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Tödliche Kritik

 

Tödliche Kritik

Die meisten Passagiere der Costa Deliziosa schliefen seelenruhig in ihren Kabinen und träumten von dem köstlichen Festmahl, welches sie noch wenige Stunden zuvor zu sich genommen hatten. Doch nicht alle Reisenden verbrachten diese Nacht in ihren Betten. Nebel, das hätte die Gestalt, die über die Planken schlich, nur zu gerne gehabt. Aber das mit dem Nebel war so eine Sache. Wenn man ihn einmal brauchte, gab es keinen. Für dieses Vorhaben wäre Nebel jedoch perfekt geeignet gewesen. Der hell scheinende Mond rückte das Verbrechen in ein ungewolltes Scheinwerferlicht. Die Gestalt liess sich jedoch nicht von ihrem geplanten Vorhaben abbringen und schritt zielstrebig durch die sternenklare Nacht.

 

Ein paar Stunden später, in derselben Nacht, stand Korbinian Ende auf seinem Balkon und rauchte eine Zigarette. Er war nicht ganz freiwillig hier. Auch wenn viele Menschen von einer Kreuzfahrt träumten, Ende gehörte nicht dazu. Bei der Schaukelei wurde ihm übel und Wasser konnte er seit einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit nicht mehr ausstehen. Nun stand er auf einem Schiff mitten auf dem Ozean. Dass er sich überhaupt hier befand, hatte er ein paar unglücklichen Zufällen zu verdanken. Mit finsterem Blick starrte er aufs Meer hinaus und liess die letzten Wochen noch einmal Revue passieren. Durch eine Grippewelle hatte er an seinem freien Tag für einen Kameraden einspringen müssen. Am selben Tag hatte sich ein junger Mann dazu entschlossen, einen Supermarkt zu überfallen. Ende war es immer noch ein Rätsel, wie die ganze Sache so dermassen aus dem Ruder laufen konnte. Im Supermarkt hatten sich vier Personen aufgehalten, als er und seine Kollegen dort eingetroffen waren. Zwei Kassiererinnen, ein Kunde und der Dieb. Beim Dieb handelte es sich um einen heroinabhängigen Junkie, der schon mehrfach vorbestraft war. Ende hatte schon viele solcher Einsätze hinter sich und wusste genau, wie er vorgehen musste. Doch dass der Junkie vollkommen die Nerven verlieren würde, hatte er nicht kommen sehen. Der Mann hatte wild um sich geschossen und bevor Ende ihn hatte ausser Gefecht setzen können, hatte er drei anderen Menschen das Leben genommen. Nach diesem Vorfall war er erst einmal für ein paar Tage vom Dienst freigestellt worden. Erst nach zahlreichen psychologischen Gutachten durfte er seine Arbeit wieder aufnehmen. Das ganze Revier hatte zusammengelegt und ihm diese Kreuzfahrt finanziert. Sie hatten das günstige Angebot in einer Zeitschrift entdeckt, die auf dem Tisch des Pausenraums gelegen hatte und gleich an ihn gedacht. Aus Höflichkeitsgründen hatte er ja schlecht ablehnen können. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, war diese verdammte Grippewelle für all das verantwortlich. Oder war doch die mangelnde Hygiene seines Kollegen schuld? Wie er es drehte und wendete, es änderte nichts an seiner jetzigen Situation. Von seiner zehntägigen Kreuzfahrt hatte er nun drei Tage hinter sich gebracht. Bei den Ausflügen an Land hatte er den Schiefen Turm von Pisa und die berühmte antike Stadt Pompeij besichtigt. Wie die anderen Touristen schoss er zahlreiche Fotos, aber nur um später seinen Kollegen etwas vorweisen zu können.

 

