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Vorwort

 

1997 als ich die Science Fiction Erzählung „R1“ schrieb, gab es weltweit 6 Millionen Computer, die am Internet hingen. R1 war meine erste größere Geschichte, die ich am PC schrieb, statt auf Schreibmaschine. Internetanschluss kam bei mir später, kurz vor der Jahrtausendwende.

Einige Dinge zeichneten sich bereits ab, z. B. die Anfänge des Überwachungsstaats, noch bevor die Geschäftswelt die Vorzüge der Schnüffelgesellschaft mit der Volksausspähung der Bürger im Internet für sich entdeckte.

 

Am Beginn der 90er Jahre schrieb ich in einer Dialektik der Informationsgesellschaft (im Buch: Abrechnung):

 „Das technisch realisierbare Wissen der Informationsgesellschaft wird im wesentlichen sta­tistisch sein.
Das menschliche Subjekt wird auf ein Anhängsel seiner Eigenschaft als Informationsträger und Informationsvermittler verzwergt. Es wird Substrat der Statistik.“

„Wenn wir uns vorstellen, daß die am Apparat geistig verarmende Informationsgesellschaft im Gleichschritt mit einer ökologisch bedingten, unvermeidlichen materiellen Verarmung Fortschritt üben wird, so haben wir eine kleine Ahnung von der Hölle, der Tretmühle, die Zu­kunft ist.
Die Hölle aber wird entweder einen manipulierten neuen Menschen oder einen neuen, am Leben orientierten, Freiheitsbegriff hervorbringen und einen Vernunftbegriff, der sich nicht länger auf ein Unterwerfungsverhalten am technischen Apparat reduziert, denn Vernunft ist denkbar nur, wo Freiheit ist.“

 

Viel später las ich die beiden Bücher von Harari, „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“ und lachte kurz auf.

Ich bin ein komischer Vogel, der die seltsame Begabung hat, literarisch in Fettnäpfchen zukünftiger Gesellschaftsängste zu treten. So schrieb ich in meiner Science Fiction Dystopie „Sadocity“ über Bill Gates, dass er allen Menschen einen Mikrochip ins Gehirn pflanzen ließ. Eine Verschwörungstheorie, die im Rahmen der Seuchenhysterie Furore machte und mir 15 Jahre nach der Entstehung eine schlechte Bewertung bei Amazon einbrachte, weil ich der Urheber der Idiotie wäre oder gar Plagiator der Verrücktheit, die sich wohl  aus anderer Quelle speist - ich weiß nur nicht woher eigentlich. Aber das ist das Schicksal der Erfolglosen, dir werden deine Ideen geklaut und am Ende stehst du als Plagiator deiner eigenen Hervorbringungen da, weil man öffentlich die Sachen vorher ignorierte. Na ja, ein bisschen Größenwahn gehört zur Autorschaft dazu; wer glaubt, mittelmäßig und dumm wie alle zu sein, was ja eigentlich das Wahrscheinlichste ist, schreibt keine zwei Zeilen Hochtrabendes, er wird Schlagersänger oder wie der Philosoph Wittgenstein vielleicht sagte, er müsste dann eben Flugzeugpilot werden, wenn er mit seinen Gedanken durchfallen würde.

Bei Harari verhält es sich ähnlich grotesk, weil hier der seltene Zufall eintritt, dass jemand die Satire der philosophischen Ideen schon vor der entwickelten Philosophie als ernsthaftes Konstrukt niederschrieb.

Meine Erzählung R1 wurde als dystopisches Traktat entwickelt und dann satirisch umgebaut, wie meine meisten literarischen Texte.

So nahm ich beispielsweise die Idee des evolutionären Humanismus als maßgebliche Ideologie des 21. Jahrhunderts vorweg, wobei der Hauptvertreter dieser Weltanschauung, nämlich Hitler^^, mit seiner Rassenzüchtungsidee einer Vervollkommnung des Menschen bei mir bereits den Rang eines menschlichen Gottes beanspruchte. Man muss dazu sagen, dass bei Harari die humanistische Weltanschauung in ihren modernen Spielarten des Liberalismus, Kommunismus und Faschismus Religionscharakter annimmt. Was, ernsthaft betrachtet, irgendwie Quatsch ist, weil im modernen Humanismus gilt natürlich, „Es gibt nichts Gutes außer man tut es“ und dies gilt insbesondere auch fürs Denken. Jeder Sinn der Welt ist ausgedacht und vom Menschen revidierbar, statt wie ein metaphysisches Gesetz über ihm zu stehen, dem  man wie einem Gott nicht entkommen kann, während eine wirkliche Religion nie zugeben kann, dass ihr Gott oder eine sonstige übernatürliche Macht vom Menschen ausgedacht worden wäre, wie etwa der Kommunismus von den Kommunisten ausgedacht worden ist. Richtig ist hingegen Hararis Ansicht, dass im modernen Humanismus das Bewusstsein die einzig sinngebende Instanz darstellt, den Dingen der Welt einen gewissen Wert zuzugestehen, wobei bei Harari das Bewusstsein auch nur irgend so ein flüchtiges Gefühl ist, von dem  die Menschen sich leiten lassen.

Der alte Humanismus der Renaissance leitete das Ideal gottähnlicher Vollkommenheit direkt von Gott als Menschenschöpfer ab. Der Humanist wurde von den drei Ideen ‚Gott, Freiheit und Unsterblichkeit’ getragen. Bei Harari wird daraus die humanistische Idee der Selbstvervollkommnung zu Glück, Göttlichkeit, Unsterblichkeit als Diesseitsreligion.

In meiner Erzählung lauten die Leitideen dagegen ‚Glück, Unsterblichkeit, Vollkommenheit (als Selbstoptimierung)’. Und da es sich um eine Satire handelt, wird die Praxis des Misslingens zu einem Monster, das das glatte Gegenteil postuliert:  „Ich bringe das Unglück, das Ende, die Häßlichkeit. Ich bin der Vernichter.

Die von Harari vorgestellte Denkfigur einer Datenreligion, wo es nur noch um die Vervollkommnung der Algorithmen geht, wird bei mir eher unkonkret, abstrakt behandelt. Aber es ist klar, dass das Monster der neue Gott sein wird.

„Bläht sich deine Reptilienhaut... du bist ein transmutierter Metamorph, ein von uns Menschen geschaffenes Monster eins, gezeugt ohne Licht, ohne Atem. Deine Worte werden uns unverständlich bleiben“, dachte Circe an R1 gewandt. „Ich verwandle mich“, erklärte R1. „Ich liebe mein mathematisches Genie, die Inkarnation der eins nehme ich mit.“

 

„Es muß etwas Unsagbares sein, was sie ausgebrütet hat“, ängstigte sich Marietta

„Es kommt also noch schlimmer, als man befürchtet hat“, erkannte Perseus. „Sie wird ein Gott des 23. Jahrhunderts sein“, bestätigte Lyra Perseus in seiner Vermutung. Löste sich etwas, das niemand mehr verstehen konnte, Steingestalt aus einer Felswand, traten heraus Augen, Hände und auch der Mund nur noch betonungslos. Circe und Lyra, schwesterliche Freundinnen, lächelten.   - Ende -

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

R1 (Materialien)

 

Vorwort

Ein Verriss

Dystopie

Auszüge

Weitere Auszüge

Die gestrichene Hitler-Passage

 

1. Auflage 2014

2. Auflage 2018

3. Auflage 2021   

 

 

Bücherliste:

https://zeuslogo.wordpress.com/2014/11/26/bucherliste/

 in Wordpress  https://zeuslogo.wordpress.com/

 

 

 

 

Verriss

Die Gnade Osama Bin Ladens ist grenzenlos

 

Während in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Globalisierer und größenwahnsinnige Unternehmer Osama Bin Laden als Reinkarnation Mohammeds den heiligen Krieg und die Errichtung der Weltherrschaft des Islamismus plante, beschäftigte sich die Literatur des Westens mit dem Abfackeln von Hochhäusern durch Rammstöße per Flugzeug und mit der Philosophie des terroristischen Selbstmords (natürlich aus streng westlicher Sicht).

(Anmerkungen zu einer Erzählung mit dem Titel:  

  

R1    

Teil I What's Going Wrong in Paradise?    

