Die Handlung zu diesem Roman ist frei erfunden, ebenso die Personen, die darin beschrieben wurden. Real ist jedoch das grüne Buch „Douaumont“, das ich im Sommer 2006 auf einem der zahlreichen Trödelmärkte in Berlin gefunden habe und real ist oder war auch das 105. Sächsische Infanterie Regiment, das unter enormen Verlusten bei der Erstürmung der Höhe 378 und beim Angriff auf das Dorf Douaumont und auf das Fort Douaumont vor Verdun gekämpft hat. Real ist oder war auch das 95. Französische Infanterie Regiment. Die Handlung könnte sich aber so, oder zumindest so ähnlich abgespielt haben. Sollten sich zufällig Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ergeben und sich jemand verletzt fühlen, bitte verzeiht.
In der Erinnerung habe ich viele Gespräche mit meinem Großvater, Friedrich Robert Fischer, genannt Fritz, der bei Verdun und bei Douaumont an der Westfront gekämpft hat. Meine ganze Kindheit haben mich diese Beschreibungen begleitet, genauso wie der Bildband, „Eine ganze Welt gegen uns“, den wir uns häufig gemeinsam angesehen haben, in dem die Schrecken des Krieges nüchtern und nicht verherrlichend in schwarz-weiß Fotos abgebildet waren. Dieses Geschehen bei Verdun hatte offensichtlich meinen Großvater, von Beruf Fleischer, mit einem eigenen Laden in Berlin-Friedrichshain, so geprägt, dass er im II. Weltkrieg bei Bombenalarm und Verdunklung nach Berlin-Moabit mit dem Fahrrad zu einer Kirche gefahren ist, um dort Fleisch und Wurst für ihn unbekannten Personen abzugeben, die er nie kennen gelernt hat, seine Art von Wiedergutmachung, eine Kompensation seines schlechten Gewissens. Ich hatte das auch nicht von ihm, er sprach nie darüber, sondern von meiner Mutter erfahren, die ihn, als er erkrankte, vertreten hat, ohne dass meine Großmutter je darüber Kenntnis haben durfte.
Viele Jahre später, im Schüleraustausch mit Frankreich, habe ich festgestellt, dass der Großvater meines Brieffreundes ebenfalls in oder bei Verdun, gekämpft hat. Theoretisch könnten sich also unsere Großväter beschossen haben. Es war schon irrwitzig, wie ich fand. Die Enkel waren befreundet und zwei Generationen davor, lagen Familienmitglieder in den Schützengräben ihres Landes.
Es war aber nicht nur Verdun, mit vorgelagerten Forts wie Douaumont, Vaux, Souville, St. Michel, Belleville, (nicht unser Belleville, doch davon später) Chaume, Sartelle, Tavanne, Belrupt, Moulaiville, Laufee, Haudainville, Lancrecourt, Regret und wie die anderen Forts und Vorwerke auch hießen, die so hart umkämpft waren und die beide Länder so viel Blut gekostet haben.
Douaumont stand und steht als Synonym für einen überflüssigen und grausamen Krieg.
Jahre später, als ich 1972 mit einer Einladung für die olympischen Spiele in München auf der Autobahn unterwegs war, denn ich hatte auf dem Olympia Gelände als Student ein Praktikum absolviert und hörte zufällig im Autoradio von dem Attentat auf die israelischen Sportler. Ich bin in Höhe Nürnberg von der A9 einfach rechts abgebogen. Ein Fest der Völker unter diesen Vorzeichen wollte ich nicht. So bin ich an Stuttgart vorbeigefahren, über Metz nach Verdun. Dort habe ich beim Fort Douaumont eine längere Pause eingelegt, auf der Stoßstange meines Käfers sitzend und alles Revue passieren lassen, das früher Geschehene und das Jetzige, mit einem Fluite (Baguette), einer Flasche Macon und einem Camembert.
Ich habe mich an dieses Picknick, an die Flasche Rotwein und das Gefühl erinnert, als ich dieses Buch schrieb und deswegen Belleville, was es übrigens auch nicht gibt, jedenfalls nicht dort, in die Nähe von Macon gelegt, einem Weinanbaugebiet, dessen gleichnamiger Rotwein eine meiner Lieblingsmarken ist, erdig und trocken.
Bei meinen vielen Besuchen in Frankreich und Fahrten durchs Land war ich der Boche und bin ich sehr oft von älteren französischen Kollegen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, um meine Kasse auszubessern, so bezeichnet worden. Später, nachdem man sich abends, bei dem einen oder anderen Pastis oder beim Pétanque kennen und auch schätzen oder akzeptieren gelernt hat, wurden die Vorurteile recht schnell abgebaut und daraus scherzhaft ein „petit boche“ oder manchmal auch ein „pierrot“.
Wer schon einmal die Landschaft bei Verdun gesehen hat, kann auch heute noch feststellen, dass der Boden auch nach so vielen Jahren immer noch keinen richtigen Bewuchs aufweist. Die Narben in der Landschaft, die der Krieg hinterlassen hat, mit Hunderttausenden von Granaten, sind immer noch sichtbar und sollten uns daran erinnern, dass dieses nicht wieder geschehen darf, nirgendwo! Ich hoffe, so etwas wird nicht mehr geschehen und nationaler Stolz, imperialistische Gedanken und Machtgier, werden durch die Vernunft und den Verstand der Völker verdrängt.
Die Hunderttausende von Toten und Verwundeten, den Blutzoll, den alle Seiten erbracht haben, mahnen uns.
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für die mir zuteilgewordene Unterstützung durch Marcus Massing und Stephan Klink bedanken, den Vorsitzenden des DFFV e.V. (Deutsch- Französische Forschungsgesellschaft Verdun e.V.) www.dffv.de.
Stephan Klink ist Gründungsmitglied und 1.Vorsitzender Seine Forschungsschwerpunkte sind: Truppeneinsätze 1914-1918 bei Verdun, Spezifische Personeneinsätze und -ermittlung bei Verdun, Friedhöfe bei Verdun, Denkmalpflege, Spezifische Geländekunde (Hauptkampfgebiet, ehemaliges deutsches Hinterland), Fortifikation bei Verdun, Guide für fachbezogene Führungen.
Er hat diverse Publikationen zum Thema Verdun veröffentlicht. Kontakt: Stepklin@aol.com
Marcus Massing ist Gründungsmitglied und 2.Vorsitzender. Er betreibt seit mehr als 20 Jahren Forschung zum Thema Verdun und 1. Weltkrieg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Festungsforschung, Preußischer Festungsbau, Französischer Festungsbau von Séré de Rivières, Allgemeine Militärhistorik, Artillerie.
Kontakt: MMSting@aol.com, www.douaumont.net
Die Mitglieder der Deutsch-Französische Forschungsgesellschaft Verdun e.V. haben sich aus dem gemeinsamen Interesse um das Thema Verdun, Douaumont und dem 1. Weltkrieg zusammengefunden und Mitglieder in der Schweiz, England, Frankreich, Deutschland und Belgien.
Sophie saß auf der Bank vor dem Haus und der laue Wind des Spätsommers spielte sanft mit ihren dunkelblonden Haaren, die von den letzten Strahlen der Abendsonne rotgolden beleuchtet wurden. Sie genoss die Ruhe und einen der letzten schönen Sonnenuntergänge. Sophie blickte in die sinkende hellrote Scheibe, die sich anschickte hinter den Hügeln zu versinken und kniff dabei die Augen zusammen um nicht geblendet zu werden. Die Tage wurden bereits kürzer und die Nächte spürbar kühler, der Herbst kündigte sich an. Von der Bank aus hatte man einen herrlichen Überblick über die Weinberge und die sich langsam von Sattgrün auf Hellgelb verfärbenden Blätter. Hinten, schon fast am Horizont, wie ein Rahmen für ein Bild, erhoben sich die sanften Hügel von Belleville, auf die sich bereits der Schatten der nahenden Nacht gelegt hatte. Das Geräusch eines Fahrzeugs war in der Ferne zu hören. Es kam näher und bald hörte sie den knirschenden Kies unter den Reifen. Das Knirschen wurde lauter und näherte sich rasch. Sie drehte den Kopf und hielt die Hand abschattend über die Augen. Ein Auto bog um die Ecke und glitt langsam vor die Scheune, wo es zum Stehen kam. Die Türen flogen auf und zwei Kinder stürmten laut rufend und kreischend auf sie zu.
„Maman wir sind wieder da“! Sophie war aufgestanden und lief den beiden mit ausgebreiteten Armen entgegen.
„Maman, wir haben dich so vermisst!“ Sie umschlangen die Beine von Sophie mit ihren kleinen Armen, als ob sie die nie mehr loslassen wollten.
„Ich habe euch beide auch vermisst.“ Sie strich den Kindern sanft über den Kopf, „dich mein kleiner Robert und dich, meine kleine, liebe Claudine. Ich habe euch sehr lieb, aber jetzt geht und wascht euch die Hände, Grandpère möchte endlich essen.“
Hinter ihnen kam ein junger, sportlicher Mann vom Auto her auf die Gruppe zugeschlendert. Er betrachtete die Szene lächelnd und schob die Sonnenbrille in die Stirn. Über der Schulter und in der einen Hand trug er die Taschen der Kinder und unter dem Arm einen bunten Schwimmreifen und gelbe Schwimmflossen.
