht hat. Gott ist dein Leben, sagt er immer und ich verstehe das Leben immer weniger. Ich habe keine Brüder und Schwestern sowie Gott als auch das Leben, kein Schicksal oder Überraschungen für mich bereit hält. Ich Frage mich immer nur, wann ist es vorbei? <
> Du bist das Wunder, geschaffen durch Gott oder das Universum oder wie auch immer du das nennen darfst. Eines wirst du nie verlieren, die Hoffnung. Mit jedem Atemzug bereitetest du deinen Körper auf eine Sekunde Leben vor. Mit jedem Herzschlag den du verursachst, sagst du deinem Körper, es geht weiter. Es sind deine Befehle die du dem Körper gibst und dich, deine Seele, zu einem Wunder machen. Wunder ziehen sich gegenseitig an und der einfachste Weg an sie zu glauben, ist an sich selber zu glauben. Die Erkenntnis dass du bist, zeigt dir dein Wunder.<
Marek, der inzwischen auf seine Knie nieder gesunken ist, fragt in einem Ausbruch der Gefühle
> Wo finde ich mein Wunder? <
> In der Welt. Geh hinaus und reise um die Welt. <
> Mit dir. <
> Nein. Mein Platz ist hier. Mein Schicksal ist dieses Haus. Ich glaube an Allah und ich glaube er hat mich hierhin geführt. Wohlmöglich sogar zu dir. <
Jaheds Worte beschäftigen Marek den ganzen Tag. Ein Mensch der Mareks komplettes Leben verändert hat und noch verändern wird. Nie kam ihm der Gedanke fort zu gehen. Die Welt. Was ist das? Ist dies der Ort an dem wir uns einen Platz zum Leben aussuchen? Oder möchte die Welt bereist und entdeckt werden? Selbst als er auf dem Dachboden liegt, ist es nicht der Vollmond der ihn nicht schlafen lässt. Ideen und Vorstellungen kreisen umher und laden Mareks Fantasie zum staunen ein. Als Marek einschläft, geschieht dies mit einem Lächeln und dem Wunsch frei zu sein. Sein Entschluss steht fest. Er wird die Lichtung verlassen, aber nicht ohne Jahed.
Der Morgen bricht herein und die Sonne flutet den Wald mit Licht. Das Licht wandert von Baum zu Baum, verdrängt den Schatten und offenbart ein breites Farbspektrum an grünen Tönen. Die Vögel steigen zum Himmel empor und besingen den neuen Tag, welcher das Schicksal vieler Menschen beherbergt. Marek hat kaum geschlafen. Zu groß ist die Aufregung zur bevorstehenden Tat und die Zweifel an der Ausführung. Sollte dass was er sich vorgenommen hat auch wirklich klappen? Die Zweifel versteh er als Warnung, die es zu beachten gibt. Um zu beurteilen ob seine Flucht auf gutem Fundament gebaut ist oder nicht, steigt er zum Keller hinab. Nie ohne einen Becher Wasser, den Jahed begierig trinkt.
> Ich fliehe. Aber nicht ohne dich. <
Lauten Mareks erste Worte. Jahed hämmert gegen die Holzverkleidung und antwortet.
> Das geht nicht. Mein Platz ist hier. Meine Zukunft ist der sichere Tod, hier in diesem Haus. <
> Du hast mir gestern etwas über Wunder und Hoffnung erzählt. Nun halte dich auch daran. <
> Dies gilt für dich Marek. Wenn du sehen könntest was ich sehe, dann würdest du wissen dass ich hier drinne sterben werde. <
Marek ist erschrocken von dem Satz und durchspielt alle Möglichkeiten in seinem Kopf, doch bevor er etwas antwortet, greift er zur Tür an der Holzverkleidung, die mit einem schweren Holzbolzen festgemacht und im Boden verkeilt ist. Keine Chance die Tür auszumachen, dies scheint auch die Idee dahinter zu sein. Marek stürmt ohne zu überlegen nach oben und nachdem die Falltür schließt, sieht er Mutter an der Tür stehen. Marek blickt sie an und sie blickt erschrocken zurück.
> Mutter, Jahed, der Mann dort unten stirbt. Wir müssen ihn dort raus holen.<
Mutter weiß Bescheid. Sie weiß schon die ganze Zeit über bescheid und zögert nicht ihrem Sohn zu helfen. Ihr Blick wandert zur Ecke, jene Ecke welche Mareks Blicke übergingen. Mutter geht zur Ecke und greift Vaters Axt. Marek ist geschockt. Hat Vater die Axt vergessen? Die Axt, welche sein Werkzeug ist um im Wald zu arbeiten. Noch während ihm mehr Fragen durch den Kopf jagen, drückt Mutter ihm die silberne Axt in die Hände. Sie wiegt schwer, nicht nur im Gewicht und überfordert ihn leicht. Ein befremdliches Gefühl geht durch seinen Körper. Er tut etwas strikt verbotenes. Nie war es jemanden gestattet Vaters Axt zu berühren. Das Metall spricht zu ihm und die Klinge ist verziert mit einer Inschrift. Marek wird klar, von hier an gibt es kein Zurück mehr. Mutter öffnet die Falltür und Marek rennt, mit der am Boden schleifenden Klinge, hinunter und ruft.
