Lärm im Dunst. Schreie und Explosionen. Nebel oder Rauch verbarg ihren Ursprung. Es roch weder feucht, noch verbrannt. Ein heftiger Stoß riss ihn von den Füßen. Sein Kopf schlug auf einen harten Untergrund. Heftiger Schmerz verhinderte, das Bewusstsein zu verlieren.
„…trotz der heftigen Buschbrände feierte Australien den Jahreswechsel...“
Sein Bewusstsein schwand nicht, es kehrte zurück.
„...nun zurück zur größten Silvesterparty in Deutschland...“
Er lag zwischen Couch und Tisch auf dem Boden.
„...noch 15 Minuten. Dann dürfen wird das neue Jahr begrüßen!“
Das alte war erbärmlich, warum sollte er das neue begrüßen?
„...noch haben Sie Zeit. Verraten Sie uns Ihren Vorsätze für 2020!“
Wem nutzten Vorsätze für ein weiteres erbärmliches Jahr.
„...ihre Gesundheit ist unser Vorsatz: vitamine-per-klick.de! Auch 2020!“
Ein erbärmliches Jahr mit noch erbärmlicher Werbung.
„...Vitamine für jeden Tag...“
Und kaltes Wasser für diesen erbärmlichen Abend.
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Norbert schleppte sich mühsam die Treppe hinauf. Das Aufstehen war ein Kraftakt gewesen, den Fernseher auszuschalten eine Wohltat. Relativ. Wohltaten existierten nicht an erbärmlichen Abenden zum Abschluss erbärmlicher Jahre.
Keine guten Vorsätze, keine Versprechen und keine Schwüre. So wollte er sich ins neue Jahr katapultieren. Mit einer Bowle bestehend aus allen Alkoholresten, die er in seinem Häuschen fand. Die letzten kleinen Flaschen Sekt und Prosecco, die ihm die Seniorin aus der anderen Doppelhaushälfte für kleine Gefälligkeiten regelmäßig auf die Terrasse stellte waren der Grundstock. Dazu kamen alle, teils spärlichen Reste Absinth, Gin, Grappa, Ouzo, Rum, Weinbrand, Whiskey und Wodka. Damit hatte er in den letzten Jahren versucht, seine Kochversuche zu verfeinern. Allerdings war es meist wichtiger, die Enttäuschung zu ertränken. Heute war ein erbärmlicher Tag nach einem erbärmlichen Jahr in einem Leben mit erbärmlichen Kochversuchen, die erbärmliche Beziehungen nicht retten konnten.
Als Krönung kippte er schließlich drei Glas dunkler Cocktailkirschen mitsamt des überzuckerten Sirups in den Topf. Das Ergebnis war lecker. So lecker, dass er sich nach einer halben Stunde und zwei Gläsern Bowle eine kalte Bockwurst und einen latschigen Toast reinquälte. Er wollte sich zwar ins neue Jahr katapultieren, aber nicht aufwachen, bevor die Menschen um ihn herum auf ihrer Fröhlichkeitshysterie ins neue Jahr getorkelt waren. Auf keinem Fall wollte er heute Nachbarin Chrissy begegnen, unter deren Gästen er vor genau einem Jahr den Mann getroffen hatte, der ihm die erbärmlichste aller Beziehungen eingebracht hatte.
Die Katapultbowle hatte leider nicht funktioniert. Oder zu schnell, nicht richtig oder einfach – erbärmlich. Wenige Minuten vor dem Jahreswechsel lehnte Norbert am Wachbecken und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Der Rausch, der ihn vor wenigen Stunden in den ersehnten Schlaf geführt hatte, war für einen Sturz von der Couch zu schwach. Ein schwacher Rausch an einem erbärmlichen Abend.
‚Könntest du richtig saufen, könntest du auch richtig kotzen und dann wieder richtig leben!‘
‚Sei nicht so gemein! Er muss doch endlich die Enttäuschungen überwinden.‘
Norbert hielt inne. Träumte er noch? Nein, sein Kopf schmerzte, die Zunge war pelzig und aus seinem Magen stieg ein ätzender Geschmack nach Bockwurst, Kirschen und Alkohol auf.
‚Ein richtiger Kerl würde sich den Finger in den Hals stecken und den Mist auskotzen.‘
‚Ein vernünftiger Kerl hätte sich mit einer weichen Decke auf die Couch gekuschelt und endlich mit den schlimmen Erinnerungen abgeschlossen.‘
Norbert überlegte, was ein halluzinierender Kerl üblicherweise tat.
