Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Biografie
Titel vom gleichen Autor
Liebe Leser, Sie werden in eine Zeit versetzt, über die viel gesprochen und geschrieben wurde, aber so richtig deutlich wurde es dennoch nicht. Viele ältere Menschen werden sich noch erinnern, viele wollen es nicht und viele können es nicht mehr, da sie nicht mehr leben. Von den Überlebenden verdrängen viele die grausige Erinnerung.
Ich möchte aber mit diesem Buch die Erinnerung wachhalten. So etwas wie diese Zeit darf nicht vergessen werden - vielmehr noch, so etwas darf nie wieder geschehen. Alle sind aufgefordert, solches zu verhindern.
Neugierig gemacht, begann ich zu hinterfragen. Meine Großmutter und mein Großvater erklärten mir, dass sie nicht wussten was geschah und das hielt ich damals als Jugendlicher für Feigheit.
Viel später habe ich durch meine Mutter erfahren, lange nach dem Tod meines Großvaters, der eine Fleischerei in der Simon-Dach-Straße 16 in Berlin-Friedrichshain hatte, dass er regelmäßig während Bombardierung und Verdunkelung mit dem Fahrrad nach Moabit zu einer Kirche fuhr, um beim Pfarrer „Fresspakete“ für unbekannte Menschen abzugeben. Als er an Rheuma erkrankte, hatte meine Mutter diese Aufgabe zeitweise übernommen, gegen den Widerstand meiner Großmutter, die diese Aktionen für zu gefährlich hielt. Das Ganze hat mir einigen Respekt abverlangt, als mir klar wurde, dass sie sich nicht zu hinterfragen trauten, wie die meisten, wo hin die vielen Menschen verschwanden und ich konnte ihre Haltung etwas besser verstehen.
Die Idee zu dieser Geschichte ist mir gekommen, als meine Tochter Franziska in der Grundschule, musste so in der 4.Klasse gewesen sein, einen Aufsatz über den Nationalsozialismus schreiben musste. „Mussten wir auch!“ werden jetzt viele von Ihnen sagen, aber was mich beim Lesen des Aufsatzes und der anschließenden Lektüre der Schulbücher irritiert hat, war die Tatsache, dass alles viel zu harmlos dargestellt wurde - nur niemanden erschrecken. Hitler, ja, der hat Autobahnen gebaut und für viele Arbeit besorgt.
Hier ein Zitat: „Adolf Hitler wurden nicht geringe Verdienste zugeschrieben, u.a. hat er sich um den Autobahnbau und die vielen Arbeitslosen, denen er Beschäftigung verschaffte, verdient gemacht.“
Mein Entsetzen nahm zu. „Na ja, ein paar Juden sind dabei auch gestorben. Ach ja, den 2. Weltkrieg hat er auch angefangen - war nicht so cool!“
Nur wie es zur planmäßigen Vernichtung von etwa 10 Millionen Menschen kam (man muss sich das vorstellen, das ist eine Eins mit 7 Nullen!!!) und davon allein 6 Millionen Juden, wird eigentlich nie so richtig klar.
Ich habe früher als Jugendlicher immer folgendermaßen gerechnet, um mir die Dimensionen überhaupt vorstellen zu können.
Das Berliner Olympia Stadion, über das in meiner Geschichte noch gesprochen wird, fasst mit Stehplätzen etwa 70.000 Menschen. Das ist bei der Menge der Ermordeten allein 142,8 Mal das volle Olympia Stadion - eigentlich unvorstellbar!
Was für ein Chaos die Abfahrt von 70.000 Besuchern verursachte, überfüllte S-Bahn-Züge und Busse, verstopfte Straßen.
Oder noch anders gerechnet: Pro Zug mit 20 gedeckten Güterwagen, den so genannten Viehwagen, wurden etwa 1.000 Menschen gepfercht, befördert, das macht 10.000 endlos lange Eisenbahnzüge, die kreuz und quer durchs Land fuhren, dann kann man sich vorstellen, welch großer Organisation es bedurft hat, 10 Millionen Menschen dahin zu befördern, wo sie letzten Endes den Tod fanden.
Oder eine andere Rechnung, wenn jeder getötete Mensch eine Fläche von einem Quadratmeter eingenommen hätte und alle dicht an dicht ständen, hatte die Fläche eine Seitenlänge von 3.163 Metern oder 3,163 Kilometern, also eine Fläche von 1000 ha.
Oder ein noch erschreckenderer Vergleich. 10 Millionen Menschen, das ist die Bevölkerung von Berlin (3,4 Mio), Köln (1,1Mio), Frankfurt/Main (0,6 Mio), Düsseldorf (0,56 Mio) Hamburg (1,6 Mio), Bremen (0,6 Mio), Stuttgart (0,58 Mio) München (1,27 Mio) Freiburg (0,18 Mio) und Potsdam (0,14 Mio) - unvorstellbar!
Wenn sich diese Menschen an die Hand genommen hätten, wäre die Schlange 10.000 km lang, also ein Drittel des Erdumfangs am Äquator, fast von Berlin bis Honolulu, nicht ganz.
Diese Vergleiche sollten nur verdeutlichen, wie viele Menschen getötet wurden. Bei diesen Vergleichen kann man leichter die Dimension erfassen. Eigentlich unfassbar und doch ist es geschehen.
Es geschah nicht alles auf einmal, sondern zog sich über einen langen Zeitraum hin. Die Endlösung kam eigentlich ganz zum Schluss (wie schon der Name sagt) oder fast zum Schluss. Vorher waren es aber viele einzelne Ereignisse, die dazu führten, und viele willige Helfer waren dazu nötig.
Aber zurück zu Franziskas Aufsatz. Am meisten hat mich der Satz berührt, der die Selektion an der Rampe des KZ Auschwitz beschrieb.
„Die Kinder wurden von den Müttern getrennt und durch besondere Kindergärtnerinnen betreut.“ Ich war entsetzt. Die Nationalsozialisten, also die Täter und Macher des Holocaust waren alles andere als ein Kindergarten, wie es dargestellt wurde, als harmlose Kindergärtner. Ein KZ, welches auch immer, hatte keinen Kindergarten und demzufolge auch keine Kindergärtnerinnen. Man bemühte sich in den Ausgaben der Schulbücher offensichtlich mehr um die positiven Aspekte, als um die unzähligen Gräueltaten, die die Nationalsozialisten begangen haben. Ich habe mich daraufhin intensiv mit meiner Tochter unterhalten, soweit es ihrem Alter und ihrem Zeitverständnis entsprach. So jedenfalls konnte es nicht stehen bleiben, fand ich. In den KZs gab es keine netten Kindergärten!
Selektion, Auswahl, bedeutete immer auf der einen Seite Leben und Schwerstarbeit, die ebenfalls meist zum Tode führte, und auf der anderen Seite den sicheren und sofortigen Tod! Es gab nur diese Alternativen. Die Wahl war also recht eingeschränkt, wenn man überhaupt von einer Wahl sprechen konnte.
Mit arischen Kindern ging man behutsam um. Es gab Jugendverbände wie die HJ (Hitler Jugend) für die Jungen als Vorbereitung auf eine spätere Rolle beim Militär und den BDM (Bund Deutscher Mädel) für die Mädchen als Vorbereitung auf die spätere Rolle als Mutter in der nationalsozialistischen Gesellschaft.
So kann man diesen Teil unserer jüngeren Geschichte nicht stehen lassen, beschloss ich. Franziska fing an zu begreifen, was in dieser Zeit geschah, und sie weinte. Dieses Gespräch wirkt heute noch fort, sodass wir uns immer noch darüber unterhalten und ich mein Wissen über diese Zeit an sie weitergeben kann.
Ich möchte in meinem Buch nicht mit erhobenem Zeigefinger wirken, sondern möchte aufklären, mahnen und erinnern, dass sich so etwas nicht wiederholen kann, nicht wiederholen darf! Wir, die Mehrheit dürfen nicht die Augen verschließen und wegsehen, sondern unsere Verpflichtung ist es, da unsere Stimme zu erheben, wo Unrecht geschieht. Sei es aktuell bei Ausländerverfolgungen oder bei der Verbreitung von neuem, nationalsozialistischem Gedankengut. Wehret den Anfängen!
Die eigentliche Geschichte beginnt während der Sabbatfeier der Familie Weiss am Samstag, den 20.4.1935. Zufällig hat der Führer heute Geburtstag. Sarah, ein junges Mädchen, wartet wie viele Mädchen ihres Alters ungeduldig auf das Ende der Feier, um Marlene Dietrich, Zarah Leander, Marikka Rökk, Heinz Rühmann und Ilse Werner im Radio des Großdeutschen-Rundfunks hören zu können.
Vater bricht den Matzen, das ungesäuerte Brot und trinkt den Kiddusch-Wein und spricht für die Familie das Gebet.
Sarahs Vater, ein hoher Beamter im Reichspatentamt, verliert auf Grund der neuen Gesetze seinen Job. Zunächst wird er nur in die Registratur versetzt, am Ende des Jahres 1935 wird ihm gekündigt, nur weil er Jude ist und Juden keine Beamten sein durften. Dabei wird Zeitgeschichte zu Anfang mit den Augen einer Vierzehnjährigen erlebt, die sich eigentlich nicht als Jüdin fühlt.
Ungeduldig wartete Sarah darauf, dass die Sabbat-Feier endlich zu Ende ging. Sie stützte den Kopf auf die Hand. „Bitte setz dich gerade hin“, mahnte die Mutter. Sarah setzte sich gerade hin und betrachtete die Menorah, den siebenarmigen Leuchter auf der Kredenz und sah in die tanzenden Flammen der Kerzen auf dem Tisch.
„Mmm“, brummte sie und sah sich voller Ungeduld um. Sie suchte mit Blicken die Uhr. Gleich fing die Sendung im Großdeutschen Rundfunk an und Papa war mit dem Gebet immer noch nicht fertig.
„Das dauert aber heute auch lange“, dachte sie.
Heute hatte der Führer Geburtstag. Es gab eine Sondersendung mit vielen bekannten Stars aus Rundfunk und Film. Ilse Werner, die so schön pfeifen konnte, war angekündigt. Zarah Leander mit der tiefen, aufregenden Stimme, der nuschelnde Hans Moser, Hans Albers und viele, viele mehr und Papa war immer noch nicht fertig.
„Mmm“ machte sie leise ein zweites Mal. Es war so langweilig heute. Mutter sah sie tadelnd an. Papa sprach aber heute besonders langsam, so kam es ihr jedenfalls vor.
„Mmm“ entfuhr es ihr versehentlich erneut, sie streckte sich. Papa unterbrach kurz und sah sie mit seinen gütigen Augen über den Rand seiner Brille an.
„Ein wenig Geduld Sarah“, sagte er sanft, „es dauert nicht mehr so lange.“ Sarah war zufrieden.
„Wie lange dauert es denn noch?“, fragte sie.
