Cover

Hinweise

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

 

Die Ortsnamen auf Rode haben nichts mit den gleichnamigen realen Orten gemeinsam. Es soll auch kein Hinweis darauf sein, wo die Geschichte spielt. Der einzige geographische Bezug ist die Nähe zu Frankfurt. Die Main-Metropole können die Bewohner Nieder-, Ober- und Unterrodens in einer guten Autostunde erreichen, aus welcher Himmelsrichtung bleibt jedoch unbekannt.

 

Weder sagt die Geschichte etwas über die temporale Orientierung des Covermodels aus, noch die Farben der Erscheinungen etwas über deren politische Einstellung.

 

Die Geschichte ist nicht geeignet für Personen, die positiv zu streng religiösen oder negativ zu gleichgeschlechtlichen Lebensmodellen eingestellt sind.

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07:45 – Esszimmer

 

„Du kennst ihn seit einer Woche und bist kaum noch hier“, klagte Christa.

„Neun Tage“, stellte Bruno richtig. „Silvester war Dienstag, also gestern vor einer Woche.“

„Entschuldige! Das ändert natürlich alles.“

„Wenn er arbeitet, bin ich hier...“

„...und ich sitze im Keller und habe keine Zeit für dich. Apropos Sitzen – warum stehst du die ganze Zeit?“

Bruno setzte sich. Langsam und mit einigen seltsamen Verrenkungen. Christa schürzte die Lippen. „Und?“, fragte sie langgezogen. „Hat es dir gefallen?“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

Christa rutschte etwas auf ihrem Platz herum und tat so, als hätte sie Schmerzen. Bruno lief rot an.

„Du bist … EINE Woche … hier und lässt dich von meinem Nachbarn flachlegen! Bruno, du bist verheiratet … vergiss es – schlechtes Argument.“

Sie wartete, ob Bruno etwas erwiderte, doch er war mit dem Sortieren seiner Finger beschäftigt. Sie war froh, den Spiegel über der Anrichte abgehängt zu haben. Seit einigen Tagen litt sie bei Stress an der fixen Idee, zwei Spiegelbilder würden sie mit nicht vereinbaren Vorschlägen belästigen.

„Ich gönne es dir“, beendete sie schließlich das Schweigen. „Und ich gönne es Norbert. Lasst uns heute Abend ein bisschen quatschen. Ich will doch nur wissen, wie es weitergeht.“

Wie sie Bruno kannte, brauchte er etwas Zeit, bevor er reagieren konnte.Leise verließ sie dasEsszimmer.


07:50 – Esszimmer

 

Bruno blieb sitzen. Sein Leben war ein Trümmerfeld. Auch wenn es sich nicht so tragisch anfühlte. Mit seiner Cousine verband ihn noch immer die alte Vertrautheit. Und zwischen Norbert und ihm hatte sich diese Verbundenheit eingestellt. Über die Erscheinungen hatten sie nicht gesprochen. Norbert wollte ständig weitere Details wissen, vergaß nichts, hakte Tage später noch nach, weil er noch Lücken in Brunos Erzählungen entdeckt hatte. Manches war peinlich, vieles ergab einfach keinen Sinn mehr, wenn es nur von nie hinterfragten Annahmen gestützt wurde. Die Ehe und seine Haltung zu dem Kind waren eine Farce. Er hatte sich sogar in eine heilige Vorstellung von sich selbst gesteigert. Die keusche Hilfe für das Kind aus dem Leib seiner sündigen Mutter. Nur so hatten die Zweifel einen Sinn ergeben. Einen Sinn in Bestätigung des Lebens, das er bis zu dem verhängnisvollen Tag in Frankfurt geführt hatte. Ein Leben, das in wenigen Minuten zersplittert war. Niemand in der Gemeinde durfte davon erfahren. Obwohl sein heimlicher Kontakt zu Christa in den letzten Jahren fast abgerissen war, wusste er außer ihr keinen Menschen, dem er sich anvertrauen durfte. Doch als er hier eintraf, war wegen der bevorstehenden Feier keine Zeit und in ihrem Verlauf traf er Norbert. Die Bowle, der Kuss, seine durcheinander purzelnden Wünsche und Ängste. Das erste Mal in seinem Leben war er betrunken gewesen.

Dann hatten ihn wirre Träume geplagt. In ihnen stritt er mit sich selbst, während er reglos und stumm auf dem Bett lag. Eines seiner Abbilder verteidigte die Lehren der Gemeinde, das andere wollte sich den Frankfurter Versuchungen ergeben. Mit Norbert, der ihn mit diesem brutalen Kuss dazu eingeladen hatte. Kalte, gefühllose Wollust sollte die Antwort auf kalte gefühllose Lehren sein. Während seine Ebenbilder stritten, erschien ein nebelhaftes Abbild von Norbert und Bruno wusste plötzlich, dass ihm das Wichtigste in seinem Leben entglitt.

Er hatte Norbert in seinem Haus gefunden. Nach zwei Schlägen auf den Rücken war das Fruchtstück, an dem er zu ersticken drohte, draußen. Ihre Ebenbilder waren miteinander verschmolzen und hatten sich aufgelöst. Die Verbundenheit erfüllte ihn seit diesem Augenblick. Das wusste auch Norbert, obwohl sie nie über die Erscheinungen gesprochen hatten. Dabei würde es auch bleiben, denn wie wollte er begründen, sie so lange verschwiegen zu haben.

Seine eigenen vermisste Bruno. Die blaue Erscheinung hatte für sein altes Leben gesprochen und ohne die Haltung der roten wäre ihm sein jetziger Weg verwehrt geblieben. Konnten Schutzengel so widersprüchlich sein? Waren es überhaupt Schutzengel oder eher Dämonen? Ein blauer Schutzengel und eine roter Dämon ergaben auch keinen Sinn. Die täglich wachsende Nähe zu Norbert war wunderbar. Wie sollte es das Werk eines Dämons sein? Doch sobald sie auseinandergingen, schoben sich Zweifel und dunkle Gedanken in den Vordergrund. Wie konnten solche Schatten das Werk eines Schutzengels sein? Egal, wie sehr er sich bemühte. Er konnte die vielen Gegensätze nicht fassen. Die Erscheinungen hatten ihnen Ausdruck verliehen. Wie sollte er nun ganz allein Entscheidungen treffen?


08:05 – Eingang

 

Jemand klingelte. Bruno wollte öffnen, aber seine Cousine war schneller.

„Das muss schnell gehen! Die Mütter vom Großen warten in Unterroden.“

„Dir auch einen guten Morgen, Franz, und du kennst den Weg.“

„Ja, ja, Moin Chrissy. Ich...“ Franz starrte Bruno an. „Du bist noch da? Nach dem, was er dir angetan hat?“

„Angetan?“, fragte Chrissy. „Wer, was?“

„Ja, also … Norbert … ihm. Vorgestern...“

„Franz!“

„Man, die Leute reden über nichts anderes. Norbert hat Bruno vorgestern vergewaltigt...“

„Bruno?“

„Nein! Ich … vorgestern, es ist peinlich, aber wir … also ich ...“

„Schon klar“, unterbrach Franz, „wenn ihr demnächst eure SM-Spielchen treibt, macht die Fenster zu!“

„SM-Spielchen?“ Bruno kannte den Ausdruck nicht.

„Man, hinter welchem Mond hast du den denn vorgelockt?“, wollte Franz von Chrissy wissen, lief dann aber zum Keller. „Vergiss es. Ich bin an deinem PC.“


08:08 – Esszimmer

 

Chrissy hatte Bruno mühsam so viele Details entlockt, dass sie ungefähr wusste, was passiert war. Das Gerücht konnte tatsächlich im Umlauf sein. Zumindest nach den verräterischen Ausrufen, die Bruno zugegeben hatte. Wie auch immer, es zeichnete sich ein anstrengender Tag ab. Sobald Franz ihren PC flott gemacht hatte, musste sie arbeiten. Nebenbei aufpassen, dass Bruno keinen Blödsinn machte, etwa indem er Norbert von dem Gerücht erzählte. Wenn die Anrufe nicht in so kurzen Abständen kamen, konnte sie einige Leute wegen der Geschichte antexten. Sie hatte keinen Zweifel, wer Zeuge eines Vorgangs gewesen war, der mit wenig Phantasie zu einer Vergewaltigung mutiert war. Nicht, dass sie wegen eines blauen Auges empört wäre. Zumindest nicht in diesem Fall. Schließlich hatte diese Person Chrissies schlimmstes Erlebnis mit falschen Behauptungen ins Unerträgliche gesteigert und so gleich mehreren ihrer Freunde das Leben vergiftet. Auch Norbert war später eines der Opfer, was er allerdings noch nicht wusste. Sollte er jetzt die Zusammenhänge erfahren, drohte mehr als ein blaues Auge. Den danach unvermeidlichen Ärger wollte sie ihm und allen anderen ersparen. Sie brauchte einen Plan. Als erstes musste sie Bruno aus den Füßen haben.