„Es war toll, du hättest das sehen sollen, wie wir gesprungen sind“, krähte der kleine Robert fröhlich. „ich kann jetzt Arschbombe!“
Sophie lächelte, „das hätte ich gern gesehen, aber dazu wird es schon noch Gelegenheit geben.“
Inzwischen war der Mann bei der Gruppe angekommen. Er setzte das Gepäck ab, umarmte Sophie und küsste sie zärtlich.
„Ich habe dich auch vermisst.“
Sophie lachte, „du alter Schwindler, ihr habt das Wochenende genossen, ohne mich.“ Sie knuffte den großen Robert in die Seite und verzog ihren Mund zu einem Lächeln, einem bezaubernden Lächeln, das Robert so liebte.
„Ich habe dich wirklich vermisst“, versuchte es Robert erneut, mit gespielter Empörung.
Sophie löste die Umarmung und setzte sich wieder auf die Bank, blinzelte in die tief stehende Sonne und seufzte. Robert setzte sich neben sie und legte seine Hand auf ihren Arm.
„Es ist so wunderschön und so friedlich hier“, nahm Sophie das Gespräch wieder auf.
„Nein wirklich, ich habe dich sehr vermisst“, brummte Robert. Sophie seufzte erneut, lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und schloss die Augen.
Die Kinder waren inzwischen die Treppe hinaufgestürmt. Krachend flog die Tür auf.
„Salut“, tönte es zweistimmig aus der offenen Haustür.
Oben erschien Roberts Vater.
„Kommt endlich essen, ihr könnt ja nachher weiterturteln, aber jetzt knurrt uns der Magen.“
„Ich habe auch bis jetzt warten müssen“, brummte Sophie leise.
Sophie und Robert standen langsam auf und gingen die Treppe hinauf, traten ein und schlossen die Tür.
Die Geschichte begann vor einigen Jahren, an einem sonnigen Sonntag, auf einem der vielen Trödelmärkte in Berlin. Die meisten Stände waren stark umlagert. Dass so viele Besucher gekommen waren, lag am schönen Wetter. Der Wettergott meinte es gut mit allen, mit den Verkäufern, die ihre Ware auf großen Tischen anboten und mit den zahlreichen Besuchern, die von Tisch zu Tisch schlenderten, mehr oder weniger interessiert.
Sophie und Thomas liefen ebenfalls langsam von Stand zu Stand, ohne eigentlich irgendetwas konkret zu suchen, einfach nur so zum eigenen Vergnügen und aus Neugier. Das ist eigentlich der Reiz, den ein Trödelmarkt ausmacht. Einiges hatten sie schon für ihre Wohnung gefunden, Kleinigkeiten, die den Alltag erleichtern sollten, einen Nussknacker, eine Suppenkelle und eine blaue Vase. Gerade feilschte Sophie mit einer Händlerin um ein geblümtes Sommerkleid. „Es kostet siebenfünfzig.“ Sophie schüttelte den Kopf. „Also mehr als drei Euro bin ich nicht bereit zu zahlen. Es ist ungewaschen und hier muss eine Naht nachgenäht werden.“
„Na, gut“, brummte die Händlerin zustimmend, „drei Euro sind in Ordnung!“ Sophie verstaute triumphierend ihre Beute im Rucksack. Ihr Budget schrumpfte immer mehr, während sich Thomas mit Käufen sehr zurückhielt.
Sie schlenderten zu den nächsten Ständen.
An einem Stand entdeckte sie ein altes, grünes, abgegriffenes Buch, mit dem Titel „Douaumont“. Vorn auf dem Deckblatt war ein Stahlhelm mit Ranken abgebildet und in goldener Schrift prangte über Allem das Wort „Reichsarchiv“. Sie blätterte interessiert darin herum. Hinten im Umschlag waren Landkarten zusammengefaltet und von einer Papierlasche gehalten.
„Erster Weltkrieg“, erklärte der Händler, ein älterer, beleibter, stark schwitzender Mann mit Baskenmütze und darunter hervorquellenden langen, dünnen Haaren, fachmännisch, der offensichtlich seine Glatze vor der Sonne schützen musste.
„Aha!“, bemerkte Sophie und fühlte sich leicht genervt.
„Interessiert?“ erkundigte sich der Verkäufer und versuchte unaufdringlich zu wirken. „Die anderen Bücher aus dieser Reihe sind schon verkauft. Der Käufer holt sie nachher ab.“
Er wies auf zwei andere Bücher mit dem gleichen grünen kartonierten Einband und der Goldschrift „Schlacht an der Marne“ und „Ypern“.
„Weiß nicht!“ antwortete Sophie knapp. Sie dachte an ihre bevorstehende Hausarbeit zum Thema Erster Weltkrieg und überlegte, wie sie diese Information einbauen konnte. „Komm lass uns weitergehen“, drängte Thomas.
„Was soll denn das Buch kosten?“ erkundigte sich Sophie vorsichtig.
„Achtfuffzig“, antwortete der Mann mit der Baskenmütze, „ist antiquarisch und eine Rarität!“ Er pulte sich dabei mit der Zunge Essensreste aus den Zähnen und schmatzte.
„Ganz, ganz selten“, fügte er noch schnell leise hinzu, geheimnisvoll, mit einem Seitenblick auf andere mögliche Interessenten.
„Nee nicht? Achtfünfzig und hat nicht mal Goldschnitt“, hielt Sophie dagegen.
„Ach, sie kennen sich aus“, lenkte der Mann ein und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
„Ja, ich habe schon ein Buch, aber der Trend geht ja zum Zweitbuch“, bemerkte Sophie trocken, mit einem sarkastischen Unterton. Der Händler mit der Baskenmütze lachte dröhnend.
„Sie sind richtig. Also gut, weil sie es sind, überlasse ich es ihnen für sechsfünfzig.“
„Was willst du denn mit dem Schinken“, erkundigte sich Thomas neugierig.
„Weiß ich noch nicht.“ Sophie nagte an der Unterlippe und drehte das Buch in ihren Händen.
„Komm, lass den Scheiß, so viel Geld für so einen Mist auszugeben. Komm weiter“, drängte Thomas erneut.
„Ich biete ihnen Zweifünfzig“, sagte Sophie leise, aber gespannt.
„Das hieße ja meine Ware zu verschenken,“ jammerte der Händler theatralisch.
„Fünf Fünfzig, mein letztes Angebot!“ Der Händler kratze sich unter der Baskenmütze.
Sophie legte das Buch wieder an seinen Platz und sah dem Händler treuherzig in die Augen. „Tut mir leid, mehr als drei Euro habe ich sowieso nicht, Schade!“ Sie zog die Schultern hoch und schickte sich an weiter zu gehen.
Der Händler kratze sich erneut unter seiner Baskenmütze und überlegte. Dann kratze er sich am unrasierten, stoppligen Kinn, verzog schmerzgeplagt das Gesicht und betrachtete Sophie unentschlossen.
„Also gut, ich bin ja kein Unmensch, drei Euro sind gebongt!“
Sophie kramte eilig in ihrer Geldbörse und reichte ihm das Geld in kleinen Münzen. „Hier, bitte!“
„Vielen Dank, junge Frau, und viel Freude mit dem Buch!“
Sophie nickte, murmelte so etwas wie „Danke!“, nahm das Buch und lief zu Thomas, der mittlerweile etwas abseits stand. Sie schwenkte fröhlich ihre Beute.
„Schau mal, was ich hier habe?“
Thomas schüttelte den Kopf. „Und was willst du denn damit?“
„Ich werde diese Story in meine Hausarbeit einbauen und vielleicht ändern.“ Sophie besah sich ihre Beute.
Sie blätterte in dem Buch. Zwei vergilbte Briefumschläge fielen zu Boden.
„Huch, schau mal Thomas, noch eine Zugabe und das für drei Euro. Ist das nicht toll?“
Sie bückte sich, hob die Umschläge auf und las halblaut die Adresse vor.
„Monsieur Robert Müller. Toll nicht? Monsieur hört sich gut an.“ Sophie drehte den einen Brief um und betrachtete den Absender.
„Die Briefe sind von einer Claudine Bercy aus Belleville in Frankreich. Nach dem Poststempel sind die schon uralt. Hier guck mal.“
„Na, toll,“ brummte Thomas wenig interessiert. Sophie roch an dem Umschlag. „Er riecht noch ganz leicht nach ihrem Parfüm. Sie hielt ihn Thomas hin.
„Hier, riech mal.“
Thomas roch an dem Brief und zuckte mit den Schultern.
„Ich rieche kein Parfüm. Sie riechen muffig, wie das ganze Buch. Schade um das Geld.“
Sophie klemmt sich das Buch unter den Arm und nahm einen Brief vorsichtig aus dem Umschlag, mit einer zierlichen, weiblichen Handschrift und begann zu lesen, während sie zum Parkplatz liefen, auf dem ihr Auto stand.