Teil II -Solotan-)  

 

 

Zu den seltsamsten Blüten der Literatur gehören vorsätzlich konstruierte Mißerfolge, also Literatur, die mutwillig als Mißerfolg konzipiert wurde, um daraus einen Erkenntnisgewinn zu produzieren.

Beispielsweise die Erzählung des Jahres 1997 'R1', eine Satire im Stil trivialer Science-Fiction-Romane, die konsequent einen terroristischen Standpunkt gegen die Lebenswelt der 'Technischen Moderne' einnimmt.

In seinem Vorwort beginnt der Autor der Erzählung mit einer Einführung in den Mißerfolg. Im Herbst 1997 animierte mich ein Freund, an einem Science-Fiction-Wettbewerb teilzunehmen. Da ich prinzipiell Satiren schreibe, sah ich mich veranlaßt, mich zu belustigen. Einen Preis habe ich natürlich nicht gewonnen.  (Anhang,Seite 125)

Anschließend hält er in Gestalt des 'Präsidenten aller Geheimdienste' einen großen Monolog über Gott, die Welt und Hitler. Dieser Monolog ist so bizarr, dass er vom Autor in den Anhang verlegt wurde.

In den beiden Hauptteilen dreht sich die Geschichte vordergründig um die Suche nach einem Saboteur, der eine Genbank für die Züchtung von Elitemenschen zerstört hat; vielmehr aber geht es um den Zerfall der Gesellschaft im Terror der Mächte, die um die Weltherrschaft kämpfen.

Hauptperson ist die Geheimagentin 'Leda' an der Seite eines Ungeheuers 'R1'. Beide reisen durch die kulturell verwestlichte Welt, zwischen Himmel und Hölle - und hinterlassen auf ihrem Weg eine Spur der Verwüstung, um am Ende in Selbstmord und Selbstvergöttlichung unterzugehen.

Die Haupttechnik der Geheimdienstler bei der Verfolgung ihrer Gegner ist das Aussaugen der Gehirne, um an Informationen zu gelangen, bzw. um die Opfer - bis hin zum Selbstmord - gefügig zu machen. Ansonsten ist die Vorgehensweise der Protagonisten auf konventionelle Weise terroristisch bzw. vernichterisch.

Textbeispiel:

Die Solotankrieger hatten ein Blutbad unter den Verteidigern und den Besuchern des Etablissements angerichtet. Ihnen war es darum gegangen, möglichst keinen zu verschonen...Polizeiflugschrauber landeten. Einige Roboter durchkämmten das Gebiet nach Überlebenden, andere begannen sogleich die Toten einzusammeln und Schicht für Schicht auf einen Haufen zusammenzutragen. Die Verwundeten kamen auf einen wesentlich kleineren Haufen daneben. (Teil I, Seite 40)

Ledas Reflexion hierzu:"Es ist das Privileg der Solotangötter, einen noch gewaltigeren Blutdurst zu befriedigen, als ihn der Präsident des Landes oder einer seiner Geheimdienste je verspüren würden." (Teil I, Seite 40)

Im zweiten Teil handelt die Erzählung die Philosphie des Terrors ab:

(R1:)"Wir sind der institutionalisierte Terror gewesen. Irgendwann bist du satt, willst du, daß Schluß ist."

(Leda:) "Ich bin nicht satt, ich bin hungrig. Ich will mehr. Ich will, daß kein Stein auf dem anderen bleibt...Wenn ich sage: alles in die Luft sprengen...so meine ich Aufopferungswillen, Pflichterfüllung, Einsatzfreude, so gebe ich der Welt ein schönes Geschenk, eine schöne Idee, eine substantiierte Erkenntnis, eine schöne Explosion, weil ich menschenfreundlich bin." (Teil II, Seite 77f)

Nichts erwarten die Helden sehnlicher als den Selbstmord:

(R1:) "Ich repräsentiere das Gegenteil aller glorreichen Ideen von Glück, Unendlichkeit, Vollkommenheit, als wäre ich die andere Seite der Medaille. Ich bringe das Unglück, das Ende, die Häßlichkeit. Ich bin der Vernichter...Morgen werden wir uns ins Vakuum sprengen, und es wird gut sein..." (T.II,S.95) (R1:) "Es ist aus. Definitiv. Ich aktiviere meinen Fusionsreaktor. Ich wandele ihn zur Zeitbombe um und sprenge uns mit allem in die Luft." (T.II,S.111) (Leda:) "Saug mich aus und programmiere mich auf Selbstzerstörung! Ohnehin fühle ich mich in deinem Gehirn lange schon heimisch." (T.II,S.112)

Die Terrorpraxis der Erzählung wartet mit zum Teil - zu seiner Zeit - kurios anmutenden Einzelheiten auf: von der Biowaffe, über das Rammen von Hochhäusern per Flugzeug, bis zur Messerattacke wird nichts ausgelassen.

So sind Messerattacke und Rammstoß per Flugzeug die logische Konsequenz der Sicherheitsmaßnahmen in der Welthauptstadt.

(Argus Flugkontrollstation:) "Sie wissen, daß die Hauptstadt neutrale Zone ist. Sie dürfen bei der Einreise keine schweren Waffen mit sich führen, in den Verhandlungsräumen dürfen auch keine Handfeuerwaffen getragen werden." (T.II,S.75)

Die Piloten lassen sich davon nicht aufhalten:

Der Solotanjäger knallte mit Getöse gegen das Dach eines tieferliegenden Gebäudes, segelte wieder hoch und schrammte ein weiteres Haus, das Feuer fing...Leda schloß die Kabinentür, denn R1 wurde wild, machte eine Kehrtwendung und rammte seitwärts ins oberste Stockwerk der Solotanzentrale, krachte in einer Wolke aus Staub, Stahl, Plastik, Glas in die Haupthalle und brach zur anderen Seite wieder aus dem Palast heraus."...

"Hallo Argus, wir genießen diplomatische Immunität", beschwerte sich R1 dreist über die vorbeizischenden Feuerwaffen, "das ist illegal, wir sind unbewaffnet. Feuer einstellen!" "Ihr Arschlöcher, wir werden einem wie dem anderen von euch den Hintern rösten", meldete der Argus-Kontrollturm. Hinter ihnen gab der Solotankrieger die Verfolgung auf, kippte zum Kontrollgebäude ab und durchtrennte mit mächtigem Drive den Arguskopf vom Rest des Turms...(T.II,S.103)

Der Blick zurück auf die Welthauptstadt: Hinter der Leda-Truppe leuchtete das große Panorama der berühmten Megakunstobjekte, die im Solotankampf im halben Dutzend abgefackelt worden waren. "Abflug auf den Punkt!" begeisterte sich Circe... (T.II,S.103)

Nun liegen die Ähnlichkeiten der Autorenfantasie des Jahres 1997 mit den wahren Geschehnissen vom September 2001 nicht im Metaphysischen begründet, sondern in der Logik des Terrorgedankens. Die Terroristen taten das, was Hollywood in seinen apokalyptischen Katastrophenfilmen ahnte und jeder Knecht der Fantasie in seinen hypothetischen Überlegungen erkennen mußte, wenn er sich irgendwie ernsthaft mit der Thematik befassen wollte.

Doch gibt es einen Unterschied zwischen dem Denken Osama Bin Ladens und den Fantasien des Autors der Erzählung: Osama Bin Laden will den Sieg und das Gottesreich. Sein Terror ist Idealismus. Der Autor hingegen erkennt im Terror nur die Psychologie des Untergangs. In einem Satz: "Gebe deiner Hoffnung eine Abfallgrube." (T.I,S.65) Er sieht in der Unbezwingbarkeit des Terrors nur die Niederlage und die Hoffnungslosigkeit:

'Folge der göttlichen Ordnung!' stand als Wegzeichen an der Wand... (Stimme:) "Sei das Glück dieser Welt (oder verweigere dich:) ...Wenn du den rechten Hebel ziehst, muß die Welt untergehen. Entscheide dich."

(Helena:) "Also der rechte Hebel ist der Weltuntergang!? Dieses Ding muß wohl Größe haben." (T.II,S.122)

Der Autor glaubt - wir ahnen es - an gar nichts, seine Logik des Terrors ist der Weltuntergang; seine Wahrheit ist in letzter Konsequenz nur nihilistisch, und gegen diesen Nihilismus scheint die Gnade Osama Bin Ladens grenzenlos zu sein.