Er wollte sich gerade eine zweite Zigarette anstecken, als jemand gegen seine Tür hämmerte. Verwundert warf er einen Blick auf seine Uhr, es war schon 3:42 Uhr morgens. Was um Himmelswillen wollte jemand um diese Zeit von ihm? Es hämmerte noch immer gegen die Tür, als er die Zigarette zurück in die Schachtel schob und durch die Balkontür trat.
„Ich komme ja schon!“, rief er.
Vor seiner Kabine stand ein leichenblasser Mann mit erhobenem Arm, um weiter gegen die Tür zu hämmern.
„Gott sei Dank. Ich dachte schon, Sie würden nie öffnen.“ Der nächtliche Störenfried liess seinen Arm sinken, nur um sich Sekunden später mit einem Taschentuch die Stirn abzutupfen. „Sind Sie Herr Ende?“, fragte er.
Mehr als ein Nicken konnte er nicht als Antwort geben, da fuhr er auch schon fort.
„Folgen Sie mir, wir brauchen dringend ihre Hilfe.“
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und wollte davoneilen. Doch Ende packte ihn am Arm und blickte ihm ins Gesicht. „Beruhigen Sie sich und erzählen Sie mir, wobei ich Ihnen helfen soll.“
„Ein Mord…ich meine es wurde jemand ermordet“, stotterte er und eilte weiter.
Korbinian Ende blieb gar nichts anderes übrig als ihm zu folgen.
„So warten Sie doch!“, rief er und schloss zu ihm auf. „Nennen Sie mir wenigstens Ihren Namen, dann können wir vernünftig miteinander reden.“
Ohne anzuhalten reichte er ihm die Hand und sagte:
„Martin Stöckli, erster Offizier.“
„Korbinian Ende, aber das wissen Sie ja schon“, erwiderte er und schüttelte die dargebotene Hand.
Mit dem Fahrstuhl fuhren sie vom achten zum elften Deck hinauf. Dort befanden sich keine Kabinen, sondern nur eine Joggingstrecke und Yoga Räume. Beides hatte Ende noch nicht genutzt und er hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er unter seinem Morgenmantel nur einen Pyjama trug. Wenigstens hatte er sich noch schnell die Pantoffeln über die nackten Füsse gezogen.
„Herr Stöckli, würden Sie mir verraten, wohin wir eigentlich gehen? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich wüsste gerne, warum Sie mich um diese Zeit aus dem Schlaf reissen.“
Na gut, er hatte zwar nicht geschlafen, aber das musste Stöckli ja nicht wissen.
„Wie ich bereits sagte, wurde jemand ermordet“, wiederholte er und fuhr sich nervös mit dem Taschentuch über die Stirn. „So etwas habe ich noch nie gesehen…es ist einfach schrecklich.“
„Was haben Sie noch nie gesehen?“
Frustriert zerknüllte Stöckli sein Taschentuch und stopfte es in seine Hosentasche.
„Um Himmelswillen, ich habe es Ihnen bereits zwei Mal erklärt, es wurde jemand ermordet. Elsa…ich meine natürlich Frau Bruni, eines unserer Zimmermädchen, hat den Toten entdeckt. Sie…sie hat sofort Kapitän Willsberger informiert“, stotterte er weiter.
„Bei einem Mord sollte man die Polizei informieren, was also wollen Sie von mir?“
„Natürlich haben wir die Polizei informiert, nur sind wir mitten auf dem Ozean und werden erst in neunundzwanzig Stunden bei Santorin in den Hafen einlaufen. Der Kapitän hat beschlossen, die Passagiere nicht unnötig zu verängstigen und keine Polizei mit einem Helikopter oder einem Boot anzufordern. Deshalb wenden wir uns an Sie. Bis wir in Santorini ankommen, haben Sie die Verantwortung für den Fall.“
Diese Sätze hatte er ganz ohne zu stottern herausgebracht. Anscheinend stotterte er nur, wenn er aufgebracht war.
„Momentan bin ich nicht im Dienst, also ist das auch nicht meine Angelegenheit“, sagte er und blieb stehen.
Erst ein paar Schritte weiter bemerkte Stöckli, dass Ende ihm nicht mehr folgte.
„Das hier ist ein absoluter Notfall…Sie sind wieder im Dienst - auf Anordnung des Kapitäns.“
Er kam zurück, packte ihn am Arm und zerrte ihn hinter sich her. Nun war er definitiv aufgebracht. Der erste Offizier schien mit der ganzen Situation überfordert zu sein.
„Schon gut, lassen Sie mich los! Wenn ich Ihnen wirklich helfen soll, brauche ich mehr Informationen.“ Stöckli liess seinen Arm los und entschuldigte sich.
„Verzeihen Sie mir, ein Mord ist nicht gerade etwas Alltägliches in meinem Beruf. Sie als hartgesottener Polizist haben bestimmt schon schlimmere Dinge gesehen.“
„Kommissar“, verbesserte er ihn automatisch.
Erst vor kurzem war Ende zum Polizeikommissar befördert worden, doch nach diesem verpatzten Einsatz im Supermarkt war er sich nicht mehr so sicher, ob das auch so bleiben würde. Um genau zu sein, hatte er bisher noch keinen Mordfall aufgeklärt. Wie auch, wenn er immer nur am Schreibtisch gesessen hatte oder Streife gefahren war? Mehrere Raubüberfälle hatte er bereits miterlebt, aber mit seinen dreissig Jahren war er schliesslich noch nicht so alt.
„Entschuldigen Sie, als Kommissar haben Sie bestimmt Erfahrung in solchen Dingen.“
Mehr oder weniger, aber auch das musste er nicht wissen.
„Verraten Sie mir nun, wo die Leiche gefunden wurde, und was genau ich für Sie tun kann?“ Stöckli nickte.
„Selbstverständlich, der Tote ist auf dem Jogging Track gefunden worden. Sie leiten die Ermittlungen solange, bis wir in Santorin eintreffen. Dann übernimmt die örtliche Polizei die Ermittlungen.“
Ende war also nur eine Übergangslösung.
„Wissen Sie schon, wie das Opfer gestorben ist?“
„Ja, aber machen Sie sich selbst ein Bild, wir sind da.“

„Wir haben Sie schon erwartet“, begrüsste ihn ein gross gewachsener Mann mit graumelierten Haaren.
Es musste sich um den Kapitän des Schiffes handeln. Er trug trotz der späten Stunde seine Uniform, mitsamt der Mütze. Hinter ihm konnte Ende noch zwei weitere Gestalten ausmachen. Im schummrigen Licht der leicht flimmernden Neonröhren beugte sich eine Gestalt über eine auf dem Boden liegende Person.
„Dr. Meile, können Sie schon etwas über den Tathergang sagen?“, wandte sich der Kapitän an eine der Gestalten.
Eine der beiden Personen richtete sich ganz auf und kam zu ihnen herüber. Erst da ging es Ende auf, dass die andere Gestalt der Tote sein musste. Doch von hier aus konnte er die Leiche nicht so genau erkennen.
„Herr Ende, das ist Dr. Ramona Meile, unsere Schiffsärztin. Ich habe sie gebeten, sich die Leiche des Ermordeten anzusehen, um Ihnen bei Ihren Ermittlungen zu helfen.“
An den Kapitän gewandt, sagte sie:
„Das Opfer ist männlich und um die dreissig. Der arme Kerl wurde brutal niedergestochen, ist aber erst infolge des enormen Blutverlustes gestorben“, kam sie gleich zur Sache, ohne Ende auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie streifte sich die blutigen Handschuhe von den Händen und fuhr fort. „Ausserdem gibt es Spuren, die auf einen Kampf hindeuten. Ich habe Hautpartikel unter den Fingernägeln gefunden und der Tote hat Schnittwunden an beiden Armen. Nachdem er also den ersten Stich in den Rücken bekommen hat, hat er sich seinem Angreifer gestellt.“
„Sind Sie sich sicher, dass er erst durch den Blutverlust gestorben ist?“
Dr. Meile löste ihre Augen vom Kapitän und musterte Ende mit einem abschätzigen Blick.
„Zweifeln Sie etwa an meiner Fachkompetenz, Herr Kommissar“, fragte sie, wobei sie das Wort Kommissar besonders betonte.
Anscheinend war sie nicht davon überzeugt, dass Ende auch etwas von seiner Arbeit verstand. Sein Aufzug trug auch nicht gerade dazu bei.
„Ich versichere Ihnen, dass ich weiss, wovon ich spreche. Obwohl ich keine Gerichtsmedizinerin bin, bin ich doch in der Lage, einen solchen Fall zu beurteilen.“
„Selbstverständlich, daran habe ich auch nie gezweifelt“, antwortete Ende. Nur sein Gefühl sagte ihm, dass er es sich besser nicht mit ihr verscherzte.
„Gut. Was die Tatwaffe angeht, handelt es sich eindeutig um ein Messer. Um was für eines es sich handelt, kann ich erst sagen, wenn ich die Leiche genauer untersucht habe.“
Demnach war die Tatwaffe nicht mehr auffindbar. Kein Wunder, auf einem Kreuzfahrtschiff war es ja auch nicht besonders schwierig, etwas verschwinden zu lassen.
„Lange ist der arme Mann noch nicht tot, höchstens seit eineinhalb Stunden.“ Ende warf einen Blick auf seine Uhr. Jetzt war es vier Uhr morgens, also musste er um die halb drei gestorben sein.
„Vielen Dank für ihre Einschätzung. Wollen Sie noch irgendetwas wissen, Herr Ende?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, das genügt vorläufig. Jetzt würde ich mir gerne persönlich die Leiche ansehen. Könnten Sie mir eventuell ein paar Handschuhe und eine Plastiktüte zur Verfügung stellen?“
Wortlos zog Dr. Meile das Verlangte aus ihrer Arzttasche und reichte es ihm.
„Wenn Sie mit Ihrer Untersuchung fertig sind, empfehle ich Ihnen, die Leiche in den Kühlraum zu bringen.“
Da meldete sich Stöckli zu Wort.
„Das können wir doch nicht machen…, ich meine, eine Lei…Leiche zu den Lebensmitteln zu legen.“
Ungerührt packte Dr. Meile ihre Sachen zusammen.
„Ist es Ihnen lieber, wenn sie hier in aller Öffentlichkeit liegen bleibt und zu verwesen beginnt?“
„Natürlich nicht.“
Willsberger klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.
„Ganz ruhig mein Freund, wir werden ihn, so weit wie möglich von den anderen Sachen entfernt, aufbewahren.“
„Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie hier fertig sind, dann werde ich weitere Untersuchungen machen und Ihnen dann einen Bericht zukommen lassen“, sagte sie und verschwand.
„Eine einschüchternde Persönlichkeit, diese Frau Meile“, sagte Ende und streifte sich die Handschuhe über.
„Sie hat sich in Kriegsgebieten um die Verletzten gekümmert, das hat sie abgehärtet“, erklärte ihm der Kapitän. Dann hatte sie bestimmt schon ein paar Leichen gesehen, die weitaus schlimmer zugerichtet waren. Vorsichtig, darauf bedacht, seinen Morgenmantel nicht mit Blut zu besudeln, ging er neben dem Toten in die Hocke. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen lag der Tote vor ihm und starrte in die Dunkelheit. Bevor er mit seiner Untersuchung begann, schloss er die Augen des Toten, da er dessen Blick nicht ertragen konnte. Er hatte noch nie selbst einen Tatort untersucht. Neben der Leiche lag ein Zigarrenstummel in der Blutlache. Mit zittrigen Fingern untersuchte er die Taschen nach Hinweisen, wer der Tote war. Ausser zwei Zimmerkarten und eine Schachtel Zigarren konnte er nichts weiter finden. Warum war dieser Mann um diese Uhrzeit vollständig bekleidet? Und wozu brauchte er Zimmerkarten für zwei unterschiedliche Zimmer?
„Können Sie mir sagen, wer in diesen Zimmern untergebracht ist?“ Stöckli betrachtete die beiden Karten.
„Auswendig weiss ich das nicht, aber ich kann es unverzüglich überprüfen lassen.“ Ende liess die Karten in die Plastiktüte gleiten und überreichte sie dem ersten Offizier.
„Besorgen Sie auch gleich eine Trage, Stöckli. Wir müssen die Leiche in den Kühlraum schaffen und das Blut beseitigen, bevor die ersten Jogger hier auftauchen.“