„Dich muss das ganze ziemlich belasten“, begann sie und beugte sich für ihren Harmloses-Mädchen-Blick vor. Bei Männern wirkte das eigentlich immer. Auch bei Bruno, hoffte sie, schließlich stand er inzwischen auf Männer. „Was hältst du davon, wenn du das alles aufschreibst. Wie ins Tagebuch, erst nur für dich, aber wenn du irgendwann magst, schaue ich es mir an?“

Bruno zögerte, nickte dann aber. Chrissy lächelte ihn mütterlich an. Nein, sie konnte ihn nicht mehr so beeinflussen wie früher. Umso dankbarer war sie, ihn diesmal erreicht zu haben. Noch immer hatte sie das Bedürfnis, ihm gegenüber der Verantwortung einer älteren Schwester gerecht zu werden. Sie reichte ihm einen Block und Stift von der Anrichte. Schwerfällig erhob er sich. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf verließ er den Raum. Chrissy hatte Zweifel, ob er wirklich etwas zu Papier brachte, hoffte jedoch, er würde wenigstens wie früher einige Stunden vor sich hinbrüten. Sie folgte in den Flur, und als sich die Tür des Gästezimmers schloss, überprüfte sie sofort ihr Smartphone. Tatsächlich waren mehrere Mitteilungen zu dem Gerücht eingegangen. Auch Norberts Geschäftspartnerinnen waren informiert. Bei all dem Chaos war wenigstens das eine gute Nachricht. ‚Mieses Missverständnis! Weiß ich von Bruno. Beruhigt Norbert, Rest später‘, schickte sie als Antwort, dann eilte sie zu ihrem Büro im Keller.

Bereits auf der Treppe hörte sie abwechselnd Klappern der Tastatur und Mausklicks. Die Tür war nur angelehnt. Sie wollte sie aufstoßen, als Franz vor sich hinmurmelte. Wenn ihn etwas ärgerte, polterte er gern. Dann ließ er alles andere stehen und liegen. Sobald er Dampf abgelassen hatte, machte er weiter als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Doch nun klickte und tippte er und murmelte gleichzeitig genervt vor sich hin. Irgendetwas stimmte hier nicht. Vorsichtig schob Chrissy die Tür etwas weiter auf.

2


08:08 – Chrissies Büro

 

Seit einem halben Jahr führte dieselbe Aufgabe Franz in Chrissies Keller. Eigentlich war es mittlerweile Routine, aber dieses Mal graute ihm davor. Torben saß garantiert schon im Auto. Die Jungs auf der Rückbank machten, was sie wollten. Statt die beiden zu beschäftigen oder auch nur zur Ruhe zu ermahnen, staute Torben Frust auf, den er dann an ihm ausließ. Vor den Jungs gab es dann nur ein paar spitze Bemerkungen, etwas Schmollen und später schnauzten sie sich vielleicht an, doch dann war Ruhe. Es war längst nicht mehr so heftig wie im ersten Jahr ihrer Beziehung. Niemand hatte auf ihren ersten Jahrestag gewettet. Nun waren sie zwei Jahre verheiratet, davor drei Jahre verpartnert und sie hatten zwei Jungs, die bald in den Kindergarten kamen. Auch das hatte sich nach turbulenten und bei dem kleineren sogar tragischen Ereignissen ergeben.

Die Mütter des Großen waren plötzlich mit der Wahl des Kindergartens nicht einverstanden. Dabei hatten sie nach der Geburt feststellt, lieber nur Töchter aufziehen zu wollen. Die Samenspende kam von ihm und Torben, in der Gewissheit, nur gelegentlichen Kontakt zu dem Kind zu haben. Die Absprache sah lediglich vor, dass einer von ihnen den Paten machte. Nach dem Bruch der Absprache hatte sich das Jugendamt darauf eingelassen, das Kind einer lesbischen Mutter mit unbekanntem Vater bei einem schwulen verpartnerten Paar in Langzeitpflege zu geben. Dass einer der beiden der biologische Vater war, blieb ein Geheimnis. Auch das Drama um den Kleinen wurde, zum Wohl des Kindes, mit Lügen verschleiert. All die Geheimnisse belasteten die Beteiligten seit Jahren. Jetzt hatte die leibliche Mutter des Großen obendrein und gegen die Absprachen einen Abstammungstest machen lassen, um gezielt den biologischen Vater unter Druck setzen zu können - wegen des falschen konfessionellen Kindergartens. Die lesbische Mutter eines Knaben, der bei schwulen Väter aufwuchs, wollte, dass der verschmähte Sohn in einen traditionell katholischen Kindergarten ging. Das Treffen stand für heute an. Wenn Franz der Vater war und neben der Verheimlichung der Samenspende auch noch herauskam, dass ihn seit dem Absturz auf der Silvesterparty Halluzinationen heimsuchten, wurde ihnen das Kind sofort weggenommen. Das alles war bereits mehr als genug Stress. Dann noch das blöde Vergewaltigungsgerücht. Warum musste Bruno auch hier sein und warum konnte er selbst nicht einfach die Klappe halten. Natürlich kannte Franz den Grund. Überflüssigerweise hatte sich ein Wortwechsel mit Isi ergeben. Seit Jahren schaffte sie es, ihn mit ihren Andeutungen zu verunsichern. Zu viele Probleme gleichzeitig. Mal wieder.

In Chrissies Büro erwartet ihn eine angenehme Überraschung. Vor dem Fenster hing endlich eine Übergardine, und sie war auch noch zugezogen. Franz fuhr den PC hoch und hangelte sich so schnell wie möglich durch die Einstellungen. Wie erwartet, hatte die Callcenter-Software von Chrissies Arbeitgebers mal wieder mit einer Aktualisierung das System verbogen. Auch so ein sich wiederholender Stressfaktor. Entweder man musste es regelmäßig reparieren oder in die höherwertige Ausgabe des Betriebssystems installieren. Den Vortrag hatte er im alten Jahr mehrmals gehalten. Chrissy war einfache Anwenderin und mit der Entscheidung überfordert. Aber der Administrator des Callcenters war ein absolut arrogantes Arschloch. Egal, welche Argumente er ihm geschickt hatte, er hatte sie ignoriert und Chrissy einfach das Upgrade verweigert. Aber das war heute nicht das herausragende Problem. Aus den Augenwinkeln nahm er am rechten und linken Rand des breiten Displays seine grüne und seine blaue Halluzination wahr. Im Fenster wäre es schwieriger gewesen, sie zu ignorieren.

„Das passt euch nicht, was?“, murmelte er. „Verdreht ruhig die Augen. Ich habe keine Lust auf Psychodoc, weil ich Selbstgespräche führe.“

08:16 – Bad

 

Chrissy wandte sich vorsichtig ab. Wie beim einem Horrorfilm kroch ein unheilvolle Ahnung ihre Wirbelsäule herauf. So zügig wie möglich schlich sie ins Badezimmer.

Mit gesenktem Blick trat sie an den Waschtisch. Bürste und Kamm auf der linken Seite schob sie nach hinten, damit sie davor ein Handtuch ablegen konnte. Den ausgezogenen Pulli warf sie auf die rechte Ablage. Das Fließen des kalten Wassers beruhigte sie ein wenig. Schnell hatte sie die Haare zusammengefasst und hielt sie fest, während sie sich mit der anderen Hand Wasser ins Gesicht warf.Es tat Chrissy gut. Bei Franz‘ Bemerkungen glaubte sie im ersten Moment, er hätte Bekanntschaft mit ihren Spiegelbildern gemacht.Natürlich konnte sie auf deren Gesellschaft verzichten, es wäre ihr aber äußerst unangenehm, wenn andere davon erfuhren. Jetzt hielt sie das ganze schon für so real, dass sie dachte, es würden auch andere wahrnehmen.

Um noch etwas von ihren Spiegelbildern verschont zu bleiben, hielt sie ihre Augen geschlossen. Nachdem Franz etwas hinaufgerufen hatte, fiel die Haustür ins Schloss. Sie musste ihn nicht verstehen. Er war fertig, teilte es dem Universum mit und ging. So war er nun einmal. Außerdem war sie dankbar, weil er vor dem unerfreulichen Termin mit Max’ biologischer Mutter den PC reparierte. Sie hangelte nach dem Handtuch. Vorsichtig tupfte sie ihre Augen und das Gesicht trocken. Es war schwierig, es mit einer Hand über der Schulter auszubreiten. Doch schließlich konnte sie ihre Haare loslassen und sich etwas entspannen.

Noch immer mit geschlossenen Augen tastete sie nach den bereitgelegten Gegenständen. Bevor sie die Bürste gefunden hatte, wurde erneut geklingelt. Sie überlegte, was Franz wohl vergessen hatte, und öffnete die Augen.

