Es waren einmal ein Geschwisterpaar, zwei Brüder auf die ein Vater stolz sein konnte. Aber ihr Vater starb früh und sie mussten lernen sich alleine im Leben zu behaupten, denn die Mutter war im Kindbett des jüngeren Bruders verstorben. Da sie in ärmlichen Verhältnissen lebten, gab es nichts, was sie hätten erben können. So war es für sie unerheblich, wer der Erstgeborene war und sie lebten in Eintracht miteinander.
Der Tod des so geliebten Vaters war ein herber Schlag für beide, aber sie verarbeiteten ihre Trauer unterschiedlich: Der eine wendete sich den Göttern zu und fand bei ihnen Zuflucht in schweren Zeiten. Der andere flüchtete sich in den Rausch und die Fleischeslust. Er ging saufen, spielen, raufen und huren, wann immer er Zeit und Geld zur Genüge aufbringen konnte und verprasste damit auch den Besitz seines Bruders. Doch so unterschiedlich die beiden Brüder auch waren, sie hielten zusammen und halfen einander, in guten wie in schlechten Zeiten.
Eines Tages mussten sie den Gläubigern entfliehen, die nicht mehr auf ihr Geld warten wollten, denn über die Zeit war auch das Geldsäckel des brüderlichen Priesters erschöpft. Es galt eine Fähre zu erreichen, die nur einmal des Tages den Oidra überquerte, beim Aufgang der ersten Sonne hinüber, zur Abenddämmerung wieder her. Doch wie die Götter es wollten, verschliefen die Brüder und mussten sich sputen. Der gläubige Bruder aber wollte nicht auf sein Morgengebet verzichten, und so kam es, dass sich die beiden Brüder zum ersten Mal seit langem trennten: Der verschuldete Bruder eilte hinfort, um die Fähre rechtzeitig zu erreichen, während der gläubige Bruder zurückblieb.
Als er schließlich aufbrach und an der Fährstelle ankam, konnte er die Fähre noch entfernt auf dem Fluss ausmachen, wie sie in den Fluten versank und alle an Bord mit sich in die kalten Tiefen zog, unter ihnen auch den Bruder. Nun war die Trauer des verbliebenen Bruders zwar groß, er war jedoch auch erleichtert darüber, dass die Götter wenigstens ihn vor dem Schicksal seines Bruders bewahrt hatten. Außerdem hatte nun das traurige Leben des Bruders ein Ende und er musste sich fortan nicht mehr um ihn sorgen. Und so zog er allein von dannen um fortan in einem Tempel zu leben. Nach einigen Jahren war es ihm sogar möglich die Schulden seines verstorbenen Bruders zu begleichen und das Morgengebet hat er nie vergessen.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute…
Texte: Bei Raoul Pape
Lektorat: Joschka Scharmacher
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Einen großen Dank an meine Rollenspielgruppe und vor allem an meinen großartigen Lektoren, Joschka ;)