Inhalt (2. Auflage 2022)
N1 (1996)
Ich liebe dich
Ich liebe dich 2
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"Hello world!"
Dunstgetrieben das Programm. Eine Faust im Gesicht, das Grafikbild entpixelt sich. Ein Loch im Kasten - ein ausgeschlagenes. Von da hinaus das Weggewischte.
Das Nichts guckt dich an.
Marietta? meine Freundin neben mir macht niedliche Geräusche - wie ich: „Ich liebe dich.“ Betrachtungen über ein verlorenes Zuhause. Du bist enterbt. Die Mauer, die dich umschlossen hat, wächst über dir, wächst zu: der Himmel wird kleiner.
Ich bin nicht so vernünftig wie die anderen. Am meisten liebe ich, in meinem Bett zu liegen und langsam vor mich hin zu sterben. Blick
mit Aussicht - der Geist der Verödung, der in unseren Knochen, Mauern steckt, ist die Vorwegnahme der Wüste. Einförmiger Sichtbeton, ins gigantische gereckte Funktionalität, mies, mies, Stahlgerippe monomanisch in den Horizont getrieben. Stilprinzip der Methode rationaler Überhöhung der Vernunft durch Wahnsinn: die Gewissheit der Unmenschlichkeit, daran die Zukunft gebärend, im Spalier der Fensterfronten Augenaufschlag, in den Straßenzügen die Kolonnen Blech auf Reifen, Schritt, der Marsch, wir, ausgerichtet, ausgehändigt, Fortschritt, wie der Abgesang uns heißt, wie wir uns zielgerecht verschütten werden.
Alle Zukunft ist Vergänglichkeit. Langwierig atme ich die Hoffnung aus - „wie lästig“, denken Mediziner, „wie unbedeutend“, Biologen.
Schönes Rauschen am ungebändigten Geschäft. Wenn du mich lieb hast, will mir’s schon genügen. Wenn du mich bei dir bleiben lässt, ist das sehr freundlich, und auch das kann mir ausreichen.
„Unser Zustand ist das Defizit am Resultat marktökonomisch kalkulierten Zusammenlebens“, sage ich. Wir sind in die Irrationalität losgelassene Geister in der Wildnis der Apparate, Geister der verkünstlichten Welt. Gleichzeitig sind wir verwundbar als solche Wesen, wenn unsere Panzerhaut, der Schwergewichtigkeit Beklemmung, deformiert unser Inneres, gezwungen in ein Schutzhemd, dass es sich nicht frei in die Welt bewegen kann, zerdrückt unsere Seele. Der innere Zustand unserer Welt ist die Leere. Die Aufbauten werden also fallen. Mies, mies, aus Gründen der Sittsamkeit wollen wir unsere Feindschaften liebevoll ausformulieren. „Warum nicht hinzu ein Kunstwerk - der Utopie des rechten Winkels noch hinzugesetzt die Ummauerung der Seele“, rufe ich.
Autor sitzt mit seiner Freundin nah dem Meeresstrand auf einer Düne, hält Marietta, seine Freundin, an der Hand und spielt auf ihr: ich lege meine Stilprinzipien vor den Wind das Landes unter meinen Füßen, bis jeder zwischen seinen Fingern, seinen Augen diese Stilprinzipien eingefangen hat. Ach, auch das ist ein Kunstwerk?