‚Und dabei Weicheikompott gelöffelt oder doch lieber Rühreisoufflee?‘
‚Du bist scheußlich. Gurgel doch mit Eisenspänen, wenn du du dich danach besser fühlst.‘
Langsam richtete sich Norbert auf. Aus dem Spielgel sah ihn sein nasses Gesicht an. Es wirkte etwas blass und mitgenommen, machte aber keine Anstalten, mit ihm zu reden. Aus den Augenwinkeln nahm er allerdings wahr, dass der eine Seitenspiegel bläulich und der andere rötlich schimmerte.
Ohne den Kopf zu bewegen, schaute er nach rechts und erkannte sein Gesicht. Es sah ihn jedoch direkt an, lächelte verlegen und wirkte sehr besorgt.
Norbert Augen schnellten nach links. Von dort blickte ihm sein mürrisches Gesicht entgegen. Die Augenbrauen waren zusammengezogen und die Nase schien dunkelrote Qualmwölkchen auszustoßen.
Das rechte Spiegelbild war eindeutig freundlicher. Norbert wandte sich ihm ganz zu und wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt.
‚Ja, so wundervoll siehst du aus, wenn du glücklich bist‘, freute sich das Spiegelbild.
‚So dämlich grinst du, wenn du durch dein Wolkenschloss irrst‘, pöbelte das andere.
‚Unsere Gefühle waren echt!‘
‚Und Paul war nicht gut genug, ihn ein zweites Mal ins Bett zu lassen.‘
Norbert beugte sich nach unten, schöpfte kaltes Wasser und warf es sich ins Gesicht. Wasser plätscherte. Draußen knallte ein Böller, ansonsten war es ruhig. Langsam richtete er sich auf. Die beiden Spiegelbilder waren verschwunden. Erleichtert trocknete er sich ab. Als er das Badezimmer verließ, meinte er, hinter sich ein Seufzen zu hören. Nur mühsam widerstand er dem Zwang, sich umzudrehen. ‚Lusche!‘, schnaubte jemand hinter ihm, doch er zog die Tür zu und ging hinunter.
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Es war kurz nach Mitternacht. Die Lichter der ersten Raketen erhellten den Himmel, ihr Zischen drang nur schwach durch die geschlossenen Fenster. Anders die lauteren Böller. Sie schienen im Haus ungehindert zu lärmen.
Auf die Nachbarterrasse traten die ersten Gäste ins Freie. Einige beobachteten das Feuerwerk, andere fielen sich gegenseitig in die Arme und tauschten wohl die üblichen Wünsche aus. Genau vor einem Jahr hatte auch Norbert dort gestanden und geglaubt, mit Paul das Glück seines Lebens gefunden zu haben. Chrissy lief wieder von Gast zu Gast, prostete zu, stieß an, lachte, trank, umarmte, scherzte, kurz, sie badete wieder in dem Moment. Dann sah sie plötzlich in seine Richtung. Im Raum war es dunkel, doch er stand so dicht an der Terrassentür, dass sie mindestens seine Umrisse erkennen musste. Dann drückte sie einem Gast ihr leeres Glas in die Hand und nahm zwei anderen die vollen weg.
Wenige Schritte später stand auf Norberts Terrasse.
‚Oh, ihr tut es schrecklich leid.‘
‚Schnapp‘ dir ein Glas und kipp ihr die Brühe in die Visage!‘
Norbert öffnete die Tür.
„Chrissy?“
Er hatte nicht realisiert, wie sie es geschafft hatte. Aber er hielt in einer Hand ein Sektglas und war in eine feste Umarmung gezogen. „Ich wünsche dir ganz, ganz doll ein schönes 2020!“
Norbert zögerte, erwiderte dann aber ganz knapp die Umarmung. „Dito!“
Chrissy gab ihn frei. Mit dem Klingen der Gläser kehrten auch die anderen Geräusche zurück.
„Magst du einem Moment herüberkommen? Keine Angst, die eine Hälfte kennst du und die andere ist so langweilig, die kannst du gleich wieder vergessen.“ Chrissy klang flehentlich.