„Ist das rührend, Thomas, ein Liebesbrief. Die Französin Claudine schreibt an einen Deutschen Robert Müller einen Liebesbrief. Sie ist ganz schön unglücklich verliebt. Von wann ist denn der Brief?“ Sie drehte den Umschlag um und sah zuerst auf den Poststempel und dann auf den Brief. Auf den Briefen klebten alte französische Briefmarken und die Umschläge waren leicht vergilbt und fleckig.
„Vom 5. September 1921. Ist ja schon eine Weile her.“
Thomas blieb an einem Stand stehen.
„Sieh mal, hier gibt´s billige CD´s, Stück fünf Euro. Der Händler drehte sich halb um „und wenn sie drei Stück kaufen, bekommen sie die zum Preis von vier Euro pro Stück.“ Thomas begann in den Kartons zu suchen „Wahnsinn, Mark Knopfler!“ Er öffnete die Hülle und nahm die CD heraus und betrachtete die Rückseite. „Schade, die ist ja vollkommen zerkratzt! Das ist mehr so was für eine Trennscheibe.“ „Dann bekommen sie die für Zweifünfzig“, lockte der Händler.
„Nein danke, damit mache ich unseren CD Spieler kaputt.“ Thomas verstaute die CD wieder in der Hülle und lief langsam weiter. Sophie las währenddessen neugierig den Brief weiter.
„Wer fremde Liebesbriefe liest, liest auch Bravo und Frau im Spiegel“, frotzelte Thomas. „Nichts gegen die Frau im Spiegel!“ antwortete Sophie ernst, ohne einen Blick vom Brief zu lassen, „die liest meine Mutter auch. Sie bekommt die immer von Tante Lena.“
„Na das ist ja toll!“ antwortete Thomas gelangweilt.
„Das ist so rührend, wie diese Claudine schreibt, einfach ergreifend.“
„Also wenn du nicht mehr rumlaufen willst, können wir auch nach Hause fahren,“ antwortete Thomas ungerührt.
„Na gut“, antwortete Sophie ohne ihr Lesen zu unterbrechen.
Am Auto angekommen stiegen beide wortlos ein, Sophie immer noch lesend. Thomas war leicht angesäuert.
„Den Tag habe ich mir ein bisschen anders vorgestellt“, maulte er.
„Und wie?“ hakte Sophie nach, ohne den Blick vom Brief zu heben.
„Na, nicht so langweilig. Du bist nicht ansprechbar und liest die ganze Zeit.“
Sophie faltete den Brief sorgfältig zusammen, steckte ihn behutsam in den Umschlag zurück und legte diesen wieder in das Buch. Dann klappte sie den Buchdeckel mit einem lauten Knall zu.
„So, dann machen wir jetzt einen drauf, damit du aufhörst zu nörgeln, du alter Spielverderber. Wie wäre es denn mit der „Luise“? Kein Widerspruch? Also gut, dann los! Nichts wie hin, aber du zahlst! Du hast ja nichts ausgegeben, Gott sei Dank und ich bin pleite.“ Sophie lehnte sich entspannt zurück und kicherte. Thomas sah sie von der Seite an. Sophie war total entspannt und genoss die Autofahrt.
Thomas und Sophie kamen in der „Luise“ an. Die Luise war ein Gartenlokal, neben der eigentlichen Kneipe. Der Garten war von einer dichten Hecke umgeben, die von einem schmiedeeisernen Zaun auf der einen und einer Mauer auf der anderen Seite zur Straße hin umgeben war. In Innenraum zwischen den Hecken standen viele lange Tische, Stühle und große Sonnenschirme. An diesem Tag war die „Luise“ sehr gut besucht. Kleine Kinder spielten auf den Kies bestreuten Wegen und ließen die Steinchen durch die kleinen Hände rieseln. Die Kellner in schwarzen, fast bodenlangen Schürzen, huschten mit ihren Tabletts zwischen den Gängen hin und her, die Wünsche ihrer Gäste auszuführen.
Sophie, die vor Thomas das Gartenlokal betrat, blieb an der kleinen Eingangstreppe stehen und schaute sich um. Sie entdeckte an einem der Tische Günter, Renate und Susanne mit Carsten. Sophie trällerte fröhlich winkend ein lautes „Juhu!“. Thomas zog die Augenbrauen hoch. Ihm war Sophies Verhalten wieder einmal peinlich.
Susanne hatte Sophie ebenfall wahrgenommen und winkte zurück. Zielstrebig lief Sophie auf die Gruppe zu. „ Na ihr, schon so früh auf Dope?“ Sie deutete auf die Bier- und Weingläser und klopfte zur Begrüßung auf den Tisch.
„Was heißt hier auf Dope, ist doch nur Weißbier“, antwortete Carsten lachend. „Soll ich dir auch eins bestellen?“ Carsten war ein recht großer, junger Mann, mit sehr kurzen Haaren, fast schon eine Glatze, dafür aber mit einem Dreitagebart und vielen Lachfältchen an den Augenwinkeln.
„Ach, wenn du so lieb wärst, gern.“ Sophie lächelte.
„Und du Thomas?“, fragte Carsten. „Thomas trinkt heute Selters oder etwas anderes Antialkoholisches,“ bemühte sich Sophie eilig zu antworten. „ Er fährt heute - er darf heute,“ fügte sie schnell hinzu. „Deswegen kein Alk!“
„Den hast du ja gut im Griff“, scherzte Susanne.
„Ha, ha, ha“, lachte Thomas gespielt ärgerlich. „So hört sich das an, wenn Emanzen sich unterhalten. Typisch“, brummte Thomas. „Ich nehme einen Spezi!“
Der Kellner kam vorbei und Carsten bestellte. „Wo kommt ihr denn jetzt eigentlich erst her? Ganz schön spät für einen Frühschoppen.“
„Wir waren auf dem Trödelmarkt“, antwortete Sophie fröhlich.
„Und? Hat es sich gelohnt“, fragte Carsten.
„Sophie hat unser ganzes Haushaltsgeld verplempert“, bemerkte Thomas sarkastisch.
„Ach, hört nicht auf ihn, er redet immer so einen Quatsch, wenn er angetrunken ist“, konterte Sophie immer noch fröhlich.
„Nein, aber im Ernst, ich habe ein Buch über den ersten Weltkrieg erworben, mit dem Titel „Douaumont“, natürlich enorm runtergehandelt, das ich für meine Hausarbeit an der Uni verwenden will. Das Interessante an dem Buch ist, dass zwei alte Liebesbriefe darin lagen.“
„Ach, das ist ja interessant.“ Susanne rutschte neugierig näher. „Kann ich die mal lesen?“
„Warum denn nicht, allerdings sind die auf Französisch.“ Sophie kramte das Buch und die Briefe hervor.
„Ach so, in Französisch, dann lass mal, mein Französisch ist nicht mehr so prickelnd. Außerdem hatte ich Französisch in der elften Klasse abgewählt.“ Susanne rutschte zurück und Sophie verstaute das Buch wieder im Rucksack.
„Wer oder was ist Douaumont“, nahm Susanne das Gespräch wieder auf, „nie gehört.“
„Douaumont ist ein Fort bei Verdun und war stark umkämpft während des 1. Weltkrieges. Ich weiß das von meinem Großvater. Mit Hunderttausenden von Toten auf beiden Seiten.“
Susanne nickte und tat, als ob sie verstanden hätte.
Der Kellner kam und verteilte die bestellten Getränke. Sophie griff zu ihrem Weißbier und erhaschte einen scheelen Seitenblick von Thomas.
„Na denn Prost!“ Sophie setze an, nahm einen großen Zug und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund.
„Ahh, das tut gut.“
Sie lehnte sich zufrieden zurück und nahm das Gespräch wieder auf.
„Ich will auf Grund des Buches mein Hausarbeitsthema ändern. Ich denke, ich habe eine bessere Grundlage. Allerdings muss ich das noch mit Professor Kleinschmidt besprechen, der muss es letztendlich absegnen. Aber ich denke es geht.“
Sophie griff erneut zum Bierglas und nahm einen kräftigen Schluck. Thomas sah sie missgünstig, fast neidisch an und nippte an seinem Spezi.
„Hört sich doch gut an. Ich weiß gar nicht was du hast, Thomas?“ bemerkte Carsten.
„Red ihr mal noch gut zu und unterstütze sie!“ brummte Thomas und sah Carsten finster an.
„Ach komm, sei wieder lieb!“ säuselte Sophie und hakte sich bei Thomas ein. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und strich ihm übers Haar. „ Du kannst mir ja gar nicht böse sein, oder?“
Thomas grinste etwas verlegen. „So sind sie die Weiber!“
„Darauf trinken wir!“ Carsten hob das Glas und alle stießen mit an.
„Auf alles was wir lieben - also auf mich!“ ergänzte Sophie lachend und hielt ihr Glas in die Höhe.
Sophie sah Thomas an. „Ich habe Hunger. Mit deinem Gesparten kann ich doch was essen, oder?“ Thomas sah sie kopfschüttelnd an. Carsten schob ihr die Speisekarte herüber. Sophie überflog die Karte und rief übermütig den Kellner, der in der Nähe bediente.
„Herr Ober!“ Der Kellner sah sie missmutig an und kam an den Tisch.
„Ja, gnädiges Fräulein, was darf´s denn sein?“ fragte er gedehnt und mit übertriebener Höflichkeit. Sophie ließ sich dadurch nicht beirren.