Re sitzt nicht am Traumsee, nicht am Meer des Traumsees, liegt vielmehr auf dem Bett mit Aussicht auf ein Straßenfenster, denkt verhungert, was er noch zu sagen hat: „Welch hohes Ideal, welch Kunstgenuss, welch Kuss am warmen Fensterplatz.“ Re hat sein schönes halbes Leben durchgebracht und vegetiert gleich einem mittelalterlichen Schlossherrn auf dem warmen Lager seiner Fantasie. Während er tatsächlich in einem miesen Abrisshaus hockt, in einem Loch ohne Bad aber mit Zentralheizung, Gefrierschrank und Hifi Geschirrspülmaschine. Re hat sich einen lächerlichen Lebensstil angewöhnt, residiert den lieben langen Tag in seiner Höhle, wünscht sich vor sein Fenster ein Streichquartett herbei, das (deutsch/langweilig) Brahms im Regen musizieren muss, derweil er in seinem breiten Traumbett auf dem Trockenen sitzt und höhnisch an Zigarren raucht. Re hat sich einen Fettwanst angefressen, leidet unter Atemnot und kann sich nicht erinnern, was gestern los gewesen ist, weil gestern wohl nichts los gewesen ist. Re wird äußerlich von immer fetterer Gestalt; sein deformiertes Inneres wird leer. Re hat sich fehlerhaft, doch konsequent, auf sich zurückgezogen, und siehe da, die Mauern wachsen, um ihn hört er die Gemäuer wachsen, brechen ihm die Sinne, verödet sich sein Ideal ins ausdruckslose Unbestimmte. Beweisen will er sich zur hohlen Leere, Leerkörper seines Inneren. Verzehrt sein Feuer, ohne Nahrung, Stroh, verlöscht, oder wird er vorher schon ersticken an Frischluftmangel, dann noch mit der Illusion von Innerem, oder wird er vorher schon vergiften am Schadstoff unkanalisierten Umweltmists, aber dann mit einem Miesgefühl von Überfluss. Die sichere Gewissheit unserer Existenz von einem Augenblick zum anderen ist, als wär’ sie nie gewesen. Vielleicht noch kurz aufgeblickt, einen Spruch in der Kehle, dann aber schon vorbei, bevor er aus der Kehle ausgebrochen ist: ich reite in den Sarg auf Schlangenleibern.
Sind wir nicht ausgezogen, die Göttin unserer Fantasie zu suchen unter unsern Füßen in den Tiefen unserer Erde, zugeschüttet und mit Baustoffen versiegelt, plan und Stahl verstärkt als Fundamente einer kühn gewandten, geometrisch ausgezirkelten, synthetisch überhöhten Kunstlandschaft, gefüllt mit Teflon, Styropor, Luran und Plexiglas, mit Kunstkautschuk und gummiähnlich klebrig weichem Acronal? Und wo die Polymerisate sprießen, in und um und ganz gefüllt den Bau der hochzeitlichen Monumente der Moderne, haben wir gestöchert und uns abgebrochen am Bohrloch - Sumpfbrunnen: unsere Göttin sagt, sie lebe hier nicht mehr, sie sei hier letztlich unbekannt erstickt an Utilitarismusjauche.
Der Autor weiß, was er sagt: darum, wenn ich liege auf dem aufgeheizten Körper einer Schlange, reise ich weit sinnvoller, als wenn ich mich im technisch ausgebauten Fernverkehrsnetz zielgerichtet, schnell und komfortabel auf Linie ideal von einem Ort zum anderen bewege, denn kein Punkt dieser Welt weicht zugelassen ab von einer ausgewiesenen Norm des Ausgangsorts.
„Ich reise unter einer Wolkendecke über meinem Traumbett melancholischer Verstimmung, die uns übrig bleibt vom toten Geist der Fantasie als klatsch Naturklischee des aufgeweichten Körpers unserer Kunst“, sagt Re. „Welch ein Urinsee hier am Orte, Meerstrand meiner Erinnerung am Sumpfloch 10 000 Meter tiefer Bohrung durch Vulkangestein nach Magma, meiner Göttin nah zu sein“, sagt Re am Ende seiner Abenteuerfahrt. Hier ist das Meer, hier ist das Ziel, alles zu Ende.
Amica, die andere Freundin, zog den Vorhang auf, „guten Morgen“, lugte durchs Fenster, winkte Re aus seinem Bett. „Schau nur den erstaunlichen Morgen! Hast du gut geträumt?“ rief sie entzückt.
„Bäh“, Re zog sich fast wie schlafwandlerisch an Amicas Seite. „Schau, die Insekten“, säuselte Re liebenswürdig, „warum sind sie so dämlich, fliegen gegen die Scheibe und ins tödliche Licht elektrischer Glühlampen, scheinen kaum lebensfähig, vermehren sich dafür ungeheuerlich. Muß man sich damit abfinden oder auf den Winter warten?“
Amica kicherte ignorant, schüttelte Res Kopf an den Ohren: „Misstöne am Morgen, aber wirklich nicht, liebes Monster, liebes Re, ein widerliches Monstertier figuriert sich nicht Weltbild am unverstandenen Vollkommenheitsideal.“
„Wirklich?“ Re blinzelte durchs Scheibenglas: „Muß man sich immer wieder damit abfinden. Muss man sich damit abfinden, wie die Vögel jeden Morgen aufs Neue grölen?“ „Liebes Monster, liebes Re“, sagte Amica, „auch du hast kein manierliches Menschengesicht.“
„Aber was ist aus den Hausschweinen geworden, wenn sie schmecken nach Wurst“, grunzte Re, „warum sagt man ihnen nach, dass sie furchtbar glücklich sein können. Und die Menschen, was bleibt ihnen übrig? Können sie fatalistisch mit sich zufrieden sein?“
„Liebes Re“, sagte Amica, „der Autor sagt, die können unsittlich mit sich zufrieden sein.“
Re schnüffelte die Luft: „Ich gewinne ab nur mich. Ich habe eine Geschichte erfunden, die selbst du nicht lieben kannst. Ich habe aus Gemeinheit gedacht. Ich habe, das ist mein Traum, sind alle Varianten meiner Träume ausgedacht, habe mein Leben hinfort zu einem Allgemeinen weggedacht.