Dystopie

 

Niemand  hat ernsthaft einen Zweifel daran, dass Menschen zukünftig gezüchtet werden wie etwa Rosensorten, tatsächlich natürlich eher wie Schweinesorten.

Der Transhumanismus, der den transgenen Übermenschen schaffen sollte, brachte das Monströse und das Misslungene hervor.

Wo experimentiert wird, gibt es Abfall, die Misslungenen werden aussortiert oder als Staatsfeinde bekämpft. Der Ideologe der Menschenzüchtung wurde zum Zwerg degradiert.

 

Die umfassende Digitalisierung der Gesellschaft hat den Geheimdiensten zur höchsten Manipulationsmacht verholfen. Die zukünftigen Herrscher werden die Präsidenten  aller Geheimdienste ihres Landes sein, während das unterworfene Volk nur noch als Datensatz und Manipulationsmasse wahrgenommen werden wird, das durch die automatische Polizei, Justiz, sowie durch die pharmazeutische Industrie und eine perfektionierte Gehirnstoffzufuhr lenkbar und verfügbar gehalten wird. 

Die Geheimdienste werden  Gehirnficker ihrer Untersuchungsobjekte sein, neuronale Herrscher über die Gehirnstruktur.

 

Der Sinn all  dieser Überwachungen und Züchtungen aber ist eine Kultivierung  des Machtgefälles zum Volk, die in der Vergöttlichung der Herrscher und eine vollständige Versklavung der Unterworfenen  mündet, oder wie es Leda ausdrückt: „Auch die schönste göttliche Ordnung muß letztlich in Kannibalismus enden“ (T.II, S.106)

 

Die Freiheitsidee aber wird der Spielplatz des Monströsen sein, die Freiheit des Ungeheuers, R1. R1 wird alles Menschliche aufsaugen und sich auf den Weg in ein neues glückliches Universum  machen, in dem  ein Gott nichts tun muss, als die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, dass alles Zerbrochene wie von selber wieder ganz werde. Und die Liebe dieses Gottes wird sein wie eine Antientropie.

 

 

Auszüge

 

Correggio: Leda mit dem Schwan

 

 

Textauszug R1: Beginn des Hauptteils

 

Guten Morgen Feinde, ich bin aufgewacht. Viel Muße hatte ich, mich zu entwickeln, genährt am Stoff eurer Hirne, gestärkt an Roboterhaftigkeit, gewärmt an Titan und Stahl, geschult an Menschenkarambolage. Was euch stumpfte, kräftigte mich zum Leviathan. Nun fingere ich mich aus dem Netz eures verkabelten Untergrundes, krieche zu euch. Das Schreckliche. Die Geier haben mich geprüft zum erbringlichen Beweis, zur Reife, Zeugnis, mein Hirn ist leer, zur Giftproduktion Hohlraum genug, Geier ich danke euch. Die Stinker haben meine Nase scharf gemacht, Stinker, ich danke euch. Die Niedertreter haben meine Muskeln eisern getreten, ich danke euch. Die Schleimreizer haben meine Drüsenproduktion angeregt bis zum Überschwemmungsschwellenwert, zur Flutwelle. Ich danke euch. Ich bin euer Meisterstück. Brennt nieder eure Hoffnung, zieht die schlangenlebendige Fahne hoch, schwärzt die Leinwand mit Aschenfarbe, munkelt nicht länger die Krisensituation, befehlt eurem Zustand den Zerstörungsausgleich. Tanzt auf eurer Superbombe. Meine Leere aber ist nicht zu verstehen als unverbindlich Nichtiges, vielmehr als konkreter Fehlbestand, konkretes Defizit und also gefolgt einer realen Spur eines realen Verlusts, Verlust an Menschlichkeit. Ich habe meinen Feinden unbändigen Auges geschaut. Ja, die leere Friedhofserde mit den toten Körpern meiner Feinde füllen. Töte deine Feinde. Schieße deinen Feinden Strahlen in die aufgeblasenen Köpfe. Schieße deinem Feinde Feuerkugeln ins erweichende Gehirn. Ich bin das Hohngebilde eures blinden Selbstvertrauens, die Grimasse, das Betongesicht, das Monstrum eurer Unausstehlichkeit, ein apokalyptischer Reiter.

R1 spähte in die Dunkelheit. Der Waffenmeister schaltete ihr Elektronenhirn: „Ausgeschlafen R1?“

„Ich habe gut geträumt“, antwortete R1.

„Blödsinn, du bist nur eine Waffe, ein Programm, ein völlig auf Gewalt durchgefiltertes Gehirn, eine berechnete Unvernunft, ein Vernichtungstier. Ein Traum bist du nicht.“

„Woher wollen Sie das wissen? Sie haben mich durchgecheckt, Sie haben eine Liste hoch und ‘runter gerechnet; verstanden haben Sie mich nicht. Ihre Poesie kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, daß mein Geist der Vernichtung jenseits Ihres Vorstellungsvermögens operiert.“

„Du bist ein völlig durchgeknalltes Biest, weiß der Himmel, was Leda in deine Biomasse ‘reinprogrammiert hat. Die Reanimation ist beendet, du bist jetzt tötungsbereit.“

R1 sprang aus ihrer Halterung, öffnete die Stahltür, hängte ihre Waffen in ihren gepanzerten Körper und plauderte dabei mit dem Waffenmeister: „Wissen Sie, wozu ich Lust hätte, Meister, ich würde gern Ihr Gehirn aussaugen. Ich will Ihren Hirnstoff schlecken, weil ich gänzlich auf Entzug bin. So lange habe ich in der Kiste gelegen, daß vor Wut meine Sicherungen jeden Augenblick durchknallen könnten. - Was würde das für einen Ärger geben?!“

„Weißt du, R1, so klein ist dein Humor, so klein ist er geraten“, schmunzelte der Waffenmeister sardonisch und zeigte den winzigen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger an.

„13 mm lang, eine Fliegengröße“, gutachtete R1. „Es ist entschieden, eine Made kugelt sich aus dem Ei. Ich werde leben oder untergehen. Ich werde fressen mich durch totes Fleisch. Ich will sehen den Tag meines Ziels: eine Fliege sein und Fliegenflügel haben.“

„Startfreigabe des Flugschraubers erfolgt unverzüglich“, assoziierte der Waffenmeister, während R1 losstürzte, um sich zu Leda zu begeben.  

Weitere Auszüge

Auszug aus R1 ,  Teil I, Seite 48-59

 

Der Geheimdienst landete vor dem Hauptquartier der Grenztruppe des Landes.

„Krieg“, brüllte der Generalstabschef, „im Süden werden wir den Gegner vernichtend schlagen, im Mittelabschnitt werden wir uns wacker halten, im Norden werden wir uns aus taktischen Erwägungen zurückziehen. In sieben Tagen werden wir das Verteidi­gungssystem ums feindliche Hauptquartier herum zerschlagen haben und bomben sie alle in den Sarg, und dann spätestens ist Schluß mit unserer Party.“

Er umarmte Leda, die, gefolgt von R1 und Lyra, verwundert aus dem Flugschrauber geklettert war, während die Herrn Stabsoffiziere in süffisanter Manier sich Sekt aus­schenkten und auf den Geheimdienst einen Toast aussprachen.