„Was können sie denn heute empfehlen?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an und zog die Augenbrauen hoch. Die anderen am Tisch mussten sich das Lachen verbeißen.
„Ich kann ihnen heute die Kässpätzle empfehlen und dazu einen Chablies 2003. Oder den Elsässer Wurstsalat, dazu einen Mouton Rothschild 1998. Ganz frisch ist heute der gebeizte Wildlachs.“ Er wedelte mit gespielter Langeweile ein paar Krümel mit seiner Serviette vom Tisch, auf die sich gierig einige Spatzen stürzten.
„Ich hätte gern eine „Kanne Loni“ und vier Gläser.“ Sophie sah den Kellner treuherzig an. Er wirkte leicht irritiert.
„Also gut, Kässpätzle, eine Portion.“ Sie sah ihn dabei fröhlich an.
„Sehr wohl, kommt sofort.“
„Du bist ja eine Tüte. Eine „Kanne Loni“ und vier Gläser.“ Susanne prustete vor lachen.
Der Nachmittag verlief ruhig ohne weitere Spannungen. Sie sprachen viel über die Uni, Scheine, die sie schon hatten oder noch machen wollten oder machen mussten, lästerten über die Professoren. Alles in allem war es ein schöner Tag.
Am Abend saß Sophie vor ihrem aufgeklappten Notebook. Sie hatte das vergilbte, grüne Buch aufgeschlagen vor sich liegen. Die beiden Briefe lagen ebenfalls aufgeschlagen daneben. Sophie nippte an einem Glas Rotwein und schob eine CD in den Schacht des Laufwerkes ihres Rechners. Ein Telefonnummern Suchprogramm startete. Sie griff zur Maus und fuhr mit dem Cursor über die Oberfläche des Programms, das auf dem Bildschirm erschien. In eine Zeile tippte sie den Namen Robert Müller ein und die angegebene Adresse von den Briefen. Es führe zu keinem Ergebnis.
„Schade!“, brummte Sophie. Sie veränderte die Suchanfrage und erhielt ein Ergebnis. Es gab die Straße und die Hausnummer. Alle Bewohner des Hauses wurden angezeigt, mit Telefonnummern, leider war kein Robert Müller dabei. Sie druckte die Liste aus und griff zum Telefon.
„Guten Tag, mein Name ist Sophie Weinert. Entschuldigen sie bitte die Störung. Ich suche einen Robert Müller in ihrem Haus.“ Sie verzog das Gesicht.
„Schade, trotzdem vielen Dank!“ Sie nahm den Bleistift und strich den Namen und die Telefonnummer durch und wählte erneut.
„Guten Tag, mein Name ist Sophie Weinert. Ich suche einen Robert Müller ihn ihrem Haus.“ Es entstand eine kurze Pause. „Schade, trotzdem vielen Dank und entschuldigen sie bitte die Störung.“
Sie legte den Hörer nachdenklich auf und kratzte sich am Kopf.
Als nächstes rief sie den Routenplaner des Programms auf und ließ sich die Entfernung berechnen. Die Route mit den Entfernungsangaben druckte sie aus.
„Bist du immer noch mit den Briefen beschäftigt?“ erkundigte sich Thomas, der auf dem Sofa saß und das Buch, in dem er gelesen hatte, aufgeklappt auf den Schoss legte, die nackten Füße auf dem flachen Couchtisch.
„Ja, ich möchte den Robert Müller gern finden oder zumindest Angehörige, die mir Auskunft über sein Schicksal geben können. Das interessiert mich“, antwortete Sophie leise.
„Ach Sophie, lass den Quatsch, du verrennst dich da in etwas“, versuchte Thomas mit schwacher Bemühung Sophie davon abzubringen.
„Macht nichts, aber dann kann ich sagen, dass ich es wenigstens versucht habe“, erwiderte Sophie nachdenklich.
„Und was willst du tun“, erkundigte sich Thomas.
„Ich möchte an den Ort fahren und weitere Erkundigungen einziehen“, teilte Sophie entschlossen mit.
„Wie, du willst da hinfahren?“ Thomas war überrascht.
„Ich würde mich freuen, wenn du mitkämst.“ Sophie sah Thomas ganz lieb an und blinzelte mit den Augen.
Thomas kratzte sich verdutzt am Kopf.
„Ich glaube kaum, dass ich dich allein fahren lassen würde“, brummte Thomas.
Sophie stand auf und umarmte und küsste Thomas zärtlich. „Ich habe gewusst, dass du mich nicht im Stich lässt.“
Am nächsten Vormittag lief Sophie in der Uni einen Gang entlang. Viele Studenten liefen mit eiligen Schritten zu ihren Hörsälen. An einer Ecke traf sie auf Professor Kleinschmidt, sie stieß fast mit ihm zusammen.
„Halt, Herr Professor Kleinschmidt!“ Professor Kleinschmidt blieb verwundert stehen und dreht sich um.
„Guten Tag Sophie, was gibt es?“ Er betrachtete Sophie eingehend.
„Herr Professor, ich habe eine Bitte. Ich möchte das Thema meiner Hausarbeit ändern.“
„Und warum ausgerechnet jetzt? Fehlt ihnen dann nicht die Zeit hinterher?“ Professor Kleinschmidt nahm die Brille ab und betrachtete sie noch eingehender.
„Nein, ansich nicht. Ich muss noch umfangreiche Recherchen unternehmen. Ich habe neues Material. Für ein weiteres Warten fehlt mir dann am Ende die Zeit,“ versuchte Sophie ihn zu beschwichtigen.
„Also gut, worum geht es denn“, Professor Kleinschmidt sah nervös auf seine Armbanduhr. „Bitte machen sie es kurz. Ich muss zur Vorlesung, sollten sie übrigens auch nicht versäumen.“
„Will ich auch nicht. Also, um es kurz zu machen, ich habe in einem Buch zwei Liebesbriefe gefunden, aus den zwanziger Jahren.“
„Ja und?“ Professor Kleinschmidt war nur wenig interessiert.
„Ich würde gern diese Briefe als Grundlage nehmen, um die Geschichte des Empfängers oder dessen Nachfahren herauszubekommen und über deren Schicksal schreiben.
Professor Kleinschmidt setzte seine Brille wieder auf. „Also gut Sophie, abgemacht, aber geben sie mir ihren Themenvorschlag schriftlich rein, in Ordnung? So, nun ab zu Hörsaal acht “ und er stürmte, ohne sich umzusehen los, gefolgt von Sophie, die kaum Schritt halten konnte.
Am nächsten Tag waren Sophie und Thomas in ihrem Auto unterwegs. Im Radio lief ein Song von Simon and Garfunkel, „Misses Robinson“. Sophie, die am Steuer saß, summte leise mit. Thomas saß auf dem Beifahrersitz und hatte seine linke Hand um Sophies Nacken gelegt.
„Ist ja schon eine irre Idee von dir, jemanden auf Grund von alten, vergilbten Briefen auszugraben.“
„So irre auch wieder nicht. Finde ich nichts anderes, schreibe ich über mein altes Thema. Aber Versuch macht kluch!“ Sie lächelte.
„Ich wundere mich nur über mich, dass ich mich auf so einen Quatsch eingelassen habe.“ Thomas sah sie ernst an.
„Vielleicht, weil du mich liebst“, antwortete Sophie spöttisch und zog die Augenbrauen hoch.
„Das ist schon richtig, aber trotzdem ist das eine überflüssige Aktion“, brummte Thomas.
„Ach, Tommi, hör aus zu meckern.“ Sophie widmete sich wieder der Straße und Mrs. Robinson und summte weiter mit.
Die Fahrt verlief recht ruhig und sie kamen vor dem Haus an. Thomas faltete den Stadtplan sorgfältig zusammen und hielt den Zettel hoch.
„So, hier sind wir. Denn man los! Ich warte hier im Auto auf dich.“
Sophie stieg aus und betrachtete das Klingelbrett am Haus. In diesem Augenblick ging die Tür auf und ein älterer Mann verließ das Haus. Sophie nutzte die Gelegenheit das Haus zu betreten. Im zweiten Stock klingelte sie an einer Wohnung. Eine ältere Frau öffnete.
„Ich kaufe nichts“, sagte sie schlecht gelaunt und ablehnend. „Guten Tag Frau Droese. Mein Name ist Sophie Weinert aus Berlin. Wir haben miteinander telefoniert. Können sie sich erinnern? Es geht um die Familie Müller, oder genauer gesagt, um Robert Müller.“
„Ach, sie sind es.“ In ihren Augen flackerte etwas wie Freundlichkeit und Erkennen. „Ja, ich kann mich an das Telefonat erinnern. Bitte treten sie ein.“ Frau Droese ließ Sophie eintreten und schloss die Tür. Ein Mief von ungelüfteter Wohnung schlug ihr entgegen.
Frau Droese lief ins Wohnzimmer, gefolgt von Sophie.
„Bitte setzen sie sich doch. Wie wär´s mit eenem Schälschen Heesn?“
Sophie schaute sie verständnislos an.