Und was bleibt dann lebensnah Bedeutung?“
„Das ist sehr verwirrend“, sagte Amica, „und nichts weiter, was man dir verzeihen könnte, als dass man dein konkret verstaubtes Angesicht vom Fensterbrett wegkratzen muss.“
„Du verlässt mich also, dann ist gut“, sagte Re, „gut, daß du mich verlassen kannst. Ich musste zwanzig Jahre vor der Scheibe stehen, bis ich fiel. Nach diesem Leben fegt man mich vom Fensterbrett.“
„Da du nichts und niemanden mehr lieben kannst, muss jetzt das Ende sein. Und dann wird weggefegt dein Staub von meinem Ordnungssinn, so werde ich dich auch verlassen können“, sagte Amica.
„Dann ist gut“, sagt der Autor“, sagte Amica, „dann ist gut“, und zwinkerte mit den Augen schlau.
„Auf welche Weise produzierst du Sinnsätze?“ Marietta besuchte Re im Badezimmer.
„Was willst du“, gähnte Re verärgert, „warum störst du meinen Schlaf.“
„Ich komme von draußen“, lachte Marietta, „dachte mir, dass nicht schaden könnte, Brahms vor dem Fenster eine kleine Erholungspause zu gönnen, indem ich dich kurz wecke: soll er sich denn zu Tode saufen?“ Marietta steckte ihre Hand ins Badewasser, setzte sich an den Rand der Badewanne, stellte ein Bein auf die Toilettenbrille: „Will ich dir keine relevante Tagesmeldung vorenthalten“, schmunzelte sie, „du badest zu heiß“, strich Re mit der Hand über die Augen, daß sie aufblickend sich besannen.
Sagte Marietta: „Recht hektisch wetzt die Staatsräson den Klarstift am Papier, wenn es um Überlebensfragen geht.
Was fordert die Moral der Krise? Dein Mitmensch soll ein existenzunwürdiger Schmarotzer sein!“
„Heute trägt man seine Rationalität am Leib wie früher seine Ehre“, bemerkte Re verächtlich.
„Gebe der Wirklichkeit einen Raum, zeige uns die Heuchelei, zeige uns deine Kennerschaft der niederen Instinkte!“ ereiferte sich Marietta.
"Der Wirklichkeit spotten!
Was fordert die Moral der Krise? den Vollstrecker fordert sie!“ spottete Re blasiert, „ zeige den Totbeißer! Sei du Vollstrecker - du sollst der Kannibale sein!“
Kümmerlich verzog Marietta ihr Gesicht zu einem Grinsen: „Musst du kotzen, ich frag’ das nur, damit du deine schöne Auslegware hier im Badezimmer nicht versaust im Falle“, wippte mit ihrem Fuß auf dem Toilettenbecken, „Der Staat zeigt mit dem Finger auf den Wehrlosen, um ihn als Beute der Gesellschaft freizugeben. Das rangniedere Tier, das bisher als Niedrigstes noch Mensch sein durfte, soll ausgestoßen werden, soll Opfer sein. Das alles, während unser gutes Re den lieben langen Tag verschnarcht. Du bist der Schlimmste unter allen Ignoranten. Du summst ein Lied am Fensterplatz - der Spaß des Zynikers, den die Welt betrifft, ist, dass sie ihn nicht treffen kann. Du koitierst mit deiner Göttin, während unter dir die Realität versaut.“
„Was sonst“, lachte Re, „soll ich aus der Deckung springen?“
„Ach“, widerte sich Marietta, „die Literatenschaft wirft ab den Wolf von ihrem Pelz, als könnte man das Tier dem Menschen einfach so zum Fraß vorwerfen. Der Wolf, der ihr im Nacken saß, war doch von dieser Welt.“
„Was bist du hässlich zu deinem sanften Re“, flüsterte Re beleidigt, „kokettiert er denn mit dir im Badewasser?“ lehnte seinen Kopf an Mariettas Arm: „Ich glaube nichts und weiß nichts abzuschätzen. Ich liege ganz im Wasser.“
„Die Wahrheit des Badewassers ist eine ästhetische, so wenn du dich in Unschuld gleich baden kannst“, trauerte Marietta.
