Die bunten Lichter rings um das Einkaufszentrum leuchteten in allen Farben. Auch sie konnten die aufsteigende Kälte des Dezemberabends nicht aufhalten. Leo hatte den Mantelkragen aufgestellt und wärmte sich die Finger an einer heißen Tasse Glühwein. An ihm strömten die Einkaufswilligen in das Zentrum und auf der anderen Seite drängelten sich die Menschen um den Getränkestand.
Warum muss man sich das jedes Jahr aufs Neue antun?
Leo schüttelte leicht den Kopf, als er zwei Frauen erblickte. Die Ältere ging gebeugt an einem Stock und die Jüngere zog sie an ihrem Ärmel in den Eingangsbereich des Zentrums. „Komm schon, Oma, wir haben nicht so viel Zeit.“, hörte er die Jüngere genervt sagen.
Klar Oma, komm schon, dein dicker Geldbeutel muss geleert werden und mein Kleiderschrank gehört aufgefüllt. Als ob Oma eine Bank ausgeraubt hätte und das Geld dringend verteilen müsste, bevor sie als Bankräuberin verurteilt werden würde.
„Wir haben in diesem Jahr 23 Sorten Plätzchen gebacken. Meine Kinder mögen schon fast keine mehr.“, vernahm Leo die Mutter mit den Einkaufstüten zu ihrer Freundin sagen, die am Tisch neben ihm standen.
Na, dann denk‘ doch mal als Weihnachtsgeschenk über ein Sportgerät für die Kinder nach.
„Wir haben in diesem Jahr zwar nicht gebacken, aber dafür müssen wir schon jetzt unsere Kühltruhen für das Fest befüllen. Die Weihnachtsbeleuchtung muss montiert werden. Das wird die Stromrechnung wieder in die Höhe treiben und unsere Kinder wollen in diesem Jahr unserem Kater ein besonderes Katzenfutter kreieren. Du weißt ja, welchen Stress wir als Mütter immer zu dieser Zeit haben.“, erwiderte die Andere.
Haben Mütter nicht immer und zu jeder Zeit Stress? Wie definieren Mütter eigentlich Stress?
Ein Pärchen fand sich am selben Tisch ein, an dem die Mütter gestanden hatten, die nun ihren Weihnachtsvorbereitungen nachgehen mussten. Er blickte ihr liebevoll in die Augen und fragte sie, was sie trinken möchte. Sie blickte ihn verliebt an und hauchte ihm etwas ins Ohr.
Eigentlich könntet ihr auch Wasser trinken. Für euch zwei Verliebte wäre es Wein.
„Bitte sei vorsichtig. Es ist heiß.“ Mit diesen gesäuselten Worten stellte er die dampfende Tasse vor sie. Sie schob die Hand vorsichtig über den Tisch. Wie zufällig legte er seine auf ihre. „Wir müssen vorsichtig sein, damit uns keiner gemeinsam sieht.“
Und dann geht ihr gerade an einen so belebten Platz? Stimmt. Hier ist ja außer Euch niemand. Und eure wahren Partner würden niemals auf die Idee kommen, einen Glühwein zu trinken oder für eure untreuen Seelen ein wunderbares Geschenk zu kaufen, weil sie euch wahrscheinlich lieben und keine Ahnung von eurer Affäre haben.
Leo wollte den Turteltauben nicht mehr länger zuschauen. Deshalb wandte er seinen Blick zur Tür des Einkaufszentrums. Ein kleiner Junge stand in der Tür und stampfte trotzig mit den Füßen auf den Boden. „Komm’ bitte mit nach draußen. Ich kaufe dir auch gleich ein paar leckere Plätzchen.“, versuchte die junge Mutter ihr Kind zu beschwichtigen. „Keine Plätzchen, ich will das Piratenschiff.“, kreischte der Junge zurück. Einem hysterischen Anfall nahe und mit der größten Kraftanstrengung, schaffte es die Frau, den Kleinen nach draußen an den Plätzchenstand zu ziehen.
Deshalb nimmt man keine Kinder zum Einkaufen mit. Na, junge Mutter, war das dein erster Erpressungsversuch deines Jungen?
Die Gruppe von Jungendlichen, die sich vor Leo zusammengefunden hatte, diskutierte gerade darüber, wo sie nach der Bescherung an Heilig Abend zum Feiern gehen und wie sie sich am Besten aus dem Kreise der Familie schleichen konnten.
Wir hatten damals auch mehr Lust auf Party als auf Familienstreit.
Gerade als sich Leo die zweite Tasse Glühwein holen wollte, klingelte sein Mobiltelefon. Er sah auf das Display und drückte den Anruf einfach weg. Es schrieb eine kurze Mitteilung: „Marie wir werden uns ab heute nicht mehr sehen. Es ist Schluss. Tut mir Leid, aber ich kann nicht mehr.“
Nicht gerade höflich, aber effektiv.
Er blickte sich im Trubel um. In diesem Augenblick hörte er eine zarte Kinderstimme rufen: „Papa, Papa. Wir sind hier.“ Das kleine Mädchen, welches sich aus der Umklammerung der Hand der bezaubernden Frau befreite, rannte auf ihn zu. „Papa, Papa, wir können gleich alle einkaufen gehen. Benjamin bringt Oma mit dem Auto bis vor die Tür. Das ist doch lieb, oder?“ Leo blickte in zwei leuchtende Kinderaugen, hob seine Tochter hoch und umarmte sie innig. Seiner Frau gab er einen herzlichen Begrüßungskuss. Als sein Sohn und seine Mutter eingetroffen waren, schlug Leo vor, erst einmal zum Abendessen zu gehen. Alle blickten ihn fragend an. „Was haltet ihr davon, wenn wir dieses Jahr über die Weihnachtsfeiertage eine Reise unternehmen. Kein Geld ausgeben, für unwichtige Geschenke. Keine Völlerei durch Plätzchen und dergleichen. Keinen Stress für Mama. Kein Streit und jeder sollte Spaß haben.“ Das Reisebüro war die einzige Abteilung, die sie im Einkaufszentrum aufsuchten.
Es war dunkel, der Schnee rieselte sanft in dicken Flocken und legte sich, einem Teppich gleich, auf die Hügel. Leo stand am großen Panoramafenster und schaute in die harmonische Landschaft. Seine Frau trat neben ihn und lehnte sich an seine Schulter. Den Arm um sie legend, flüsterte er: „Es ist schön eine so wunderbare Familie zu haben.“ Aus dem Hintergrund konnten sie ihre Tochter hören, die ihre Oma und ihren Bruder aufmunterte, eine nächste Geschichte zu spielen. Leo blickte sich zu Benjamin um: „Wann gehst du zur Party?“ „Papa, wenn ich der Wolf sein soll, dann muss ich leider hier bleiben. Morgen kann ich auch noch feiern gehen.“ Zwinkernd gab er ein Lächeln zurück. „Wir brauchen aber auch noch eine gute Fee und einen bösen Zauberer.“
Frohe Weihnachten.
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2011
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