„Es dauert so lange, wie es dauert“, antwortete der Vater geduldig, mit einem verständnisvollen Lächeln. „Ich kann unserem Gott Jahwe keine Sprechzeit auferlegen, etwa warte, du bist noch nicht dran oder ich habe jetzt keine Zeit für dich. Unser Gott Jahwe, der Gott, der Moses die Gesetze gegeben hat, die lange Zeit in der Bundeslade verwahrt wurden, in denen steht, du sollst am siebenten Tage ruhen, von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang, kann ich doch nicht sagen, ich höre jetzt auf, Sarah möchte nicht.“
Sarah nickte und fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie gedrängelt hatte. Sie betrachtete nun ernsthaft ihren Vater, während sie nervös an der Unterlippe kaute. Der schloss die Augen und setzte sein Gebet fort. Sie hatte ihn eigentlich noch nie so eingehend angesehen. Hübsch war er nicht und auch nicht groß, allerdings auch nicht klein. Die Jahre hatten sein Gesicht gezeichnet und tiefe Furchen in die Haut eingegraben, besonders hatte der Kummer um seine Arbeit Furchen um die Augen hinterlassen. Er trug seinen alten, an einigen Stellen abgewetzten Anzug, der aber im Großen und Ganzen noch recht ordentlich war. Sarah liebte ihren Vater so, wie er war. Seine Brille rutsche auf die Nasenspitze und Vater schob sie wieder hoch. Sarah kicherte leise vor sich hin und erntete deswegen einen tadelnden Blick ihrer Mutter. Auf dem Kopf trug Vater die Kippa, eine kleine, schwarze Kappe. Um die Schultern hatte er den Tallit, einen Schal, gelegt und um die Hand hatte er den Tefillin, den ledernen Gebetsriemen, gebunden, so wie es sein Vater, der Vater seines Vaters und Generationen vor ihnen getan hatten.
Vater sprach stehend ein Gebet über den Kiddusch Wein. Das Havdalah-Gebet war in Hebräisch, das ihr heute besonders fremd vorkam. Das Gebet handelte vom Lob, Ehr und Dank Gottes, wie alle Gebete in fast allen Religionen.
„Wie alt wurde der Führer heute eigentlich?“, durchfuhr es sie. Sie wusste, dass er 1889 geboren war, in Braunau am Inn in Österreich.
„Momentmal“, überlegte sie, „wenn er 89 geboren ist, wird er heute am 20.4.1935.....“, sie überlegte erneut und rechnete. „Er wird heute sechsundvierzig. Konnte das sein? Schon ganz schön alt. Führer müssten so aussehen wie sie der Bildhauer Arno Breker darstellt, jung und stark, mit ganz vielen Muskeln, ganz das Gegenteil ihres Vaters und ganz das Gegenteil vom Führer.“
Vater hatte mittlerweile den Matzen, das ungesäuerte Brot, gebrochen und verteilte drei Stücke. Eines für Mutter und eines für sie und eines behielt er selbst.
Vater war Beamter im Reichs-Patentamt, sogar Amtsrat. Ein recht wichtiger Mann, wie Sarah meinte. Aber die Nationalsozialisten hatten vor 2 Jahren ein Gesetz erlassen, zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Es wurden viele Juden aus den Ämtern entfernt. Vater hatte Glück. Da er Frontkämpfer im 1. Weltkrieg war, sogar das Eiserne Kreuz erster Klasse erhalten hatte und das Verwundeten Abzeichen, hatte man ihn nicht entlassen. Er wurde nur in die Registratur versetzt. Vater war sehr unglücklich darüber. Nicht die Fähigkeit oder die Intelligenz bestimmten die Karriere, sondern das Parteiabzeichen. Aber inzwischen hatte er sich wohl daran gewöhnt oder zumindest sich damit abgefunden. Das Schlimme daran war, dass der Schulz, ein Beamter aus der unteren Beamtenlaufbahn, sein Vorgesetzter wurde. „Der hat nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen“, hat Vater immer gesagt. und dann wurde so einer nun auch noch Vorgesetzter, nur weil er das richtige Parteibuch hatte.
Ein Pfiff ertönte. Sarah lief zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und öffnete es. Unten auf dem Hof stand Gerda, ihre Schulfreundin, ihre beste Freundin, ihre Vertraute. „Sarah, kommst du noch ein bisschen runter?“ rief sie, als sie Sarah oben sah. „Unter den Linden ist ein Aufzug HJ und SA mit Musik und Fahnen.“ Sie deutete Trompetenspielen an. Sarah drehte sich zum Vater um und sah ihn flehentlich an. „Paps, darf ich noch runter? Gerda ist da.“
„Wieso willst du noch runtergehen?“ mischte sich ihre Mutter ein. Vater sah sie missbilligend an.
„Oh, Paps, bitte!“, flehte Sarah. Vater blickte zur Mutter und wieder zu ihr.
„Na gut, aber nicht so lange!“ Die Mutter verfolgte das Geschehen und man konnte ihr ansehen, dass es ihr gar nicht recht war.
„Oh danke!“ Sarah fiel ihrem Vater um den Hals, drückte ihn innig und bückte sich dann rasch und zog ihre braun-beige karierten Kniestrümpfe hoch. Sie stürzte in den Flur und zog sich ebenso schnell die braunen Schuhe an.
Aus der Küche kam Anneliese, die ostpreußische Hausangestellte, die die Weissens noch aus besseren Tagen hatten. Sie hatte Sarah mit großgezogen und aufwachsen sehen und Sarah hatte sie über die Jahre lieb gewonnen. Anneliese war mehr eine Freundin und Vertraute für Sarah als eine Hausangestellte. Sie kam damals in den Zwanzigern, als die Arbeitslosigkeit nach dem verlorenen Krieg in Deutschland so groß war, und war dann geblieben. Anneliese gehörte einfach zur Familie Weiss und war wie ein Familienmitglied, nur dass sie immer mit einem dunklen Kleid und einer weißen Schürze herumlief. Wenn Besuch kam, trug sie sogar noch ein weißes Häubchen und das freiwillig.
„Na Freijleijnchen, noch so spät untarwechs“, erkundigte sich Anneliese in ihrem breiten, behäbigen Ostpreußisch.
„Ja, Gerda ist da, wir gehen zur Parade.“ Sarah umarmte Anneliese flüchtig und hastig nahm sie den Haustürschlüssel vom Haken und ihre Jacke.
„Tschüss“, rief Sarah durch den Flur. Krachend fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sie sprang die Treppe hinunter, zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Auf dem letzten Podest blieb sie stehen. Mit zwei kurzen Bissen trennte sie einen Faden ab, der an ihrer Jacke herunter hing. Sie steckte ihn in die Tasche und lief die letzten Stufen hinunter und riss die Haustür auf. Draußen saß Gerda auf den breiten Stufen, die von der Haustür zum Gehsteig führten.
„Hallo, Sarah, endlich kommst du! Das wurde ja auch Zeit.“
„Guten Tag, liebste Gerda, ich freue mich dich zu sehen“, erwiderte Sarah und lächelte Gerda an.
„Komm du Trödeltante, lass uns keine Zeit verlieren!“
Gerda nahm Sarahs Hand und die beiden Mädchen rannten los. „Heute ist aber viel los“ staunte Sarah.
Alle Fenster, oder fast alle, waren mit roten Fahnen mit einem weißen runden Feld in der Mitte, in dem ein schwarzes Hakenkreuz war, geschmückt.
„Ist das toll, dass der Führer heute Geburtstag hat?“ keuchte Sarah beim Rennen.
„Schade, dass er uns nicht eingeladen hat“, erwiderte Gerda ebenfalls keuchend.
„Auf Torte hätte ich jetzt Appetit, auf Kirschtorte mit viel Sahne.“ Sarah kicherte keuchend.
Die Zahl der Fußgänger nahm stetig zu und zwischen den Fußgängern waren viele Uniformträger zu sehen, braune SA Uniformen, schwarze von der SS und graue vom Heer und ein paar dunkelblaue von der Marine. Alle mit blank geputzten Stiefeln und Schuhen und blitzenden Koppeln.
Die Mädchen liefen inzwischen langsamer, einerseits war ihnen die Puste ausgegangen und sie keuchten, andererseits war der Fußgängerverkehr zu dicht zum Rennen. Schupos mit dunklen Tschakos standen gelangweilt an der Straßenecke und sahen dem Treiben zu. Von weitem wehten Fetzen von Blasmusik herüber. Die Mädchen hielten sich immer noch an den Händen fest, um sich nicht in der Menge zu verlieren.
Gerda war ein großes schlankes Mädchen mit hellblonden Haaren, die sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte.
Sarah hatte dunkelblondes, welliges Haar mit einem leichten rötlichen Schimmer. Sie hatte die Haare hochgesteckt um deren Fülle zu bändigen. Beide Mädchen waren seit Jahren eng befreundet und verstanden sich außerordentlich gut. Es gab kein Geheimnis, von dem die andere nicht wusste. Gerdas Mutter hatte öfter versucht, den Kontakt zu Sarah zu unterbinden oder zumindest einzuschränken, aber ohne Erfolg. Sarah war und blieb Gerdas beste und vor allem intimste Freundin.
Inzwischen waren sie an den Absperrungen angekommen. Eine riesige Menschenmenge stand da und wartete geduldig auf den Führer. Zwei kleine Jungen, unmittelbar vor ihnen, hatten rote Fähnchen mit dem Hakenkreuz in der Hand, mit deren Stielen sie übermütig, aber ernsthaft fochten, wie Ritter mit ihren Schwertern.
Gerade zog eine Abteilung der SA vorbei mit Kapelle, deren Trompeten und Posaunen das Horst-Wessel-Lied schmetterten, und vielen wehenden Fahnen. „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen! ...“, sangen die Braunhemden lautstark mit. Gerda und Sarah sahen sich lachend an und sangen ebenfalls mit. Sie stellten sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die kleinen Jungen hielten inne und sahen interessiert zu der Marschkolonne. „...SA marschiert mit ruhig festem Schritt….“ Der Tambour-Major dirigierte mit zackigen Bewegungen. Die Tubas und die Pauken dröhnten.
Kleine Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter und schwenkten begeistert ihre kleinen Papierfähnchen mit dem Hakenkreuz.
Gerda und Sarah drängten sich durch die Reihen weiter nach vorn, um besser sehen zu können.
Die Musik wurde lauter und lauter. Man konnte jetzt die Absätze der Stiefel auf den Asphalt knallen hören.
Endlich lichteten sich die Reihen und die Mädchen standen ganz vorn. Eine lange Reihe von SA Mitgliedern in ihren braunen Uniformen marschierte mit ernsten Gesichtern vorbei, flankiert von unzähligen Fahnenträgern.
Die Menge war begeistert. Über den Köpfen kreisten einige Flugzeuge mit dröhnenden Motoren und warfen Flugblätter ab. „Ob da Hanna Reitsch dabei ist?“ fragte Sarah. „Wohl kaum. Die wird wohl keine Werbezettel abwerfen“, antwortete Gerda lächelnd.
Eine Abteilung HJ kam trommelnd näher. Die Teilnehmer marschierten mit stolzen, trotzigen Gesichtern vorbei. Die Trommeln waren mit Hakenkreuzfahnen geschmückt und die Jungen hatten Tücher um den Hals gewunden, deren lose Enden mit ledernen Knoten zusammengehalten wurden. An den Hüften der Jungen baumelten die Fahrtenmesser, auf die die Jungen besonders stolz waren. Ihre braun-beigen Uniformen leuchteten.
„Sieh mal, Sarah“, entfuhr es Gerda. „da in der dritten Reihe ist Bernd aus unserer Klasse.“
„Wo?“ fragte Sarah und stieg auf die Zehenspitzen.