Sofort bildete sich auf der einen Seite der bläuliche und auf der anderen der rötliche Schimmer. Über ihre Schulter traf ihr Blick Brunos. Die Anspannung wegen der Spiegelbilder verhinderte, erschrocken zusammenzuzucken.

‚Willst du ihn nicht fragen, ob er uns den schrecklich verspannten Rücken massieren mag?‘, säuselte das blaue.

‚Es ist inakzeptabel, Teil desselben Menschen zu sein wie du‘, erwiderte das rote verächtlich.

‚Warum stichst du dir mit deinen spitzen Ohren nicht einfach die Augen aus?‘

‚Du bist unlogisch.‘

‚Und du vermasselst uns ständig den Spaß!‘

‚Spaß? War es auch Spaß, was die Narben hinterlassen hat? Vor allem die nicht sichtbaren?‘

Das blaue Spiegelbild schaute beleidigt zur anderen Seite und verblasste.

Das rote sah Chrissy direkt an: ‚Dachtest du wirklich, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu habe?‘, fragte es und verblasste ebenfalls.

Chrissy war diese Auseinandersetzungen leid. Wäre sie allein mit den Spiegelbildern, würde sie sich auf eine weitere sinnfremde Diskussion mit ihnen einlassen. Streit und stochern in der Vergangenheit waren jedes Mal ermüdend. In Brunos Gegenwart schweigen zu müssen, war jedoch zermürbend.

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08:12 – Gästezimmer

 

Der Rollladen am Fenster war erst halb hochgezogen. Das spärliche Tageslicht wurde nur von einer schwachen Lampe über dem Bett unterstützt. Für Bruno war es hell genug. Stift und Block hatte er achtlos beiseite gelegt. Er blätterte in seinem Tagebuch. Wie so oft in den vergangenen Wochen. Nein, wie so oft in den vergangenen Monaten. Nur die Stellen, die er wiederholt nachschlug, waren andere. In diesem Moment war wieder der erste Eintrag aufgeschlagen. Bruno kannte ihn auswendig: ‚Vater war noch nie so wütend. Auf Christa. Dabei war ich kaputt. Nach der Schule schlief ich. Beim Wachwerden war eine Stange in meiner Hose. Ich wollte sie doch nur rausziehen, aber sie war fest. Und so ein komisches Gefühl. Ich habe immer fester gezogen, aber es fühlte sich immer besser an. Ich hatte Angst. Dabei war das Gefühl ganz toll und plötzlich noch toller und dann war ich nass. Da wusste ich, was das war. So holt sich der Teufel Jungs. Christa sollte doch nur helfen, damit mich der Teufel nicht holt. Christa fand das lustig. Sie hat gelacht. Alle Jungs haben das und keinen hat der Teufel geholt, hat sie gesagt. Und mich auf den Schoß genommen und umarmt. Ich musste weinen, dann kam Vater und hat mich runtergerissen. Er hat auf meine Hose gestarrt. Dann hat er mich ausgezogen und unter kaltes Wasser gestellt. Ganz lange. Christa habe ich noch einmal gesehen. Sie wurde gezüchtigt. Ihr Vater zerrte sie weg. Ich darf nicht von ihr reden. Sie hat immer gesagt, ich soll alles Wichtige und Schlimme in mein Tagebuch schreiben. Das fand ich blöd. Ich erzähle Christa doch alles. Heute nicht mehr. Jetzt muss ich aufschreiben, was ich Christa nicht erzählen kann. Ich will nicht, dass sie uns züchtigen. Du hast doch nur gelacht. Eine Ohrfeige vielleicht. Ich war doch gar nicht wütend. Wo bist du? Ich bin so allein.‘

Das Ereignis lag 9 Jahre in der Vergangenheit. Wenige Wochen später, zu seinem 14. Geburtstag, hatte er einen Zettel in seiner Frühstücksdose gefunden. Während der Sportstunde war sie in die Schule und in die Jungenumkleide geschlichen, um ihm eine Telefonnummer zuzustecken. Der Zettel hatte lange zwischen dem ersten Eintrag in seinem Tagebuch und dem zweiten geklebt. Solange, bis er die Nummer auswendig wusste. Nur ein Fleck und trockener Rest des Klebers erinnerten daran.

‚Ich habe mit Christa telefoniert. Sie ist mir nicht böse. Ich soll nicht traurig sein. Sie ist bei einer Tante. Ich kenne die Gegend nicht. Aber ich kann immer anrufen. Tante Johanna ist auch freundlich. Ich soll Anna sagen. Sie feiern Weihnachten mit einem bunten Baum. Wie die Kinder, mit denen ich nicht spielen darf. Christa ist jetzt auch draußen. Sie hat ein schönes Zimmer. Isabel ist ihre beste Freundin. Die wollte auch ganz viel von mir wissen. Beide haben Telefone für die Tasche. In der Gemeinde gibt es das nicht. Ich soll auch nicht in die Tasche anrufen, weil es so teuer ist.‘

Heute lag Bruno in dem Zimmer, das einige Jahre Christas Kinderzimmer war. Was wäre gewesen, wenn er damals dem Wunsch, Christa zu folgen, nachgegeben hätte? Vieles wäre anders verlaufen. Die Ausbildung im Steuerbüro war schlimmer als die Schulzeit. Als einziger aus seiner Gemeinde war er immer Außenseiter. Welchen Beruf er wohl in Christas Nähe ergriffen hätte? Er hatte auf die Frage keine Antwort. In der Gemeinde wurde nicht gefragt, was die Heranwachsenden gern machen wollten. Wichtig war, welche Fähigkeiten die Gemeinde brauchte. Den Mann, der seinem Vater immer bei der Steuererklärungen geholfen hatte, kannte er nur als alten Mann. Bruno sollte seine Aufgaben übernehmen und so kam es auch. Der Beruf führte ihn aber auch Jahre später nach Frankfurt und damit in die unsägliche Situation.

Nachdem er geheiratet und seine Frau ein Kind geboren hatte, das sie wahrscheinlich von einem Fremden während ihres Tunesienurlaubs und nicht von ihrem Gatten in der Hochzeitsnacht empfangen hatte, war sein Lebensweg wieder in Unordnung geraten. Die Distanz zu seiner Frau schmerzte ihn nicht. Der Umgang mit dem Kind wurde ihm erschwert und schließlich verhindert. Dieses Kind würde in wenigen Wochen das erste Lebensjahr vollenden. Sein Vater war verschwunden, hatte Gefallen an einem völlig anderen Leben gefunden. Das Kind wuchs aber in derselben Gemeinde aufwie er selbst damals. Die Geschlechtsreife würde kommen und mit ihr dieselben Zweifel und Ängste. Doch diesem Jungen würde keine Christa zur Seite stehen. Dieser Junge wäre einsamer als es Bruno je gewesen war.

Egal, wer der leibliche Vater war. Das Schicksal des Jungen war Brunos Verantwortung. Mit dieser Erkenntnis erhob er sich. Wenn es keine andere Lösung gab, würde er Christa und damit auch Norbert hinter sich lassen. Das Wichtigste in seinem Leben konnte er nicht mit dem Schicksal eines wehrlosen Kindes rechtfertigen. Vielleicht würden sich die Erscheinungen noch einmal zeigen. Und ihm verborgene Aspekte enthüllen.

Kurz vorm Badezimmer blieb er stehen. Die Tür war nur angelehnt. Bruno schätzte so etwas nicht. Christa legte nicht viel wert auf Privatsphäre, die Gefahr, sie mit hochgesteckten Haaren und vom heißen Wasser glühendem Gesicht anzutreffen, war jedoch gering. Eigentlich sollte sie inzwischen in ihrem Büro sitzen und telefonieren. Aber es rauschte Wasser. Im Keller gab es das Duschbad und im Erdgeschoss war die Gästetoilette. Bruno konnte sich keinen Grund vorstellen, warum Franz das Badezimmer im Obergeschoss benutzen sollte.

Zwei Schritte später stand Bruno am Türrahmen. Christa hatte sich über das Waschbecken gebeugt. Mit einer Hand hielt sie ihre Haare hoch, mit der anderen schöpfte sie Wasser und warf es sich schwungvoll ins Gesicht. Ihr Oberkörper war entblößt. Einiges von dem Wasser war über die Schulter gespritzt und hatte in schmalen Bahnen den Weg über den Rücken gefunden und den Saum der Hosen dunkel gefärbt. Über ihrer Niere zeugte eine zur Hüfte verlaufende Narbe von den Züchtigungen, die widerspenstigen Kindern in der Gemeinde widerfuhren. Einige Tropfen flossen an der Narbe entlang und fielen seitlich auf den Vorleger.