„Schöne Feste meiner Träume“, dachte Re, „nach oben entfleuchen die Vögel wie auf Nimmerwiedersehen, unten kleben die Gesetze fest. Verhärtet sich die Feste wie zu Mauern um mich - später werde ich den Vögeln folgen wie auf Nimmerwiedersehen.“
„Denken“, dachte Re, „denke ich zu Asche, unendliche Verirrungen zu Asche. Namenloses Grauen bricht durch die Wolkendecke. Flieg’ mein Vogel, flieg’. Setz dich, gut Sach’, gut fruchte. Die Denkbewegung fordert einen Schluss: Eingepanzert sitze ich in einem Rüstungseisen auf dem Körper einer Schlange, senke meine Lanzenspitze in die wilde Stadtmeertiefe meiner Stadt auf Heldenart.“
Amica, die andere Freundin öffnete den Vorhang. „Schwitz nicht so, mein liebes Monster Re, beruhige dich. Siehst aus wie aus dem Wasser gezogen, klitschnass...der Alptraum. Kaltes Wasser über den Kopf“, sagte Amica, „Idylle gibt es nicht, und was du liebst, ist Prothese an Idylle von Sinn.“
„Ist’s Vogels Schuld, wenn Vogel flatternd stürzt ins Unerkannte ganz befreit von Sinn auf Nimmerwiedersehen ab...“ Torkelte Re, sehnsüchtigen Blicks zum Bett, „auf, auf, die ganze Sache ausgeschlafen, ich verlasse mich grandios auf mich.“
Das große Mies, das große Freiheitszeichen mit seinem tausendfach multiplizierten Bild im Gehege. - Was du dir auch als Blase quasi eingebildet hast, ich bin in den Köpfen des Publikums einer der Ihrigen, alter Knochen, vorsichtshalber habe ich dich weggeschlossen, eingemauert in die tiefste Kellergruft des Schlosses, dass du ja keine neuen Bilder erfinden kannst. Weil ich als Geschöpf deiner Welt mich auf immer in jenen Genialitäten des Fortschritts verfangen habe, denen du entfliehen konntest mit deinem Tode. Ich bin Idol geworden, ich, miesich gekehrt in mich selbst, auf der Flucht in die Einsamkeit, Rückzug in die Festung meiner Vorfahren, nur noch hinter elektrischen Zäunen zu griesgrämiger Enthaltsamkeit befähigt. Der, der ich einmal war, verfolgt von losgelassenen Geistern neuzeitlicher Produktivität, kann nur noch angewidert sein Gesicht verstecken vor dem Tatbestand, was aus mir geworden ist. Draußen haben sie meinen Wahrheitswert vergessen, während sie sich mein Bild auf ihre Hemden, über ihre Brüste wichsen oder sich auf ihre Hintern kleben - machen sie Reklame, Friede, Fortschritt, Eierkuchen, im Miesingrhythmus, verfälschen sie meine Reden in gelehrsamen Rezeptbüchern in Massenauflage am Markt, schmieren sie über ihre Taten meinen Namen - haben sie mich missverstanden.