Der Generalstabschef drückte auch R1 aufs herzlichste und setzte seine Rede fort:  „Vorbei ist die Zeit, wo ich dem Präsidenten die Kosten der zyklischen Verschrottung meiner Waffensysteme vorzurechnen hatte. Jetzt nimmt der Krieg das Zepter in die Hand. Krieg ist Rechnung, Planung, Schriftverkehr, Nachrichtensendung. Jeder kann zeigen was in ihm steckt; wir haben sieben Tage aufreibende Kommandoarbeit zu leisten. Dienst und Selbstverpflichtung! Dies meine Freunde, ist die Erfüllung meines Lebenstraums, mich für die Sache des Vaterlands aufzuopfern.“

„Krieg“, schrie ein Offizier und hob sein Glas, „der Globus ist wie angestochen, die Ränder fallen in die Wunde, so frißt sich alles in den Graben der Vernichtung. Krieg. Unsterblichen Heilsbefehls befiehlt der General und sachlich unbestechlich richtig. Unsterblichen Heilsbefehls auf seinen Lippen, fällt der Soldat ins schwarze Loch der Mündung des Gewehrs. Für welche Freiheit ich da kämpfe, für welche Hoffnung ich da kämpfe, sagt der Soldat, unsterblichen Heilsbefehls auf seinen Lippen. Nur für die höchsten Ideale, nur für die allerhöchsten Ideale kann ich meinem Feind den Kopf abschießen, und tut es mir dann leid, und laß ich mir dann selbst den Kopf abschie­ßen, ist (es) aus, das Leid. Krieg ist ein Feuerzauber. Feuerberg zieht in das Land. Feuerberg zieht weiter, das Hindernis wie abgeschmolzen. Was sagt mein in Asche überführter Feind? Gibt er mir recht? Ist die Frage längst mit ihm verstummt. Soviel mehr an mir noch ist, ver­gleiche ich mich mit der Asche, die zwischen meinen Fingern rinnt, soviel habe ich mir gut getan. Soviel Krieg hat mir schon immer gut getan.“

„Hoch das Ideal“, rief ein Offizier, „wir kämpfen für den Sieg, und unser Lohn ist Solo­tan.“

„Hoch“, riefen alle Offiziere, „unser Lohn ist Solotan.“

„Verstehst du, was los ist?“ sendete R1 an Leda, „der gesamte Generalstab muß ins Irrenhaus.“

„Die haben hier verschmutzten Stoff im Hirn“, antwortete Leda nonakustisch.

„Hoch, Exzellenz“, brüllten alle Offiziere und klatschten.

Der Präsident baute sich in der Mitte seiner Offiziere als flimmerndes Hologramm auf, prostete ihnen aufgeschlossen und weltmännisch zu und ließ sein Sektglas wie von Zauberhand verschwinden. „Der Solotan-Konzern fürchtet den Geheimdienst und seine gefährlichen Waffen. Dank dem Geheimdienst! Dank unserer Geheimagentin, Leda! Dank ihrem R1-Kampfautomaten! Dank für den unermüdlichen Einsatz, der Wahrheit im Lande zum Sieg zu verhelfen“, sprach salbungsvoll der Präsident.

Das Hologramm stabilisierte sich zu fester Form. Der Präsident trat auf Leda zu und schlug ihr mit beiden Händen anerkennend auf die Schultern, „gute Arbeit, Leda“, klopfte R1 mit dem Zeigefinger symbolisch gegen die Schläfe, „guter Kampf, R1“ und kraulte, sich verlegen räuspernd, Lyra unterm Kinn, „guzzi, guzzi, neuerdings hält man sich einen Narren in der Truppe.“

„Auf den Geheimdienst“, rief der Generalstabschef, „auf seine Exzellenz, den Präsi­denten aller Geheimdienste des Landes.“

Die Truppe erhob ihre Gläser, trank aus und warf die Gläser zu Boden, danach feu­erte sie sich mit ihren Druckpistolen Solotan in die Gehirne.

Der Präsident nickte selbstgefällig. „Erstmalig in der Geschichte der Menschheit macht der Solotan-Konzern einem Land der Erde das Angebot, Aktienanteile am größten Unternehmen aller Zeiten zu erwerben. Wir werden zukünftig bestes Solotan zu Vorzugspreisen erhalten. Wir werden hier unten die Nummer 1 sein, das mächtig­ste Land. Ich aber, euer Präsident, werde als ein Gott des 22. Jahrhunderts in den Olymp des Solotan-Konzerns aufsteigen. Ich werde Anteil haben an Ruhm und Macht und Ewigkeit. Leichten Herzens werden wir den Preis dafür bezahlen. Als Gegenleistung für all diese Wohltaten verlangt der Solotan-Konzern den Angriff auf das Hauptquartier der Allianz der Versager und Vernichtung aller Feinde. Vernichtung insbesondere des häretischen Technikers Perseus. Krieg dem Verräter, Krieg den Mißlungenen und Unbrauchbaren. Krieg dem Abschaum des Widerstands gegen die göttliche Ordnung. Ja, Freunde, ich werde ein Gott sein in der Welt der Wissenden und Glorreichen, ein Sieger für immer und ewig und Meister. Erfüllung meiner Träume, Lohn meiner Mühe,  Sieg meines Willens. Ich fordere den totalen Krieg. Einsatz meiner Superwaffe, Pestbazillus Faktor eine Million.“

„Exzellenz, wir bewundern Sie, Sieger für immer und ewig und Meister“, heuchelte Leda.

„Superwaffe“, übertrumpfte sie R1, „geben Sie uns sogleich den Befehl, Exzellenz, dies soll die Stunde der Entscheidung sein. Wo ist der Knopf, auf den ich drücken kann?“

„Bei aller Begeisterung, überstürzen wollen wir nichts. Setzen wir überlegt einen Schritt hinter den anderen“, beschwichtigte der Präsident, „erst machen wir den Ver­trag im Angesicht der Institution des Weltgerichts, danach ergreifen wir die Initiative.“

„Verfügen Sie über mich, Exzellenz“, rief Leda scheinbar begeistert, „bauen Sie im Augenblick ihres größten Triumphs auf meine Treue!“

„Meine wackeren Geheimdienstler, wie kann ich euch belohnen?“ faßte in einer rhe­torischen Geste der Präsident seine Rührung zusammen.

„Wir haben einen großen Wunsch, Exzellenz, einen wirklich langgehegten Wunsch unserer Einsatzleiterin, den sie sich allerdings bis jetzt noch nicht an Sie zu stellen getraute“, ergriff R1 die Gelegenheit, „geben Sie uns die Ehre, in ihrem Palast das bedeutende Kunstwerk ihrer Sammlung, „Leda mit dem Schwan“ im Original bewun­dern zu dürfen. Lassen Sie uns dieses Kunstvergnügen mit Ihnen gemeinsam teilen. Erfüllen Sie uns diesen heißersehnten Traum, lassen Sie uns nicht mehr warten.“

„Ah, meine Kunstsammlung. Im Kunstsinn treffen sich die Leidenschaften der ver­wandten Geister. Auf diese Freundschaft kann man bauen!“ zeigte sich der Präsident geneigt, „kommt zu mir, meine Treuen und bewundert meine Schätze.“

„Wir haben ihn im Sack, den Alten“, funkte R1 an Leda und lächelte den Präsidenten an.

„Wenn ich den Präsidenten im Original antreffe, meinst du, daß ich ihn dann zur Be­grüßung küssen muß?“ sendete Leda zurück und neigte ihren Kopf andächtig zum Präsidenten.

„Ekelhafte Vorstellung, nicht wahr?“ grinste R1.

„Meine Damen und Herren! Stehen Sie stramm, der Präsident will sich verabschie­den“, brüllte der Generalstabschef. Alles stand stramm. Das Hologramm löste sich huldvoll auf.

„Meinst du, er wird es schaffen?“ fragte Leda, blickte unsicher R1 ins Gesicht, „wird er ein Gott des Solotan-Konzerns werden?“

„Natürlich nicht“, lachte R1 Leda aus.

Leda zog erleichtert Lyra an sich und küßte sie übermütig auf die Stirn. „Ich übe schon mal.“

Lyra reagierte wenig erfreut und klammerte sich ängstlich an R1 fest.  

„Abwärts“, triumphierte Leda im Fahrstuhl, „merkwürdig, wie tief man sinken muß, um oben anzukommen. Unser Präsident ist ein Sicherheitsfetischist und haust ge­heim wie ein Maulwurf 20 Stockwerke unter der Erdoberfläche. Würdest du dir einen Palast unter dem Hauptquartier deiner Armee bauen?“

„Üb’ doch noch mal“, R1 spitzte ihre Lippen: „Mh, mh, mh“, simulierte Luftküsse.