„Der PC läuft wieder“, rief Franz von unten. „Ich bin dann weg. Deine Kauf-den-ganzen-Scheiß-Anwendung habe ich schon gestartet. In fünf Minuten kannst du dich einloggen. Es sei denn, euer toller Admin hat in Frankfurt wieder was abgeschossen.“

Die Haustür fiel zu. Christa richtete sich auf. Ihre Augen waren noch immer zugekniffen. Sie tastete nach dem Handtuch, um vorsichtig ihr Gesicht abzutupfen, dann stellte sie sich seitlich und warf sich das Handtuch über die Schulter. Mit einigen Verrenkungen war es soweit zurechtgerückt, dass sie ihre Haare loslassen konnte.

Bruno starrte noch immer seine Cousine an. Sie wand ihm wieder den Rücken zu. Ihre Augen waren noch immer geschlossen. Mit beiden Händen tastete sie nach den Dingen, die sie bereit gelegt hatte. Jemand klingelte. Christa öffnete überrascht die Augen und ihr Blick traf im Spiegel auf Brunos.


08:21 – Vorm Haus

 

Chrissy und Bruno schwiegen. Durch das gekippte Badezimmerfenster drang eine tragende Stimme.

„Schon, sie muss auch da sein“, maulte Isi in ihr Smartphone. „Ich kam gerade um die Ecke, da konnte ich Franz sehen, wie er aus dem Haus kam und irgendwas von Frankfurt und einer Schießerei gesagt hat.“

„…“ Chrissy warf das Handtuch ins Waschbecken, ...

„Woher soll ich das wissen? Ich kam gerade um die Ecke...“

„…“ …griff nach ihrem Pulli,

„Der ist in Torbens Auto eingestiegen und weggefahren.“

„…“ … und streifte ihn über.

„Klar, die haben auf der Rückbank rumgetobt.“

„…“ Vorsichtig waren Chrissy und Bruno ans Fenster getreten und beobachteten Isi, wie sie ungeduldig auf ihre Uhr schaute.

„Ich finde das auch nicht gut. Aber ich sage dazu nichts.“

„...“

„Woher sollte ich wissen, dass Torben zu Chrissy fährt?“ Isi klingelte Sturm und Bruno erschrak, als wäre er bei etwas Verbotenem erwischt worden.

„...“

„Ja, und?“

„…“ Die Person, mit der Isi telefonierte, sprach etwas länger und Chrissy hatte Mühe, die Spiegelbilder zu ignorieren.

„Und das hast du in Niederroden gehört?“

„…“ Bruno vermisste Norbert. Der war ebenfalls in Niedrerroden.

„Ich konnte Franz jedenfalls nicht verstehen.“

„...“

„Willst du mir was unterstellen? Was kann ich dafür, dass ich aus dem Küchenfenster sehen kann, wer in Richtung Chrissy fährt? Außerdem wohnen hier ja noch einige andere Leute.“

„…“ Nur mühsam unterdrückte Chrissy ein Schnauben.

„Der wird ja wohl nicht mit den Kindern zu einem Vergewaltiger fahren!“

„…“ Chrissies rotes Spiegelbild beobachtete mit strafendem Blick Bruno, der beschämt vom Fenster zurücktrat.

„Was ist an ‚Nein, das will ich nicht – lass das – aua, lass mich los – das darfst du nicht – das ist falsch – du tust mir weh‘ falsch zu verstehen?“

„…“ Bruno verließ eilig das Badezimmer.

„Du kannst es glauben oder nicht. Ich hab‘s mir dreimal … ist die ins Klo gefallen?“

„…“ Chrissy sah hinter Bruno her ...

„Dreimal was?“

„…“ … und folgte ihm.

„Meinen ... gestern ... Ich finde, den Versprecher merkt man gar nicht, was meinst...“

Isi war sogar halbwegs durch die geschlossene Haustür zu verstehen. Chrissy riss sie auf.

„Tut mir leid, Nora, ich muss Schluss machen. Hallo Chrissiiiii!“

„Hallo Isiiiiiiii! Was für eine Überraschung!“

„Wie siehst du denn aus? Hast du etwa noch geschlafen? Muss ich mir deshalb die Beine in den Bauch stehen?“

„Was kann ich für dich tun?“, fragte Chrissy bemüht freundlich. Sie wollte keineswegs auf die Andeutungen eingehen.

Isi schwieg. Ihr Kopf neigte sich langsam zur Seite. Ihr Blick richtete sich auf einen Punkt im Flur. Chrissy kannte Isis Gedanken, bevor sie ihn aussprechen konnte.

„So ist das also. Erst stört Franz und dann ich. Ich gehe wohl besser.“

„Egal, bei was du gestört hast oder auch nicht. Was. Willst. Du?“

„Also so schon gar nicht! Wenn du dich ‚abgeregt‘ hast, kannst du dich gern entschuldigen. Und morgen um 10 Uhr muss ich wissen, was du dieses Jahr zum SWF machst.“

Isi stolzierte so aristokratisch wie möglich von dannen. Chrissy schmiss die Haustür zu.

Bruno überlegte, weshalb sich die beiden Frauen wohl stritten. Er hätte auch gern gewusst, was einige Aussagen in dem Telefonat zu bedeuten hatten. Fragen konnte er nicht, weil dann gewiss die verräterischen Worte zu Sprache kämen. Der Tag wurde von Stunde zu Stunde schwieriger.

4


07:40 – Von Oberroden nach Niederroden

 

Norbert war bester Laune, als er aufbrach, um zur Arbeit zu fahren. Die Tage und vor allem die Nächte mit Bruno waren phantastisch. Wenn sie zusammen waren, lösten sich Brunos dunkle Züge schnell auf. Doch sobald sie sich bis zum Nachmittag verabschiedeten, erschienen sie wieder. Darüber mussten sie dringend sprechen. Sogar darauf freute er sich. Ja, seine eigenen Probleme hatten sich auf wundersame Weise verflüchtigt. Die Erinnerung an den Jahreswechsel war lückenhaft. Manches erschien ihm zwanghaft real, obwohl es Träume gewesen sein mussten. Beängstigend und wunderbar.

Beim Filialbäcker wollte er anhalten. Weil Isi mit einigen ihrer „Fans“ vor der Tür stand, fuhr er weiter. So sehr ihn die Frau auch nervte, bei dem Gedanken an ihre unfreiwillige Bowledusche musste er grinsen. Es war einfach schade. Niemand hatte die Szene zufällig gefilmt. Leider war Isi selbst die einzige im Ort, die ständig etwas – angeblich zufällig – filmte, weshalb sie auch die einzige war, von der keine peinlichen Videos im Internet kursierten.

Norbert kehrte in Gedanken wieder zu angenehmeren Themen zurück, zu Bruno, ihm selbst und Silvester. Chrissy und Torben hatten einige Details berichtet. Vieles hatte sich aus Gesprächen mit Bruno ergeben. Dabei hatte Bruno das Talent, mit einer Antwort mindestens eine weitere Frage aufzuwerfen. Deshalb oder trotzdem hatte er das Gefühl, bei Bruno endlich angekommen zu sein. Etwas, das ein Jahr zuvor mit Paul versprach, Wirklichkeit zu werden, entwickelte sich nun mit Bruno ohne Schwüre und Beteuerungen. Ein Jahr zuvor hatte Norbert wegen Paul geglaubt, für ihr gemeinsames Glück bei seinen Freunden Mauern einreißen zu müssen. Jedoch anders als erwartet, wurden seine Wünsche eingerissen und ihre Trümmer hatten Norbert das restliche Jahr unter sich begraben. Genauso wie Paul war Bruno einfach auf der Silversterparty. Paul war über einen Laufsteg in Norberts Leben getreten und begann sofort, es neu zu gestalten. Bruno dagegen war einem bizarren Traum entstiegen. Bunte Halluzinationen und unwirkliche Selbstgespräche hatten die Trümmer fortgesprengt. Bruno war da und hielt ihn. Es war ein Versprechen für die Ewigkeit. Ein Versprechen, hinter dem die Verbitterung um die Erinnerungen an Paul verblasste.

An der Tankstelle vorm Niederröder Tunnel hielt Norbert an.

„Guten Morgen Lore“, grüßte er.

Statt den Gruß zu erwidern, beendete Lore ein Telefonat und sah Norbert fragend an.

„Pack mir bitte ein Salami- und ein Schinkenbrötchen ein.“

Lore legte zwei Brötchen in eine Tüte und tippte den Betrag in die Kasse.

„Schlechter Tag heute?“, fragte Norbert und reichte Lore einen Zehner.

Lore gab das Wechselgeld zurück und begann, die Spülmaschine auszuräumen.

Norbert ging ohne Gruß. Torbens Mutter war berüchtigt für ihre schlechten Launen. Doch das gerade gezeigte Verhalten war sogar für sie untypisch. Norbert verzichtete auf eine angemessene Reaktion. Sie würde ihren Frust nur an ihrem Sohn und dessen Familie auslassen. Bis vor wenigen Wochen konnte Norbert nicht verstehen, wie die Beziehung von Franz und Torben bei den ganzen Spannungen bestehen konnte. Auch für diese Betrachtung hatte sich durch Bruno eine neue Perspektive ergeben.