‚Nein, soweit sind wir noch nicht!‘
‚Nimm deine Bowle mit und schieß‘ die Spießer damit ab!‘
Die Idee gefiel Norbert. „Klar, warum nicht. Ich hole nur schnell meine Bowle.“
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Chrissy war skeptisch, nachdem sie an der Bowle gerochen hatte. Mit dem ersten Schlückchen änderte sie ihre Meinung und nach der ersten Kirsche war sie begeistert. Die anderen Gäste stimmten ihr zu, obwohl es einige wegen der zu erwartenden Folgen bei einer bescheidenden Kostprobe beließen.
Der Reiz, die Spießer mit der Bowle abzuschießen, bröckelte. Computer-Franz brauchte er demnächst für seinen neuen Router, Rabatt-Uschi sollte ihm zusätzliche Treuepunkte für die Pfannenaktion zustecken und Ortsrat Schulze weiterhin die ausgelesene Tageszeitung überlassen. Das waren eigentlich die Netten. Mit Läster-Isi durfte er es nicht verderben, es sei denn, er wollte von ihr Seuche, Waffenhandel oder Spionage für den jeweiligen Feind angedichtet bekommen, und Schrauben-Dumbo verlor gerne mal spitze Gegenständen vor den Autos der Leute, die ihn geärgert hatten. Die Gastgeberin hatte trotz ihres Alkoholspiegels die Lage einigermaßen unter Kontrolle. Zwei Nachschlag-Versuche von Läster-Isi hatte sie abgewehrt und einen von Uschi. Franz‘ Mann und Dumbos Frau passten auf ihre Männer selbst auf. Nur Ortsrat Schulze erbeutete mit einer anderen Kelle eine weitere Portion seiner Bowle.
Chrissy löste das Problem, indem sie den Topf neben einen Kerl stellte, der sich wohl in einer Ecke versteckt hatte. Er schien der einzige Gast zu sein, der keinen Wert auf Gesellschaft legte. Neben sich selbst natürlich, überlegte Norbert. Bei seinem blauen Spiegelbild würde das sicher erneut Mitleid auslösen und das rote wäre wieder genervt. Allein die Tatsache, Silvester in einem dunklen Anzug zu feiern, war eine Einladung zum Spott.
„Heißt dein guter Vorsatz diesmal etwa Mauerblümchen?“, flötete ihm eine unangenehm hohe Stimme ins Ohr. „War Paulchen etwa zu viel Panther für dich?“, ätzte sie weiter. Norbert dachte intensiv an die roten Wölkchen, die sein Spiegelbild ausgestoßen hatte. Leider bliebt ihm der Effekt verwehrt. Oder Isi lachte so gehässig, weil sie sich davon in keiner Weise beeindrucken ließ. Er atmete tief ein und suchte eine angemessene Erwiderung, doch ein Schwall Flüssigkeit klatschte Isi von hinten rechts gegen den Kopf. Sie quietschte erschrocken und Norbert fürchtete um sein Gehör, wenn sie loszetern würde, doch das entsetzte „Bruno!“ aus der anderen Richtung ließ sogar Isi verstummen. Neben ihr tauchte ein brauner Anzug auf. Sein Träger fuchtelte mit einem nun nur noch zu Hälfte mit Bowle gefüllten Wasserglas in Norberts Richtung und nuschelte: „Du bist also der Typ, den Paul letztes Jahr gedemütigt hat“, setzte das Glas an und trank den Rest auf ex, um dann genüsslich die Kirschen zu zerkauen.
Isis Gezeter blieb noch immer aus. Chrissy war fast bei ihnen und Norbert starrte auf den kauenden Mund. Als hätte ihn sein rotes Spiegelbild angestachelt, griff er in Brunos Nacken, zog ihn zu sich, gab ihm einen ruppigen Kuss und kaute schon auf einer erbeuteten Kirsche. Seinen Blick hatte ein Stück Kirsche auf Brunos Unterlippe gefangen. Fasziniert beobachtete er die Zunge, wie sie das Fruchtfleisch zurückschob, und sich die Lippen schlossen. Das Geräusch von zerspringendem Glas verschob seine Wahrnehmung. Isi schwieg noch immer, Chrissy schimpfte und schob die beiden Männer auseinander.
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Norbert war nach Hause geflüchtet. Die Terrassentür hatte er noch nicht hinter sich geschlossen, da hörte er schon sein blaues Spiegelbild schimpfen.
‚Wie konntest du ihm das antun!‘
‚Was faselt der auch von Miststück-Paul...‘
Norbert spürte eine gewisse Erleichterung. Wenigstens sein rotes Spiegelbild hielt zu ihm...