Einen Tatort zu räumen, bevor die Spurensicherung hier war, wiedersprach sämtlichen Regeln. Doch Ende hatte keine Lust, sich mit dem Kapitän zu streiten. Erst recht nicht in seinem Aufzug. Ohne seine Polizeimarke und seine Waffe fühlte er sich wie ein gewöhnlicher Tourist. Im Grunde genommen war er ja auch einer.
„Geben Sie mir ein paar Minuten, ich würde mich gerne umziehen. Ich habe verstanden, dass die Aufklärung dieses Falles höchste Eile hat und deshalb werde ich damit so schnell wie möglich beginnen.“ Gerade als er sich zum Gehen gewandt hatte, fiel ihm noch etwas ein. „Hat jemand von Ihnen sein Telefon bei sich?“
Der erste Offizier nickte und zog ein schwarzes Smartphone aus der Tasche.
„Sehr gut. Schiessen Sie noch ein paar Fotos, wenn wir die Spuren am Tatort schon beseitigen müssen.“

 

Ein paar Minuten und eine Zigarette später, traf sich Ende mit dem Kapitän und dem ersten Offizier auf der Kommandobrücke.
„Hätten Sie nicht einen etwas privateren Raum, den ich als eine Art Büro nutzen könnte?“
„Lassen Sie uns in einen der Aufenthaltsräume der Offiziere gehen. Dort können wir in Ruhe die Fakten sammeln und uns einen Überblick verschaffen.“ Stöckli führte sie in einen kleinen Raum, der praktisch ganz von einem grossen Tisch eingenommen wurde und angrenzend eine kleine Küche hatte. Zufrieden stellte Ende die Tasche mit seinem Laptop und zahlreichen Notizblöcken auf dem Tisch ab. „Haben Sie schon herausgefunden, wer in den beiden Zimmern untergebracht ist?“ Stöckli legte zwei Bogen Papier auf den Tisch.
„In Kabine Nummer 5253 ist ein Ehepaar, die Duponts, untergebracht. In der anderen Kabine, 5256, ein gewisser Herbert Örtlinger.“
„Dann bleiben uns drei Möglichkeiten: Erstens, der Tote ist Herr Dupont, zweitens, der Tote ist Herbert Örtlinger oder die dritte Möglichkeit, es ist irgendein Dieb, der die Karten gestohlen hat. Aber ich halte die ersten beiden Möglichkeiten für wahrscheinlicher.“
„Dann wissen Sie ja jetzt, was Sie als nächstes zu tun haben“, sagte Willsberger und legte Stöckli eine Hand auf die Schulter. „Ich muss zurück auf die Kommandobrücke, aber ich leihe Ihnen meinen ersten Offizier aus, er wird Sie bei Ihren Ermittlungen unterstützen.“ Martin Stöckli nickte eifrig.
„Wenn Sie das wünschen, Kapitän.“

Nachdem Willsberger gegangen war, startete Ende seinen Laptop und lud die Bilder von Stöcklis Smartphone herunter. Die meisten Bilder waren nicht zu gebrauchen, allesamt verwackelt. Doch er verzichtete darauf, etwas zu sagen, zumal wenigstens zwei brauchbare dabei waren und Stöckli schien es ohnehin schon unangenehm zu sein.
„Ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen“, entschuldigte er sich stotternd. Ende winkte ab.
„Macht nichts. Haben Sie einen Drucker? Ich würde gerne ein paar Bilder ausdrucken.“
„Kein Problem, ich erledige das.“
Wenig später reichte ihm Stöckli die gewünschten Fotos. „Gut, dann statten wir den Duponts als erstes einen Besuch ab.“