08:15 – NoNoX

 

Bereits wenige Minuten, nachdem Norbert seine beiden Geschäftspartnerinnen begrüßt hatte, war seine gute Laune verflogen. Wie ein gefangenes Raubtier lief er in Xenias Büro hin und her. Nora versuchte ihre Tochter Toni zu beruhigen, während sich Xenia emsig durch ihre Messenger arbeitete. Kurz vor Norberts Eintreffen hatten sie von dem Vergewaltigungsgerücht erfahren und einige Leute informiert, die noch nichts davon wussten.

Norbert hatten sie mit einer Notlüge das Smartphone abgenommen, erst dann erfuhr er von dem Gerücht. Seine erste Regung war extreme Wut. Auf die vermeintliche Urheberin des Gerüchts, auf Lore, die garantiert deswegen so abweisend war, und alle anderen, die sich das Maul zerrissen, statt ihn zu fragen, was es mit dem Gerücht auf sich haben könnte. Danach quälte ihn Sorge. Er hatte Angst, wie Bruno reagieren würde, wenn er davon erfuhr. Chrissy würde das Schlimmste auffangen. Aber nur, wenn sie neben ihrem beschissenen Callcenter-Job überhaupt dazu kam.


08:21 – Xenias Büro

 

„Einmal Easy – immer Isi – Düdelü – Düdelü – Einmal Easy...“

„Die meldet sich ja schnell zurück“, murmelte Nora, wischte den Schriftzug „Fisi-Isi“ zur Seite und hielt sich das Smartphone ans Ohr.

„Wolltest du nicht zu Chrissy?“

„...“

„Frankfurt? Tote?“

„...“

„Wo ist Franz hin?“

„...“

„Schade, dann kannst du nicht fragen. Mit den Jungs?“

„...“

„Und Torben hat nur nach vorne geguckt.“

„...“

„Na ja, wenigstens vernünftig, dass du gleich hinter Torben her bist.“

...“

„Weil Franz zu Fuß in der Richtung unterwegs war.“

„...“

„Du hast aus dem Küchenfenster geraucht. Und Franz hat gesagt, er hätte keine Zeit. Du würdest doch Chrissies PC-Stress kennen.“

„...“

„Nein. Xenia telefonierte gerade mit Franz, als er bei dir vorbeikam.“

„...“

„Wenn Torben einige Minuten nach Franz bei dir langfährt...“

„...“

„Norbert hat heute frei“, flunkerte Nora und Xenia forderte Norbert mit dem Zeigefinger vor dem Mund auf, still zu sein.

„...“

„Das mit der Vergewaltigung kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“

„…“ Nora kritzelte hastig Buchstaben auf das erstbeste Blatt Papier ...

„Wow, so war das?“

„…“ … und nickte zufrieden.

„Dreimal?“ Nora und Xenia verdrehten die Augen. Norbert saß auf seinen Händen, weil sie sich zu Fäusten ballen und Isi malträtieren wollten.

„...“

„Du hast dir dreimal – was?“

„...“

Nora hörte das Öffnen einer Tür, dann hatte Isi auch schon aufgelegt.

„Norbert, setz dich! Hast du in den letzten Tagen ‚Nein, das will ich nicht – lass das – aua, lass mich los – das darfst du nicht – das ist falsch – du tust mir weh‘ gehört?“

Norbert wurde rot und presste die Lippen zusammen.

„Heißt das, du hast Bruno das tatsächlich angetan?“

„Verdammt, natürlich nicht!“

„Die Worte stammen also nicht von ihm?“

„Nein, doch, nicht so!“

„Wie dann?“

„Man, hast du eine Ahnung, wie blöd es für zwei Männer ohne vernünftige Vorbereitung sein kann?“

„Du hast ihn trocken?“

„Nein!“

„Wart ihr zu Dritt?

„Quatsch.“

„Deine Geschichte, lass hören.“

„...“

„Norbert?“

„Ist doch ganz einfach“, mischte sich Xenia ein. „Norbert wollte sich auf Bruno draufsetzen, der wollte das nicht, schließlich hat er vor kurzem noch in dieser Sekte gelebt, von der Chrissy erzählt hat. Bruno wollte Norbert wegschubsen, Norbert hält fest, zu fest, Bruno meckert, dann haben sie aber doch Karnickeltango getanzt, schließlich glucken sie ständig zusammen und grinsen hormondebil.“

Nora lachte schallend, gab Xenia einen Kuss und boxte Norbert vor die Schulter.

„Lass uns schaffen fahren. Beim Sägewerk traut sich ein Klempner nicht allein zu dem Wasserabsteller in den fiesen Wartungsschacht. Der hat schon vor einer halben Stunde um Hilfe gebettelt.“

„So nicht“, protestierte Norbert. „Du kannst das doch nicht so stehenlassen. Wie kommt Xenia überhaupt auf so eine Geschichte?“

„Weil alles passt!“, erklärte Nora und sah auf die Uhr. „Ich weiß das, weil wir Mädchen miteinander reden. Wenn nötig, verrat’ ich‘s dir. Du hören, ich reden und fahren. Zu Sägewerk.“

„Wieso nicht zu Dauberts Chef?“

„Muss warten. Wegen Schwarz.“

„Schwarz?“

„Mann, du! Die erwarten die Steuer zum Frühstück. Nicht vorm schwarzen Kaffee, sondern nach schwarzen Jobs. Du machst mit deinem Schatz rum und die Dramen der Welt einen Bogen um dich herum. Oder hormondebil. Also ...“

Norbert blieb tatsächlich nicht anderes übrig, als zuzuhören. Alle Zusammenhänge erschlossen sich ihm noch nicht. Das Gerüst reichte ihm allerdings, um in den nächsten Tagen nachzufragen. Dennoch ärgerte er sich, so viele Informationen verpasst zu haben, aber gleichzeitig bewunderte er die Beobachtungsgabe und das Kombinationstalent der beiden Frauen. Unangenehm entblößt fühlte er sich bei ihnen häufig. Sie redeten ständig. Miteinander. Nach außen schwiegen sie. Und er hatte Respekt davor, wie effizient sie die Hintergründe des Vergewaltigungsgerüchts aufgeklärt hatten.

„Hoffentlich hört Bruno nichts. Chrissy wird es garantiert erfahren. Ich sollte sie bitten, Bruno noch nichts zu erzählen.“

„Ihr seid putzig. Chrissy wollte, dass wir DIR nichts erzählen.“

„Tolle Freunde habe ich!“

„Hast du wirklich. Wenn dir Isi das Gerücht persönlich präsentiert hätte – wohin hättest du ihr das Veilchen geliefert? Rechts? Links? Stereo?“

Norbert grummelte etwas Unverständliches. Natürlich war er dankbar, so zuverlässige Freunde zu haben. Er fand es trotzdem schade, wenn sich Isi für ihre Fans kein Märchen zu beidseitigen Veilchen ausdenken musste.

„Genau das dachten wir auch,“ schmunzelte Nora.

 

5


09:30 –Gästezimmer

 

Bruno blätterte wieder in seinem Tagebuch. Christa war wütend. Nicht auf ihn, sagte sie, aber er solle bis Mittag die Füße stillhalten. Früher sollte er auch seine Füße stillhalten. Seine Mutter sagte es häufig, weil er so viel zappelte. Aber das hatte er sich abgewöhnt. Ebenso Nasenbohren, unaufgefordert zu reden, das Reden beim Essen grundsätzlich, Kratzen, Menschen unterhalb des Halses zu betrachtet oder in die Augen zu starren, Körpergeräusche und Lachen, sogar lautes oder schnelles Atmen.

In den wenigen Tagen bei seiner Cousine hatte er mehr Regeln gebrochen als insgesamt in seinem bisherigen Leben. Mit Norbert war alles so einfach. Wenn er ihn anstarrte, drehte er sich hin und her, wollte sogar, dass er ihn berührte. Und er tat es. Beim Essen sprachen sie, sogar mit vollem Mund. Sie hatten ihre Körper in Wollust geteilt. Manche Tage mehrmals. Es hatte ihm gefallen.

Nach Vollzug der Ehe war er erleichtert gewesen, die unausgesprochenen Erwartungen erfüllt zu haben. Viele Männer der Gemeinde hatten ihm hinter vorgehaltener Hand gewünscht, dass sie nicht so schnell schwanger würde. Sie dachten, er würde ihr Geheimnis teilen, doch als sie nach dem dritten Beischlaf ihre Schwangerschaft verkündete, war er dankbar, seine Pflicht erfüllt zu haben. Wieder war sein Tagebuch sein einziger Vertrauter.