„Da, der Vorletzte in der dritten Reihe.“
„Ach, ja, jetzt sehe ich ihn auch“, erwiderte Sarah.
„Hallo, hallo Bernd!“ rief sie laut, „Beeernd“ und sie winkte. Bernd blickte verlegen zur Seite der Mädchen, grinste leicht, da er erkannt wurde, und versuchte dabei ernst zu bleiben. Schnell gewann er seine Fassung wieder und marschierte stolz vorbei. Er trug eine geschmückte Fahne mit Ehrenzeichen.
Danach kam ein Zug der BDM (Bund Deutscher Mädels) mit winkenden Mädchen, alle in schmucken, weißen Uniform-Blusen. Die schienen besonders hell. Man sah nur lachende Gesichter.
Danach kam ein Zug der SS vorweg mit Kapelle. Ein Fahnenmeer wogte vorbei. Die SS trug schwarze Uniformen. Auf den Mützen trugen sie den Totenkopf. Die Gesichter waren ohne Mimik, wie aus Marmor gemeißelt, stolz ohne eine Regung. Alle liefen im Stechschritt. Das Knallen der Absätze übertönte sogar die Musik.
„Ob die immer so laufen?“, fragte Sarah ihre Freundin.
„Vielleicht“, entgegnete diese, „aber dann machen sie zu Hause bestimmt den Teppich kaputt!“ Beide Mädchen lachten und hielten sich an der Hand.
Endlich näherten sich Fahrzeuge. Endlich kommt der Führer. In den vorderen Wagen standen Parteigrößen der NSDAP. Jetzt war der Führer ganz deutlich zu sehen. Er stand in einem schwarzen, offenen Mercedes Benz. Neben ihm seine Adjutanten. „Heil, heil!“ Eine Woge von Heilrufen umbrandete ihn. Ein kleines Mädchen löste sich aus der Zuschauergruppe und noch eins und noch eins.
Die Kinder liefen auf den Wagen des Führers los. Der Führer ließ den Wagen halten. Die Kinder überreichten ihrem geliebten Führer Blumen zu seinem Ehrentag. Adolf Hitler beugte sich herunter und nahm die Blumensträuße lächelnd und huldvoll entgegen. Die Adjutanten waren ausgestiegen und hoben die Kinder hoch. Er strich den Kindern über die Köpfe, dann winkte er mit den Blumen den Umherstehenden zu.
„Er hat mich angelächelt.“ Sarah war selig. Gerda sah sie an. „Bild dir bloß keine Schwachheiten ein!“ Sie stieß ihrer Freundin mit dem Ellbogen in die Seite. Da stand er nun, zum Greifen nah. Er hatte so wenig von seinem eigenen arischen Idealbild. Aber er sah in natura besser aus als auf den Bildern, die sie hatte. Das musste man ihm ja schon lassen. Er war weder blond noch besonders hellhäutig, wie Arier immer beschrieben wurden. Vater hatte ihr erzählt, dass die Arier ein Volksstamm in Vorderindien waren, dunkelhaarig und von dunklerer Hautfarbe und nicht hellhäutig wie die Germanen. „Irgendetwas stimmte da nicht“, dachte Sarah. Doch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, ertönte ein tosender Beifall. Der Führer übergab die Blumen seinen Adjutanten und hob die Hand zum Hitlergruß. Langsam setzte sich die Fahrzeugkolonne wieder in Bewegung. „Heil Hitler“ und „Heil“, ertönte es vielstimmig. Sarah stimmte begeistert in die Hochrufe mit ein.
„Schau mal, Engelchen“, sagte Gerda, „da in dem nächsten Wagen sitzt der „dicke Herrmann“. Die Mädchen stießen sich an und kicherten laut.
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der geflogen sein soll. Ein Flugzeug, das den zu den Sternen trägt, gibt es doch gar nicht.“ Eine Frau drehte sich um und sah beide missbilligend an und schüttelte tadelnd den Kopf. „Gören!“, murmelte sie. Die Mädchen sahen sich an und mussten leise lachen, sie hielten sich die Nasen zu um nicht laut lachen zu müssen. Doch die Parade zog sie wieder in ihren Bann.
Langsam fuhren die letzten Fahrzeuge vorbei. Die riesige Menschenansammlung löste sich nur langsam auf. Sie zerstob einfach in alle Richtungen. Die Mädchen machten sich auf den Heimweg mit einem innerlichen Hochgefühl.
„War das toll?“ fing Gerda die Unterhaltung wieder an.
„Ja, einsame Klasse“, erwiderte Sarah, „ich werde noch lange an diesen Tag denken müssen, an dem mir der Führer huldvoll zugelächelt hat.“
Gerda kicherte.
„Hör auf zu lachen!“ Sarah tat beleidigt.
„Ist schon gut, meine Kleine!“, sagte Gerda und hakte sich bei Sarah unter. Beide Mädchen lachten und versuchten im Gleichschritt zu laufen.
Der April war zu dieser Tageszeit noch recht kühl und die Mädchen beschleunigten ihre Schritte.
An der Charlottenstraße, in der Nähe der Mohrenstraße, gab es eine Schlägerei. Mitglieder der SA schlugen sich mit Anhängern der Kommunistischen Partei, die diesen Tag zu einer Protestkundgebung nutzen wollten. Die Polizei stand in angemessener Entfernung und griff nicht ein. Ein rotes Plakat wurde niedergerissen und die Träger erhielten von mehreren SA Angehörigen Schläge. Ein KPD Bannerträger wurde von zwei SA Männern festgehalten und ein Dritter schlug auf den Wehrlosen ein. Die Fahne fiel in den Schmutz. Die Leute von der SA schlugen wild mit Knüppeln auf den wehrlosen, schon blutenden Mann ein. Eine ältere Frau rief der Polizei zu: „Wollt ihr nicht mal helfen?“
Sie erhielt nur zur Antwort: „Gehen sie weiter! Machen sie kein Aufhebens!“
„Komm, lass uns hier verschwinden“, schlug Gerda vor, „sonst kriegen wir auch noch was ab!“
Die Mädchen drehten um und liefen in eine andere Straße. Sie kamen an einem Geschäft vorbei, bei dem die Schaufensterscheibe mit weißer Farbe bemalt war. Ein riesiger Davidstern zierte den oberen Teil der Scheibe. Darunter war zu lesen „Volksdeutsche, kauft nicht bei Juden!“ Gerda drückte Sarahs Arm und streichelte leicht ihre Hand. „Die wissen nicht, was sie tun!“
„Ich glaube schon“, erwiderte Sarah, „die wissen genau, was sie tun!“
Sarah schloss die Wohnungstür auf, hängte Schlüssel und Jacke an den Haken und ging ins Wohnzimmer. Mutter und Vater waren da. Vater las den Völkischen Beobachter und schüttelte hin und wieder den Kopf. Er machte einen besorgten Eindruck.
Sarah hatte sich in den Sessel neben dem Volksempfänger gesetzt. Gerade sang Zarah Leander mit ihrer rauchigen Stimme „...davon geht die Welt nicht unter“. Vater sah über den Zeitungsrand zu ihr hinüber.
„Na, war´s schön? War viel los?“
„Och, ging“, antwortete Sarah.
„Na, mächtig gesprächig bist du ja nicht gerade“, mischte sich Mutter ein.
„Wir haben gerade eine grässliche Prügelei gesehen, das verdirbt die Laune. Sturmabteilungen und Kommunisten haben sich gehauen. Es war scheußlich. Die Polizei stand dabei und hatte nichts gemacht. Die SA Leute haben Wehrlose mit Knüppeln geschlagen und niemand tat was.“
Mutter widmete sich wieder ihrem Nähzeug. Nur Vater sah sie weiterhin über die Zeitung und seine Brille hinweg an.
„Es wird noch schlimmer kommen“, sagte er ruhig und er sollte leider Recht behalten.
Das Radioprogramm wurde unterbrochen. Der Reichs-Propaganda-Minister Dr. Josef Goebbels hielt eine flammende Rede über den Führer und Deutschlands Zukunft. Sarah stand auf und schaltete das Radio aus. Er langweilte sie. Sie schickte sich an in ihr Zimmer zu gehen.
„Wo gehst du hin?“, fragte Vater.
„Ich gehe in mein Zimmer, ich habe noch Hausaufgaben zu machen.“
Vater und Mutter sahen sich erstaunt an und nickten sich zu, so ungewöhnlich erschien ihnen Sarahs Absicht, bevor sich jeder wieder seiner Tätigkeit widmete.
Sarah hatte sich unterdessen an ihrem Schreibtisch niedergelassen und ihr Geschichtsbuch aus der Mappe hervorgekramt. Die Goten und die Wandalen interessierten sie nur wenig. Wandalen hatte sie heute zwei Straßen weiter gesehen. Jedenfalls Menschen, die sich wie die Wandalen aufführten. Aber das konnte sie ja nicht schreiben. Vielleicht tat man den Wandalen damit unrecht, vielleicht waren sie gar nicht so wie die heute. Es war schon ein Kreuz mit der Geschichte. Sie seufzte und kaute auf ihrem Bleistift herum. Sie sah hin und wieder aus dem Fenster. Frau Müller, die Frau vom Blockwart, stand auf der anderen Seite schon wieder hinter der Gardine. Sarah konnte ihre Silhouette gegen das Hintergrundlicht gut erkennen.
„Wie kann man nur so neugierig sein? Aber weiter im Text. Wir sind bei der Völkerwanderung“, sagte sie zu sich selbst. „Frau Blockwart ist mir egal.“
„Ostgoten, Westgoten, wer soll sich denn das alles merken?“ Sie überlegte „Goebbels musste inzwischen fertig sein“ und legte entschlossen den Bleistift zur Seite, stand auf und ging zurück ins Wohnzimmer.
„Na, schon fertig?“, fragte Vater.
„Ja, fast“, erwiderte sie, ging zum Radio und schaltete es wieder ein. Jan Kiepura sang den Schlager „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n“. Sarah zog sich den Sessel näher ans Radio.
„Sie wird gleich reinkriechen“, spottete Mutter, aber das störte Sarah nicht. Vater lächelte vor sich hin.
„Gleich sitzt sie bei Richard Tauber auf dem Schoß.“ Der Sänger sang von einer kleinen Nachtigall. Welchen Vogel er auch besang, in diesen Zeiten wurden viele des Nachts aktiver, nicht nur die Nachtigall.
Am nächsten Tag war Sonntag, es war verabredet in den Zoo zu fahren, gleich nach dem Frühstück. Das Wetter, wenn man dem Wetterbericht glauben durfte, sollte schön werden und die Temperaturen angenehm.
Sarah lag in ihrem Bett und genoss die sie umgebende Wärme, die Decke bis zum Hals. Sie hielt die Augen geschlossen und dachte an alles Mögliche, an Freunde, Könige und Prinzen. Sie ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Es war richtig gemütlich. Sie versuchte Ost- und Westgoten und die anderen germanischen Stämme zu verdrängen, die sich immer wieder in ihre Wachträume schlichen. „Daran möchte ich heute nicht erinnert werden“, dachte Sarah und räkelte sich wohlig.
„Na, du Schlafmütze, willst du nicht endlich aufstehen?“ Mutters Frage holte sie in die Wirklichkeit zurück und das Ziehen an ihrer Bettdecke.