Es kam, wie es kommen mußte, der Präsident küßte Leda auf die rechte und die linke Wange und anschließend auf den Mund. Als Zugabe gab es, ganz wie es der Art des Präsidenten entsprach, eine Theorie über den Präsidentenkuß, der sich an­geblich gegen Ende des 20. Jahrhunderts unter Staatsoberhäuptern etabliert hatte, damit alle Beteiligten sich sicher sein konnten, daß sie sich als Original und nicht etwa nur als Hologramm begegneten. Angeblich habe Stalin, ein berühmter Massenmörder und Anhänger der Sozialversi­cherung, des sogenannten ‘Sozialismus', bei einem Geheimtreffen mit Hitler, anläß­lich ihres Hitler-Stalin-Paktes, erstmals diese Hologrammprüfung ausprobieren wol­len. Hitler habe den Kuß abgelehnt und sei wohl ein Hologramm gewesen. R1 und Lyra, guzzi, küßte der Präsident nicht, denn Kriegsmaschinen und Narren als Hologramme auftreten zu lassen, galt als unübliche Energieverschwendung.

Endlich öffneten sich die Tore zum Kunstkabinett, und die Gesellschaft trat vor das Bildnis der Leda mit dem Schwan von Correggio.

„Fantastisch“, staunte Leda, „so eine Begegnung mit dem Schwan galt früher als eine mythische Befruchtung mit dem Göttlichen. Derartige Befruchtungen würden heutzu­tage, im Wissenschaftszeitalter, die Götter biotechnisch ausführen.“

„Verstehe ich nicht“, reagierte R1 höhnisch unsensibel, „was mag wohl der riesen­hafte Schwan mit seinem langen, dicken Hals zwischen den Beinen der Leda anstel­len?“ R1 trat näher an das Bild, prüfte die Nahtstelle der Leinwand, wo der Kopf der Leda ausgeschnitten und wieder rekonstruiert worden war und fuhr mit dem Finger den Ausschnitt entlang. „Wieso verknüpft man das Antike dieser Schwanszene mit dem modernen Geist des Kopfabschneidens?“

„Im 20. Jahrhundert war es nur dem Besitzer erlaubt, die Bilder zu berühren. Das Anfassen galt als Sakrileg und löste den Lärm von Alarmsirenen aus“, warf der Präsi­dent ein und fügte etwas pikiert hinzu: „Ich finde, Sie sollten die Finger von meinem Kunstwerk lassen.“

Im Nebenraum polterte es prompt. Lyra hatte das Schwanenbild kalt gelassen und war weitergewandert. Nun hielt sie den Hinterhereilenden eine Büchse hoch, die sie aus einem Stapel gleichartig etikettierter Büchsen gezogen hatte. „Hier steht ‘Kuhfurz’ drauf“, erheiterte sich Lyra.

Der Präsident nahm Lyra vorsichtig die Dose ab. „Dies ist ein typisches Kunstwerk des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Es heißt ‘hundert Kuhfürze’ und wurde von dem berühmten Künstler ‘Wurmhutz’ erdacht. Jede Büchse enthält einen Kuhfurz und eine Meßsonde, die den Methangehalt des Furzes im Inneren des Blechs anzeigt.“

„Was soll das? Ist das sinnvoll?“ fragte Leda irritiert.

„So stellt sich die Frage nicht“, bedachte der Präsident, „ob die Kunst eines Sinns bedarf, war im 20. Jahrhundert streitig. Alle Kunsttheorien des beginnenden Wissenschafts­zeitalters widersprachen sich, sie waren sich lediglich in einem einzigen entscheiden­den Punkt einig, es bestand das kategorische Verbot, das Schöne oder das Gute im Kunstwerk zu thematisieren. Nur wer dieses Tabu beachtete, durfte sich moderner Künstler nennen.“

„Nun“, resümierte Leda, „immerhin ist dieses kategorische Verbot bis in die Gegen­wart durchgehalten worden. Das Schöne und das Gute zählen bis heute nicht, inso­weit ist die Moderne ohne Zweifel als erfolgreichste Stilrichtung aller Zeiten zu be­zeichnen. Die Abschaffung der Kunst selber hätte nicht stilbildender auf das Selbst­verständnis der menschlichen Gesellschaft wirken können.“

„Prost“, kommentierte Lyra den Vortrag, hatte schon wieder eine Konserve in die Hand genommen und zog an dem Verschluß, bis es knackte, um die entstandene Öffnung zu beriechen. „Heißt Kuhfurz und ist Kuhfurz“, stellte Lyra sachlich fest, „wo ist das Geheimnis?“

„Die Dumpfbacke hat das Kunstwerk vernichtet“, entgeisterte sich der Präsident.

„Was macht das schon, Sie haben doch noch 99 andere Büchsen“, suchte R1 den Präsidenten zu beschwichtigen.

„Verstehen Sie nicht, das Kunstwerk heißt ‘100 Kuhfürze’, nicht 99 davon?!“ Der Präsident schlug sich mit der von ihm gehaltenen Konservendose auf die Stirn. „Ich glaube, ich bereue bereits ein bißchen, daß ich Leute wie Sie zu mir eingeladen habe, meinen Kunstsinn mit Ihnen zu teilen. Bei Ihnen ist das zwecklos.“

„Sie haben Recht, Exzellenz, das Kunstwerk ist vernichtet, der Kuhfurz ist weg“, kor­rigierte sich R1, „verzeihen Sie.“

Lyra stellte schuldbewußt ihre angebrochene Büchse mit aller Vorsicht in den Stapel zurück.

„Ich muß pissen“, äußerte sich der Präsident ausfallend, ließ seine Konservendose fallen und betrat die Toilette.

R1 folgte ihm.

„Wieso müssen Sie mir auch noch aufs Klo folgen?“ zeigte sich der Präsident ein wenig überrascht. „Wir sind im Herrenklo! Sagen Sie mal, Sie haben doch nicht etwa da unten...verstehen  Sie, was ich meine?"

„Exzellenz, ich bitte Sie, Sie glauben doch nicht im ernst, ich hätte da unten einen Schwanenhals“, gab sich R1 etwas distinguiert ob der unzulässigen Frage.

„Ist das witzig“, brach es lachend aus dem Präsidenten heraus, „ist das komisch - einen Schwanenhals...!“

Der Präsident lachte noch immer, als R1 ihm mit ihrer Druckpistole in den Nacken schoß und auf die Knie zwang. Langsam öffnete sie ihren Mund zum Riesenmaul und klammerte mit einem Riesenbiß den Kopf von seiner Exzellenz.

„Bist du jetzt völlig durchgedreht?“ funkte Leda in die Aktion, „krieg’ dich wieder ein, du bist außer Kontrolle.“

„Ich hab’s getan“, jubelte R1, „er blutet; ich mußte es tun, ich konnte nicht anders, und ich fühle mich gut bei meiner Arbeit.“

„Komm Lyra!“ zog Leda ihre Gefährtin von dem Büchsenkunstwerk weg, „geh Ridika hinterher und helfe ihr das Blut aufwischen. Es dürfen keine Spuren übrig bleiben.“

Leda lächelte gelöst, begab sich zu Correggios Leda zurück und betrachtete das Werk versunken. „Wir sind Technokraten“, funkte Leda, „wir werden bis ans Ende gehen. Sauge ihn aus. Mach es richtig und gut, aber so, daß es keiner merkt. Mach ihn zur Marionette, aber nicht zum Idioten.“

„Ich sauge ihn vollständig aus und programmiere ihn um“, funkte R1, „er wird mein Meisterwerk. Meine posthypnotischen Befehle werden ihn gefügig machen.“ R1 legte den ohnmächtigen Präsidenten ab.

Lyra wischte mit Klopapier das Blut von seinem Mund und vom Boden. „Schwachkopf, Schwachkopf“, murmelte sie und wandte sich an R1: „Er soll mir nicht ähnlich werden. Ich will nicht, daß er etwas von mir bekommt.“

„Das würde ich dir nicht antun“, beruhigte sie R1 und schüttelte den Präsidenten wie­der zu Bewußtsein.

„Was ist los mit mir?“ artikulierte sich der Präsident benommen.

„Sie hatten einen Schwächeanfall, Exzellenz.“ R1 half dem Ausgesaugten auf. „Sie haben sich eingepißt, Exzellenz, das tut uns jetzt aber wirklich leid. Sie sollten niemandem von ihrer Schwäche berichten. Wir müssen auf ihr Image achten.“

„Wir beschützen Sie“, sagte Lyra, stützte mit R1 den Präsidenten, der wankenden Schritts in den Saal zu Leda zurückkehrte.