‚Was stimmt nicht mit mir? Oder stimmt mit den anderen etwas nicht? Der Akt schafft neues Leben, die Wollust nicht siegen zu lassen ist die Prüfung. So wurde es die Jahre verkündet. Nun sagen sie, der Herr meint es gut mit mir, wenn sie keine Frucht empfängt. Sie können nicht wissen, wie fern mir die Wollust ist. Scheitert die Prüfung, weil die Wollust keine Macht über mich erlangt? Erwartet mich eine größere Prüfung?‘

Bruno blätterte weiter. Wochen und Monate vergingen, die Zweifel blieben. Gemeindemitglieder tuschelten, die Zweifel wuchsen. In Erwartung der großen Prüfung kam der Tag der Geburt.

‚Zwei Hebammen und drei Schwestern kamen früh morgens ins Haus. Eine war ständig in meiner Nähe mit Nichtigkeiten beschäftigt. Dachte sie, ich trachte danach, meiner Gattin auf den entblößten Bauch zu schauen oder gar dem Vorgang der Geburt beiwohnen zu wollen? Ich konnte ihr schlecht mitteilen, wie gering mein Interesse an all dem war. Ich zog mich in mein Arbeitszimmer zurück. Hier kann ich mich meinem Tagebuch anvertrauen, denn die Aufpasserin findet keinen Grund, mir hierher zu folgen, ist jedoch stets in der Nähe, wenn ich es verlasse.‘

Einen Gedanken hatte Bruno auch seinem Tagebuch nicht anvertraut. Es war die Vorstellung seiner eigenen Erhabenheit. Eine innere Stärke, die ihm helfen würde, die kommende Bürde zu tragen.

‚Seit Stunden werden die Abstände, in denen meine Gattin lauthals schreit, kürzer. Es seien die Wehen, erklärte die Aufpasserin gerade eben. Kinder, die zu früh kommen, würde die Mutter nicht gehen lassen. Dafür würde sie der Herr mit starken Wehen züchtigen. Doch wofür sollte ihr eine so schwere Prüfung auferlegt werden? Gilt es wirklich ihr?‘

Das Tagebuch klappe zu. Bruno hatte diesen Eintrag unzählige Male gelesen. Damals hatte er noch glaubt, die Antwort zu erkennen.

Der Irrtum währte bis Sonnenuntergang. Um viertel vor Sieben schaute er zur Uhr. In dem Moment schrie die Mutter das letzte Mal. Kurz darauf erklang das Geschrei des Säuglings. Doch man holte ihn nicht. Nur wenige hektische Geräusche drangen ins Arbeitszimmer.

Nach einer halben Stunde verließ er es. Die Aufpasserin sah ihn mitleidig an, rannte dann fort und kam mit einer der beiden Hebammen zurück. Auch sie sah ihn mit einem gequälten Gesichtsausdruck an. Irgendwo quengelte der Säugling. Von der Mutter war nichts zu hören. In dem Moment glaubte Bruno, die Art der Prüfung zu kennen. Doch statt der Trauer verspürte er nur Erleichterung. Angewidert von sich selbst floh er in sein Arbeitszimmer und zu seinem Tagebuch.

‚Meine Frau ist im Kindbett verstorben, doch die Erkenntnis erzeugt keine Trauer. Statt dessen verspüre ich Erleichterung. Ich hasse mich dafür.‘

Ein krakeliger Strich verriet die Stelle, an der Bruno unterbrochen wurde.

‚Bevor ich bereit war, mich der Situation zu stellen, trat Vater ein und erklärte mir meine nächsten Schritte: das Kind begutachten und als würdig erachten, denn es würde mein einziges Kind sein, dann der Mutter den Fortbestand der Ehe garantieren, auch wenn sie für keine weiteren Schwangerschaften taugte.‘

Erst spät in der Nacht hatte Bruno die Ereignisse des Abends niedergeschrieben. Die Weisung des Vaters hatte er mit einem gezeichneten Kreuz abgeschlossen, dann aber durchgestrichen und drei Tropfen in einer senkrechten Reihe daneben gezeichnet. An dem Abend sah er sie als Symbole der Reinigung. Nun, fast ein Jahr später, erkannte er in den Tropfen Tränen. Eine für das Kind, eine für die Mutter und eine für sich selbst, aber keine für die Gemeinde oder seinen Vater. Die Worte in seinem Tagebuch wirkten nun wie aus einem anderen Leben.

‚Sie lebt. Die Erleichterung war und ist geblieben. Jedoch nicht um ihretwillen, sondern weil ohne die Möglichkeit einer erneuten Schwangerschaft keine Notwenigkeit für die Einforderung der ehelichen Pflichten besteht. Es hatte keine größere Prüfung gewartet, ich bekam ein unverdientes Geschenk. Voller Großmut folgte ich Vater. In der Wöchnerinnenkammer präsentierte mir die zweite Hebamme ein weißes Bündel. Vater nickte und sie zog das Tuch auseinander. Dann sah ich ein Kind mit schwarzen, gekringelt am Köpfchen klebenden Haaren, ungewöhnlich dunkler Haut und Lippen, die scheinbar geschwollen, irgendwas suchten. Dieses Kind war mir fremd. Vaters Worte hallten mir noch im Ohr, also öffnete ich das Tuch weiter. Es war ein Knabe. Der Nabel war verklebt, ansonsten fiel mir nichts auf. Die Beinchen begannen zu zappeln und er quietschte. Mein Blick wanderte zurück. Große dunkle Augen sahen mich an, das kleine Gesicht verriet Freude. Die Ärmchen zuckten unkontrolliert, schienen aber doch nach mir greifen zu wollen. Ich dachte nicht nach. Ich hielt eine Hand hin und der Knabe bekam einen Finger zu fassen und zog ihn zu sich. Die Hebamme schaffte es, mir das Kind in den Arm zu legen. Eine der Schwestern reichte mir eine Fläschchen und half mir, es richtig zu halten.‘

Damit endete der Eintrag. Obwohl an dem Abend eine Verbindung zu dem Kind entstanden war, ergab sich nur selten Kontakt. Auch seine Gattin schwand aus seinem Leben. Sie sahen sich, es gab jedoch keine persönlichen Momente. Auch das Kind war davon betroffen, und die Verbindung, verblasste. So waren die Monate vergangen, und bei seinem Aufbruch dachte er, nichts in der Gemeinde zurück zu lassen. Wenn er ehrlich war, entsprach das in dem Moment auch der Wahrheit. Jedoch war es ebenfalls wahr, dass er etwas mit sich genommen hatte. Die Verantwortung für das Kind.


09:30 –Chrissies Büro

 

„Shop-the-Best – ich bin Monique und freue mich über ihren Anruf“, log Chrissy, wohl wenig überzeugend, denn die Anruferin ließ keinen Zweifel an ihrer Meinung über das gekaufte Magic Messer Megaset für nur 89 Euro 99 plus winzige 9 Euro 99 für ihren persönlichen Super-Vorzugs-Versand. Die Sendung kam verspätet, die Verpackung war beschädigt und die Messer bereits nach einmaligem Abwaschen stumpf.

Chrissy zog Rückfrage 3: „Wie haben Sie Ihr Magic Messer abgewaschen, wenn ich fragen darf?“

Bingo: Spülmaschine! Das gab Kunde-erfolgreich-gelinkt 2.

„Oh!“, flötete Chrissy. „Da haben Sie wohl Ziffer 4 der Anleitung übersehen: Es wird empfohlen, Magic Messer nicht in der Spülmaschine zu reinigen, weil manche handelsüblichen Reiniger den hochwertigen Schliff beschädigen könnten. Ich fürchte, das ist bei ihnen geschehen.“

Wenn sie eine Testkundin in der Leitung hatte, war es eine verdammt gute. Chrissy bewunderte die Leistung der Kollegin, das System verachtete sie. Solange sie den Job brauchte, musste sie noch mitspielen.

„Ich verstehe Ihre Enttäuschung“, fuhr Chrissy fort. Regel 3 von 7: nach jedem Njet ein Da oder etwas, was der Stresskunde dafür hält.

„Haben Sie etwas zum Schreiben zur Hand?“ Regel 5 von 7: Stresskunden müssen beschäftigt werden.

„Ich lege in der Zwischenzeit ein Ticket für Sie an.“ Regel 6 von 7: Stresskunden zeigen, was sie sind.

„Notieren sie sich bitte 864 271 083. Ich wiederhole Acht Sechs Vier Zwei Sieben Eins Null Acht Drei. Schicken sie eine E-Mail mit der Ticketnummer im Betreff an die Adresse kunde AT shop minus the minus best dot biz. Soll ich wiederholen?“ Regel 7 von 7: Stresskunden werden gute Kunden, wenn sie schließlich aufgeben.