„Ach Entschuldigung, ich meine Kaffee. Schälschen Heeser is säcksch. Also kann ich ihnen einen Kaffee anbieten? Ich habe gerade frisch gebrüht. Ich brauche das, sonst sackt mein Kreislauf immer so ab. Das Alter, sie verstehen“, sagte sie entschuldigend und sah Sophie lächelnd an.
Sophie nickte zustimmend. „Ja, gern, wenn es keine Umstände macht.“
Frau Droese ging an die Vitrine und entnahm eine Tasse und eine Untertasse mit Goldrand. Dann goss sie den Kaffee ein.
„Vielen Dank.“ Sophie nahm einen Schluck.
„Nun müssen sie mir erst mal erklären, was sie von Robert Müller wollen.“ Frau Droese hatte sich genau gegenüber von Sophie hingesetzt.
„Ich bin Studentin und muss eine Hausarbeit anfertigen. Mir ist auf dem Trödelmarkt in Berlin ein Buch in die Hände gefallen, mit dem Titel „Douaumont“. In dem Buch waren zwei Briefe an Robert Müller. So bin ich an den Namen und an die Adresse gekommen und nun forsche ich nach dem Schicksal der Familie oder Robert Müllers.“
Sophie nahm einen Schluck Kaffee.
„Das ist ja interessant.“ Frau Droese sah Sophie eindringlich über ihre Brille hinweg an. „Eine Frau Müller hat hier tatsächlich gewohnt. Sie ist so etwa 1960 gestorben. Ihre Tochter so etwa um 1985. Aber deren Tochter wohnt zwei Querstraßen weiter. Das müsste die Nichte von dem Robert Müller sein, den sie suchen. Warten sie, ich habe mir irgendwo die Adresse aufgeschrieben.“
Sie stand auf, ging zum Schrank und durchwühlte einige Papiere und entnahm ein altes, abgegriffenes Notizbuch aus braunem Leder.
„Hier“, kam sie triumphierend zurück, das Buch schwenkend. „Ich wusste es doch. Das Langzeitgedächtnis funktioniert noch. Sie heißt Markgraff, mit zwei „F“ und wohnt oder wohnte in der Breiten Straße 6.“
Sophie notierte die Angaben auf ihrem Block.
„Na, das ist ja schon mal etwas. Ein Punkt, von dem ich ausgehen kann.“
„Möchten sie noch einen Kaffee?“ fragte die alte Frau freundlich.
„Nein danke, Frau Droese. Ich muss mich sputen, mein Freund wartet unten im Auto auf mich.“
„Sie hätten ihn ruhig mitbringen können“, sagte Frau Droese und sah Sophie über ihre Brille hinweg an.
„Vielleicht das nächste Mal.“
„Das ist nett.“ Frau Droese und Sophie standen auf und Frau Droese brachte Sophie zur Wohnungstür. „Halten sie mich auf dem Laufenden, wenn sie etwas erfahren haben, ja? Das interessiert mich schon.“
„Das mache ich und vielen Dank für den Kaffee und die Information.“
Sophie gab der alten Frau zum Abschied die Hand.
„Viel Erfolg mit ihrer Arbeit. Leben sie wohl.“
Sophie lief nachdenklich die Treppe hinunter. Vor dem Haus wartete Thomas im Auto. Er war kurz vor dem Einschlafen, als Sophie an die Scheibe klopfte. Der Kopf hing schon auf der Brust und er hatte die Augen geschlossen. Er erschrak, als Sophie die Beifahrertür öffnete und sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.
„So, jetzt fahren wir zu der Nichte. Das ist gleich um die Ecke.“
„Zu wem?“ Thomas sah sie erstaunt an. „Na gut, wenn’s denn sein muss“, seufzte Thomas. Er setzte sich auf, startete den Motor und fuhr los. Sophie gab ihm einen Kuss auf die Wange und lehnte sich wieder zurück. „Nächste links“, kommandierte sie.
Vor dem Haus von Familie Markgraff hielten sie an und Thomas parkte ein. Froh gelaunt und erwartungsvoll betrat Sophie das Haus. Sie las den stillen Portier, stieg die Treppe hinauf
und klingelte. Von innen waren schlurfende Schritte zu hören. Ein älterer Mann öffnete. „Ja“, brummte er unfreundlich.
„Guten Tag, Herr Markgraff? Mein Name ist Sophie Weinert. Ich suche die Nichte von Robert Müller.“
„Ach, sie meinen meine Frau?“ Er wurde merklich freundlicher. „Die ist aber keine geborene Müller. Ihr Onkel ist, wenn ich mich richtig erinnere, der fragliche Robert. Also, wenn es der ist - ach, kommen sie doch erstmal herein. Meine Frau ist in der Küche. Ich rufe sie.“
Sophie betrat die Wohnung und folgte Herrn Markgraff ins Wohnzimmer.
„Bitte setzen sie sich doch. Ich hole meine Frau.“
Sophie nahm in einem Sessel Platz. Sie sah sich um. Auf einer Kredenz standen zwei Leuchter und an einer Wand hingen einige vergilbte schwarz-weiß Fotos in dunklen Rahmen. Über dem Sofa hing ein Ölbild, eine Waldlandschaft, mit einem röhrenden Hirsch im Mittelpunkt, aus dessen Maul Dampf aufstieg.
Nach einer Weile kam eine ältere Frau mit einer Schürze herein. Sie trocknete sich die Hände daran ab. Sophie stand auf und streckte ihr freundlich die Hand entgegen.
„Guten Tag Frau Markgraff.“
„Guten Tag. Mein Mann hat mir schon erzählt. Sie suchen Robert.“
Sophie nickte zustimmend.
Herr und Frau Markgraff setzten sich Sophie gegenüber.
„Sie haben nach meinem Onkel Robert Müller gefragt. Ich kann ihnen gar nichts weiter dazu sagen. Ich weiß nur, er wohnt schon seit ewigen Zeiten in Frankreich. Ich müsste irgendwo die Adresse haben.“
Frau Markgraff stand auf und ging zu einem wuchtigen, eichenen Schreibtisch mit Löwenfüßen, der am Fenster stand und begann in einem Verzeichnis zu blättern.
„Ich finde es nicht. Ich müsste mal nachsehen, wo ich es aufgeschrieben habe. Was wollen sie eigentlich von ihm“, fragte Frau Markgraff interessiert.
„Ich habe in Berlin auf einem Trödelmarkt ein Buch gefunden, mit dem Titel „Douaumont“. Darin lagen zwei Briefe an ihn adressiert. Ich bin Studentin und schreibe darüber eine Hausarbeit.“ Sophie schlug leicht die Beine übereinander.
„Das ist ja interessant. Also im Krieg war er in Frankreich an der Westfront, das weiß ich noch. Meine Großmutter hat es mir erzählt. Er hat eine Französin geheiratet und ein Kind hat er auch.“ Frau Markgraff stand auf und trat an den Schreibtisch und begann in den Schubladen zu suchen, „aber ob er der gesuchte Robert Müller ist, kann ich nicht sagen.“
Sophie kramte in ihrer Tasche und zog das grüne Buch hervor. Sie klappte den Deckel auf und entnahm die beiden Briefe.
„Also geschrieben hat eine Frau Claudine Bercy aus Belleville. Aber Belleville ist in keiner Karte zu finden.“
Frau Markgraff unterbrach ihre Suche, setzte sich die Brille, die auf dem Tisch lag auf und sah sich die Briefe an.
„Also seine Frau hieß Claudine, daran kann ich mich erinnern, eine hübsche, junge Frau. Sie war einmal hier in Dresden, Ende der Zwanziger, vor dem Krieg. Aber wo ich die Adresse notiert habe, weiß ich nicht.“
Sophie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen, so nah an das Ziel herangekommen zu sein und nichts erreicht zu haben.
„Na gut, kann man nichts machen. Es tut mir ja auch leid, dass ich sie so überfallen habe. Ich gebe ihnen meine Adresse und meine Telefonnummer. Wenn sie die Adresse finden sollten, möchte ich sie bitten, mich anzurufen. Ansonsten muss ich mir schnell ein anderes Thema suchen. Wäre eigentlich sehr schade. Aber da kann man nichts machen, das ist Pech.“ Sie versuchte zu lächeln. „So, dann möchte ich mich verabschieden, ich muss zurückfahren, sonst wird es zu spät.“
Sophie hatte ihre Adresse und Telefonnummer auf eine Seite ihres Notizblocks geschrieben, die sie herausriss und Frau Markgraff hinhielt, als sie aufstand.
Herr und Frau Markgraff waren ebenfalls aufgestanden. Herr Markgraff begleitete Sophie zur Tür.
„Vielen Dank noch Mal und entschuldigen sie bitte den Überfall, Herr Markgraff.“
„Leben sie wohl und kommen sie gut nach Hause. Meine Frau sieht nach. Ich denke sie findet es. Sie wirft nie etwas weg. Sie ist sehr pingelig. Das machen alle Stiere.“ Sophie sah ihn fragend an.
„Stiere sind sammelwütig“, erklärte Herr Markgraff lächelnd.
Herr Markgraff schloss die Wohnungstür und Sophie lief eilig die Treppe hinunter.
Vor der Haustür stand Thomas und wartete schon auf sie.
„Is nix!“ sagte Sophie, „wir können nach Hause fahren.“ Sophie stieg mit der Erkenntnis ins Auto, nichts erreicht zu haben, oder fast nichts. Thomas klemmte sich hinter das Lenkrad.