„Wir wollten doch heute in den Zoologischen Garten.“
„Ja, gleich, ich muss mich nur noch einmal strecken“, antwortete Sarah, die Augen immer noch geschlossen.
„Uaahhh“ gab Sarah von sich. Sie machte sich so lang, wie sie konnte. Einerseits hatte sie überhaupt keine Lust aufzustehen, aber andererseits liebte sie die Tiere.
Der Berliner Zoologische Garten hatte den größten Tierbestand aller europäischen Zoos und wunderschöne Gebäude und das lag an seinem Direktor Heinroth. Das Elefantenhaus glich einem indischen Palast aus Tausend und einer Nacht. Man konnte sich vorstellen, dass gleich ein Maharadscha und seine Maharani erscheinen würden. Daneben gab es Cafés und das von Vater so geliebte Frühkonzert.
Als Sarah sich endlich aus dem Bett geschält hatte und in die Küche kam, hatte Anneliese den Frühstückstisch gedeckt. Es duftete nach Bohnenkaffee und Brötchen. Anneliese war gerade dabei, ein auf eine Gabel aufgespießtes Brötchen über der Gasflamme des Herdes aufzubacken und drehte es zu diesem Zweck unaufhörlich. Als Sarah in die Küche kam, sah sich Anneliese lächelnd um.
„Na Freileijnchen, Morjenstund hat Bleij am Noarsch, wat?“ Mutter und Vater sahen Anneliese an und lachten. Sarah verzog das Gesicht und huschte ins Bad. Sie putzte sich schnell die Zähne, wusch sich mit dem feuchten Waschlappen durchs Gesicht, sprang in ihr Zimmer und zog sich eilends an. Anneliese war derweil damit beschäftigt Brote zu schmieren, die die Weissens bei ihrem Zoobesuch verzehren wollten. Vater hatte sich inzwischen die Zeitung geangelt.
„Morgen, allerseits“, begrüßte Sarah ihre Eltern und Anneliese und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.
„Guten Morgen, meine Liebe“ erwiderte Vater, ohne hinter seiner Zeitung aufzutauchen. Anneliese goss Milch für Sarah und Kaffee für Mutter und Vater ein.
„Hab ich einen Hunger.“ Sarah angelte sich genau das warme Brötchen aus dem Korb, das Anneliese gerade von der Gabel geschoben hatte. Vaters Zeitung zeigte auf der Vorderseite eine Abbildung des Führers und Sarah versuchte, während sie sich ein Honigbrötchen schmierte, den dazugehörigen Artikel zu entziffern. Es ging um den Führer Adolf Hitler, das stand fest. Sie kaute an ihrem Brötchen und versuchte mitzulesen. Plötzlich schlug der Vater laut raschelnd die Zeitung zu, so laut, dass Sarah erschrocken zusammenfuhr. Dann tauchte sein Gesicht lächelnd über dem Rand auf.
„Etwas Geduld, meine Liebe, du kannst sie gleich haben.“ Sarah konzentrierte sich wieder auf ihr Honigbrötchen, das zu kleckern anfing. Sie leckte den tropfenden Honig ringsherum ab, leckte sich die Finger ab und trank ihre lauwarme Milch. Mutter sah sie erstaunt lachend an.
„Sarahchen, du hast ja eijnen Bart wie der olle Käijser Willem“, sagte Anneliese und sah Sarah mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sarah wischte sich schnell mit dem Handrücken den Milchbart von der Oberlippe ab und angelte sich erneut den Brotkorb.
„Du kannst ja heute nicht schlecht“, stellte Vater fest.
„Lassense man, Herr Weijss, die is ja noch in Wachstum“, verteidigte Anneliese Sarahs zweites Brötchen.
Unbeirrt schmierte Sarah die Brötchenhälfte, verteilte dann Rübensaft darüber und aß das Brötchen mit sichtlichem Genuss.
„Sarahchen, mächtest du noch eijnen Becher Milich“, fragte Anneliese. Sarah schüttelte den Kopf.
„Nein danke, darf ich aufstehen, Mutter?“ Sie stopfte sich den Rest des Brötchens mit einem Mal in den Mund. Anneliese hielt Sarah fest und wischte ihr, wie bei einem kleinen Kind, den Mund mit einem Schürzenzipfel ab.
„So, Lorbasschen, nu kanns de.“
Und ehe ihre Mutter etwas entgegnen konnte, war Sarah verschwunden.
Die Eltern sahen sich an und schüttelten die Köpfe und Mutter sah Anneliese vorwurfsvoll an. Anneliese schüttelte ebenfalls den Kopf und zog zur Entschuldigung die Schultern hoch.
„Na, Jnädichste, nu sejjn se man nech so.“
Vater verschwand grinsend hinter seiner Zeitung.
Endlich war es soweit. Anneliese brachte alle zur Tür und wünschte Sarah viel Spaß beim Zoobesuch.
„Anneliese, möchten sie wirklich nicht mitkommen?“ Vater stand auf dem Treppenpodest und sah Anneliese an.
„Nej, nej! Jeht man ruhich. Ick habe dann auch mejne Ruhe. Viel Spass och. Gnädige Frau, passense uff, dat se keijner frisst.“
Anneliese grinste Mutter an, die lächelte.
Anneliese schloss die Wohnungstür und die Weissens liefen die Treppe hinunter, dann zum S-Bahnhof Friedrichstraße, die sie zum Zoologischen Garten bringen sollte. Vor dem Automaten hatte sich eine lange Schlange gebildet und heulend spuckte dieser nach jeweiligem Münzeinwurf eine Fahrkarte aus. Sie entschlossen sich am Fahrkartenverkauf anzustellen. Vater löste die Fahrkarten, kleine, gelbliche, rechteckige Pappstücke, mit rotem Aufdruck. Je einen Groschen musste der Vater zahlen.
Die Reichsbahnangestellte am Schalter war sehr unfreundlich. Sie tat fast so, als ob die Reichsbahn ihr gehörte. Vielleicht war die Thermosflasche, die neben ihr stand, umgekippt oder sie hatte keine Zeit Kaffee zu trinken oder fühlte sich einfach nur genervt durch die vielen Fahrgäste mit ihren dauernden Fragen. Die Fahrkarten wurden durch eine kleine Öffnung in der Scheibe geschoben, wobei die Kartenverkäuferin nicht einmal aufsah. Vater nahm diese auf und sie liefen zum Bahnsteig hinauf. Oben am Kontrollhäuschen war eine blonde, gutaussehende Reichsbahnmitarbeiterin damit beschäftigt, die Karten mit einer verchromten Zange zu entwerten. Sie knipste einen Buchstaben in die längere Seite der Fahrkarten.
Der Zug kam sehr bald, jaulend oder besser heulend lief er in den Bahnhof ein. Zischend öffneten sich die Türen. Fahrgäste stiegen aus, andere ein, ein dauernder Strom Menschen ergoss sich auf den Bahnsteig und die Treppen hinab. Familie Weiss stieg ein und Sarah suchte sich einen freien Fensterplatz. Ihre Eltern setzten sich neben sie. Die Schaffnerin pfiff mit ihrer Trillerpfeife und hob die Kelle. Am Lehrter Bahnhof herrschte ein reges Treiben. Sarah betrachtete eine große Zigaretten Reklame Tafel. „Juno bitte!“
Warum eigentlich bitte? War das Bettelei nach einer Juno? Aber wahrscheinlicher war das ein Angebot. Sie rauchte ja nicht. Schon der Zigarettenrauch ekelte sie an. Ein anderes Plakat wies auf die olympischen Spiele im nächsten Jahr hin. Über dem Plakat waren die fünf olympischen Ringe abgebildet. Es wurde recht eng im Abteil.
Eine knarrende Lautsprecherstimme hallte von den Wänden der Bahnhofshalle wider: „Zurückbleiben, Türen schließen! Vorsicht an der Bahnsteigkante.“
Zischend schlossen sich die Türen und ruckelnd und heulend setzte sich der Zug in Bewegung. Sie fuhren vorbei an Häusern, deren Bewohner das schöne Wetter genossen und Kissen auf den Fensterbrettern ausgebreitet hatten. Der Zug hielt noch an einigen Bahnhöfen und viele Mitfahrer stiegen aus, andere ein. Es waren sehr viele Uniformträger im Zug. Man sah grau-grüne Uniformen der Wehrmacht, braune der SA und schwarze der SS. Ein gutaussehender Offizier der SS unterhielt sich mit einer hübschen, jungen Frau, die ihre Haare hochgesteckt hatte und die bewundernd zu ihm aufsah. Sie trug ein geblümtes Kleid und eine Jacke. Er hatte seine Mütze etwas schief aufgesetzt und es sah aus, als ob der Totenkopf darauf zur Seite sah und die Mitreisenden betrachtete. Beide, der Offizier und die junge Frau, waren guter Laune und lachten sehr oft. Sarah gegenüber saß eine ältere Dame, die dauernd mit dem Kopf wackelte. Ein Mundwinkel hing leicht nach unten und die Hände der Frau zitterten. Die Frau sah sehr traurig aus. Sarah überlegte, was die Frau bedrücken könnte. Ehe sie noch zu Ende gedacht hatte und für sich zu einem Resultat gekommen war, lief der Zug in den Bahnhof Zoologischer Garten ein. Die meisten Mitreisenden stiegen aus. Sie liefen über den Bahnsteig zur Treppe. Da offensichtlich alle das Gleiche vorhatten, entstand auf der Treppe ein Gedränge. Unten am Treppenende durchquerten sie einen langen Tunnel. Sie standen auf dem Bahnhofsvorplatz gegenüber dem Eingang des Zoos. Sarah konnte schon von weitem die Elefanten trompeten hören.
Mit schnellen Schritten lief Sarah, gefolgt von den Eltern, auf das Ende der Warteschlange am Kassenhäuschen zu und stellte sich an. Früher hatten sie, weil Vater Zooaktien besaß, Freikarten und brauchten sich nicht anzustellen, aber durch die neuen Gesetze musste er die Aktien verkaufen. Als sie endlich an die Reihe kamen, lösten sie die Eintrittskarten und betraten den Zoo. Von weitem sah man den roten, aus Backsteinen gemauerten Wasserturm über die Baumwipfel ragen.
Sarah zog es zu den Riesen im Tierreich, den Elefanten. Sie liefen ohne Hast zum Elefantenhaus.
Die Elefanten waren in einem großen Haus, das wie ein indischer Palast aussah, untergebracht. Es hatte viele Türmchen. Auf der Spitze eines jeden Türmchens saß eine goldene Spitze. Das Haus hatte ein großes, halbrundes Tor, durch das die Dickhäuter ins Freie laufen konnten.
Sie hatten Glück. Heute waren alle Tiere im Außengehege. Einige bewarfen sich den Rücken mit Sand, indem sie den Sand vorsichtig mit dem Rüssel griffen. Andere standen am Graben und bettelten um Bananen und Erdnüsse. Einige Kinder hielten ihnen Grasbüschel entgegen, die die riesigen Tiere dankbar ergriffen und mit Schwung in ihr Maul beförderten. Sarah hatte genug gesehen. Jetzt wollte sie zu Bobby, dem Gorilla, und zu Knautschke, einem großen Flusspferdbullen. Aber auch Jonny, ein frecher Schimpanse, interessierte sie.
Jonny war bekannt dafür, dass er seinen Kot an die Gitterstäbe schmierte oder ihn sogar durch die Stäbe auf die Zuschauer warf, die dann jedes Mal panisch kreischend auseinander liefen.