Wir empfehlen Ihnen heute Miesicheintopf, heute Großkampftat, heute Tag des Freiheitskampfes, Miesichtag, Freiheiligkeitsgebete. Der Präsident in Ton und Bild, in allen Massenmedien Glaubensandacht. An jeder Ecke eine blank polierte Großmattscheibe redet über Miesichs Freiheitstag. Präsidentens Kopf und Hirn zum Hintergrund in Farbe, miesichlich ein Lächeln, miesliches Globalportrait gerundet, reckt sich gar wie ein Geier zum Präsidenten, ein Schmuckstück Lied drübergeblendet zur rhetorischen Figur des monotonen Psalms. Widerallala. Von der alten Milchreisstadt zu den neueren Bezirken der Glamourhyperstadt mit ihren modernen Verwaltungszentren verfolgen wir die Glücklichkeitsplakate mit ihren fantastischen Glücklichkeitsgeboten - neu, neu, super - bis zum Staumittelpunkt guter Fahrt, glücklichen Individualverkehrs, vor das größte Einkaufszentrum unserer Freiheit, gut bestückt von sämtlichen Filialen gut betuchten Profispaßkonzerns. Von der Milchreishonigstadt, eine gläserne Metropole, Hypercity - vom Betonpalast zur Marmorfassade - Retrospektive, Freizeitdenkmal, neue Welt. - Führen wir den Strich von dort über jene Reklame-Phantasmagorie eines überlebensgroßen Miesichkopfs mit dem attraktiven Spruch - Miesich lacht - entlang den schmeichlerischen Fernsehköpfen - Miesich lacht nochmals - die Straße, Riesendamm, Betonallee, hinauf, gelangen wir blickwärts bis zum Miesichhügel außerhalb der Stadt, der selbst Stadt ist, und wo die verstaubte Miesichfestung morscht, die ebenfalls daselbst Stadt ist (dass ich nicht lache - Grinsemann). Längs können wir also die Linie ziehen von der reizenden Glitterstadt zum Schutthügel, der hermetisch abgeriegelt worden ist zu Miesichs Alterssitz - grübelt trübe über seinen Knochen alter Ideale, die sich infizierten mit der Tat.
„Es ist wahr, ich habe die Göttin der Fantasie zur Königin der Welt gekürt, doch das ist koloriert am Bild der neuen Welt ephemer als ein Neuanstrich verrotteten Gemäuers meines Bollwerks vor der Wirklichkeit.“ Räsonierte Miesich mit den Knochen, „ich rieche Vermodertes“, stieg er zum Garten hoch, seiner alten Tradition des Bienenzüchtens nachzugehen, beugte sich zu Boden, seine Pflanzen (Rosen ziehen), Zuckerrüben - ohne blau chemiebedüngt - abzuernten. „Selbst die Buttermilch gibt’s bei mir nicht homogenisiert.“
„Was für geheimnisvolle Miesichfestung“, sprachen anmutig zwei Töchter zueinander - liebevoll mit Miesichklebebildern ausgestattet - als sie, beklommen von dem Miesichflimmer ihrer Glamourhypercity, auf den Miesmichhügel blinzelten, „wir wollen abenteuerlich die Burg erklimmen, das Geheimnis zu ergründen, das soviel Schutz verlangt“, und empfahlen sich schnurstracks von der Milchreis- und der Hyperglamourstadt zu Miesichs Exklavenreich, ersten Vorposten (im Taxi!) hinaus, hinaus. Sie beschritten Terrorboden, mörderischer, scherbenglasdurchsetzter Wüstensandweg, und die Mädchen quälte schnell der Übermut, die Hackenschuhe glühend scheuernd an den Füßen, erste Meter schon unsägliche Strapaze am Schikanehügel. Weiter mühsam stiegen sie den Burgwall rauf, wobei sie scheußlich schwitzen mussten, dass ihnen das Make-up zerfloss und Hässlichkeit - zweite Beschwerlichkeit. Als drittes hatten sie das Mauerwerk der Festung zu erklimmen, an welchem meterhohe Distelhecken ihre Haare bös zerzausten und in ihre Hände Stacheln bohrten, derweil der raue Mauerstein, das Werk vollendend, ihre Kleidung arg zerschliss. Während beide Damen also transpirieren mussten, die Sonne ihre Haut zu gerben suchte, dorrten schwellend und entzündlich ihre Kehlen aus, und Miesichhautcreme wirkungslos verschmierte, Miesichs lachender Achselschweißvernichter ganz vergeblich Furz versprühte, und das Glas der Sonnenbrillen klirrend sprang entzwei. Distinguiert die Mutigen im Kampf einhielten, öffneten die Coladosen; doch auch die Colalimonade spülte unerquicklich blubberwarm. Sauer hockten sich die abgeschminkten Fräuleins hin und husteten betroffen an den letzten Miesichzigaretten: „Das ist fast so scheußlich wie Fabrikarbeit.“
Anschließend taumelten sie unvorsichtig in den scharfen Todesstreifen, wo zwei Verbrecher auf sie lauerten. „Ausweis, Geld und Plaketten her“, brüllte Pontifex, der eine üble, stellvertretend auch für den zweiten Schwerverbrecher. Die Fräuleins warfen ausgepowert und entnervt den Bösewichtern ihre Taschen vor die Füße.