‚...aber wer will schon die Torte im Bett, wenn man eine Kirsche im Maul haben kann!‘
...oder auch nicht.
‚Wie kommst du nur darauf? Du tust so, als hätte uns Bruno angegraben.‘
‚Paul hätte uns gedemütigt – nicht gelinkt, verarscht oder vorgeführt. Gedemütigt!‘
‚Oh, du kannst ja auch sensibel sein.‘
‚Mit sooo einer Krawatte!‘
Tatsächlich fand Norbert in der Glastür des Wohnzimmerschrankes sein rotes Spiegelbild. Die Krawatte umfasste die gesamte Spannweite seiner Arme.
‚Was du da zeigst hat mindestens SOOOOOO viele Os!‘
Nein, die Spannweite des blauen Spiegelbilds war nicht größer. Ob die beiden auch in einem Sandkasten mit geschreddertem Altglas spielen würden?
‚Pah‘, kam es von beiden, dann war Ruhe.
Dankbar sank Norbert auf die Couch. Wenigstens schmollen konnten die beiden gemeinsam. Er schloss seine Augen und die Katapult-Bowle beförderte ihn in erlösende Dunkelheit.
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‚Oh weh! Oh weh! Lebt er noch?‘
‚Wird er schon. Wir sind ja noch da!‘
‚Aber wie lange? Atmet er noch?‘
‚Der Sabbertropfen im Mundwinkel wird größer.‘
‚Wie eklig!‘
‚Aber eindeutig.‘
Das rote Spiegelbild versuchte, Norberts Nase zuzuhalten, fasste aber durch sie hindurch. Auch das Streicheln des blauen Spiegelbildes blieb wirkungslos.
‚Wir sollten Hilfe holen.‘
‚Gute Idee. Woanders ist es bestimmt nicht so langweilig.‘
‚Furchtbar, du denkst nur an dein Vergnügen!‘
‚Klar!‘ Und schon war das rote Spiegelbild unterwegs, durchschritt einfach die Wand und näherte sich Chrissies Haus. Das blaue beeilte sich, hinterherzukommen.
Norbert hatte fassungslos zugeschaut. Sich selbst sah er reglos auf der Couch liegen und seine beiden Spiegelbilder gingen spazieren. Ohne nachzudenken folgte er ihnen.
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Die meisten Gäste hatten die Party verlassen. In der Küche saß Chrissy und diskutierte mit Uschi, wie sie die drei letzten Minifrikadellen gerecht zwischen sich aufteilen konnten. Im Bad hing Franz halb in der Wanne. Sein Mann hielt ihn und wartete geduldig auf den letzten Schwall Mageninhalt. Norbert schätze es als Vorteil, in seiner aktuellen Gestalt nicht riechen zu können.
Wohn- und Arbeitszimmer waren leer. Im Gästezimmer lag Bruno quer in seinem braunen Anzug über dem Bett. Rechts und links neben ihm schwebten Spiegelbilder von ihm, ein rötlich und ein bläulich schimmerndes. Beide waren bis zu den Schultern gut zu erkennen, aber bis zum Bauchnabel vollständig verblasst. Und sie stritten.
‚Erst verführst du uns zum Trinken und dann lässt du uns Norbert auch noch auf diesen Paul ansprechen‘, klagte Brunos blaues Spiegelbild.
‚Unser Körper hat den Kuss genossen‘, hielt das rote dagegen.
‚Wir sind verheiratet!‘
‚Mit einer Frau, die wir noch nicht einmal mögen...‘
‚Der heilige Eid zählt!‘
‚Wie kann etwas heilig sein, was unglücklich macht?‘
‚Wer die Prüfungen verweigert, hat keinen Anspruch auf Glück.‘
‚Du willst tatsächlich mit einem Kuckuckskind glücklich werden?‘
‚Es ist ehelich geboren, damit gibt es keinen Zweifel an Vater und Mutter.‘
‚Mann und Frau, beide braune glatte Haare, blasse Haut, schmale Lippen haben ein gemeinsames Kind mit schwarzen Locken, einem Teint wie nach vier Wochen Urlaub in Tunesien und volle Lippen?‘
‚Dieses ganze Vererbungszeug ist Blasphemie!‘
Bruno regte sich. Seine Spiegelbilder sahen ihn erschrocken an. Je wacher er wurde, umso blasser wurden sie.