Es ging vorbei an Zebras, Ziegen, Hirschen und Rindern. In der Ferne brüllte ein Löwe. Ein Schauer durchfuhr Sarah. Was wäre, wenn dieser Löwe ausbrechen würde. Nicht vorzustellen. Sie dachte lieber nicht weiter und betrachtete die Flamingos. Sie näherten sich langsam dem Haus der Menschenaffen.
Jonny saß ruhig in seinem Käfig. Es schien, dass er sich an den Käfigstangen festhielt. Oben im Käfig turnte ein Schimpanse behände herum. Jonny, das Schimpansen Männchen, saß mit einer stoischen Ruhe auf seinem Platz und betrachtete gelangweilt die Besucher. Hin und wieder kratzte er sich den massigen Körper und bohrte mit einem Finger in der Nase. Plötzlich griff er nach hinten und kackte in seine aufgehaltene Hand. Nachdem er an seiner Kacke prüfend gerochen hatte, warf er sie durch das Gitter in die Menge der Zuschauer, die kreischend auseinander stoben. Den Rest schmierte er ans Gitter. Ein kleiner Junge neben Sarah beobachtete das Geschehen interessiert.
„Mama, is det aban ollet Schwein“, rief er laut über den Platz in die Menge. Die Menge, die in gebührendem Abstand vom Käfig zum Stehen gekommen war, lachte laut. Einige der Zuschauer applaudierten.
Sarah und ihre Eltern liefen langsam weiter zum Giraffenhaus, vorbei an einem See mit einer Unzahl von Enten und Pelikanen.
Aus der Tiefe des Zoos wehte immer noch das kehlige Brüllen von Löwen herüber. Es klang schaurig schön. Sarah versuchte sich vorzustellen, was passierte, wenn sie solch einem gewaltigen Raubtier plötzlich gegenüberstünde. Sie schüttelte den Kopf und sagte zu sich „lieber nicht“!
Gott sei Dank waren die Löwen und die Besucher durch breite Wassergräben getrennt.
Sarahs Aufmerksamkeit wurde von einem jungen SS Offizier gefangen genommen, der mit einer sehr hübschen, blonden jungen Frau Arm in Arm die breiten Wege entlang schlenderte. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und sah ihn hin und wieder von der Seite an. Sie trug ein braunes Kleid, das sich eng an ihre schlanke Figur schmiegte. Seine schwarzen Stiefel glänzten im Gegensatz zu seiner schwarzen Uniform. Das war also die Elite Hitlers. Als Sarah das Paar überholte, betrachtete sie kurz den Offizier. Er hatte einen kalten Gesichtsausdruck mit hohen Wangenknochen, was seinem Gesicht einen kalten Ausdruck verlieh. Die dunkelblonden Haare waren hinten und an den Seiten kurz geschnitten und mit Pomade glatt nach hinten gekämmt. Seine Begleiterin hatte plötzlich auch nichts mehr von Marlene Dietrich. Sie wirke ebenfalls sehr kalt und arrogant. Sie passten offensichtlich sehr gut zusammen.
Vater unterhielt sich während des Laufens leise mit Mutter. Sarah wandte ihr Interesse wieder den Tieren zu.
Nach einer Weile steuerte der Vater eine Bank an. Sie nahmen Platz und begannen ihre mitgebrachten Brote auszupacken. Mutter holte aus ihrer Tasche eine Thermoskanne und goss Vater und sich eine Tasse dampfenden Kaffee ein.
Sarah trank einen Apfelsaft. Auf dem Weg tobten zwei kleine Jungen vorbei, die zu einem Luftwaffenoffizier gehörten, der ein kleines Kind noch auf dem Arm hatte.
Sarah hatte Käse auf Ihrem Brot, dick belegt wie sie es liebte. Kleine Spatzen zankten sich um die Krümel, die von ihrem Brot herunter fielen. Die Sonne hatte sich inzwischen hinter Wolken versteckt und den ganzen Zoo mit einem Schatten überzogen. Es wurde etwas kühler und ungemütlicher.
„Na, Sarah, wollen wir weiter?“ fragte die Mutter. Sarah nickte kauend.
Die Eltern packten die restlichen Brote wieder ein und standen auf. Sarah stopfte sich den Rest ihres Brotes in den Mund und stand ebenfalls auf. Über die restlichen Krümel machte sich eine ganze Schar Spatzen her, die von allen Seiten angeschwirrt kamen.
Sie kamen langsam in die Nähe des Restaurants. Man hörte Musik eines Tanzorchesters. Als sie näherkamen, konnte Sarah auch Paare sehen, die auf der Tanzfläche inmitten von vielen Tischen tanzten. Es war ein Potpourri von Walzern verschiedener Komponisten. Sarah blieb stehen und lauschte. Die Mutter drehte sich um und mahnte, „nun komm doch endlich, wir müssen weiter!“
Sarah lief widerstrebend hinter ihren Eltern her.
Der Vormittag ging schnell vorbei und es wurde Nachmittag. Sarah taten vom vielen Laufen die Füße weh.
„Können wir nicht mal eine Pause machen?“, fragte sie.
„Wir fahren gleich nach Hause“, antwortet der Vater, „es ist schon ziemlich spät“.
„Och jetzt schon“, maulte Sarah. Aber sie dachte an ihre schmerzenden Füße. Die Drei schlenderten langsam mit der Menge und ohne Hast dem Ausgang entgegen.
Am nächsten Tag ereignete sich etwas, womit niemand gerechnet hätte, am allerwenigsten Sarah.
Hildegard, Sarahs Banknachbarin, stand neben Fräulein von Braun am Lehrerpult, als Sarah morgens den Klassenraum betrat.
„Fräulein von Braun“, sagte Hildegard eindringlich, „ich möchte nicht mehr neben so einer sitzen“. Sie bemerkte Sarah und verlegen blickte sie zur Seite.
„Ja, aber was hat Sarah dir denn getan?“ fragte die Lehrerin leicht verunsichert.
„Nichts, aber mein Vater sagt, es wäre mir nicht zuzumuten.“
„Was ist dir nicht zuzumuten“, fragte Fräulein von Braun sichtlich irritiert.
„Na eben neben so einer zu sitzen.“ Sie vermied dabei das Wort Jude, als wäre es ihr peinlich, und sie vermied den Blickkontakt mit Sarah, die Hildegard in der Vergangenheit des Öfteren in Deutsch hatte abschreiben lassen.
„Mein Vater ist Ortsgruppenleiter“, drohte Hildegard, „wenn sie mir keinen anderen Platz geben, wird ihn das schon sehr interessieren“, bohrte Hildegard weiter. Fräulein von Braun tupfte sich mit einem Spitzentüchlein die Schweißperlen von der Stirn. „Also gut, dann werden wir mal sehen. Da, neben Peter, ist noch ein Platz frei. Nimm bitte deine Sachen.“
„Wieso muss die Ziege ausgerechnet hier sitzen“, brummte Peter beleidigt. Fräulein von Braun überhörte die Bemerkung geflissentlich.
Während der ganzen Zeit stand Sarah wie ein Häufchen Unglück neben ihrer Bank und ihrem alten Platz. Einige der Kinder sahen sie schadenfroh an. Sie war eine gute Schülerin und ein bisschen Neid spielte da wohl mit.
Gerda sah, wie sie litt. Trotzig stand Gerda auf. „Hildegard, du kannst dich auf meinen Platz setzen. Ich setze mich neben Sarah.“ Fräulein von Braun war völlig überfordert.
„Also gut“, gab sie nach. Die Mädchen tauschten die Plätze.
Gerda setzte sich neben Sarah und räumte ihre Sachen ein. Nachdem sich die Unruhe gelegt hatte, begann der Unterricht. Hermann, ein etwas dicklicher Junge mit glänzenden Bäckchen, Sohn eines Fleischers, in HJ Uniform, drehte sich um und meinte verächtlich zu Gerda „Juden Freund!“
Bei diesen Worten drehte er sich wieder um. Gerda beugte sich vor und flüsterte leise „Hermann, du bist zu doof, dass dich die Schweine beißen.“ Hermann zuckte zusammen und drehte sich wütend um. Sein Nachbar lachte schadenfroh.
„Deinen Kopf auf die Fahnenstange gespießt und wir hätten den Krieg gewonnen“, setzte Gerda nach. Hermanns Nachbar gluckste.
„Judenfreund, Judenfreund!“, höhnte Hermann erneut, da ihm offensichtlich nichts Besseres eingefallen war. Gerda beugte sich leicht nach vorn und flüsterte so laut, dass die in der Nähe Sitzenden ihre Bemerkung mitbekommen mussten.
„Herrmann, weißt du, wie man dumme Kinder macht?“ Hermann stierte sie an. „Nein? Dann musst du mal deinen Vater fragen.“ Diese Bemerkung saß und verfehlte nicht ihre Wirkung. Herrmann fiel in sich zusammen und pumpte wie ein Maikäfer, während alle ringsumher Sitzenden vor Lachen und Schadenfreude laut los prusteten.
„Ruhe dahinten!“, mahnte Fräulein von Braun.
Unter der Bank nahm Gerda Sarahs Hand und streichelte sie sanft.
„Ärgere dich nicht über diese Pfeifen“, flüsterte Gerda leise.
Sarah sah ihre Freundin dankbar lächelnd an, obwohl ihr gar nicht zum Lachen zumute war, sondern eher zum Heulen. Es läutete und sofort entstand ein ungeheurer Lärm, während noch Fräulein von Braun die Einträge ins Klassenbuch schrieb, die Anwesenheitsliste führte und die erkrankten und fehlenden Schüler eintrug. Als sie fertig war, warf sie noch einen letzten gehetzten Blick auf die tobende Klasse, die Jungen, die sich balgten, und verschwand zur Tür hinaus.
Sarah sah Gerda an und flüsterte leise „Danke!“.
Es läutete erneut. Dies zeigte an, dass die Pause nun beendet sei, aber der Lärm nahm nicht ab.
Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen und Dr. Wiese erschien. Schlagartig verstummte der Lärm und die letzten Störer huschten verstohlen auf ihre Plätze.
„Na?“ begrüßte er die Klasse, die geräuschvoll aufstand und die Arme zum Gruß nach oben reckte.
„Heil Hitler, Dr. Wiese.“
Dr. Wiese hob leicht den Arm und murmelte so etwas wie „Heil“. Mit einer Geste, als winkte er ab, sprach er etwas lauter „Setzen!“
Die Klasse setzte sich wieder, ebenso geräuschvoll.
„Was habe wir in der letzten Stunde gehabt, Schmidt?“ Keine Antwort.
„Meinrad?“ Wieder keine Antwort, stattdessen betretenes Schweigen. Die meisten Schüler sahen zu Boden, in der Hoffnung so nicht aufgerufen zu werden.
„Fischer?“ Keine Antwort.
„Kann sich niemand daran erinnern? Traurig!“ Er sah alle Schüler an, die den direkten Blickkontakt vermieden.
Dr. Wiese lief vor der Klasse im Klassenraum wie ein gehetzter Tiger auf und ab.
„Wer kann mir denn etwas über die Sachsen erzählen, Sarah?“
Sarah stand auf und sah verlegen zu Boden. Sie trat von einem Bein auf das andere.