„Gerne!“ Jetzt war sich Chrissy sicher, eine Testkundin in der Leitung zu haben. „Eine E-Mail mit Acht Sechs Vier Zwei Sieben Eins Null Acht Drei im Betreff an die Adresse kunde AT shop minus the minus best dot biz. Einen wunderschönen Tag noch. Sie sprachen mit Monique.“ Regel 8 von 7: wer nicht schnell genug auflegt, sucht sich am Besten einen neuen Job.

Chrissy unterbrach die Verbindung, noch während die Kundin tief einatmete. Deren nächsten Anrufversuche würden, falls sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch keine Testkundin war, in der Endlosschleife verhungern, es sei denn, sie würde es von einer anderen Telefonnummer versuchen. Dann gab es nur die Hoffnung, dass die Stimmerkennung funktionierte, und das System die Kundin zu einem Gruppenleiter verband. Aber das, was Franz immer „sogenannte KI“ nannte, verdiente kein „I“. Sagte Franz. Jedenfalls durften Gruppenleiter etwas deutlicher werden. Regel 1 von 7: Wer einmal reklamiert, kauf nie wieder bei uns. Die Regel galt auch für Mitarbeiter: Wer einmal für uns gearbeitet hat, wiederholt den Fehler niemals - oder wird Gruppenleiter. Das war Regel 9 von 7 und die gabes ebenfallsnur in Chrissies Zählweise.

Das System stellte keine weiteren Anrufe durch. Ein Anzeichen dafür, dass die Teamleiter das Gespräch analysierten. Chrissy nutzte die Gelegenheit, Nora und Franz zu informieren: ‚Gerücht wurde erweitert – habe angeblich was mit Bruno – passt auf Norbert auf – muss ans Telefon. C.‘

„Shop-the-Best – ich bin Monique und freue mich über ihren Anruf“, log Chrissy erneut. Auch diesmal ließ ein Anrufer keinen Zweifel an seiner Meinung über das gekaufte Magic Messer Megaset.


09:30 –Sägewerk

 

Nora lief zielstrebig über das Gelände des Sägewerks. Norbert folgte mit Abstand, weil er zum ersten Mal bei dem Kunden war. Am Ende des Hauptgebäudes befanden sich Waschräume, vorausgesetzt, die verwitterte Tafel über dem Eingang verriet noch die aktuelle Nutzung des Gebäudeteils. Der Flur ließ Norbert Übles erwarten. Hinter einer nur mit Rostschutzfarbe gestrichenen Tür erwartete er Zustände wie in einer der vielen verlassenen Industrieanlagen in den neuen Bundesländern. Statt dessen stieß er einen anerkennenden Pfiff aus.

„Wo anders können die Geldfuzzis nur Außen hui, innen Pfui“, bestätigte Nora. „Xenia und ich haben hier eine Erbschaft geparkt. Also pass auf und mach nichts kaputt!“

Norbert vertraute darauf, dass Xenia die Firmenhaftpflicht bezahlt hatte.

„Und eine kaputte Fliese wird nicht der Versicherung gemeldet, klar?“

Norbert verzichtete auf eine Antwort. Er überlegte gerade, ob es eine weibliche Variante zu Geldfuzzi gab. Nein, die Frage würde er sicher nicht Nora stellen. Auch nach Details zu der Erbschaft würde er nicht fragen. Mädchen redeten – ihre Aussage. Jungs konnten warten – seine Erfahrung.

Am Ende des Flures lehnte eine Stahlplatte an der Wand. Nora schnaubte. Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche. Es war auf lautlos gestellt, weshalb sie den Eingang einiger Nachrichten verpasst hatte. Sie hatte sie schnell gelesen, aber nur Chrissies beantwortete sie: ‚Ok! Wir treffen hier gleich auf bibi. Glaubt mir, ich habe alle ohren und augen auf alarm :D‘,dann aktivierte sie die Taschenlampe, leuchtete in den Schacht, um festzustellen, dass sich niemand darin befand und sicherteihn. Sie gab Norbert Zeichen, leise zu sein. Tatsächlich geräuschlos gelangten sie in einen anderen Bereich der Waschräume. In einem Durchgang blieb Nora stehen und hielt ihr Smartphone direkt vors Gesicht. Norbert verrenkte sich, um an ihr vorbeisehen zu können.

Ihm stockte der Atem. Neben einer Kloschüssel kniete ein Kerl in grauer Latzhose. Weit vorgebeugt hantierte er hinter der Keramik. Eine grelle Baustellenlampe warf ihr Licht auf die Toilette und einen Hintern, der sich sich rhythmisch unter dem straff gezogenen Hosenstoff bewegte. Die Erotik des Anblicks hielt ihn einen Moment gefangen, dann sah er zu Nora und stellte fest, dass sie die Szene filmte.

Als sich der Hintern scheinbar zu einer anderen Melodie bewegte, beendete Nora die Aufnahme und machte mit einem lauten Pfiff auf zwei Fingern auf sich aufmerksam.Der Kerl krabbelte aus der Ecke, richtete sich auf und zog die Stöpsel aus den Ohren.

„Hi Bibi, das nächste Mal machst du die Klappe dicht, wenn du verschwindest, klar? Das ist Norbert, Norbert, der Herr in Grau ist Bilal, Bibi steht für Bitch Bilal, und welchen Song hast du gerade gehört?“

Bilal nickte, zeigte Nora seine Playlist und musterte Norbert ausgiebig von oben bis unten. Er war eindeutig interessiert.Als Bitch Bilal vorgestellt zu werden, schien ihn nicht zu stören. „Du bist also das andere No in NoNoX. ein Meter 50 hoch und ein Meter 50 breit, Aknenarben, Silberblick und…“, fragend sah Bibi zu Nora.

„Senkfuß und Dreiviertelglatze“, ergänzte sie. „Den Rest klären wir später. Auf dich wartet die Grube. Der Song passt übrigens gut zu deinem Hüftschwung.“

„Ob man die Melodie auch zu zweit schwingen kann?“, überlegte Bibi, „ließe sich in der Mittagspause austesten“, konzentrierte sich wieder auf Norbert und schien seine Hüften auf entsprechende Tauglichkeit zu scannen. Vorsichtshalber schob Norbert einen Daumen hinter den Gürtel, um seine Hose notfalls verteidigen zu können. Bilal schien sie ihm mit Blicken entreißen zu wollen. Der Spitzname Bibi passte. Ein echter Spitz-Name, überlegte Norbert und musste wegen des Wortspiels grinsen.

Nora kniff die Augen zusammen. Sie wollte nicht glauben, dass Norbert tatsächlich für Bibis plumpe Anmache empfänglich war. Nach dem Reinfall mit Paul hielt sie ihn für sensibel. Andererseits waren es Männer. Und wenn Bruno etwas mit Chrissy unterstellt wurde, konnte sein Lover auch was mit dem Klempner haben. Sie schoss noch ein Foto der zwei grinsenden Männer. Manchmal verstand sie, welches Vergnügen Isi bei der Verbreitung von Gerüchten empfand. Der Gedanke verging ihr jedoch, als sie sich Norberts zu erwartende Reaktion vorstellte.

‚Bibi geilt norbert an und hat aknenarben, senkfuss pp. Geplaudert :(( müssen dringend aufklären!!!‘

Nora schickte die Nachricht ab. Ihr Smartphone verschwand in der Tasche.

6


10:30 – Gästezimmer

 

Im Erdgeschoss prangte ‚WEGEN WASSERSCHADENS GESCHLOSSEN‘ an der Tür zur Herrentoilette, darunter ein Hinweis auf die Waschräume im ersten und im zweiten Obergeschoss. Im ersten Obergeschoss war das Reinigungsteam beschäftigt. Es sollte mindestens noch 20 Minuten dauern, bis die Örtlichkeit wieder nutzbar wäre. Die Waschräume im zweiten Obergeschoss waren abgeschlossen.

Von einer dringenden Notdurft gequält eilte Bruno zur Sachbearbeiterin. Wenigstens dort hatte er Glück und konnte die fälligen Unterlagen zügig übergeben. Die Frage nach Toiletten konnte die Dame nicht zufriedenstellend beantworten. „Wenn sie direkt zurückfahren“, erklärte sie nach einem Blick auf die Adresse auf den Unterlagen, „finden sie in 200 Metern einen Park, davor ein Parkstreifen, darin ein WC. Viel Erfolg.“

Bruno bedankte sich wie es sich gehörte. Im ersten Obergeschoss würde es noch mindestens weitere 15 Minuten dauern. Zum Auto brauchte er höchstens zwei Minuten, zum Park weitere zwei Minuten. In fünf Minuten könnte seine Qual ein Ende finden.

‚Ein Park, davor ein Parkstreifen, darin ein WC. Viel Erfolg‘, hallte während der Fahrt in seinem Kopf nach. Immer wieder, bis er sein Auto endlich auf dem letzten freien Platz hinter drei parkenden Fahrzeugen abstellte.