Erst nach einem energischen Klopfen gegen die Tür öffnete eine Frau. Verwirrt blickte sie von Ende zu Stöckli und wieder zurück. Dann zog sie ihren Morgenmantel enger um sich.
„Entschuldigen Sie die Störung, aber es ist wirklich dringend.“
„Ist etwas mit dem Schiff nicht in Ordnung?“, fragte sie mit ängstlicher Stimme. Stöckli schüttelte den Kopf.
„Nein, nein, wir würden gerne mit ihrem Mann sprechen, Frau Dupont.“
„Ihm geht es momentan nicht so gut“, antwortete sie ausweichend. „Ich kann ihm gerne etwas ausrichten oder Sie kommen später noch einmal wieder.“ Sie verhielt sich äusserst merkwürdig, die Tür hatte sie nur einen winzigen Spalt breit geöffnet, als wollte sie nicht, dass jemand ins Innere der Kabine sehen konnte.
„Darauf können wir keine Rücksicht nehmen, lassen Sie uns herein.“ Um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, trat er einen Schritt auf sie zu. Seufzend machte sie ihnen Platz und liess sie eintreten. Auf dem Doppelbett lag ein Mann, vollständig bekleidet und schnarchte.
„Philippe, Philippe!“ Er rührte sich erst, als sie ihn an den Schultern packte und kräftig schüttelte.
„Was ist denn los?“, lallte er.
„Diese beiden Herren wollen mit dir reden“, erklärte sie. Herr Dupont schwankte bedenklich, als er sich vom Bett erhob. Der Kerl war sternhagelvoll.
„Mit wem habe ich die Ehre?“
„Mein Name ist Korbinian Ende, Kriminalkommissar. Und das ist Herr Stöckli, erster Offizier der Deliziosa“, stellte er sich vor und zeigte seine Marke. Als Dupont die ausgestreckte Hand schütteln wollte, griff er daneben und stolperte direkt in Ende hinein. „Hoppla“, kicherte er. Stöckli und Ende packten ihn an den Armen und halfen ihm zurück auf das Bett.
„Machen wir es kurz, damit Sie Ihren Rausch ausschlafen können. Wir haben eine Leiche gefunden und der Tote hatte Ihre Zimmerkarte bei sich.“ Frau Dupont wurde kreidebleich, als er ihnen die Karte zeigte.
„Fragen sie doch meine Frau, das ist ihre. Angeblich hat sie sie verloren“, er lachte bitter. „Dabei weiss doch längst jeder, dass die beiden miteinander Vögeln, nicht wahr Astrid.“
„Philippe!“, rief sie empört.
„Es ist wohl besser, wenn wir uns draussen weiter unterhalten“, schlug Ende vor.
„Ich muss mich für meinen Mann entschuldigen, aber er hat etwas zu viel getrunken“, sagte sie, nachdem sie auf den Gang hinaus getreten waren.
„Dann wissen Sie also nicht, von wem Ihr Mann da gesprochen hat?“
„Doch“, gab sie zu. „Dann heisst das, Herbert ist tot?“ Sie meinte wohl Herbert Örtlinger, den Passagier aus Kabine 5256.
„Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, dazu müssen wir erst in seiner Kabine nachsehen.“
„Die ist gleich dort drüben“, sagte sie mit zittriger Stimme und wies quer über den Flur. Die Gewissheit, dass es sich bei dem Toten um Herbert Örtlinger handelte, stieg, als sich nach lautem Klopfen und Rufen nicht die Tür von Kabine Nummer 5256 öffnete, sondern eine nach der anderen verärgerter Nachbarn. Stöckli entschuldigte sich stotternd und Ende gab das Klopfen auf.
„Haben Sie die Schlüsselkarte bei sich?“
„Selbstverständlich.“ Er zog die Karte durch den Leser und öffnete die Tür. Im Inneren fanden sie eine menschenleere Kabine vor.
„Nein“, stiess Astrid Dupont hervor und schlug sich die Hand vor den Mund.
„Jetzt können wir fast mit vollkommener Sicherheit sagen, dass es sich bei dem Toten um Herbert Örtlinger handelt“, stellte der Kommissar trocken fest. Frau Dupont schluchzte.
„Um ganz sicher zu gehen, müssen Sie die Leiche jedoch identifizieren. Sie und Ihr Mann scheinen die einzigen Personen auf diesem Schiff zu sein, die ihn wirklich gekannt haben. Also gibt es keine andere Möglichkeit, auch wenn ich es Ihnen gerne ersparen würde.“ Sie nickte. „Sorgen Sie dafür, dass Sie und Ihr Mann in einer Stunde auf der Kommandobrücke sind.“
„Ist es wirklich nötig, dass mein Mann auch dabei ist?“ Ihr schien dieser Gedanke überhaupt nicht zu behagen.
„Ja, ich würde Ihnen beiden gerne noch ein paar Fragen stellen.“ Sie gab sich geschlagen und versicherte, dass sie und ihr Mann dort sein würden. Wortlos ging sie zurück in ihre Kabine.
„Und was machen wir in dieser Stunde?“
„Ich werde mich hier etwas umsehen. Daher bitte ich Sie, Frau Meile Bescheid zu geben, dass wir um sechs Uhr die Leiche identifizieren werden und erkundigen Sie sich doch schon einmal nach dem Stand des Obduktionsberichtes.“ Je weniger er mit dieser Frau zu tun hatte, desto besser. Begeistert davon, bei einer richtigen Ermittlung zu helfen, eilte Stöckli davon. Bevor sich Ende an die Durchsuchung der Kabine machte, gönnte er sie eine Zigarette. Er öffnete das Bullauge und steckte sich mit zittriger Hand eine an. Eigentlich war es strengsens verboten, in den Kabinen zu rauchen, doch er brauchte dringend eine. Kurze Zeit später schnippte er den Stummel nach draussen und wandte sich dem Inneren der Kabine zu. Viel gab es hier nicht zu durchsuchen. Örtlinger schien ein äusserst ordentlicher Mensch gewesen zu sein, was die ganze Sache erleichterte. Seine Kleider waren feinsäuberlich in den Einbauschrank verstaut worden, der leere Koffer lag unter dem frisch gemachten Bett. Er hatte also in dieser Nacht nicht hier geschlafen. Zwischen den Kleidern fand er zahlreiche Bilder von Restaurants und ein kleines Notizbüchlein. Auf einem Tischchen lag ein Laptop. Nicht nur ordentlich sondern auch vertrauensselig, dachte sich Ende, als er sah, dass der Laptop kein Passwort hatte. So konnte er ohne Probleme auf Örtlingers Dateien und Daten zugreifen. Das zuletzt geöffnete Dokument war ein kulinarischer Reiseführer, wie zumindest der Titel versprach. Darin waren schon einige Restaurantbewertungen zu finden. Alles Lokale, die an der Reiseroute lagen. Sogar ein Restaurant des Kreuzfahrtschiffes war dabei, das Albatros. Die Kritik fiel weniger gut aus. Örtlinger gab dem Albatros gerade mal zwei von fünf Sternen.
„Der Service ist ausgezeichnet, die Küche hingegen nur zweitklassig“, las er laut vor. Der Koch wurde in diesem Reiseführer regelrecht auseinandergenommen. Ende hatte selbst schon dort gegessen und für ihn hatte es vorzüglich geschmeckt. Als nächstes nahm er sich Örtlingers Fotos vor. Zahlreiche Urlaubsbilder, genau wie er selbst sie auch zur Genüge geschossen hatte. Doch es gab auch Bilder, die ihn eng umschlungen mit Astrid Dupont zeigten. Dann hatte ihr Mann recht, was die Sache mit den beiden betraf. Den Laptop würde er auf jeden Fall nachher mitnehmen. Doch bevor er ging, wollte er noch einen Blick in das kleine Notizbüchlein werfen. Philippe Dupont stand auf der ersten Seite. Anscheinend gehörte es nicht Örtlinger. Darin befanden sich alle Restaurantbewertungen, die Ende zuvor im kulinarischen Reiseführer gelesen hatte, allesamt mit Duponts Namen unterzeichnet. Die beiden waren also Arbeitskollegen. Mehr konnte er hier nicht tun. Er klemmte sich den Laptop und das Notizbüchlein unter den Arm. Jetzt wollte er nachsehen, was Stöckli in Erfahrung gebracht hatte.