„Nun, nichts über die Sachsen bekannt?“ Dr. Wiese sah sie ernst an. „Schade!“
Hildegard drehte sich um und mischte sich ein.
„Das kannst du ja nicht wissen, das ist unsere germanische Geschichte. Du kennst dich bestimmt bei den Hethitern oder Kanaanitern oder Israeliten besser aus.“
Die Mitschüler begannen zu lachen und Sarah nahm wieder verlegen Platz.
„Weißt du alles?“, mischte sich Gerda in das Gespräch ein und Hildegard sah sie irritiert an.
„Natürlich weiß ich alles“, antwortete Hildegard und sah sich überheblich und Beifall heischend in der Klasse um. Die Mitschüler nickten anerkennend.
„Klar weiß ich alles“, schob Hildegard nach, ihren Triumph auskostend.
„Na schön, du Leuchte, dann sag mir mal ganz schnell, wie viel ist die 3. Wurzel aus Dreimillionensiebenhundertzweiunddreissigtausendfünfhunderteinundzwanzig.“
Hildegards Gesichtszüge entgleisten und die Klasse brüllte vor Vergnügen und Schadenfreude los. Hildegard sackte zusammen und sah aus wie ein Häufchen Elend.
„Aber, aber, ich muss doch um Ruhe bitten“, versuchte Dr. Wiese die Ruhe wieder herzustellen, „oder möchtet ihr einen Eintrag wegen Störung des Unterrichts ins Klassenbuch?“ Diese Bemerkung ließ auch die letzten Störer verstummen.
Sarah streichelte sanft Gerdas Hand, die auf ihrem Schoß ruhte.
„Danke!“
„Ich kann die Ziege sowieso nicht leiden“, flüsterte Gerda, „das konnte ich mir einfach nicht verkneifen.“
Die Pausenglocke läutete und es entstand erneut eine Unruhe.
„Bitte lest euch im Buch die Seiten 68 bis 76 durch“, versuchte Dr. Wiese den Lärm zu übertönen. Die ersten hatten bereits den Klassenraum verlassen.
„Heil Hitler“ grüßten einige der Jungen eifrig, mit hochgerecktem Arm, ehe sie zur Tür eilten um auf den Pausenhof zu kommen.
Als Sarah, immer noch bedrückt, nach der Schule nach Hause kam, wurde sie von Anneliese begrüßt.
„Na Lorbasschen, wat gibt et in der Schule?“ Sarah wurde an den Vorfall vom Vormittag erneut erinnert.
„Ach nichts“, antwortete sie ausweichend.
„Na du kannst doch ejjner ollen Frau kejn X forn U vormachen, da war doch wat!“
Anneliese kniff ein Auge zusammen und bohrte weiter und Sarah war den Tränen nah.
„Komm Lorbasschen, setz dich ma bej mich bej inne Kiche.“
Sarah gehorchte und folgte Anneliese in die Küche. Anneliese stellte eine Kasserolle auf den Herd, füllte Milch ein und hatte im Nu einen leckeren Kakao gekocht, den Sarah so liebte.
„Nu Liebchen, nu erzähl doch mal.“ Anneliese setzte sich gegenüber und wartete.
Nach und nach erzählte Sarah die ganze Geschichte. Anneliese lauschte und schüttelte hin und wieder mit dem Kopf.
„Ejn janz widerwärtijes Frauenzimmer“, pflichtete Anneliese ihr bei.
„Mach dir ma keijne Jedanken, et wird schon wieder.“ Bei diesen Worten war Anneliese aufgestanden, strich Sarah sanft über den Kopf und goss ihr aus der Kasserolle warmen Kakao nach.
In den nächsten Tagen geschah weiter nichts Beunruhigendes. Hildegard, die Tochter des Ortsgruppenleiters, mied Sarah weiterhin, als ob sie Aussatz hätte oder eine sonstige ansteckende Krankheit. Sie konnte ihr auch nicht in die Augen blicken.
In der Pause waren die Jungen, die fast alle in der HJ waren, meist um Bernd geschart. Sie gaben sich ungeheuer wichtig und gaben fürchterlich an. Wahrscheinlich prahlte Bernd mit seinen Erlebnissen von der Parade oder mit seinem neuen HJ-Dolch.
Sarah und Gerda saßen auf einem Mauervorsprung und verspeisten ihr Pausenbrot, das sie vorher getauscht hatten, als ein kleines Mädchen aus einer der unteren Klassen direkt auf sie zukam.
„Bist du Sarah?“, fragte sie.
„Ja, ich heiße Sarah“, antwortete diese kauend.
„Stimmt es, dass du Jude bist?“ Dabei legte das Mädchen den Kopf schief und sah Sarah forschend an.
„Ja, warum?“, fragte Sarah und sah Gerda an, die aufgehört hatte zu kauen.
„Ach, nur so", antwortet das Mädchen. „Du siehst gar nicht wie ein Jude aus.“
„Wie sehen denn Juden aus“, fragte Gerda, die sich in das Gespräch einmischte.
„Juden sind hässlich, hat mein Onkel Günter gesagt und der muss es wissen, der ist in der NSDAP! Du siehst aber sehr hübsch aus“, fügte das Mädchen schnell hinzu.
„Danke“, erwiderte Sarah leicht errötend.
Gerda hatte wieder von ihrer Stulle abgebissen und brummelte mit vollem Mund „so‘n Quatsch, dein Onkel spinnt!“
„Na, ich wollte ja nur mal sehen, ob es stimmt.“ Bei diesen Worten drehte sich das kleine Mädchen um und ging auf eine Gruppe Hopse spielender Mädchen zu.
„Was ist an mir anders“, fragte Sarah ihre Freundin, „stinke ich oder habe ich Mundgeruch oder habe ich vielleicht einen Buckel oder schiele ich? Bin ich hässlich?“
„Nein, überhaupt nicht, nur manchmal nach dem Sport muffelst du“, versuchte Gerda ihre Freundin aufzuheitern.
„Sehen Juden anders aus, sind sie anders? Wenn das so ist, trete ich in die katholische Kirche ein.“ Sarah nickte Gedankenverloren mit dem Kopf.
„Dann kann keiner mehr sagen: Du Jude! Dann müssen sie sagen du Katholik!“
„Schätzchen, mach dir doch über solche Blödmänner keine Gedanken. Die können es nicht besser.“
„Doch ich mache mir darüber Gedanken, wenn solche Leute wie Hildegard so etwas sagen und niemand widerspricht.“
Sarah und Gerda saßen eine Weile kauend und Gedankenverloren auf der Mauer, als sie die Schulglocke in die Wirklichkeit zurückholte.
„Mist und jetzt Mathe“, brummte Sarah. Sie liefen wie alle anderen auf das Portal der Schule zu.
Am frühen Nachmittag, als die Schule endlich vorbei war, saßen Sarah und Gerda auf dem Treppenabsatz vor Sarahs Haus. Sie sahen den kleineren Kindern zu, die sich mit einer Peitsche bemühten einen kleinen Kreisel in Drehung zu bringen, andere spielten Hopse, deren Felder mit Kreide auf den Bürgersteig gezeichnet waren.
Ein Pferdefuhrwerk kam rumpelnd um die Ecke gefahren und hielt vor dem Haus. Der Wagen war aus Metall mit Nieten versehen und von rostroter Farbe. Ein Staubwagen der Müllabfuhr. Die Müllkutscher, in blauer Arbeitskleidung mit Lederschürzen vor dem Bauch, stiegen vom Bock und kamen auf das Haus zu.
„Guten Tag, die Damen“, grüßten die Müllleute freundlich.
„Guten Tag, die Herren“, antworteten die Mädchen.
Sie standen auf, um die Müllmänner vorbei zu lassen.
In diesem Augenblick erschien Frau Müller, die Frau des Blockwartes.
„Gnä‘ Frau“, bei dieser Begrüßung tippte sich einer der Müllmänner an die Mütze und trat zur Seite.
Frau Müller ignorierte die Begrüßung. Müllmänner waren ja wirklich unter ihrem Niveau. Sie ging ohne auch auf die Mädchen zu achten die Straße entlang.
Die Müllmänner verschwanden im Hausflur und kehrten recht schnell mit einem eckigen, von gelb-grauem Aschestaub überzogenen Müllgefäß zurück und schleppten es an Ledergurten zu dem Fahrzeug.
Die Pferde hatten geäpfelt und von der gegenüberliegenden Straßenseite kam eine Frau mit einer Müllschippe und einem Eimer, um sich rasch diese Hinterlassenschaft für ihre Balkonpflanzen zu sichern.
Die Kinder hatten aufgehört zu spielen und umringten die massigen Müllpferde, die sich geduldig kraulen ließen. Hin und wieder schnaubten sie und warfen die massigen Köpfe hoch.
Die Müllmänner hoben das Gefäß bis an die Einschüttöffnung. Es staubte kaum, nur als das Gefäß auf dem Boden abgesetzt wurde, entwich ein wenig Aschestaub.
Die Mülltonne, eigentlich keine Tonne, sondern ein viereckiges Metallgefäß mit einem schweren Deckel, wurde wieder auf den Hof getragen und ein neues Gefäß wurde herangeschleppt und ausgeleert.
Nachdem alle Tonnen geleert waren, stiegen die Müllkutscher auf den Bock und nach einem Zungenschnalzer des Kutschers zogen die Pferde an. Der Wagen fuhr rumpelnd zum nächsten Haus.
Die Kinder fingen wieder an zu spielen. Sarah und Gerda nahmen wieder Platz auf dem Treppenabsatz und setzten ihr unterbrochenes Gespräch fort.
Am nächsten Morgen, Sarah war gerade mit dem Frühstück fertig und Anneliese war bereit den Tisch abzuräumen, da ertönte ein schriller Pfiff auf dem Hof. Sarah lief zu Fenster. Unten stand Gerda.
„Na los, du Trödeltante“, rief Gerda nach oben, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Ja, ja, ich komme sofort“, rief Sarah aus dem geöffneten Fenster, nahm ihre Schulsachen und raste vorbei an Mutter und Anneliese, die sie im Korridor fast umgerannt hätte, die Treppe herunter. Unten wartete Gerda bereits ungeduldig. „Guten Morgen, du alte Schlafmütze“, begrüßte sie Sarah. „Wir sind doch noch nicht zu spät“, erkundigte sich Sarah vorsichtig.
„Nein, nein“, beruhigte sie Gerda. Die Mädchen liefen eilig los in Richtung Schule.
Sie gelangten an der Schule an. Ein paar kleinere Jungen vom Jungvolk rannten dem Eingangstor entgegen, gefolgt von einigen Hitlerjungen in Uniformen.
Ein Auto hielt und Hildegard stieg aus. Sie sah sich um, dass auch jeder gemerkt hatte, dass sie mit dem Automobil gekommen sei. Dabei versuchte sie würdevoll auszusehen, wie eine Diva.
Gerda stieß Sarah in die Seite und beide Mädchen brachen in Gelächter aus.
„Mann, brich da man keene Verzierung ab“, sagte Gerda. Sarah musste wieder lachen. Hildegard stolzierte an ihnen vorbei.
„Euch wird das Lachen schon noch vergehen. Außerdem seid ihr nur neidisch!“ Sie warf den Kopf zur Seite und versuchte beide zu ignorieren.
Sie betraten das Schulgebäude und kletterten zur ersten Etage empor. Nach und nach verebbte der Lärm und der Unterricht begann.