„Na denn mal los, nichts wie nach Hause.“ Er machte eine Pause und fügte hinzu: „Sei nicht traurig. Es findet sich schon alles. Während der Fahrt hing jeder seinen Gedanken nach und ein Gespräch kam nicht auf.
Am Abend erholten sie sich von den Strapazen der Fahrt. Sophie lag auf dem Sofa, hatte die Beine auf den niedrigen Couchtisch gelegt und las. Thomas saß am PC und schrieb Mails, als das Telefon klingelte.
„Westkamp! Ach guten Abend, sich möchten sicher Sophie sprechen, kleinen Augenblick bitte.“
Thomas stand auf und reichte Sophie, die ihn fragend ansah, den Hörer.
„Wer ist das,“ flüstere Sophie.
„Ich weiß nicht genau, aber ich glaube Frau Markgraff oder so,“ antwortet Thomas ebenso leise.
„Weinert! Ach, Frau Markgraff, guten Abend. Sie haben die Adresse gefunden? Toll!“
Thomas, der noch immer neben ihr stand, reichte ihr einen Block und einen Kugelschreiber.
„Ja, ich schreibe mit. Belleville, Frankreich, Departement Saone et Loire, Macon. Ach, Belleville heißt das Weingut. Dann werde ich es schon finden. Vielen Dank für ihre Mühe Frau Markgraff und grüßen sie ihren Mann!“
Sophie legte auf und vollführte einen Kriegstanz.
„Juhu, es geht weiter. Die Spur ist wieder heiß!“
Thomas entfuhr ein erschrockenes „ach herrje!“
Sophie stürmte auf Thomas zu, umarmte ihn von hinten und küsste ihn.
„Ich werde dich noch weiter quälen. Wir fahren nach Frankreich!“
„Schön, dass ich das auch mal erfahre, und wann?“
„Morgen. Du kannst schon mal deine Tasche packen,“ jubilierte Sophie immer noch ausgelassen.
Es war schon Tag und Sophie und Thomas waren schon viele Stunden mit dem Auto unterwegs. Thomas fuhr, während Sophie auf dem Beifahrersitz ein Nickerchen hielt, mit angezogenen Knien, den Kopf gegen die Seitenscheibe gelehnt. Thomas verdrehte den Innenspiegel um sie beobachten zu können.
„Diese Stänkerin sieht so friedlich und lieb aus, wenn sie schläft,“ dachte er und lächelte. Er schaltete das Radio aus und es ertönte Musik von der CD, die sich noch im Laufwerk befand. Cat Stevens sang mit seiner rauchigen Stimme von einer „Lady d´Arbanville“ Thomas summt leise mit.
„Passt ja“, dachte er. „My Lady d´Arbanville, why do you sleep so still?” Er stellte den CD-Player etwas lauter, als die Textzeile, “I loved you my Lady“, kam.
Sophie rekelt sich und rieb sich die Augen.
„Wo sind wir“, sie schaute sich um.
„In Fronkreisch, ma Scherie“, witzelte Thomas.
„Wie weit ist es denn noch,“ wollte Sophie wissen.
„Keine Ahnung, aber da vorn ist eine Tankstelle, die Jungs werde ich mal fragen, außerdem müssen wir sowieso tanken. Wir fahren mit dem letzen Tropfen.“
Thomas setzte den Blinker und fuhr auf die Tankstelle. An einer Zapfsäule hielt er an. Nachdem der Tank gefüllt war, ging er zur Kasse bezahlen. Sophie sah nur, wie der Tankwart mit Händen und Füssen redete und wild gestikulierte.
„Er hätte doch Französisch als Leistungskurs behalten sollen“, dachte Sophie und sah den Beiden amüsiert zu.
Thomas kam wieder heraus und hatte ein Baguette unter dem Arm.
Er setzte sich auf den Fahrersitz und reichte Sophie das Baguette.
„Hier, für dich.“ Sophie sah ihn mit großen Augen an.
„Wenn du hungrig bist, bist du immer unausstehlich, nur um vorzubeugen!“ Sophie sah ihn an und lächelte. Sie schüttelte den Kopf.
Thomas startete das Auto, während Sophie brach ein Stück von dem Baguette abbrach und es hungrig in den Mund schob.
„Das ist lieb von dir“, sagte sie kauend, mit vollem Mund. „Man muss Frauen auch immer verwöhnen. Wie weit ist es noch?“
„Ungefähr eine Stunde.“ Thomas sah aus dem Fenster und genoss die Fahrt. Draußen glitt die französische Landschaft mit ihren kleinen Dörfern vorbei. Die Sonne stand schon hoch am blauen Himmel des Spätsommertages. Sie erkannten das Ortsschild von Macon und passierten die Stadt. Hinter der Stadt fuhren sie wieder durch die mit Bäumen gesäumten Alleen, die auf dem Asphalt lange Schatten warfen.
Aus einem Seitenweg tauchte unvermittelt ein anderes Fahrzeug auf, das in die Allee einbiegen wollte. Thomas versuchte zu bremsen - vergebens! Die Räder blockierten und mit quietschenden Reifen rutschten die Autos aufeinander zu. Es krachte und hörte sich nach verbeultem Blech und splitterndem Glas an.
„So ein Mist“, rief Thomas. Sophie, die etwas gedöst hatte, erwachte schlagartig. „Was ist?“ Schlaftrunken sah sie sich um und erkannte die Situation.
„Der Typ hat uns gerammt“, brummte Thomas missmutig und stieg aus. Er lief um das Auto und besah sich den Schaden. Der rechte vordere Kotflügel hatte eine riesige Delle und der Scheinwerfer und der Blinker waren zersplittert.
Der andere Fahrer, ein junger Mann, um die Dreißig, hatte sein Fahrzeug abgestellt und besah sich ebenfalls Thomas Schaden. Er hatte dunkelbraunes, welliges Haar, eine sportliche Erscheinung, die Sonnenbrille in die Stirn geschoben. Sophie war aus dem Auto geklettert, stinksauer und beschimpfte ihn lauthals.
„Scheiße, was haben sie gemacht? Haben sie keine Augen im Kopf?“
Der Fahrer zuckte entschuldigend mit den Schultern und lächelte verlegen. „Entschuldigen sie bitte, ich habe sie nicht gesehen.“
„Kann schon passieren“, mischte sich Thomas mit einem versöhnlicheren Ton in die Unterhaltung ein.
„Ich komme selbstverständlich für den Schaden auf“, versuchte der französische Fahrer Sophie zu besänftigen.
„Und wie?“, fragte Sophie immer noch stocksauer.
„Ich werde sie abschleppen. Ein Freund hat eine Werkstatt, hier gleich in der Nähe. Er wird ihr Fahrzeug wieder Instand setzen. Es ist nicht weit von hier.“
Er lief zu seinem Fahrzeug, öffnete den Kofferraum und entnahm ein Abschleppseil.
„Sie kommen aus Deutschland?“ Er sah Sophie interessiert von der Seite an, während er das Seil an der Abschleppöse unter der Stoßstange seines Fahrzeuges befestigte.
„Ja, aus Berlin, warum?“ Sophie war immer noch erregt. Thomas befestigte das Abschleppseil an der Öse seines Fahrzeugs.
„Ach, nur so“, entgegnete der Fahrer lächelnd und deutete auf das Nummernschild.
„Ich war auch mal da. Große Stadt, so wie Paris. Hektisch und ungemütlich, wie alle großen Städte, aber die Museen haben mir sehr gefallen. Ich war auch mal „Unter den Linden“ Kaffee trinken und im KaDeWe. Das ist etwa so groß, wie Printemps in Paris, oder Harrods in London.“
„Schön“, kommentierte Sophie knapp den Monolog, immer noch verärgert.
„Mit meinem Urgroßvater war ich vorher schon mal in Deutschland.“
Der Fahrer lief um das Fahrzeug herum. „ So, wir können einsteigen, alles fertig. Sie müssen bitte bei mir einsteigen, wegen der Vorschriften.“ Er deutete auf Sophie und setzte die Sonnenbrille auf.
Thomas stieg in das beschädigte Fahrzeug ein und kurbelte das Seitenfenster herunter.
Der Fahrer und Sophie nahmen im vorderen Fahrzeug Platz. Er Fahrer kurbelte ebenfalls das Seitenfenster herunter und startete den Motor. Er gab mit der Hand ein Zeichen und sein Auto fuhr langsam an. Das Seil straffte sich und Thomas Auto ruckte. Es rollte langsam los.
Der Fahrer betrachtete Sophie von der Seite. „ Was wollt ihr eigentlich in Frankreich, Urlaub?“
„Nein, für mein Studium.“ Sophie sah weiter geradeaus, immer noch sauer.
„Und da müsst ihr so weit fahren? Es gibt doch Internet, das World Wide Web?“
„Ich bin dabei das Schicksal einer Person und dessen Familie zu beschreiben und dafür muss ich recherchieren.“
Der Fahrer nickte nachdenklich.