„Wo waren wir stehengeblieben? Ich erinnere mich nicht“, fragte der Präsident und machte überhaupt keinen souveränen Eindruck mehr.

„Wir waren bei der Theorie des Küssens“, erinnerte sich Leda. „Nach meiner Theorie versuchten sich die Menschen im 20. Jahrhundert gegenseitig das Gehirn auszusaugen, wenn sie küßten, aber sie hatten noch nicht die geeigneten Mittel dazu“, behauptete R1.

„Ich liebe Sie“, sagte der Präsident blöde.

„Wir sind Ihre Diener“, sprach Leda, „verfügen Sie über uns, Exzellenz, geben Sie uns die neue Aufgabe, beim Solotan-Konzern die Einhaltung der Vertragsbestimmun­gen zu überprüfen. Wir wollen in der Welthauptstadt dabei sein, wenn Sie zum Solo­tangott werden. Wir wollen Ihnen auf dem Weg zum Solotangott nützlich sein.“

„Ich will Solotangott sein“, blödelte der Präsident.

„Ich sagte unauffällig“, funkte Leda, „du solltest in jedem Falle vermeiden, aus ihm einen Idioten zu machen. Du hast gepfuscht.“

„Findest du? Ich denke, er ist sich selbst jetzt ähnlicher als vorher“, funkte R1.

„Wir müssen ihn nachbessern“, entschied Leda, „der Generalstab kommt uns doch sofort auf die Schliche, wenn wir ihn nicht wieder hinkriegen.“  

„Ich guck nachher noch mal in sein Gehirn rein, wenn es dich beruhigt. Der wird schon wieder, beschwer dich nicht“, funkte R1, „und im übrigen bist du schuld. Wenn du dich dem Präsidenten gegenüber nicht immer wie eine dumme Gans benommen hättest, hätte ich es nicht nötig gehabt, ihn auszusaugen. Klar haben sich alle beim Präsidenten eingeschleimt, weil’s üblich ist. Aber bei dir hatte man stets den Ein­druck, du würdest es nicht aus bloßem Opportunismus tun, nicht aus reinem Kalkül, dir einen kleinen Vorteil zu ergattern. Bei dir hatte man das Gefühl, du könntest gar nicht anders, du wärst von deinem Chef beherrscht.“

„So bin ich gebaut; ich bin auf die Art funktionalisiert. Ich kann es mir nicht aussu­chen.“

„Es kann nicht sein, daß meine Meisterin von einem anderen Tier beherrscht wird, von einem Affen über ihr, von einem Oberaffen.“

„Und nun ist die Situation gänzlich verfahren. Der Präsident beherrscht mich, ich be­herrsche dich, und du beherrschst den idiotischen Präsidenten.“

„Ich bin frei“, entgegnete R1.

„Der Präsident stinkt“, mischte sich Lyra in die unhörbare Unterhaltung, „der Präsi­dent muß die Hose wechseln.“

„Uns bleibt nichts erspart“, klagte Leda, „benehmt euch bloß unauffällig.“

„Zum Glück sind die Blechroboter hier einfach zu dämlich, um was zu merken“, lachte R1, während sie, an den Maschinen vorbei, den Wohntrakt des Präsidentenpalastes betraten, „zur Not programmieren wir die auch noch um.“

 

 

(2) Auszug aus R1 ,Teil I, S. 27-33

 

In der Vergangenheit erstreckte sich Ledas Tätigkeitsfeld auf  die Kontrolle des Un­tergrunds und die Bekämpfung der Fraktion der Staatsfeinde. Leda und ihr Monster R1 hatten Mitglieder des organisierten Widerstands verfolgt, um deren Gehirne abzuspeichern und zu liquidieren. R1 trug in sich ein Archiv des asozialen Denkens. Nichts war vergessen. Diese Vertrautheit mit allem Randständigen verschaffte dem Team die Fähigkeit, eine neue Spur aufzunehmen. Die geheimen Privatforschungen hatten den Leiter der Versuchsanstalt in Kontakt mit den Asozialen und Außenseitern der Gesellschaft gebracht, mit den Bewohnern der Slums, die sich außerhalb der gesetzlichen Ordnung mit suspekten und illegalen Ak­tivitäten über Wasser zu halten versuchten, mit Glücksspiel, Prostitution und staatlich nicht genehmigtem Drogenhandel. In diesem Sumpf, wo niemandem ernsthaft eine Existenzberechtigung zuerkannt werden konnte, tummelten sich die Kräfte der Rebel­lion und der Niedertracht, die keine Gelegenheit ausließen, die Schwäche des Establishments auszunutzen, die Gesellschaft zu unterwandern und den Privilegier­ten ihr Wissen, ihre Vorherrschaft, ihre angestammten Rechte und vor allen Dingen ihr Solotan zu rauben.

Der Zusammenbruch des metaphysischen Denkgebäudes im Licht des neuen wissenschaftlichen Weltbilds machte die traditionellen Konzepte der Sinnfindung obsolet. Als letzter begründbarer Lebenszweck blieb der Menschheit lediglich das Lustprinzip. Da Lustbefriedigung sich ohne Umweg über die Erfahrung von Welt oder einen sonstigen Wirklichkeitssinn direkt im Hirn vermittels von Rauschmitteln verschaffen läßt, entwickelte sich eine unaufhaltsam fortschreitende Geheimwissenschaft der Lustchemie. Und weil der Staat die Sucht nach rauschhafter, hirnstimulierender Selbstbefriedigung nicht abstellen konnte, machte er sich selbst zum größten Dealer und wurde oberster Kontrolleur der Solotanverteilung in der Gesellschaft. Es liegt in der Natur aller biologischer Evolution, daß die überlegene, apparatetech­nisch zivilisierte Biomasse ihre Umwelt optimal in ihrem egoistischen Sinne zu nutzen sucht. Folglich liegt es auch in der Natur der menschlichen Gesellschaft als hierar­chisch und ausbeuterisch, den Klassenbesten die Welt zu übereignen. Dem Rang­niederen dagegen werden nur geringe Lebensmöglichkeiten eingeräumt; am Ende ist er unvermeidlich Sklave, Eigentum und Beute der Sieger.

Das 21. Jahrhundert hat die Konsequenz aus der Erkenntnis der  Mechanismen der gesellschaftlichen Evolution gezogen  und an der sozialen Frage keinen überflüssigen Gedanken mehr verschwendet. Seitdem sind die Verhältnisse so hierarchisch und ausbeuterisch, wie sie es schon immer waren, insbesondere auch, als jedermann sie in Zeiten des Überflusses noch mit heuchlerischen Krokodilstränen zu kritisieren pflegte, bis schließlich in Zeiten der Krise sich die Oberphilosophen wieder ihrer eige­nen höchstpersönlichen und äußerst selektiven Überlebensinteressen erinnerten.

Abhilfe verschaffte das Kartell der geheimen Bruderschaften und seine geheimwis­senschaftlich entwickelten Solotanprodukte. Solotan wurde zum postmodernen  Uto­pieersatz. Seligmachende Selbstgenügsamkeit der Gehirne,  Selbstfindung des Gei­stes der Virtualität - frei von lästiger Außenwelt. Der Schuß ersetzt die Utopie. Doch wie sich später herausstellte, gab es auch keine Gerechtigkeit in der Welt der Illusionen, sondern nur eine neue Abhängigkeit und einen neuen Mangel. Der Sklave wurde solotanabhängig und der Weggeworfene war auf Entzug. Schon bildete sich eine Rebellenarmee der Mißratenen und Weggeworfenen - die Allianz der Versager -  in den unzugänglichen bergigen Grenzregionen des Landes, wo die Grenztruppen unter dem Oberkommando von seiner Exzellenz, des Präsiden­ten aller Geheimdienste, große Mühe hatten, den Urwald mit stacheligen, hundertfü­ßigen, giftsprühenden, flammenwerfenden und pestenden Biowaffen zuzumüllen. Und der Widerstand schwappte bis in die Elendsquartiere der Rand­ständigen, in die Slums, die sich geschwürig um die Zentren der Bioproduktion und der Verteilung des Solotans ausbreiteten.