„Der Grösse nach handelt es sich bei der Tatwaffe um ein gewöhnliches, grosses Küchenmesser.“ Auf einem Schiff war das gar nicht so einfach aufzutreiben, es sei denn, man arbeitete in der Küche.
„Dann habe ich einen weiteren Auftrag für Sie. Sagen Sie im Albatros Bescheid, der Küchenchef Cément Moran soll zu uns stossen. Ach und bevor Sie gehen, wo befindet sich die Leiche im Moment?“
„Die ist bei Frau Meile, ich habe sie gebeten, sie dort zu behalten. Ich dachte, dort hätte es eine schönere Atmosphäre als in der Kühlkammer.“ Also lief es auf ein erneutes Treffen hinaus.
„Würden Sie mir dann noch den Weg zu der Krankenstation beschreiben?“
„Fahren Sie einfach mit dem Fahrstuhl bis zu Deck eins hinunter, gehen Sie in den hinteren Teil des Schiffes. Dann können Sie Ihr Ziel gar nicht mehr verfehlen.“
„Danke. Bringen Sie Moran am besten gleich mit, wenn Sie zurück zur Kommandobrücke gehen.“
„In Ordnung. Die Duponts warten bereits auf Sie.“ Stöckli trabte davon und Ende betrat „sein Büro“. Philippe Dupont machte schon einen viel nüchternen Eindruck.
„Herr Kommissar, ich muss mich für mein Verhalten von vorhin entschuldigen“, begrüsste er ihn und streckte ihm die Hand entgegen.
„Jeder verliert einmal die Beherrschung, machen Sie sich nicht so viele Gedanken darüber“, winkte Ende ab. „Wenn Sie mir bitte folgen würden, ich würde Ihnen schon auf dem Weg gerne ein paar Fragen stellen.“ Er führte Sie zu den Fahrstühlen. „Fangen wir damit an, woher Sie sich überhaupt kannten.“
„Herbert und ich sind…waren seit langem Geschäftspartner, wenn man das so sagen darf. Ich bin Restaurantkritiker und er war Journalist. Wir haben beides miteinander verbunden und unsere kulinarischen Reiseführer fanden grossen Anklang bei den Leuten.“
„Ein angenehmer Beruf, durch die Weltgeschichte zu reisen und eine Delikatesse nach der anderen zu probieren.“
Dupont lachte. „Wenn Sie wüssten. Ich sage Ihnen, es gibt Spelunken in die Sie nicht einmal einen Fuss setzen, geschweige denn, deren Frass essen würden.“ Die Würstchenbude, in der Ende Stammgast war, würde ihm vermutlich auch nicht sonderlich zusagen.
„Sie waren also Geschäftspartner“, nahm Ende den Faden wieder auf. „Gab es irgendwelche Unstimmigkeiten?“
„Natürlich, die gibt es immer. Herbert meinte immer, ich würde viel zu harte Kritiken schreiben. Aber schliesslich will ich die Leute nicht anlügen, die unseren Reiseführer lesen.“
„Gab es noch irgendwelche weiteren Probleme zwischen Ihnen beiden? Sie haben bei unserem ersten Treffen etwas erwähnt.“ Astrid Dupont sah mit rotem Gesicht zu Boden.
„Das war ein kleiner Ausrutscher, dass kommt in den besten Ehen vor. Nicht war Astrid?“ Seine Frau schwieg. „Ausserdem stellt er jetzt, da er den Löffel abgegeben hat, keine Konkurrenz mehr dar.“ Je länger Ende mit dem Kerl zu tun hatte, desto unsympathischer wurde er ihm. Seine Aussage war absolut geschmacklos und er konnte es Duponts Frau nicht verübeln, dass sie ihren Gatten betrogen hatte.
„Philippe, er ist noch nicht einmal unter der Erde.“ Sie war den Tränen nahe. Ende war beinahe froh, als sie die Krankenstation erreichten. Dr. Meile wartete schon.
„Herr Kommissar, Stöckli hat mir gesagt, dass Sie vorbeikommen würden.- Und sie werden ihn identifizieren?“, fragte sie an die Duponts gewandt.
„Bringen wir es hinter uns, ich will schliesslich noch etwas von der Kreuzfahrt geniessen,“ brummte Herr Dupont ungeduldig. Dr. Meile zuckte mit den Schultern.
„Kommen Sie, er ist hier.“ Sie brachte sie in ein kleines Untersuchungszimmer. Die Leiche lag auf der Liege und wurde durch ein grosses Lacken verhüllt.
„Also dann, werfen Sie einen kurzen Blick darauf“, sagte sie und schlug das Lacken gerade so weit zurück, dass man sein Gesicht erkennen konnte.
„Das ist er. Das ist Herbert“, schluchzte Frau Dupont.
„Armes Schwein, den Tod habe ich ihm nicht gewünscht.“ Dieses Mal ignorierte seine Frau die geschmacklose Aussage und fragte:
„Könnte ich noch einen Moment bei ihm bleiben und mich von ihm verabschieden?“
„Aber natürlich“, sagte Frau Meile und reichte ihr ein Taschentuch. „Sie sollten aber jetzt besser gehen Herr Dupont“, sagte sie mit scharfem Unterton.
„Ich hatte auch nicht vor zu bleiben.“ Er zog eine Schachtel aus seiner Jackentasche und nahm eine Zigarre heraus. Die Marke kam Ende sofort bekannt vor, es war die gleiche, wie die der Zigarren am Tatort.
„Sie rauchen Montecristo No. 5?“
„Sie kennen sich mit Zigarren aus?“, stellte er eine Gegenfrage.
„Nicht wirklich, mein Fachgebiet sind die Zigaretten, aber Montecristo ist eine bekannte und zudem teure Marke. Deshalb wundere ich mich auch, weshalb Sie und Herr Örtlinger dieselbe Marke rauchen.“ Da mischte sich Frau Dupont ein.
„Ich habe ihm eine Schachtel zu seinem letzten Geburtstag geschenkt.“
„Nun gut, kommen Sie zur Kommandobrücke, wenn sie soweit sind. Ich werde mit der genauen Befragung bei Ihrem Mann beginnen.