„Haben sie und ihr Mann eigentlich schon eine Unterkunft?“
Sophie lächelt. „Das ist nicht mein Mann, aber wir wohnen zusammen.“
„Hm, aber solange ihr Wagen in der Werkstatt ist, können sie selbstverständlich bei uns wohnen, also meiner Familie und mir. Ist das ok? Wir sind übrigens gleich da.“
Er sah in den Rückspiegel und betrachtete Thomas in dem gezogenen Fahrzeug.
Sophie sah ihn von der Seite an.
„Gern, wenn es keine Umstände bereitet.“ Sie zögerte. „Ich möchte mich für meinen Ausraster entschuldigen.“
„Ich bitte sie, ich stehe ihn ihrer Schuld. Meine Familie hat sicherlich nichts dagegen und Platz haben wir genug. Wie heißen sie eigentlich? Ich heiße Robert.“
Sophie nickte und kaute nervös an der Lippe, „ich heiße Sophie, Sophie Weinert. Das ist ja lustig,“ bemerkte Sophie, „wegen eines Roberts sind wir hier.“
„Da haben sie Glück, in meiner Familie heißen alle erstgeborenen männlichen Familienmitglieder Robert. Mein Bruder, als Jüngerer heißt Christian.“
Robert machte ein Handzeichen durch das geöffnete Fenster und bog in eine Einfahrt ein. „So, da wären wir.“
Er stieg aus und schob die Sonnenbrille in die Stirn.
„He Gaston, komm mal bitte her. Ich habe einen Auftrag für dich.“
Der angerufene Gaston, ein untersetzter Mann, mit kurzen sehr Haaren, die man fast schon als Glatze bezeichnen konnte, kam aus der offenen Werkstatttür und wischte sich die ölverschmierten Hände an einem Lappen ab. Auf der Hebebühne in der halbdunklen Werkstatt stand ein alter 2CV. In Gastons Mundwinkel hing unter einem dünnen Oberlippenbärtchen eine Zigarette, mit gelblichem Papier, die er, während er sprach auch nicht herausnahm.
„Salut Robert, wie geht´s?“
„Du musst mir helfen, Gaston. Ich bin mit dem Auto der beiden zusammen gestoßen und habe es beschädigt. Wie lange wird es dauern?“
Gaston lief um das Fahrzeug herum und betrachtete den Schaden eingehend. Sophie und Thomas waren ebenfalls ausgestiegen und standen neben Robert.
„Mit zwei bis drei Tagen musst du rechnen, mit den Blech- und den Lackarbeiten.“
„Geht in Ordnung. Bestell die Teile. Solange wohnen die Beiden bei uns. Setz die Reparatur bitte auf meine Rechnung, muss ja niemand aus der Familie mitbekommen.“ Robert zwinkerte Gaston zu.
„Geht in Ordnung. Ich werde gleich die Teile bestellen. Was macht Grand-Grandpère?“
„Geht gut, er hat heute Geburtstag. Ich hebe dir ein Stück Kuchen auf.“
Gaston nickte zufrieden. „Gern!“
„Gut, in Ordnung, wir telefonieren.“ Robert wandte sich zu Sophie und Thomas um.
„So, erledigt, bitte nehmen sie ihre Taschen mit und verstauen sie sie in meinem Wagen.“
„Was ist?“, fragte Thomas.
„Wir wohnen für die Zeit der Reparatur bei Robert,“ versuchte Sophie zu erklären, was Thomas mit einem überraschten Gesicht quittierte.
„Ach, sind wir mit dem Herrn schon per Du?“ Etwas wie Eifersucht keimte in ihm auf.
„Lass den Quatsch. Ich bin nicht mit ihm per Du, aber vielleicht kennst du seinen Nachnamen, du Blödmann!“ Sophie lief um das Auto herum und nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz. Thomas und Robert standen an der Heckklappe und verstauten das Gepäck. Thomas nahm verstimmt auf dem Rücksitz Platz und Robert klemmte sich gutgelaunt hinter das Lenkrad.
„Alle drin, dann können wir fahren. Wir haben Glück, dass ich Gaston seit meiner Schulzeit kenne. Deswegen werden wir bevorzugt behandelt. Und los geht’s!“ Er startete den Motor und fuhr vom Hof. Nach einer kurzen Fahrt über eine Allee erreichten sie ein ummauertes Tor. Sie fuhren eine lange Auffahrt hinauf, der Kies knirschte unter den Reifen und sie stoppten auf einem Parkplatz. Es standen einige Fahrzeuge des französischen Fernsehens da, mit ausgefahrenen Parabolantennen. Ein Kamerateam, Toningenieure und Assistenten standen gelangweilt herum. Außerdem Presseleute mit Fotokameras und Blitzgeräten.
Sophie betrachtete die Szene. „Sie müssen ganz schön prominent sein,“ bemerkte sie anerkennend.
„Es tut mir leid, heute ist es etwas unruhig. Das französische Fernsehen und die Reporter sind wegen meines Urgroßvaters hier. Der hat heute Geburtstag.“
Eine blonde, hübsche, dunkelblonde Frau mittleren Alters lief einem alten Mann, der eine Treppe herunterkam, entgegen, um ihm zu helfen. Sie lächelte.
„Guten Tag, sie müssen Monsieur Müller sein? Ich bin Veronique Rochefort von France 2.“ Der alte Mann musterte sie neugierig.
„Wer will das wissen,“ fragte er sichtlich irritiert beim Anblick der vielen Kameras, deren Verschlüsse klickten und deren Blitze aufleuchteten, „vielen Dank für ihre Hilfe, aber so alt bin ich noch nicht.“ Er löste den Griff und hielt sich am Geländer fest.
„Die ganze Nation, Monsieur Müller,“ erklärte Veronique mit einem strahlenden Lächeln.
„Sie sind nicht nur der älteste Bürger dieses Departements, sondern auch des Landes.“
„Und was wollen sie von mir?“ Ein Hustenanfall folgte der Frage.
„Es tut mir leid, aber ich bin ein wenig erkältet.“
„Ich möchte sie interviewen und sie bitten, dass sie mir und unseren Zuschauern ihre Lebensgeschichte erzählen.
Robert lachte erneut und hustete. „Bin ich so wichtig?“
„Ich glaube schon, der Ministerpräsident kommt auch noch und möchte ihnen den Pour le Mérite verleihen. Das kommt schon nicht oft vor, dass er sich zur Verleihung persönlich bemüht.“
Robert nickte. „Ich glaube, ich komme nicht umhin, ihnen von meinem Leben zu erzählen.“ Er lächelte versonnen. „Na gut, setzen wir uns auf die Bank in die Sonne. Es ist mein Lieblingsplatz. Es war auch der Lieblingsplatz meines Freundes Claude und meiner Frau Claudine. Sie und ihr Lächeln erinnern mich an sie.“
Ein Anflug von Verlegenheit huschte über Veroniques Gesicht.“Doch alles nach und nach. Kann ich so bleiben? Ich seh doch furchtbar alt aus. Ich möchte keine Kinder erschrecken.“ Ein Lächeln breitete sich in seinem faltigen Gesicht aus. „Gibt es denn keinen Maskenbildner, der mich 40 Jahre jünger macht? So etwas gibt es doch, oder?“ Er lachte hustend.
„Monsieur Müller, für ihre 109 Jahre sind sie erstaunlich frisch. Ich finde sie müssen nicht geschminkt werden.“
Veronique drehte sich um. „Ist alles ok? Kamera? Ton?“
„Ist in Ordnung, Veronique, Licht ist bestens. Fang an, wir schneiden dann hinterher,“ antwortete der Kameramann.
„Sind sie bereit, Monsieur Müller?“
„Bleibt mir denn etwas anderes übrig?“ Veronique lächelte ihn an, nahm das Mikrofon hoch und blickte in die Kamera.
„Guten Tag liebe Zuschauer, wir sind heute in Belleville, bei Monsieur Robert Müller. Er ist nicht nur der älteste Bewohner des Departements, nein, er ist der älteste Bewohner unseres Landes.
Monsieur Müller, wie alt sind sie?“
Sophie sah Thomas triumphierend an und flüsterte aufgeregt “Das ist er, Thomas, das ist er!“
Robert kratzte sich verlegen am Ohrläppchen.
„Das kann ich nicht so genau sagen, ich kann schlecht rechnen. Aber ich bin 1897 geboren, wenn ich mich recht erinnere.“
„Was macht man eigentlich und das wird unsere Zuschauer sicherlich interessieren, um so alt zu werden?“ Veronique hielt ihm das Mikrofon dichter hin.
Robert lachte. „Einmal früh geboren werden und nicht zu sterben.“ Er lachte leise vor sich hin. „Außerdem bin ich Winzer, wie sie wissen. Ich denke mir hat unser Eau de Vie die Gesundheit geschenkt.“
Veronique machte ein erstauntes Gesicht. Ungläubig wiederholte sie. „Eau de Vie?“
„Unser Wein,“ ergänzte Robert mit Nachdruckt und an seinen Urenkel Robert gewandt, „Robert, hol uns doch bitte zwei Gläser.“
Er drehte sich wieder zu Veronique, „der Wein wird nur von uns so genannt.“
Robert verschwand in der Tür mit einem „sofort, Großvater!“ und kam nach kurzer Zeit mit zwei, mit Rotwein gefüllten Gläsern wieder.