Am Nachmittag saß Sarah in ihrem Zimmer über den Hausaufgaben. Im Radio im Wohnzimmer sang Benjamino Gigli, ein italienischer Tenor. Mutter hörte gerne Opern, gesungen von Gigli oder Caruso. Anneliese werkelte in der Küche.
Mutter erledigte die Hausarbeit und summte leise mit.
„Wie heißt die Oper?“ fragte Sarah.
„Das ist Cosi fan Tutte“, antwortete die Mutter. „Aber du solltest nicht zuhören, sondern deine Hausaufgaben machen.“
In diesem Augenblick klingelte es an der Wohnungstür. Anneliese öffnete die Tür. Vater, gefolgt von Onkel Robert, betrat den Flur.
„Guten Tag, meine Liebe“, begrüßte Onkel Robert die Mutter herzlich und umarmte sie spontan.
„Ach, und da ist ja auch die kleine Sarah. Du wirst ja immer hübscher. Klein bist du ja auch nicht mehr. Du bist ja eine richtige junge Dame geworden.“
Bei diesen Worten errötete Sarah leicht.
„Wenn du ein bisschen älter wirst, werde ich dich heiraten“, stichelte Onkel Robert.
Sarah hatte sich gefangen und entgegnete ihm fröhlich:
„Schade, aber dann bist du ja auch ein bisschen älter.“ Alle lachten und Sarah ging wieder in ihr Zimmer zu den Hausaufgaben.
Mutter, Vater und Onkel Robert gingen in die Küche. „Anneliese, du wirst auch immer hübscher, stichelte Onkel Robert.
„Anneliese, kannst du uns bitte einen Moment allein lassen, wir haben etwas zu bereden?“
„Jeht in Ordnung“, entgegnete Anneliese und verließ die Küche. Die Küchentür wurde geschlossen und Sarah hörte nur noch Gesprächsfetzen. Sie versuchte sich wieder ganz dem Thema Mathematik zu widmen, das eigentlich zu ihren Lieblingsfächern gehörte. Anneliese war in der Kammer und legte Wäsche zusammen.
Es klingelte wieder an der Wohnungstür. Sarah lief zur Tür. Draußen stand Frau Schmidt, die Frau des Kommunisten aus dem vierten Stock. Herr Schmidt war Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und des Spartakus Bundes. Sarah wusste nicht so genau, was ein Kommunist war, denn eigentlich war Herr Schmidt Reichsbahner oder besser noch, er war Lokführer und fuhr mit einer der großen Dampfloks durch die Gegend. Er trug immer eine dunkelblaue Uniform, wenn er nach Hause kam, dazu eine schwarze, lederne Mütze mit Schirm.
„Et tut ma leid, wenn ick störe, aba daf ick ma bei euch telefonieren?“ Mutter war inzwischen aus der Küche gekommen und Anneliese äugte aus dem Wohnzimmer, wo sie inzwischen die Bügelarbeit übernommen hatte. „Tag Frau Schmidt, na wie geht es?“
„Tach Frau Weiss, ick habe Sarah jrade jefracht ob ick ma bei sie telefonieren darf. Mein Bruda is krank.“
„Ja, selbstverständlich, kommen sie doch bitte herein.“
Mutter ging vor ins Wohnzimmer, gefolgt von Frau Schmidt. Sarah ging in ihr Zimmer, ließ jedoch die Tür ein wenig offen.
„So, hier ist es! Haben sie die Telefonnummer?“
„Ja, hier“. Frau Schmidt hielt Mutter einen zerknüllten Zettel hin. Mutter wählte die Nummer und reichte Frau Schmidt den Hörer. Es dauerte eine Weile, bis die Verbindung zustande kam.
„Hallo, hier is Jertrud“, rief Frau Schmidt ungewöhnlich laut in den Hörer, „wie jeht et denn Jünther? Mm, mm“, sie brummte einige Male, „na denn bin ick ja beruicht!“
Frau Schmidt legte sichtlich erleichtert den Hörer auf die Gabel.
„Wat bin ick schuldich?“ fragte Frau Schmidt und zog ihr Portemonnaie aus der Schürzentasche.
„Ach lassen sie man, Frau Schmidt, ist schon in Ordnung.“ Es schien der Mutter peinlich zu sein.
„Nee, nee Frau Weiss, Schulden möchte ick nich ham. Hier is een Jroschen, wenn se ihn nich wolln, jebensen Sarah! Ick bin so froh, dass et meim Bruda wieda bessa jeht.“
„Ach, war er krank?“, fragte Mutter teilnahmsvoll.
„Ja, er hatte Diphtherie“, entgegnete Frau Schmidt.
„Na, damit ist ja auch nicht zu spaßen.“
Frau Schmidt lief den Korridor entlang zur Wohnungstür.
„Vielen Dank nochmals, Frau Weiss.“
„Gern Frau Schmidt, grüßen sie ihren Mann von mir.“
Mutter schloss die Wohnungstür und ging wieder in die Küche, um gemeinsam mit Onkel Robert zu beratschlagen, was zu tun sei.
Es klingelte wieder. Sarah stürmte zur Tür und öffnete. Gerda stand da.
„Na, du Tüte, komm rein!“ Sie liefen den Flur entlang zu Sarahs Zimmer.
„Ich bin immer noch nicht fertig! Mathe ist heute eine Quälerei, find ich.“
„Das ist gar nicht so schwer, komm ich helfe dir. Du hast doch sonst nie Schwierigkeiten damit.“ Gerda zog einen Stuhl neben Sarahs und setzte sich.
„Ach ich seh schon, warum es nicht funktioniert. Brüche werden addiert, indem man einen gemeinsamen Nenner sucht. Also pass auf!“
Sie holte zu einer längeren Erklärung aus, in deren Verlauf Sarah des Öfteren „aha“ oder „oh“ sagte. Am Ende gab sie der Freundin einen Kuss auf die Wange.
„So und der Satz des Thales. Die genaue Formulierung dabei ist, „konstruiert man ein Dreieck aus den beiden Endpunkten des Durchmessers eines Halbkreises und einem weiteren Punkt dieses Kreises erhält man immer ein rechtwinkliges Dreieck.“
Gerda stützte ihr Kinn auf die Hand und sah Sarah an.
„Weißt du überhaupt, was ein Durchmesser ist?“
Sarah boxte ihr sanft in die Rippen.
„Na klar, für so blöd brauchst du mich auch nicht zu halten.“
Sarah tat auf beleidigt.
„Also die Winkelsumme im Dreieck groß A B C beträgt 180°, soweit klar?“
Sarah sah Gerda an und strahlte.
„Du sollst nicht mich ansehen, sondern auf den Zettel schreiben, du Dummchen.“
„Hier“, sie deutete mit dem Bleistift auf die Zeichnung mit den Dreiecken im Halbkreis.
„ά + β + (ά + β) = 180°
Daraus ergibt sich 2ά + 2 β = 180°. Kommst du mit?“ Gerda sah Sarah an, die immer noch strahlte.
„Wenn du jetzt diese Gleichung durch 2 teilst, erhältst du 90°, soweit klar?“ Sarah nickte artig.
„Also ά + β = 90°
Damit ist bewiesen, dass ά + β im Punkt groß C ein rechter Winkel ist.“
Gerda zog die Augenbrauen hoch und sah Sarah an.
„Quod erat demonstrandum!“
„Was bedeutet das“, fragte Sarah und sah mit großen Augen Gerda an.
„Ach Sarahlein, das ist Latein und heißt, was zu beweisen war.“
„Jetzt hab ich’s verstanden, wirklich. Ich werde es dir beweisen“, und in kurzer Zeit hatte Sarah unter den strengen Blicken von Gerda alle Aufgaben gerechnet.
„Na, siehste, geht doch.“
„Du müsstest Lehrerin werden, du kannst so toll erklären“, schlug Sarah der Freundin vor.
„Ach, du Schäfchen, damit ich mich den ganzen Tag mit Kindern wie dir herumplagen muss.“ Gerda sah Sarah ernst an und beide Mädchen fingen an zu kichern.
Draußen auf dem Flur liefen Onkel Robert, Mutter und Vater entlang. An der geöffneten Zimmertür zu Sarahs Zimmer blieb Robert stehen. „Tschüss, die Damen“, rief er fast fröhlich ins Zimmer, seid schön fleißig und lernt ordentlich, damit später aus euch etwas Ordentliches wird!“ Er lief weiter zur Wohnungstür und verabschiedete sich von den Eltern. „Wir hören voneinander!“
Gerda setzte sich auf Sarahs Bett und griff nach dem Teddy Bären, der neben der Käthe Kruse Puppe saß. „Ach ist der süß, und so knuddelig!“
„.....und wenn du ihm auf den Bauch drückst, dann brummt er,“ entgegnete Sarah. Gerda drückte dem Bären auf den Bauch und ein lang anhaltendes Brummen ertönte. „Hör mal Sarah, er spricht mit mir. Er sagt, wir sollten jetzt runtergehen und etwas spazieren gehen.“
„So´n Quatsch“, antwortete Sarah, der hat gerade gesagt, wir sollten zur Eisdiele gehen und uns ein Eis holen!“
Gerda setzte den Bären wieder auf seinen alten Platz. „Na denn los, du Tüte!“
„Mama, Gerda und ich gehen ein Eis essen!“ rief Sarah in Richtung Küche. Mutters Kopf erschien in der Tür:“ Komm aber nicht so spät. Habt ihr Geld? Hier sind zwei Groschen!“ Sie hatte das Portemonnaie gezückt und hielt zwei Münzen in der Hand.
„Oh, danke Mutsch!“ entfuhr es Sarah. „Danke Frau Weiss, das ist aber nett!“ rief Gerda.
Sarah trottete zur Mutter und holte sich die Münzen ab. Dann verschwanden die Mädchen im Treppenhaus. Mit großen Sätzen sprangen sie polternd die Treppe hinunter.
Sie liefen zur Friedrichstraße, denn am S-Bahnhof lag ihre Lieblingseisdiele. Sie wurde von einem älteren Mann mit schwarzen, welligen und vor allem öligen Haaren betrieben, der so aussah und auch so tat, als wäre er Italiener. Er sprach immer mit rollendem Errrrr und vor allem, er sprach die Mädchen immer mit Signorinas an. Aber was das wichtigste war, er macht das beste Eis der Stadt, fanden jedenfalls die Mädchen.
Sie schlenderten untergehakt die Friedrichstraße entlang und betrachteten das Straßenleben. Elegante Damen flanierten beim Schaufensterbummel oder ließen sich von Chauffeuren mit großen Limousinen herumfahren. Es war sehr viel Verkehr unterwegs, große, gelbe Doppeldeckerbusse mit den typischen langen Schnauzen fuhren die Straße entlang. Hinten am offenen Einstieg standen die Schaffner mit ihren chromblitzenden Münzzählern, die an einem Lederriemen um den Hals vor der Brust herunterbaumelten.
„Oh, sieh mal ein Horch“, staunte Sarah. „Und da ein Mercedes SLK“, entgegnete Gerda. Mit sonorem Brummeln fuhr das große, silberne Cabriolet an ihnen vorbei.
„Uih, der sieht aber gut aus“, entfuhr es Gerda. Sie deutete auf den Fahrer, der ein Halstuch trug und die dunklen, brilliantine glänzenden Haare straff nach hinten gekämmt hatte. Sarah stieß sie an und beide lachten.