Nachdem Dupont seine Zigarre und Ende seine Zigarette geraucht hatten, fanden sie sie sich in der kleinen Küche des provisorischen Büros ein.
„Dann verraten Sie mir doch, wo sie heute Morgen zwischen zwei und drei Uhr gewesen sind“, fragte er und stellte ihm eine Tasse Kaffee vor die Nase.
„Verdächtigen Sie mich etwa?“
„Reine Formsache, beantworten Sie einfach meine Frage.“
„Meine ach so treue Frau hat sich mit Herbert getroffen und ich habe mich besoffen. Sie können den Barkeeper fragen.“ „In welcher Bar war das?“
„Piano Bar, Deck drei.“ Er würde später Stöckli damit beauftragen, das zu überprüfen. „Um vier hat mich Astrid aus der Bar geschleift und als nächstes erinnere ich mich daran, dass Sie in unserer Kabine standen.“ Es klopfte und Stöckli streckte den Kopf zur Tür herein.
„Clément Moran wäre jetzt da“, teilte er mit.
„Sagen Sie ihm, er müsse sich noch einen Moment gedulden, ich bin hier gleich fertig.“ Der Kopf verschwand und die Tür ging wieder zu.
„Moran, ist das nicht dieser zweitklassige Koch vom Albatros? Was wollen Sie denn von dem?“
„Was ich mit Moran zu besprechen habe, geht Sie nichts an Herr Dupont. Verraten Sie mir lieber, woher Sie vom Treffen zwischen ihrer Frau und Herbert Örtlinger gewusst haben.“
„Das war nicht weiter schwierig. Sie hat mir erzählt, dass sie spazieren gehen würde. Wissen Sie, sie geht nie spazieren. In den zwanzig Jahren, in denen wir nun schon verheiratet sind, hat sie nicht einen einzigen Spaziergang gemacht. Und dann hat sie auch noch ihre Zimmerkarte verloren. Doch ganz sicher war ich mir erst, als ich nach dem Besuch im Albatros in die Kabine gehen wollte. Ich habe sie zusammen erwischt, aber sie haben mich nicht einmal bemerkt, so beschäftigt waren sie miteinander.“
„Waren Sie denn überhaupt nicht wütend? Sie sind einfach so wieder gegangen?“
„Natürlich war ich wütend; das wären Sie auch, wenn ihr Partner mit ihrer Frau schläft“, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass die Kaffeetasse beinahe umfiel. Er hatte ein Motiv. Bis sein Alibi nicht bestätigt war, blieb Dupont sein Hauptverdächtiger.
„Das war’s fürs erste, Sie können gehen, bleiben Sie aber in Ihrer Kabine, damit ich Sie jederzeit ausfindig machen kann.“ Er brummte, erhob aber keine Einwände. „Ich melde mich später bei Ihnen.“ Ende hielt ihm die Tür auf. Nebenan wartete bereits Moran und blickte ungeduldig auf seine Uhr, die er um sein Handgelenk trug. Die beiden würdigten sich keines Blickes, als sie aneinander vorbeigingen.
„Endlich, ich dachte schon, Sie würden mich Stunden hier warten lassen.“
„Übertreiben Sie nicht, es waren lediglich ein paar Minuten. Ausserdem müssen Sie sich noch eine weitere Minute lang gedulden. Wenn Sie schon einmal Platz nehmen würden“, bat er ihn und deutete in die kleine Küche. Hinter Moran schloss er die Tür und wandte sich Stöckli zu. „Es tut mir leid, wenn ich Sie nochmals als Laufburschen missbrauche, aber Sie müssten ein Alibi für mich überprüfen.“
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, der Kapitän persönlich hat das angeordnet. Die Sache ist auch aufregender als ich sie mir vorgestellt hatte. Natürlich ist so ein Mord eine wirklich schlimme Sache, aber ich muss zugeben, dass mir die Ermittlungen Spass machen. Also, was kann ich für Sie tun?“
„Könnten Sie in der Piano Bar nachfragen, ob Dupont zwischen zwei und drei Uhr dort gewesen ist?“ Stöckli nickte eifrig darum bemüht, den Auftrag möglichst schnell zu erledigen.
„Kein Problem, die Sache ist so gut wie erledigt, ich bin gleich wieder zurück.“ Er huschte wie immer im Eilschritt davon. Ende mochte den Kerl. Er erledigte alles, was man ihm auftrug, und war einiges umgänglicher als mancher seiner Kollegen im Polizeirevier. Stöckli würde sich hervorragend als sein Partner machen. Vielleicht hatte er ja Lust, sich beruflich umzuorientieren. Beim Gedanken an Stöckli, wie er stotternd ‚Polizei, keine Bewegung‘ rief, breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus. Guter Dinge betrat er seinen kleinen Verhörraum.
„Kaffee?“
„Nein danke, kommen Sie lieber endlich zur Sache. Das Mittagessen macht sich schliesslich nicht von alleine.“ Gerade wurde erst das Frühstück serviert und der machte sich schon Sorgen um das Mittagessen.
„Kennen Sie einen Herbert Örtlinger?“, fragte er, nachdem er sich selbst eine Tasse Kaffee eingeschenkt hatte.
„Noch nie gehört! Und deshalb lassen Sie mich hier antanzen?“
„Und von Philippe Dupont haben Sie auch noch nie etwas gehört?“, hakte er nach. Morans Gesichtszüge verdüsterten sich.
„Das ist der Restaurantkritiker, dessen Ruf ihm schon weit vorrauseilt.“
„Was für ein Ruf?“
„Dass er ein arrogantes Arschloch ist.“ Eine sehr direkte Antwort. „Aber das sollten Sie ja bereits wissen, da Sie mit ihm gesprochen haben. Nur erklärt das immer noch nicht, was ich hier eigentlich mache.“
„Herbert Örtlinger war Duponts Geschäftspartner.“
„War?“
„Er ist tot, genauer gesagt, er wurde ermordet.“
„Hier auf dem Kreuzfahrtschiff?“, fragte er ungläubig.
„Ja, heute früh.“
„Schreckliche Sache, mit der Welt geht es zu Grunde, wenn sogar schon auf einer Kreuzfahrt Morde verübt werden.“ Moran schüttelte den Kopf. „Aber ich muss Sie noch einmal fragen, was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?“ Langsam fing Ende an, sich selbst diese Frage zu stellen.
„Örtlinger wurde mit einem Küchenmesser erstochen, auf einem Kreuzfahrtschiff ist das nicht gerade leicht aufzutreiben.“