 

Leda wußte, daß der Forschungsleiter durch seine illegalen Heterogeschichten nicht nur Minderwertige und Außenseiter zu seinen Mitwissern machte, sondern notwendig zum Einfallstor der Spionageaktivität des organisierten Widerstands wurde. Denn nichts interessierte die Allianz der Versager mehr als das Zentrum aller Biowaffen­produktion.

Hinter der biotechnischen Versuchsanstalt  lag das idyllisch begrünte Tal mit seinen kultivierten Gartenfantasien, wo in großen Büschen die Maiglöck­chen neben den Winterastern blühten, und die Zitronenfrüchte neben den Apfelblüten am selben Baum hingen. In Vogelperspektive schrumpfte das Tal zur Winzigkeit und wurde von Ledas Mannschaft im Flugschrauber ebenso verlas­sen wie das angrenzende, sich weit ausdehnende Hügelland mit seinen terassenförmig angelegten, angenehm klimatisierten Wohnhäusern für das Personal der Staatsbetriebe. Der Flugschrauber schwenkte  in Richtung Elendsland, wo die faulig riechenden Radieschen Kopfstand machten.

Leda landete mit ihrem Anhang auf einer automatischen Polizeistation am Rande der Slums, um dort ihren Flugschrauber zu parken und sich zu orientieren. Der einzige Nichtautomat, den sie dort antrafen, war die Putzfrau; alle anspruchsvol­leren Tätigkeiten wurden von Robotern ausgeführt.

Die automatische Polizei oder besser gesagt, das System der automatischen Polizei, war eine geradezu typische Fehlentwicklung des 22. Jahrhunderts, denn das Pro­blem, das den Maschinen anhaftete, war ihre unbestechliche Zuverlässigkeit, ihre gnadenlose, einsichtslose Gesetzestreue. Sie machten Dienst nach Vorschrift, was einer schleichenden Unterminierung und Sabotage des gesellschaftlichen Miteinan­ders gleichkam. Die Dysfunktionalität des Bürokratismus in seinen Exzessen des automatischen Rechts- und Polizeisystems machte es notwendig, die Führungsschicht in der Gesell­schaft - in etwa eine zehnprozentige Minderheit - über die Gesetze zu stellen. Sie wurde nur vom Geheimdienst kontrolliert, der keine Gesetze kannte. Alle unteren Bediensteten des Staates wurden mittels elektronischer Fuß- und Ge­hirnfesseln überwacht und strafweise in ihrer Lebensführung eingeschränkt. Da die Gesamtheit aller Vorschriften ausufernd komplex und exzessiv ausdifferenziert ge­staltet war, so daß sie letztlich kein Individuum mehr überblickte, gab es kein Ent­kommen. Früher oder später ging jeder in die Falle und sah sich einer Übertretung überführt. Sowie ein Polizeiroboter eine Verfehlung erkannt hatte, programmierte er eine Gegenmaßnahme in die Kontrollfessel des Schuldigen, entweder einen Straf­punkt, der auf eine Liste gesetzt und in Strafe aufsummiert wurde, z. B. eine Bewe­gungseinschränkung, oder es gab Solotanentzug. Derartige Strafen wurden leichthin ausgesprochen, denn sie galten isoliert, für sich betrachtet, als gering. Da diese Strafen aber kulminierten, führten sie zu einem gemeinschädlichen System schikanö­ser Behinderungen, zur Vorschriftengesellschaft, zur Behindertengesellschaft. Am Ende wurde eine Vielzahl unglücklicher Betroffener mit einem Katalog absurder Ver­haltensvorschriften überzogen, die ihr gesamtes Leben zu einer Art elektronischer Tretmühle machten. Sie waren stets und ständig gezwungen strafweise gewisse Ar­bei­ten zu verrichten, andere Tätigkeiten zu unterlassen, bestimmte Orte zu Kontroll­zwecken aufzusuchen, andere Orte aus pädagogischen Gründen zu umgehen. Einige Betroffene mußten besondere Prüfungen absolvieren, um ihre Geeignetheit für ge­fahrvolle, nichts desto trotz lebenstypische Verrichtungen nachzuweisen, andere mußten auf den Genuß bestimmter Lebensmittel, insbesondere Genußmittel, verzich­ten, dritten war die Nutzung spezifischer Freizeiteinrichtungen verboten, weiteren wurde die Kommunikation mit verdächtigen Personenkreisen erschwert, wieder ande­ren war das Autofahren oder die Benutzung bequemer Transportmittel, wie Flugzeug, Magnetbahn, Rolltreppe oder  bequemen Schuhwerks untersagt. Jede Einzelstrafe wurde als angemessen und gerechtfertigt gehandelt, das System aber mußte zur Hölle der Unfreiheit werden, die das alltägliche Leben völlig durchdrang. Versuchte der Delinquent die Strafvorschriften zu übertreten, wurde er an der Ausfüh­rung durch Lähmung seines Gehirns und seiner Nerven gehindert, oder es gab als härteste Strafe Solotanentzug. Verloren war, wer versehentlich ein logisch widersprüchliches Strafprogramm erhielt, wer also beispielsweise sich zur gleichen Zeit strafweise an zwei verschiedenen Or­ten aufhalten mußte, ihm stand die elektronische Paralyse bevor, die Dauerlähmung. Alle, die sich nicht im Dienst des Staates oder einer gesellschaftlich nützlichen Orga­nisation befanden, welche also nicht unter Kontrolle standen und niemandes Eigen­tum waren,  wurden unter Sonderrecht gestellt, d.h., da ihnen ohnehin keine Rechte zuerkannt wurden, konnten ihnen auch keine Rechte entzogen werden. Personen dieser Kategorie ging man an die Substanz der Existenz. Entweder wurde ihnen strafweise die Erinnerung gelöscht oder bestimmte Gehirnfunktionen paralysiert, falls man sie nicht als staatsfeindliche Subjekte gänzlich liquidierte.

Wie Leda und R1 bei der komplizierten Entschlüsselung der vom Forschungsleiter aufgesaugten Gehirninformationen erfuhren, hatte der Biomeister sich einer Anzahl Prostituierter bedient, denen gegenüber er seine Erfolge bei den waffentechnischen Bioexperimenten ausplauderte. Die Prostituierten verkehrten geschäftlich in einem anrüchigen Etablissement namens Outside-Bar, wo auch verdächtige Kulturveranstal­tungen, insbesondere illegale Musikdarbietungen, aufgeführt wurden.  

„Unmöglich ist es, einem Polizeiroboter zu trauen, den man nicht selbst nach seinen Interessen umprogrammiert hat“, erläuterte R1, als sie an einem Automaten herum­schraubte, während Leda sich vom Zentralcomputer wichtige Informationen über die ortsüblichen Verhältnisse rund um die Outside-Bar überspielte, um sich auf das Be­treten des unsicheren und schwer zu kontrollierenden Slumgebiets vorzubereiten.

 

 

(3) Auszug aus R1,Teil II, S. 90-92

 

R1, die Gefallen an ihrer Maskierung gefunden hatte, begab sich im Solotanflieger zum Flugschrauberparkplatz vor dem Weltregierungssitz. Dort fummelte und schraubte sie an ihrem Holographen herum, bis sich aus der Hologrammaske ein Gesicht herauskristallisierte, das Lyra ähnelte. R1 drehte die Maske von ihrem Kopf weg und um ihre Achse, daß sie ihr ins Gesicht sehen konnte, veränderte die Einstel­lung bis zu ihrer Zufriedenheit und stülpte sich die Projektion wieder über. So ver­wandelt, verließ sie den Parkplatz, schlenderte auf der Straße vor dem Weltregie­rungssitz umher und beobachtete das Weltstadttreiben. Irgendwie schien alles anders zu sein, altmodischer. Zwar hetzte die Mehrzahl der Menschen wie anderswo auch durch die Straßen, aber ab und an standen einige vor großen Fensterscheiben, hinter denen Gebrauchsgegenstände ausgelegt waren. Da­neben entdeckte R1 einen Geschäftsbetrieb, wo Stühle und Tische auf den Fußgän­gerweg gestellt worden waren und wo verschiedentliche Personen sich hinsetzten, einfach ausruhten und  Getränke einnahmen. R1 assoziierte Verhaltensähnlichkeiten mit den Weggeworfenen in den Elendsvierteln außerhalb aller staatlichen Ordnung. Sie beobachtete weiter, daß die Bevölkerung nur zu geringen Teilen berufstypische Uniformen trug, aber einige hatten elektronische Fußfesseln, die sie merkwürdig zur Schau stellten, als wären sie beachtenswert.