„Puh“, rief Marietta, wie Amica jetzt total erschossen, und ergab sich, während der zweite Schwerverbrecher mit ihren Scheinen gleich ein Feuerchen veranstaltete: „Wenn ihr keine Zombies seit, so seit ihr Bürokraten. Stimmt’s?“ „Die Nacht“, sprach Pontifex, „kennt bei uns Ungeheuer, und es dunkelt mächtig auf. Nur in unserer Hütte gibt es Sicherheit.“
„Weißt du, wie man ungeschlagen bis zur Höhe kraxelt?“ fragte Marietta Pontifex. „Wir wissen“, rühmte sich der Pontifex, „wir verkehren täglich, völlig ungeniert mit unserm Meister in der Residenz bis hin zum herrschaftlichen Spitzenturm und unsre Antwort: gar nicht ohne Einblick in die Sicherheitsverhältnisse“ - folgten ihm die Abenteuerinnen. „Wir schleusen euch durch die Hindernisse, Minengürtel, Todesfallen, Fußangeln und Selbstschussanlagen. Wir nehmen den Fahrstuhl“, pries Pontifex sein Sachverständnis.
„Wenn wir jetzt in die geheiligten Gemächer unserer stolzen Miesmichburg eindringen, versinken wir nicht in Ehrfurcht, sondern nehmen erst einmal eine reichliche Mahlzeit zu uns, unterhalten uns anschließend locker mit dem Hausherrn, werden abschließend die Feste besichtigen“, erklärte Pontifex Marietta und Amica, als sie im Aufzug zur Spitze des Berges empor kletterten. „Wenn wir die überlangen Gänge durchlaufen haben, öffnet sich uns an deren Ende eine Tür und wir treten in den großen Miesmichsaal, wo der alte Miesich zahnlos seine Joghurtspeise verzehrt und als der berühmte soundso von sowieso auf dem Schloss von sowieso vor dem Fenster ein Streichquartett in Fräcken Brahms ersäufen lässt“, verkündete der Pontifex Marietta und Amica, während sie schnellen Schrittes den Weg durch das Festungsgebäude bewältigten.
Miesich schaute verdrossen von seinem Joghurtbecher auf: „Ich sehe zwei hübsche Vogelscheuchen, die mich besuchen kommen. Annähernd eine Ewigkeit muss es her gewesen sein, seit letztes Mal ein Mutiger den Aufstieg wagte, mir in mein eigentliches Angesicht zu blicken. Wie viel tausend Joghurtbecher.“
„Wer bist du?“ fragte Amica ihn.
„Ich bin’s nach dem Original, heut’ ausnahmsweise nicht projiziert auf Leinwand, Fernsehschirm, Tapetenmuster.“
„Oh“, rief Marietta, „wir haben das ganz übersehen, ganz vergessen, dass noch was von dir dahinter steckt.“
„Auch ich werde demnächst alle Spiegel abschaffen“, versprach Miesich, „bespiegelt habe ich mich, weiß Gott, genug. Die Sauerei hat da begonnen, wo meine private Sphäre zur öffentlichen Angelegenheit verkam. Weiß Gott, eine obszöne Zurschaustellung meiner geheimsten Intimität. (Die Ankömmlinge ließen sich auf ihre Plätze nieder.) „Die Schweineschnitzel, Fasanenknochen, Truthahnbeine für euch“, höhnte Miesich, löffelte an seinem Joghurtbecher - worauf die Übrigen sich ungeniert über den bereiteten Schmaus hermachten.
„Armer Alter“, Amica fuchtelte mit ihrem Knochen, „hast dich in deine Miesmichburg vergraben, während sie draußen dein Inneres nach außen stülpen, hast Minenfelder, Panzersperren gelegt, um ja niemanden an dich ‘ran zu lassen, während sie dich draußen philologisch längst durchforstet haben, kein’ Spruch, den sie nicht durch den Fleischwolf gedreht hätten, keine Intimität, die sie sich nicht vielfach veranschaulicht hätten. Du hier drinnen, abgeschottet, zu dem da draußen, bist der Residualbestand zur Formel, die sie sich mit Gewissheit von dir erarbeitet haben und die sie auf jeden Gegenstandsbereich projektieren zur Aufrechnung ihrer Gleichung. Hoffnungslos, wie immer du dich auch verteidigst, es bleibt der Tatbestand: sie haben sich dein Denken umgesetzt.“
„Die Fundamente dieser Welt ein Irrtum nur“, erzürnte Miesich sich, „Fortschritt ist Zuschnitt, man schneidet alles auf seine Dummgesichtigkeit zu, bis nichts mehr übrig bleibt als die Passform der eigenen Dummgesichtigkeit - aber streng berechenbar die Schande. Ich hingegen kopulierte mit der Göttin meiner Fantasie. Ich wollte Lavaströme schnuppern, Magma wieder zum Sprudeln bringen - schöner Neubeginn des Neozoikums.“
„Eine Melancholie an das Magma“, rümpfte Amica die Nase und grinste.