„Das ist alles? Wegen eines Küchenmessers lassen Sie mich antraben. Ich weiss ja nicht, wo die Polizei heutzutage ihre Mittarbeiter auftreibt, aber ein Küchenmesser kann man sich in jedem Supermarkt kaufen. Bei den Landgängen hätte jeder Gelegenheit dazu gehabt.“
So ungern er es auch zugab, aber Moran hatte recht. Er hatte aber nicht vor, ihm das auf die Nase zu binden.
„Passen Sie auf, was Sie sagen, Beamtenbeleidigung kann teuer werden. Ausserdem, wer kauft in seinem Urlaub ein Küchenmesser, nicht gerade ein gängiges Souvenir.“
„Ich entschuldige mich, falls ich Sie beleidigt haben sollte, aber wollen Sie ernsthaft weiter über das Küchenmesser diskutieren?“ Nein, das wollte er nicht. Gedankenverloren zog er eine Zigarette aus der Packung, merkte aber gerade noch rechtzeitig, dass er hier nicht rauchen konnte.
„Kennen Sie Dupont auch persönlich oder nur seinen Ruf?“, änderte er das Thema.
„Ich hatte das Vergnügen, ihn persönlich kennenzulernen. Er hat eine Kritik über das Albatros geschrieben, in dem ich momentan arbeite.“
„Hat er Ihnen sein Urteil mitgeteilt?“
„Nein, er hat sich nur stillschweigend Notizen gemacht und sich alles angesehen. In der Küche war er übrigens auch, er hatte also auch dort die Gelegenheit, an ein Küchenmesser zu kommen.“
„Und sein Urteil hat er Ihnen wirklich nicht mitgeteilt?“
„Nein, aber was kümmert mich das. Nach dieser Fahrt verlasse ich das Kreuzfahrtschiff und gehe zurück nach Frankreich, um dort ein Restaurant zu eröffnen, das Bogus. Es soll nämlich genau so heissen wie das Lokal meiner Eltern.“ Seine Zukunftspläne interessierten Ende wenig. Diese Befragung führte zu nichts. Dupont war nach wie vor der Hauptverdächtige.
„Wo waren Sie zwischen zwei und drei Uhr heute Morgen?“
„Ich habe geschlafen.“
„Kann das irgendjemand bezeugen?“
„Nein, ich habe eine Einzelkabine. Anstatt mich zu verdächtigen, sollten Sie sich lieber an Dupont halten. Könnten sie mir ein Foto von diesem Örtlinger zeigen?“
„Selbstverständlich, aber ich dachte, Sie kennen ihn nicht.“
„Ich sagte, dass ich den Namen noch nie gehört hatte, aber vielleicht habe ich ihn schon einmal gesehen.“ Ende verliess kurz den Raum, um das Foto zu holen. Dann legte er es vor Moran auf den Tisch. „Etwas blasser, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber den habe ich schon einmal gesehen.“
„Ach ja, und wo soll das gewesen sein.“
„Im Albatros. Dupont und der haben sich gestritten. Ging heftig zur Sache, ein Kellner musste sie sogar zur Ruhe ermahnen.“
„Haben Sie auch mitbekommen, um was es ging?“ Moran dachte angestrengt nach.
„Ich glaube, es ging um eine Frau, aber ganz sicher kann ich es Ihnen nicht sagen. Ich belausche normalerweise die Gespräche meiner Gäste nicht.“ Die Schlinge um Duponts Hals zog sich immer enger zusammen. Er hatte ein eindeutiges Motiv und dieses Streitgespräch belastete ihn noch weiter. Ende würde bestimmt noch einen Kellner finden, der ihm die ganze Geschichte bestätigte. Wenn Duponts Alibi jetzt nicht absolut wasserdicht war, hatte er den Fall so gut wie gelöst.
„Gut, dann war’s das. Sie können zurück in ihre Küche.“
Das liess sich Moran nicht zweimal sagen. Nach einem kurzen Abschiedsgruss war er auch schon verschwunden. Ende ging zurück in den Aufenthaltsraum, öffnete das Fenster und gönnte sich die Zigarette, die er vorhin nicht hatte rauchen können. Als Stöckli wieder zurückkam, rauchte er bereits die dritte. Der erste Offizier warf ihm einen tadelnden Blick zu, sagte aber nichts weiter dazu.
„Dupont war in der Bar, aber zwanzig Minuten lang hat ihn dort niemand gesehen.“
„Diese zwanzig Minuten reichen vollkommen aus! Damit ist sein Alibi nicht wasserdicht. Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass es Dupont war.“ Stöckli nickte. Gerade als Ende seine Zigarette auf einem Teller ausdrückte, klopfte es leise an der Tür.
„Das muss Frau Dupont sein“, sagte Stöckli und öffnete die Tür. „Kommen Sie doch rein. Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten?“
„Eine Tasse Kaffee wäre nett“, sagte sie, nachdem sie sich gesetzt hatte.
„Ich muss Ihnen jetzt noch ein paar Fragen stellen, schaffen Sie das?“ Sie nickte. „Gut, wo waren Sie zwischen zwei und drei Uhr?“
„Um eins habe ich mich mit Herbert getroffen, nach einer Stunde bin ich dann gegangen und er hat noch seine Zigarre zu Ende geraucht. Dann habe ich meinen Mann gesucht. Dazu habe ich jede Bar abgeklappert. Um die zwanzig nach drei habe ich ihn dann in der Piano Bar gefunden und in unsere Kabine gebracht.“ Weitere Fragen bestätigten nur Endes Gefühl. Astrid Dupont hatte nichts mit dem Mord an Herbert Örtlinger zu tun.
„Ruhen Sie sich aus“, riet er ihr.
„Das mache ich. Haben Sie denn schon einen Verdacht, wer Herbert getötet hat?“
„Einen Verdacht haben wir schon. Wir werden Ihnen mitteilen, wenn wir uns absolut sicher sind.“
„Danke, ich hoffe nur, dass der, der das getan hat, seine gerechte Strafe bekommt.“ Sie verliess die Kommandobrücke und Ende blieb mit Stöckli alleine zurück.
„Halten Sie es für klug, sie mit ihrem Mann alleine zu lassen?“
„Er wird ihr nichts tun.“
„Sollten wir Dupont nicht verhaften?“
„Keine Sorge, das werden wir noch. Er läuft uns ja nicht davon. Da können wir zuerst etwas Essen gehen. Es ist zwar erst elf, aber ich habe einen Bärenhunger. Was ist mit Ihnen?“
„Ich könnte einen Bissen vertragen“, willigte er schliesslich ein.
„Dann lade ich Sie zum Essen ein.“