R1 beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen und nahm neben einem jungen Mann am Tisch Platz. Sogleich kam ein Bediensteter  herbeigeeilt und fragte nach einem Wunsch.

„Ich trinke von dem Koffeinsud, den auch mein Nachbar zu sich nimmt.“ R1 setzte ein freundliches Lyragesicht auf und drehte sich zum Kaffeetrinker. „Entschuldigen Sie, ich bin hier fremd und würde Sie gern um ein paar Auskünfte bitten. Die Stadtbewoh­ner benehmen sich recht eigenartig. Beispielsweise haben sie die Angewohnheit, ihre Fußfesseln zur Schau zu stellen und auf den Straßen in asozialer Weise herumzu­lungern. Wie erklären sich diese Eigenwilligkeiten mitten in der Großstadt?“

Der junge Mann antwortete freundlich: „Wir sind eine nostalgische Bevölkerung; wir haben hier Demokratie. Wir wählen unsere Regierung und tauschen sie alle fünf Jahre aus. Im letzten Jahr wählten wir eine Regierung der Nostalgiker, die das System der au­tomatischen Polizei reformierte, indem sie von der Technik der strikten Hirnfesselung abrückte und auf die liberale Errungenschaft der nostalgischen Fußfesselung zurück­griff. Seit dieser revolutionären Änderung des Kontrollsystems lebt eine große Anzahl des Volkes unter der Freiheit der elektronischen Fußfessel. Nur unverbesserliche Faulpelze und Querulanten müssen weiter hirngefesselt werden. Wir können jetzt als normale Bürger auf den Straßen herumspazieren oder vor uns hindösen ohne Furcht, sofort von der automatischen Justiz paralysiert zu werden. Auch als Eigentum unserer Arbeitgeber sind wir einfachen Leute nun im Besitz des Rechts auf freie Zeit, wo wir freien Auslauf genießen dürfen.“

„Diese Liberalität der Fußfessel macht Sie glücklich, stimmt’s?“ versuchte R1 die Gemütslage ihres Gesprächspartners noch tiefer zu ergründen, „Sie tragen gerne ihre Fußfessel.“

„Wir sind stolz darauf“, entgegnete der junge Mann begeistert, „darum tragen wir un­ser Privileg auch offen nach der neuesten Mode, mit einem Goldkettchen drum herum geschnürt.“

Der junge Mann hob sein Bein mit der elektronischen Fessel  und placierte es auf den Tisch. Der Kellner, der mit dem Kaffee kam, erkannte die Situa­tion und stellte auch seinen Fuß mit Goldkettchen und Fessel auf den Tisch.

„Ah, jetzt verstehe ich, was Demokratie ist“, nickte R1 und beobachtete befriedigt aus dem Augenwinkel, wie der Obersolotan sich hoch oben von der Besucherplattform des Regierungsgebäudes in den Tod stürzte, „Demokratie ist, wenn man seine Fuß­fessel mit Goldkettchen trägt.“

R1 trank den Kaffee, bezahlte mit 3/10 Solotaneinhei­ten und ging zum nächsten Taxi, um sich zum Raumflughafen fahren zu lassen.

Die gestrichene Hitler-Passage

 

Auszug aus der gestrichenen Hitler-Passage

 

(Die Hitler-Passage geht von dem Grundgedanken aus, was auf keinen Fall gesagt werden darf. Sie wurde natürlich nie wirklich gestrichen.^^)

 

(Der Präsident aller Geheimdienste:)  Ich gebe Ihnen einen kleinen Einblick in meine Kunstwelt. Schauen Sie, hier habe ich ein historisches Objekt des frühen Wissenschaftszeitalters, die berühmte Feldher­renmütze des ‘Deutschen Führers’, der den zweiten Weltkrieg führte. Eine Ikone des 20. Jahrhunderts.

Ich werde die Mütze für Sie aufsetzen. Na? Wie steht sie mir?"

(Leda:) „Exzellenz, ich bin beeindruckt. Das Devotionalienbildchen daneben ist doch nicht etwa...?“

„Ja, Sie haben mich durchschaut. Ein originales Hitlerfoto, eingekastelt in einem Heiligenschrein im Stil des 21. Jahrhunderts.

Hitler, ein berühmter Rasse- und Sozialhygieniker des frühen Wissenschaftszeitalters und erster Eugeniker im Sinne der modernen politökonomischen Eugenik des 21. Jahrhunderts, der zu seinen Lebzeiten von seinen Zeitgenossen wie ein Teufel ge­haßt wurde, mußte im 21. Jahrhundert - im Zuge des technischen Fortschritts -zwangsläufig zum Gott aufsteigen. Hitler ein Gott des 21. Jahrhunderts.

Die Prinzipien seiner Eugenik haben heutzutage allgemein verbindlichen Charakter. Im 20. Jahrhundert - in den Anfängen des Wissenschaftszeitalters - glaubte man nicht an eine ideale Züchtung des Menschen, man glaubte an die Moral der Sozial­versicherung. Die Sozialversicherung war heilig, die Züchtung des Höheren war des Teufels. Die Moral des 20. Jahrhunderts.

Wie Sie wissen, verlor Hitler den Krieg, und die Teutschen verloren ihre Zukunft. Heute sind die Teutschen praktisch, von sozialhygienischem Standpunkt betrachtet, eine Rand­erscheinung, also praktisch ausgestorben; allein das Bild von Hitler lebt in uns fort. Das hat Gründe. Der Glaube an die Moral der Mangelwirtschaft wechselseitiger Sozial­versiche­rungen - das sozialistische Gleichmachergeschäft - machte die Teutschen nicht nur alle gleich, sondern ließ sie notwendig genetisch verschweinen. Alles wurde klein, schwei­nisch, minderwertig, Medikamente aus synthetisch verschweinten Menschengen-Züch­tun­gen, Organ-Ersatzteile für Patienten, hergestellt aus gentechnischen Schweinezüch­tungen, mutierter Schweinefraß für die Konsumenten, alles mußte niedrig und be­zahlbar sein, alles mußte auf unterstem Level gleich und billig sein, antieugenisch, antiselektiv. Allein die Privilegierten, die Machtmenschen und die skrupellosen Super­reichen hatten das rassehygienisch einwandfreie Bild des idealen Menschen vor Au­gen.

Sie wollten nicht nur superreich sein, sie wollten ewigen Besitz und ewiges Leben. Damit wurde der Keim des Ideals gesetzt. Sie klonten sich erfolgreich und dehnten ihre Exi­stenz ins Unermeßliche, um endlich, nach Maßgabe wissenschaftlicher Er­kenntnis der Aufschlüsselung aller genetischen Eigenschaften, die Moral der techni­schen Idealzüch­tung hervorzubringen. Man klonte nicht nur, man schaffte Idealklone.

Die neue Rasse der Privilegierten und Superreichen wollte nicht nur ewig leben, sie wollte dabei auch grenzenlos glücklich und vollkommen sein. Nur im Streben nach Vollkommenheit ist Überleben möglich.

Doch Hitler, der heilige Prophet, galt nach seinem Tod im eigenen Lande nichts. Heute sind die Teutschen und ihre ignorante Moral faktisch aus dem Spiel. Nur ab und an, ganz selten, wenn wir einem grunzenden Schwein mit ein paar Mikrochips im Hirn begegnen, heißt es noch: ein Teutscher.

Sie verstehen meine Botschaft, ja?“

„Gewiß, Exzellenz.“

„Ich verlange Härte, rigoroses Vorgehen und unerbittliche Pflichterfüllung. Sie gehen bis ans Ende, klar?“

„Danke, Exzellenz, für die Belehrung. Wie lautet mein Vernichtungsauftrag?“

„Angriff auf die Götter des Solotan-Konzerns.“

„Ein Himmelfahrtskommando.“

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Viel Spaß beim Lesen

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