„Eine esoterische Variante meiner Melancholie an das Magma“, berichtigte Miesich. Die beiden Frauen lachten übermütig. Pontifex verschluckte sich an ätzendem Zitronensaft. „Ja“, betrübte sich der Miesich, „es ist wahr, dass mich niemand mehr verstehen kann.
„Hi“, amüsierten sich Marietta und Amica.
„Ich werde fliehen“, verhedderte Miesich sich in seine Depressionsgedanken, „mit einem Fluchtfahrzeug das schneller ist als alles bisher Dagewesene. Ich habe gefühlt den Boden unter meinen Füßen, demnächst verlasse ich die Göttin meiner Fantasie: ich werde selber fliegen. Ich werde all die Geschmacklosigkeiten der Entropie des Universums unbeeindruckt bewundern, erkunden die Spiraligkeit entfernter Milchstraßensysteme. Schon heute konspiriere ich regelmäßig mit den Knochen meiner Vorfahren; ich werde mich aufmachen, um auch mit der Unendlichkeit zu konspirieren.“
„Genau“, rief Marietta übermütig, „das unendlich verblassende Bild des Ewigen sei dein Zuhause. Uns aber gewähre den Augenblick des Jetzigen.“
„Lasst uns aufstehen, ich führe euch durch meine Miesmichburg“, sprach Miesich, Marietta ihren Wunsch gewährend.
„Mein Aussichtsturm“, erläuterte der Miesich.
„Oh, was ist das für ein garstiges Land“, rief Marietta vom Turm aufs Land.
„Was bleibt übrig, als im Festungsgarten Rosenzucht! Wir sind für Chemie“, ergötzte hämisch sich der Pontifex, „träufeln wir hygroskopische Schwefelsäure auf die Blütenblätter, erweichen wir sie zu reinweicher Pracht. Miesichs rein geweichtes Blütenexemplar aus Asche!“
„Mein Haustierzoo am Fahnenmast mit Geierpärchen: krault doch der eine Vogel seiner Geierfreundin mit dem Hakenschnabel übers Federkleid!“ erläuterte der Miesich.
„Diese Schrapelvögel lauern doch auf Schabefleisch“, gutachtete Marietta skeptizistisch, „passen wir bloß auf, dass sie kein allzu gegenständliches Interesse an uns aufbringen. Diese Geiervögel scheinen so saublöd, dass wir ihnen lediglich mit Vorsicht langarmig am Köpfchen streicheln trauen können.“
„Abschließend meine geheimnisvolle Kellergruft! Hier habe ich den Autor eingemauert, dass er ja keine neuen Geschichten erfinden kann“, lachte Miesich grimmig.
„Ah, hier hast du die Leiche des Autors vergraben“, rieb sich Pontifex die Hände.
„Erfahren wir demnach an diesem Orte dein Geheimnis ohne Rest“, zeigte sich Marietta sehr verständig, was es mit der holden Göttin seiner Fantasie wohl auf sich habe.
„Wieso? Sollte euch entgangen sein“, vermieste Miesich die Erwartungsstimmung, „meine Fantasie ist doch das Defizit von allem, was gewesen ist. Alles das, was Göttin ist, ist nicht, also existiert die Göttin nicht.“
„Betrug“, entgeisterten sich die Gefoppten.
„Wieso? Das ist doch klar“, gab sich der Miesich unbedarft, „wir definieren Weiblichkeit ja immer noch vom Geschlechtsteil her. Was ich noch zu bieten habe, sind zwei himmelblaue Doppelbetten - gute Nacht.“
Amica und Marietta aber hielten sich die Bäuche und hätten sich fast totgelacht darüber.
Amica zog den Vorhang auf: „Ausgeschlafen? Du hast dir die bei weitem unwitzigste Geschichte ausgedacht.“
„Habe ich gegen die Regeln verstoßen?“ ängstigte Re sich scheinheilig.