> Jahed, weg von der Holzwand.<
Er haut das erste Mal mit der Axt auf die Holzfassade. Obwohl die Axt, durch ihr Gewicht, schwer zu handhaben ist, kann der Erfolg sich aufgrund eines Spaltes, sichtbar machen. Ein zweiter Hieb öffnet einen Durchgang und ermöglicht Marek hinein zu gehen. Die Axt wird abgestellt und er steigt durch die Holzfassade. Doch dass was sein Taschenlampenlicht zum Vorschein bringt, lässt seinen Atem stocken. Er bleibt stehen und ist starr vor Angst. Die Taschenlampe gleitet aus seiner Hand und fällt zu Boden. Noch vom Boden aus, bescheint sie das Gräuel in diesem Verließ. Ein bis auf die Knochen abgemagerter Mann in Lumpen sitzt vor ihm. Die braune Haut zeigt weiße Flecke auf und die Gerippe zeichnen sich als Skelett durch seine Haut. Ein spitzes Kinn schaut Marek mit großen Augen an. Doch war Jahed nicht der schlimmste Anblick. Neben ihm lagen mehrere Skelette. Menschen, die wahrscheinlich von Vater eingesperrt wurden und verhungert oder verdurstet sind. Sie lagen am Boden, genau in der Position, in der sie gestorben sind. Nicht angetastet. Jahed sollte ihr Schicksal teilen.
Marek blickt starr zu den Skeletten. Er ist versteinert. Er weiß wie unbarmherzig Vater ist, er kennt seine Skrupellosigkeit, doch mit einem Massaker hat er nicht gerechnet. Er findet weder eine Beschreibung noch einzelne Wörter, für dieses Szenario und ihm wird klar, welchem Menschen er jetzt ungehorsam ist. Die Starre löst sich und die Beine schlottern vor Angst. Sollte Marek seinem Vater gegenüber, in irgendeiner Form Respekt gefühlt haben, ist dieses Gefühl nun der kalten Angst gewichen. Der bloßen Angst vor Vaters Zorn.
> Marek, dass war dumm. Du sollst doch ohne mich fliehen. <
Marek vernimmt Jaheds Worte nur stumm und reagiert nicht. Marek, ruft Jahed ein weiteres Mal und holt ihn zurück in die gegenwärtige Wahrnehmung. Marek greift Jahed unter die knochigen Arme und hilft ihm beim aufstehen. Noch nicht der Worte mächtig, hilft er Jahed die Holzfassade zu überwinden. Mutter hat die Falltür offen gelassen sodass das Tageslicht den Keller erreichen kann. Jaheds Augen sind das Licht nicht mehr gewohnt, so kneift er sie zusammen und hält seine Hand schützend vor das Gesicht. Marek greift zur Axt und erstarrt ein weiteres Mal. Ein Schattenbreitet sich im faden Licht aus und Marek wird klar wem er den Schatten einordnen kann. Vater steht an der Falltür, mit verschränkten Armen. Er wirkt muskulös und erregt.
> Marek, was tust du da? <
Donnert es, mit seiner gewohnten dunklen Stimme. Jahed bleibt still. Er erkennt die Stimme seines Peinigers und mittlerweile sieht er ihn auch. Ein beklemmendes bis todesängstliches Gefühl überkommt beide und verdrängt jegliche Gedanken an Flucht. Vater setzt seinen Fuß zur Treppe und fällt urplötzlich kopfüber hinunter. Über alle Treppen, bis er auf dem Kellerboden liegen bleibt und zwar regungslos. Marek, schreit Mutter hinunter und er pariert. Mit Axt und Jahed rennt er nach oben und blickt seiner blutenden Mutter ins Gesicht. Sie nimmt ihn in den Arm und Schlucht.
> Es tut mir leid mein Junge, sei stark und Lauf bis du nicht mehr kannst und weiter. Renn und denke nicht an das was war, sondern an das was kommen wird.<
Mareks Augen bleiben ebenfalls nicht trocken und er drückt seine Mutter. Viele Chancen dazu hatte er verstreichen lassen. Warum konnte er seine Mutter nicht vorher schon lieben und ihr die Zuneigung geben die sie verdient hat? Vielleicht musste der Zorn gegen Vater auf zwei Personen übertragen werden. So viel Zorn der nicht allein gegen eine Person zu richten ist. Jahed klappt die Falltür zu und ersucht Hilfe, den Tisch auf diese zu stellen. Gerade als Marek ihm zur Hilfe kommt, klappert die Falltür und fliegt beim zweiten Klappern auf. Vater kommt empor und während Jahed und Marek die Flucht ergreifen, ruft Mutter
> Jakob! <
Die beiden fliehen durch die Tür hinaus in den Wald. Vater humpelt und fällt in der Jagd zurück, er bleibt stehen und ruft lauthals in den Wald
> Denk an deine Brüder. <
Jahed bleibt stehen. Marek bemerkt dies nach einigen Metern und während Vater anfängt auf die beiden zuzulaufen, bleibt Marek stehen.
> Lauf Marek, du Dummkopf. Lauf um dein Leben.<
Ruft Jahed und bewegt Marek zum weiterlaufen. Marek rennt und sieht nicht mehr, wie Vater Jahed wieder einfängt. Marek rennt mit der Axt in der Hand, durch den Wald. Ziellos, Orientierungslos und ohne einer Idee, was noch passieren kann. Marek rennt und weint. Seine Tränen verflüchtigen sich im Wind und er kommt mit dem Atmen nicht mehr hinterher. Trotzdem rennt er weiter. Alles geschah so schnell und so plötzlich wie er Mutters Liebe spürte, wurde sie ihm entrissen. Es ist nicht fair und übersteigt alles was er sich vorstellen konnte. Das Leben und dieser Neuanfang sind nicht fair, doch er glaubt eine neue Familie gewonnen zu haben.
Zehn Jahre später, steht Marek mit seinen Freunden am Fuße der Lichtung. Mit der Axt bewaffnet und neuen Freunden, läuft er zu dem Blockhaus.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2019
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