„Ist das nicht der Heesters?“
Sie gelangten zur Straße Unter den Linden. Eine große Menschenmenge stand herum und wurde durch zahlreiche Schutzmänner mit schwarzen Tschakos, den glänzenden Polizeihelmen, am Überqueren der Fahrbahnen gehindert.
Marschmusik erscholl und wurde immer lauter. Eine Kapelle der SS marschierte, gefolgt von einem Zug der Waffen SS mit zackigem Gleichschritt an ihnen vorbei. Die schwarzen Uniformen sahen im Sonnenlicht noch schwärzer aus. Den Kontrast zu den schwarzen Uniformen bildeten die weißen, ledernen Koppeln. Das war schon ein Bild. Große, gutaussehende Soldaten waren es allesamt.
„Die marschieren jetzt zur Reichskanzlei, zu unserem Führer“, hauchte Sarah.
„Maxe Schmeling wär mir lieber“, entgegnete Gerda. „Den kannst du dir aus dem Kopf schlagen, der hat ja seine Anni Ondra“, konterte Sarah. Sie mussten erneut lachen. Endlich wurde die Straße wieder freigegeben und sie überquerten sie eilig.
Sie konnten schon von weitem den Bahnhof sehen. Auf der Brücke über der Straße stand abfahrbereit eine schwere, schwarze Schnellzuglokomotive. Sie zischte und qualmte und die Speisewasserpumpe klopfte so laut, dass man es schon von weitem hören konnte. Ein schriller Pfiff ertönte und noch stärker qualmend und fauchend setzte sich der Zug in Bewegung. Eine grau-weiße Dampfwolke schwebte auf die Straße hinab und schien alles einhüllen zu wollen.
Die Mädchen liefen weiter und endlich war Luigi in Sicht. „Buon giorno, Signorinas“, begrüßte Luigi freundlich mit seinem rollenden Err „wasse kann isch fürr sie tun?“.
„Wir hätten gern zwei Eiswaffeln für einen Groschen“, bestellte Sarah hastig und legte die Münzen auf den Zahlteller. Luigi lächelte: „Bitte serr, bitte gleisch, pronto!“
Er nahm die Metallform aus dem Wasserbad und legte eine Waffel hinein. Den Rest füllte er mit Vanilleeis auf und deckte alles mit einer zweiten Waffel ab. „So bitte, prego Signorina!“ Die erste Eiswaffel reichte er Sarah. „Vielen Dank, mein Herr!“
Und behend wie er die erste Eiswaffel gefertigt hatte, fertigte er die zweite, die er Gerda reichte. „Buon appetito, Signorinas“, rrollte Luigi.
„Vielen Dank, Signore e arrividerci“, erwiderten die Mädchen fast einstimmig. Sie kicherten und fingen an das Eis von allen Seiten der Waffel abzulecken, ehe es anfing zu schmelzen, und schlenderten langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren, sorgsam darauf bedacht nicht zu kleckern. Unterwegs ahmten Sie Luigis Gesten und Sprache nach. „Bitte serr!“ und sie mussten laut lachen.
Es war schon ziemlich spät, als Sarah zu Hause ankam. Sie hatten geredet und geredet, über Gott und die Welt, über Ernst Udet, Elli Beinhorn, Heinz Rühmann, Max Schmeling und viele, viele andere und auch über Hildegard, Sarahs ehemalige Banknachbarin.
Vor dem Haus waren immer noch einige Kinder auf der Straße, die Hopse spielten.
Sarah stellte sich an und fragte: „Darf ich auch mal?“
„An sich biste schon zu jroß“, antwortete ein Junge, „aber ausnahmsweise!“
Er überließ Sarah den Stein und Sarah warf ihn in ein Feld, hopste auf alle Felder, bis auf das, wo der Stein lag. Sie bückte sich und hob den Stein auf, hopste bis zum Ende und gab ihn dem Jungen zurück.
„Danke“, sagte sie.
„Wattn, det war schon allet? und dafür die Uffrejung?“ Sarah lachte, „ja, es reicht. Ich kann’s immer noch!“ Sie ging ins Haus und die Kinder setzten ihr Spiel fort.
Als Sarah nach Hause kam, saß ihr Vater vor dem Radio. Was heißt er saß, er kroch förmlich in den Apparat.
Heute fand das Endspiel um die Deutsche Fußball-Meisterschaft Schalke 04 und dem VfB Stuttgart statt.
Vater hörte nicht oft Übertragungen im Radio, aber diese interessierte ihn schon.
Sarah nahm am Tisch Platz.
„Meine Damen und Herren, wir übertragen heute des Endspiel um die Deutsche Meisterschaft“, begrüßte der Reporter die Zuhörer.
„Rund 70.000 Fußball Enthusiasten haben es sich nicht nehmen lassen, heute dem Spiel um die Krone im Deutschen Fußball, im Müngersdorfer Stadion in Köln beizuwohnen.
Die Spieler haben bereits Aufstellung genommen und ich werde sie noch einmal vorstellen…..“
„Du, Paps“, begann Sarah zaghaft.
„Oh, Sarah, bitte nicht jetzt. Ich möchte gern die Übertragung hören. Danach können wir uns gern unterhalten.“ Sarah stand auf und ging in ihr Zimmer.
Der Rundfunksprecher begann die Aufstellung zu verlesen.
„…auf der Seite der Königsblauen steht Mellage im Tor, Bornemann und Nattkämper als Verteidiger. Im Mittelfeld Tibulski, Szepan und Valentin und im Sturm Kalwitzki, Gellesch, Pörtgen, Kuzorra und Urban. Diese fünf Spieler, die eigentlichen Spielmacher und Motoren der Mannschaft, werden heute ihr Letztes geben, davon sind wir alle überzeugt. und mit ein wenig Glück können die Schalker wie im letzten Jahr die Meisterschaft für sich entscheiden. Aber bis dahin liegen noch rund zwei Mal 45 Minuten Spielzeit dazwischen.
„Bei den Stuttgartern wird Kapp versuchen, seinen Kasten sauber zu halten. Dabei helfen, wie so oft, Seibold und Kotz in der Verteidigung. Im Mittelfeld sind Rebmann, Buck und Hahn aufgestellt worden. Im Sturm Koch, Rutz, Haaga, Böckle und Lehmann.
Meine Damen und Herren, der Schiedsrichter Best, den wir aus anderen Begegnungen kennen, gibt den Ball frei.
Anstoß! Die Zuschauer sind von ihren Plätzen aufgesprungen….“
„Heinrich, kannst du mal bitte in die Küche kommen?“ Mutter steckte den Kopf zu Tür herein.
„Ach, Schatz, bitte nicht jetzt. Es ist gerade Anstoß. Ich komme nachher, ja?“
Mutter hatte Verständnis und verschwand wieder in der Küche
„... und... ein Lattenschuss, was für ein Schuss, meine lieben Fußballfreunde, Ernst Kuzorra, der Stürmer von Schalke04 hat nur geringfügig das Tor verfehlt. Der Ball prallt ab und wird von dem Stuttgarter Kotz sofort zu Rebmann gespielt, dieser spielt zu Bökle, doch Valentin, der Schalker hat aufgepasst, nimmt ihm den Ball ab, Szepan läuft sich frei, Pass zu Szepan, Urban bekommt den Ball. Er spielt den rechten Verteidiger aus und... Tor! Schalke führt mit eins zu null durch ein Tor von Ala Urban. Die Spannung steigt, meine Damen und Herrn. Anstoß! Der Ball liegt ihm Kreis auf dem Punkt.“
Vater rückte sich den Sessel noch näher ans Radio, damit ihm auch ja kein Wort entging.
Der Radio Sprecher wurde ein wenig heiser und die Spannung stieg.
„Die Stuttgarter drängen auf den Ausgleich. Fritz Szepan scheint überall aufzutauchen. Er verteilt die Bälle geschickt im Feld und findet jedes Mal einen freien Mann. Szepan zu Pörtgen, Pörtgen zu Gellesch. Die Königsblauen sind schon im gegnerischen Strafraum - doch Abseits! Der Schiedsrichter hat abgepfiffen. Die Stuttgarter haben geschickt die Schalker ins Abseits laufen lassen. Abstoß vom Tor. Kalwitzki nimmt gekonnt den Ball mit dem Körper an, weiter zu Szepan, Pörtgen ist mitgelaufen und köpft, aber im Stuttgarter Tor hat Rebmann den Ball von der Linie gerettet. Ein Spiel, das an Dramatik nicht zu überbieten ist, meine Damen und Herren zu Hause an den Rundfunkgeräten. Der Ball liegt am Strafraum. Abstoß, doch ungenau auf Kuzorra, der nimmt das Leder an, doch Bökle, der Stuttgarter bringt ihn zu Fall. Freistoß. Die Schalker Besucher sind von Ihren Plätzen aufgesprungen.
Der Schiedsrichter zeigt auf einen Punkt. Kuzorra legt sich den Ball zurecht. Er schießt, doch abgewehrt. Doch Pörtgen nutzt das Durcheinander im Strafraum und schießt -Tor!
Der Schütze zum zwei zu null in der 38. Minute ist Ernst Pörtgen.
Das Stadion bebt, so etwas habe ich noch nicht erlebt, als wenn der gesamte Ruhrpott im Stadion versammelt ist. Ein Toben und Jubeln. Die Meisterschaft ist in greifbare Nähe gerückt. Die Spieler liegen sich in den Armen.
Anstoß. Das Spiel der Schalker wird immer überlegener. Pass-Abwehr. Kapp hat den Ball abgewehrt zur Ecke. Der Schalker Stürmer legt sich den Ball zurecht und flankt zum Elfmeterpunkt. Der lange Gellesch steigt hoch. Höher und höher und höher…. und köpft den Ball unhaltbar für Kapp ins Tor, drei zu null!! Meine Damen und Herren, liebe Zuhörer, sie sollten dieses Spiel sehen.“
Das Telefon klingelte. „Nicht jetzt!“, stöhnte Vater. Er meldete sich „Weiss! Ach, du bist es, Robert. Kann ich dich nachher zurückrufen? Ich höre gerade das Endspiel an - mmm“, er brummt, „es ist spannend... ja, Schalke führt drei zu null, gleich ist Halbzeit. Ich melde mich, bis dann.“ Hastig legte er den Hörer auf die Gabel. In diesem Augenblick pfiff der Schiedsrichter zur Halbzeit. „Puh!“ entfuhr es Vater.
Vater stand auf und ging in die Küche zu Mutter und Anneliese. „Was gibt’s, was hast du auf dem Herzen, meine Liebste?“
„Ach, das hat sich inzwischen erledigt.“ Du solltest mir nur ein Glas mit Honig aufmachen. Ich habe den Deckel nicht drehen können.“
„Ach, dann bin ich beruhigt. Ich dachte schon, es wäre etwas Ernstes.“ Er nahm sich einen Apfel und ging wieder in Richtung Wohnzimmer. Bei Sarahs Zimmer steckte er den Kopf zu Tür herein. „Hallo Schatz, was wolltest du?“
„Och, nichts Besonderes,“ entgegnete Sarah.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Peter Kaul
Bildmaterialien: Peter Kaul
Lektorat: P.Kaul
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1185-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen, die gelitten haben