„Robert, ein arbeitsreiches Leben liegt hinter ihnen. Was werden sie tun?“ Veronique sah ihn interessiert an.
„Was heißt ein arbeitsreiches Leben liegt hinter ihnen,“ platzte Urenkel Robert lachend dazwischen, „Großvater arbeitet jeden Tag 8 bis 12 Stunden und scheucht die Anderen, ohne Gnade.“
Veronique musste lachen und blickte um Entschuldigung suchend in die Kamera.
„Das ist richtig, aber ich denke darüber nach, ein wenig kürzer zu treten und den Jüngeren Platz zu machen,“ meinte Robert, der Ältere, versöhnlich.
Veronique hakte nach. „Sie denken also darüber nach, den Betrieb an ihren Sohn zu übergeben?“
„Aber nein!“ Robert lachte amüsiert. Mein Sohn Robert ist viel zu alt dafür. Er ist schon über achtzig.“ Er lachte erneut bei diesem Gedanken und schüttelte belustigt den Kopf. „Ich werde den Betrieb meinen Enkeln und Urenkeln übergeben. Hier, Veronique, ich hoffe, ich darf sie so nennen, das ist unser „Eau de Vie.“
Er reichte Veronique ein Glas und stieß mit ihr an.
„Zum Wohl!“
Veronique trank einen Schluck und nickte ihm zu. „Hm, der ist aber lecker.“ Sie deutete auf das Glas.
„Also, Monsieur Müller, erzählen sie doch unseren Zuschauern doch mal aus ihrem Leben.“
Robert schaute sie fragend an und zögernd fing er an zu erzählen.
„Also, genau genommen bin ich eigentlich gar kein richtiger Franzose, sondern ein Boche.“ Er zog entschuldigend die Schultern hoch und lächelte ein wenig verlegen.
Veronique ließ vor Schreck fast das Mikrofon fallen. „Nein!“, entfuhr es ihr überrascht.
„Ich bin in einer kleinen Stadt bei Dresden geboren. Ich kam nach Frankreich im Krieg, im Ersten. Die Kriege werden ja heute nummeriert. Ich war 18 und bin nach dem Krieg wiedergekommen, der Liebe wegen.“ Robert lächelte versonnen und nachdenklich. Längst vergessene Erinnerungen kamen wieder hoch.
„Sie wollen mir erzählen, sie seien ein Boche?“, hakte Veronique ungläubig nach.
„Ja, ich bin in Sachsen, in Deutschland, zur Schule gegangen und habe in Dresden studiert, so war das damals. Robert zuckte erneut entschuldigend mit den Schultern.
„Als ich das erste Mal nach Frankreich kam, war ich 18, fast 19, ein Schüler, ein Oberprimaner, der bereit war für sein Vaterland und seinen Kaiser zu kämpfen und zu sterben, wie es alle braven Männer gemacht haben, sich für ihre Länder zu opfern.“ Robert lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Wein und blickte in die Ferne.
„Ich erinnerte mich genau an diese Unterrichtstunde, in der alles begann, im Herbst 1915. Dieser unselige Krieg dauerte nun schon über ein Jahr an.“
Dr. Schneider, der Deutschlehrer stand neben Robert. Der hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte aus dem Fenster.
„Herr Robert Müller,“ fuhr Dr. Schneider ihn an, „ich würde gern wissen, wie sie ihr Abitur schaffen wollen. Sie sind Oberprimaner. Vom Wissensstand gehören sie aber in die Quarta oder Tertia.“
Die Mitschüler lachten glucksend und ein wenig schadenfroh, dass der Tadel sie nicht getroffen hatte und Robert zuckte zusammen. Er stand langsam auf und stotterte. „Dr. Schneider, ich ... ich...“!
„Ich weiß, sie haben wieder einmal geträumt. Wo waren wir denn diesmal, Herr Müller? Deutsch-Südwest, Sedan, Kaiserparade oder im wilden Kurdistan?“
Die Mitschüler lachten erneut. Dr. Schneider drehte sich mit einer raschen Bewegung zur Klasse, die Finger in den Seitentaschen seiner grauen Weste.
„Sie brauchen gar nicht so hämisch zu lachen, meine Herren, sie sind auch nicht besser.“ Er legte eine Pause ein, in der er sich umsah, während er seinen Kneifer absetzte, um die Schüler strafend anzublicken.
„Aber sie haben Glück,“ fuhr er nach der kurzen Pause fort, „für sie tragen täglich Männer an allen Fronten ihre Haut zu Markte und opfern in einem heroischen Kampf, ihr Leben für Kaiser und Vaterland. Für solche Typen, wie sie es sind.“
Das Lachen erstarb und alle Schüler sahen betreten und verlegen auf ihre Tische.
„Setzen sie sich bloß wieder hin, Robert, und vor allem in den letzten Wochen vor dem schriftlichen Abitur noch auf ihren faulen A....!“ Er brach den Satz ab und setzte seinen Kneifer wieder auf.
Die Mitschüler unterdrückten ein erneutes Lachen und glucksten nur leise vor sich hin. Dr. Schneider drehte sich um und nahm an Pult Platz. Er sah über seinen Kneifer die Klasse ernst an und schüttelte sichtlich erschüttert mehrfach den Kopf.
„Kramarz, wo waren wir letzte Stunde stehen geblieben? Können sie sich wenigstens noch daran erinnern?“ Seine Frage hatte einen verzweifelten, fast bittenden Unterton. Dr. Schneider nahm den Kneifer ab und hielt ihn in der Hand, den Kopf leicht im Nacken, das Kinn vorgeschoben. Die Schulglocke ertönte und erlöst standen die Oberprimaner auf. Noch nie waren sie ihrem Pedell für das Läuten so dankbar, wie heute.
„Meine Herren, da haben sie noch einmal Glück gehabt. Sehen sie sich bis morgen die Texte an. Sie sollten sich ein Beispiel an den Spartanern unter ihrem Führer Leonidas nehmen, der mit einer kleinen Gruppe von Kriegern die Enge bei den Thermophylen gegen die erdrückende Übermacht der Perser unter Xerxes lange gehalten hatte und die Spartaner durch schließlich nur durch Verrat geschlagen wurden. Das ist Heldenmut, so wie er jetzt an allen Fronten täglich vorkommt und unsere Soldaten über sich hinaus wachsen, im heroischen Kampf mit den Feinden des Vaterlandes.“
Dr. Schneider stand auf, setzte den Kneifer auf die Nase und nahm seine Aktentasche. Langsam ging er zur Tür und schüttelte noch einmal missbilligend den Kopf. Die Oberprimaner standen langsam und erleichtert auf.
„Auf Wiedersehen Dr. Schneider,“ ertönte es überfreundlich im Chor, doch Dr. Schneider winkte ärgerlich ab.
„Ach was!“ brummte er und verließ den Klassenraum mit einem ärgerlichen Gesicht. Die Oberprimaner folgten ihm langsam in gebührendem Abstand und setzten ihre Schülermützen auf, an deren Farbe man schon von weitem sehen konnte, welcher Klassenstufe sie angehörten.
Auf dem Schulhof spielten die Schüler der unteren Klassen Fangen. Die Schüler der Oberprima standen in kleinen Gruppen und diskutierten.
„Wir sollten uns wirklich freiwillig melden. Dr. Schneider hat Recht, andere tragen für uns ihre Haut zu Markte,“ warf Franz ein und nagte an seiner Unterlippe.
Der dicke Wilhelm biss noch einmal von seinem Pausenbrot ab und sprach mit vollem Mund: „Bist du blöd, so kurz vor dem Abitur. Ich bin doch kein Spartaner.“
„Wenn die Franzosen den Krieg gewinnen, nützt dir ein deutsches Abitur sowieso nichts,“ parierte Franz etwas überheblich.
„Wieso?“, fragte Wilhelm immer noch kauend.
„Mensch, Dicker, dann brauchst du ein Baccalaureat! Aber bei deinen Leistungen in Französisch!“ Friedrich brach den Satz ab.
Wilhelms Gesichtsfarbe wechselte von einem Schweinchenrosa in ein Purpurrot.
„Nun halt mal die Luft an und mach dich nicht so wichtig.“ Wilhelm biss erneut von seinem Pausenbrot ab und kaute mit vollen Backen.
„Bisher ist noch nichts verloren. Die Fronten sind erstarrt,“ kommentierte Reinhard mit ernster Miene.
„Klar, in einen Grabenkrieg!“ fügte Robert hinzu, „genau wie 70/71 in Sedan.“
„Quatsch! Sedan war kein Stellungskrieg und kein Grabenkrieg,“ fuhr Franz dazwischen. Wilhelm betrachtete seine Stulle.
„Die Franzmänner werden trotzdem verlieren.“
„Deshalb sollten wir uns melden, ehe der Krieg vorbei ist,“ hakte Franz eifrig nach.
Friedrich machte ein bekümmertes Gesicht.
„Franz hat Recht. Wir sollten uns melden. Pfeif auf das Abitur.“
„Wenn wir uns freiwillig melden, kommen wir in die gleiche Einheit.“ Reinhard versuchte mit diesem Einwand die Übrigen zu motivieren. Er blickte von Einem zum
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Tag der Veröffentlichung: 08.06.2014
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