„Fortwährend“, entrüstete sich Amica unverhalten, „wer soll all die Knochen zählen?“
„Was sagt Marietta?“ ärgerte sich Re.
„Sage mir“, antwortete die zweite Freundin, die dem Bett entstieg, „mit welchem Recht belästigst du das Publikum mit deinem dummen Zeug?“
„Ich belästige durch meine Anwesenheit.“
„Wolken“, sagte Amica, zog den Vorhang wieder zu. „Heut’ war ein kurzer Tag.“ Ging.
Verirrung in Kunststoff und Beton
Ihn hat verdaut ein Gleichheitszeichen
So fallen seine Sinne nicht ins Gegenlicht
Langsam pflügt Verwirrung sich durch alle Bilder
weil seine Blicke wie von Kriegsmaschinen
kalt zerschossen in den Staub abschmieren
Die Stadt drückt sein Gesicht in Stahlbeton
Unter toten Hochhausleibern hat er Schatten
der ihn jeden Tag am Gegenüber tilgt
Und der Stratosphärenjäger Schalltrichter
durchreiten eilig kreuzend
seine Klage zugeschüttet allen Ohren
Und die aufgeschmauchten Kunststoffpilze
verdichten sich zur Wolkenbank
Und der Tretmaschinenberge
Ausschussstücke ungezählt befallen seinen Kopf.
Der Fortschritt des Lebens
Ich liebe dich
I
Wir glauben die Welt sei unsere Heimat
aber wir sind nur Gäste
Wanderer in der Zeit ohne Ziel
verlassen wir unseren Stolperpfad
All unser Mut
all unser endliches Irren
drückt sein Selbstvergessen
in den Staub des Tags
Ein Fußabdruck für Jahrtausende
von niemand gesehen
in abgelagerter Schicht
II
Du bist in dir geeint als Ich gewachsen
Die Welt gab dir Verstand
und hat dich eingebettet
Verlass' das Haus
schlag' die Schatten der Gewissheit
aus dem Sinn
Glaube nichts
beachte Niemanden
finde dich ab mit dem Tod
Die Zeit setzt dich auf Null zurück
Du bist nichts mehr
keiner wartet auf dich
Du wirst dich niemals wiederfinden
III
Tot
Mein Tod
ich liebe dich
Ich liebe dich 2
Manchmal, wenn ich aufwache, fällt es mir schwer, meine Lider zu heben.
Das erwachte Bewusstsein, ein ganzes Universum soweit die Vorstellungskraft uns treibt.
Milliarden Lichtpunkte, jeder ein Weltensystem mit Stern und Planeten,
schleudern das Abbild ihres Daseins mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum
ins endlos, endlos Flüchtige.
Das Leuchten. Im Glanz deiner Augen spiegelt die Schönheit das Universum deiner Fantasie,
die Welt aufgefangen, um in ihr den Charakter des Menschseins auf dein Gegenüber zu projizieren.
Das Du ist ein Schicksal unserer Verbundenheit. Ein herausgehobenes Etwas, das sich nicht vergleichen muss,
dies eine Wollen, für das du alles andere hergeben kannst.
Und wenn in meinen Armen dein Universum verlöscht ist, um im Schatten der Einsamkeit
in meiner Erinnerung, gleich einem geschmiedeten Eisen in meiner Brust, nachzuglühen,
wird Liebe zum Todeswort.
Lange schon bist du ein Schädel des Todes, gefüllt mit Sand, im Grab deiner Träume,
dein verrauschtes Dasein zur Asche des Lebens gebrannt,
während das Licht weitergezogen ist, das Nichts mit neuem Raum zu füllen.
Ich sage also das Todeswort, das du bist.
Erinnerung, gefangen in den Gehirnwindungen eines Mikrokosmos, Erinnerung, die befreit werden will,
während das Licht längst zum Rand der Milchstraße stürmt,
wo Sinn nur noch der allerkleinste Restbestand des Werdens ist - im Hauch der Krümmung seines Unbewusstseins,
als zwitterhafte Existenz um eine schwarze Singularität herum zu kreisen.
Schwarzes Herz. Es gibt keine Hölle. Es gibt nur Einsamkeit und diese Hölle darin bist du längst nicht mehr.
Du bist durch das Licht hindurch gegangen. Nichts gibt es mehr festzuhalten.
Ich falle zu Boden und bete dich an - mein Todesauge.
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Tag der Veröffentlichung: 23.02.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dem Menschen, den ich liebe.