‚Viel Erfolg! Viel Erfolg!‘, klang es noch immer in seiner Erinnerung. Klang es irgendwie … gemein? Spielte sie auf die dort zu erwartenden unangenehmen Gerüche an? Auf die Verunreinigung? Oder erfüllte sie gar Schadenfreude bei dem Gedanken, er würde es nicht rechtzeitig schaffen? Aber das wäre einer Finanzbeamtin nicht würdig.

‚Viel Erfolg!‘, schrie es in seiner Erinnerung, während ihm die übelsten Gerüche aus dem Inneren des Gebäudes den Atem raubte. Zweimal öffnete er die Tür, doch er konnte sich nicht überwinden, hineinzugehen. Sein Unterleib schmerzte. Wenn er sich so in sein Auto setzen würde, könnte er die Katastrophe nicht mehr verhindern. Er schämte sich abgrundtief. Ein Trampelpfad neben dem Gebäude bezeugte, wie wenig Bedenken andere Personen in gewiss weniger drängender Notlage hatten. So ging auch Bruno wenige Schritte durch das Gebüsch, stellte sich vor einen Baum und erleichterte sich. Gefühlte Minuten später stand er noch immer dort und wünschte sich, seine Blöße endlich wieder verhüllen zu können. Ein Knacken aus dem tieferen Buschwerk ließ ihn hektisch in die Richtung schauen. Seine Augen hatten sich an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt. Nur zwei Armlängen von ihm entfernt standen zwei Männer mit entblößten Unterleibern und beobachteten ihn. Der Hintere bewegte seine Hüften immer wieder mit trägen Bewegung nach vorne. Der andere schien gefallen daran zu finden, sich der Bewegung entgegen zu pressen. Dann erkannte Bruno, an was sich der Hintere festhielt. Aus der Faust ragte ein steifes Glied hervor, bewegte sich in demselben Rhythmus auf und ab, in dem die Männer ihre Unterleiber aneinanderpressten. Er war unvermittelt Zeuge des sündhaftesten Beischlafs geworden, zu dem Menschen fähig waren.

Sein Harnfluss war versiegt und in seiner Hand lag eine bereits schmerzende Erektion.Eine schwelende Glut war entfacht. Er hatte sie bereits einige Male erfahren. Jedoch noch nie in der Intensität. Und er wusste, welcher Sünde er sich schuldig machte. Nein, es war schlimmer. Viel schlimmer! Die Wollust überrollte ihn, während er auf eine noch größere Sünde schaute.

‚Viel Erfolg! Viel Erfolg!‘

Die Bewegungen der Männer wurden schneller.

‚Viel Erfolg! Viel Erfolg!‘

Brunos Faust klammerte sich um sein Geschlecht, als könne er den Beweis seiner Sünde daran hindern, hervorzubrechen.

‚Viel Erfolg! Viel Erfolg!‘

Der Höhepunkt drohte Bruno in die Knie zu zwingen. Mühsam klammerte er sich an den Baum. Dann spürte er eine fremde Hand an seinem Geschlecht.

„Wie wär‘s mit Runde zwei?“, raunte eine tiefe Stimme. Bruno konnte nichts erwidern. So nah erkannte er südländische Gesichtszüge. Es konnte ein Grieche sein oder sogar ein Perser. Die Glut in seinem Unterleib kehrte zurück, schwoll an und ein weiterer Höhepunkt raubte ihm alle Kraft.

„Das werte ich als Kompliment“, flüsterte die tiefe Stimme. Ein Kuss wurde auf seine Wange gedrückt, dann war er allein.

Er musste fort. Panisch sah er sich um, doch alles um ihn herum war in Nebel gehüllt. Es war warm, aber nicht heiß. Durch die Nebel schimmerten auch keine Feuer und es fehlte der Gestank, der den tiefen Schluchten der Verdammnis entweichen müsste. Vorsichtig tastete er in eine Richtung. Er fand jedoch nichts. Keine Büsche, kein Baum, kein Gebäude und kein Parkstreifen. Er wollte rennen, doch seine Beine waren dafür zu schwer. Er fuchtelte mit den Armen, hoffte, endlich etwas anderes als die formlose graue Masse zu finden. Endlich schlug seine Hand gegen etwas. Es schmerzte. Mit dem Schmerz löste sich der Nebel. Seine Beine waren in einer Decke verknotet. Sein Schritt war feucht. Wieder hatte ihn die unsägliche Situation aus Frankfurt in einem Traum heimgesucht. Inzwischen wusste er, was die beiden Männer in jener Stunde empfunden hatte. Er hatte es mit Norbert kennengelernt. Nicht an einem unpassenden Ort in der Öffentlichkeit, den man im Anschluss wie nach einer beliebigen Beschäftigung verließ. Mit Norbert war alles von der tiefen Verbundenheit getragen. Mit ihm fühlte er sich in der Einheit, die er mit seiner Frau teilen sollte, aber bei ihr nicht gefunden hatte.

Seine Frau hatte sich in Tunesien wie die beiden Männer in Frankfurt verhalten. Sie war dabei sogar schwanger geworden. Diese schwere Sünde hatte die Gemeinde hingenommen, das Kind galt als ehelich. Seine schwere Sünde würde die Gemeinde nicht hinnehmen. Obwohl er mit Norbert das teilte, was ihm für seine Ehe vorhergesagt wurde. Die heilige Verbundenheit, die sogar die körperliche Vereinigung reinigen konnte. ‚Du wirst es spüren!‘, hatten alle gesagt. Bei Norbert spürte er es endlich. Doch die Gemeinde würde es nicht hinnehmen.

Er wollte Norbert nicht aufgeben. Nein, er konnte ihn nicht aufgeben!

Er wollte das Kind nicht im Stich lassen. Nein, er durfte es nicht im Stich lassen!

Fortsetzung „Vlogging“

Anhang


Das Telefonat

Das vollständige Telefonat zwischen Isi und Nora vor Chrissies Haus:

Nora: „Wolltest du nicht zu Chrissy?“


Isi: „Schon, sie muss auch da sein. Ich kam gerade um die Ecke, da konnte ich Franz sehen, wie er aus dem Haus kam und irgendwas von Frankfurt und einer Schießerei gesagt hat.“


Nora: „Frankfurt? Tote?“


Isi: „Woher soll ich das wissen? Ich kam gerade um die Ecke...“


Nora: „Wo ist Franz hin?“


Isi: „Der ist in Torbens Auto eingestiegen und weggefahren.“


Nora: „Schade, dann kannst du nicht fragen. Mit den Jungs?“


Isi: „Klar, die haben auf der Rückbank rumgetobt.“


Nora: „Und Torben hat nur nach vorne geguckt.“


Isi: „Ich finde das auch nicht gut. Aber ich sage dazu nichts.“


Nora: „Na ja, wenigstens vernünftig, dass du gleich hinter Torben her bist.“


Isi: „Woher sollte ich wissen, dass Torben zu Chrissy fährt?“


Nora: „Weil Franz zu Fuß in der Richtung unterwegs war.“


Isi: „Ja, und?“


Nora: „Du hast aus dem Küchenfenster geraucht. Und Franz hat gesagt, er hätte keine Zeit. Du würdest doch Chrissies PC-Stress kennen.“


Isi: „Und das hast du in Niederroden gehört?“


Nora: „Nein. Xenia telefonierte gerade mit Franz, als er bei dir vorbeikam“


Isi: „Ich konnte Franz jedenfalls nicht verstehen.“


Nora: „Wenn Torben einige Minuten nach Franz bei dir langfährt...“


Isi: „Willst du mir was unterstellen? Was kann ich dafür, dass ich aus dem Küchenfenster sehen kann, wer in Richtung Chrissy fährt? Außerdem wohnen hier ja noch einige andere Leute.“


Nora: „Norbert hat heute frei.“


Isi: „Der wird ja wohl nicht mit den Kindern zu einem Vergewaltiger fahren!“


Nora: „Das mit der Vergewaltigung kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“


Isi: „Was ist an ‚Nein, das will ich nicht – lass das – aua, lass mich los – das darfst du nicht – das ist falsch – du tust mir weh‘ falsch zu verstehen?“


Nora: „Wow, so war das?“


Isi: „Du kannst es glauben oder nicht. Ich hab‘s mir dreimal … ist die ins Klo gefallen?“


Nora: „ Dreimal?“


Isi: „Dreimal was?“


Nora: „Du hast dir dreimal – was?“


Isi: „Meinen Post von gestern angesehen. Ich finde, den Versprecher merkt man gar nicht, was meinst...“


Isi: „Tut mir leid, Nora, ich muss Schluss machen. Hallo Chrissiiiii!“


Chrissy: „Hallo Isiiiiiiii! Was für eine Überraschung!“

 

Impressum

Texte: NoX v.B.
Cover: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2021

Alle Rechte vorbehalten

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