Wenigstens wusste Norbert nun, wem er vor kurzem den Kuss aufgezwungen hatte. Chrissy hatte ihm von einem Cousin erzählt, der sich nicht wie sie aus der Sekte, in der sie wie Geschwister aufgewachsen waren, befreien konnte. Zwei Monate vor der Hochzeit war der Cousin mit seiner Verlobten in Tunesien im Urlaub. Selbstverständlich in Einzelzimmern. Sieben Monate kam das Kind und mit ihm Zweifel an der Vaterschaft. Norbert schämte sich, obwohl Brunos rotes Spiegelbild behauptet hatte, den Kuss genossen zu haben. Und ihm tat der andere Mann tatsächlich leid.
Bruno hatte sich aufgerichtet. In dem Spiegel hinter dem Bett war nur sein Hinterkopf zu sehen – zwischen seinen beiden Spiegelbildern. Beide hatten ihren vorwurfsvollen Blick auf Brunos Hinterkopf gerichtet. Als würde er die Blicke spüren, sah er hinter sich und zuckte zusammen. Neben seinem Gesicht erkannte er zwei weitere Spiegelbilder von sich und eine weitere Person auf der anderen Seite des Raumes.
Bruno sprang auf und suchte hektisch in der Richtung, konnte aber niemanden entdecken. Also sah er wieder in den Spiegel, wo die Person noch immer an derselben Stelle stand. Plötzlich wusste er zweifelsfrei, wen er im Spiegel sah.
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Norbert ahnte, warum Bruno hektisch zwischen Spiegel und Raum hin- und hersah. Welche Spiegelbilder Bruno sah, war unklar. Allerdings war es eindeutig, dass er etwas an der Stelle suchte, von wo aus ihn Norbert beobachtete. Dann nannte er, dem Spiegel zugewandt, seinen Namen. Es klang sehr besorgt.
Bruno rannte zur Tür, riss sie auf und fiel beinahe die Treppe hinunter. Durch den Garten lief er zum Nachbarhaus, dort ruckelte er an der Terrassentür, bis sie aufsprang. Im Haus führte ihn ein verdächtiges Geräusch zur Couch, wo sich Norbert mit hässlichem Pfeifen abmühte, einzuatmen.
Ohne nachzudenken kniete sich Bruno auf die Couch, zog Norbert auf seine Oberschenkel und schlug ihm auf den Rücken. Das Pfeifen blieb. Bruno schlug noch einmal. Norbert krampfte, hustete etwas aus und konnte endlich geräuschvoll, aber kräftiger atmen.
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Aus dem breiten Fenster über der Couch hatten vier Spiegelbilder das Geschehen beobachtet. Als Bruno die Kirschenhälfte von der Couch pulte, schnaubte Norberts rotes Spiegelbild: ‚Da hat er uns mit seiner Bowle doch fast aus dem Leben katapultiert!‘
‚Sünder bleibt Sünder‘, merkte Brunos blaues an.
‚Und an die verschwendet er natürlich nicht seine Nächstenliebe‘, erklärte Brunos rotes Norberts blauem Spiegelbild. ‚Und was ist mit deiner Nächstenliebe?‘, stellte es die Gegenfrage. Als Antwort zeigte es ein strahlendes Lächeln. Sie sahen sich noch einen Moment an, dann näherten sich ihre Lippen für einen vorsichtigen Kuss. Ihre Farben verschmolzen miteinander und waren nach wenigen Augenblicken verblasst.
Die beiden anderen Spiegelbilder blieben zurück. Brunos blaues betrachtete hochmütig die nun leere Stelle. Norberts blies mal wieder rote Wölkchen durch die Nase. Doch dann schlich sich ein freches Grinsen in sein Gesicht. Plötzlich schnellten zwei rote Hände hervor und hielten den blauen Kopf fest. Norberts rotes gab Brunos blauem einen ruppigen Kuss. Auch ihre Farben verschmolzen miteinander und wenige Augenblicke waren auch sie verblasst.
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Norbert und Bruno schauten noch immer zum Fenster. Ihre Spiegelbilder waren verschwunden, was sie als Verlust empfanden. Gleichzeitig fühlten sie sich so vollständig wie noch nie in ihren Leben. Und für ihr Uns brauchten sie keine guten Vorsätze.
Cover: pixabay
Lektorat: Marie
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2020
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