 

Da Ende keine Lust hatte, Moran noch einmal über den Weg zu laufen, entschied er sich für die Pizzeria auf Deck neun.
„Ich hoffe, Sie mögen Pizza.“
„Ich kenne keinen Menschen, der keine mag. Nennen Sie mich doch Martin, da wir ja jetzt sowas wie Kollegen sind.“ Er reichte Ende seine Hand.
„Meine Freunde nennen mich Korbin“, sagte er und schüttelte seine Hand. „Wie lange arbeitest du denn schon hier auf der Deliziosa?“ Martin hob seinen Blick von der Speisekarte.
„Bestimmt schon vier Jahre und ich denke, dass ich auch weiterhin hier arbeiten werde. Mir gefällt die Arbeit auf See. Das liegt sozusagen in der Familie. Mein Vater war Kapitän und mein Grossvater war bei der Marine.“
„Bei mir verhält es sich ähnlich, mein Vater war Polizist. Deshalb kam für mich nie etwas anderes in Frage.“ Der Kellner kam und nahm ihre Bestellungen auf. „Aber unter uns gesagt, ich bin nicht ganz freiwillig auf dieser Kreuzfahrt. Du musst wissen, ich werde leicht seekrank.“
„Da bist du nicht der einzige, meine Familie fährt zwar seit jeher zur See, aber schon bei der kleinsten Welle wird mir übel.“ Dieses Geständnis brachte beide zum Lachen. „Gott sei Dank gibt es Reisetabletten“, fügte er hinzu. Das Essen verlief sehr gesprächig. Beide gaben sie Geschichten aus ihrem Leben zum Besten. So erfuhr Ende von einem Angelausflug, der beinahe tödlich endete und er selbst erzählte Martin von dem Vorfall im Supermarkt. „Das tut mir leid. Dann hast du die anderen nicht retten können?“
„Nein, ich habe zu lange gewartet. In keinem Einsatz vorher war ich gezwungen, meine Waffe abzufeuern. Bis ich mich endlich dazu durchringen konnte, war es schon zu spät. So ein Fehler hätte mir nicht passieren dürfen, dafür hatte ich schon zu viele Einsätze erlebt.“
„Wenn man aber gezwungen ist zu feuern, einem Menschen das Leben zu nehmen, ist das doch eine vollkommen andere Situation. Du solltest dir nicht zu viele Vorwürfe machen Korbin.“ Eine Weile schwiegen sie. Als dann der Kaffee serviert wurde, zog Martin einen Stapel Blätter aus seiner Aktentasche.
„Was ist denn das?“ Der erste Offizier lächelte verlegen.
„Ich habe mir erlaubt, etwas zu recherchieren. Das hier sind sämtliche Kritiken von Dupont, naja, zumindest die, die ich ausfindig machen konnte.“
Interessiert griff er sich ein paar Kritiken.
„Warum dachtest du, die könnten bei dem Fall weiterhelfen?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Dupont ist in Frankreich ziemlich bekannt und da dachte ich mir, ich finde vielleicht einen Hinweis, wer ihm schaden will.“ Das verstand Ende nicht ganz.
„Warum ihm schaden? Herbert Örtlinger wurde ermordet.“
„Ach, nur so eine blöde Theorie von mir“, stotterte er.
„Diese Theorie würde ich gerne hören.“ Martin gab sich geschlagen und zog das Bild von Herbert Örtlinger aus der Tasche.
„Örtlinger sieht Dupont doch ziemlich ähnlich, findest du nicht. Duponts Frau scheint jedenfalls auf den Typ Mann zu stehen. Schlank, hochgewachsen, dunkle Haare…“
„Worauf willst du hinaus? Das ich bei Astrid Dupont keine Chance hätte?“ Stöckli ignorierte seinen Scherz und blieb ernst.
„Ich meine, dass die beiden von hinten doch ziemlich ähnlich aussehen oder nicht?“ Ende betrachtete das Foto und verglich die beiden Männer. Martin hatte Recht. Die beiden waren ungefähr gleich gross und hatten die gleiche Statur, sogar der Schnitt und die Farbe der Haare waren ziemlich ähnlich. Wenn man dann auch noch bedachte, dass der Mord im halbdunkeln verübt worden war, konnte man durchaus annehmen, dass der Mörder sein Opfer verwechselt hatte.
„Martin, du bist ein Genie. Der letzte Hinweis lässt sich tatsächlich in diesen Kritiken finden, Dupont ist unschuldig.“ Nun war es an Stöckli überrascht zu sein.
„Wie kommst du auf einmal darauf. Sämtliche Indizien sprechen dagegen. Es war nur eine Theorie…“
„Nicht nur eine Theorie, das ist die Lösung“, schnitt er ihm das Wort ab. „Hilf mir lieber, eine Kritik zu finden.“
„Wonach soll ich suchen?“
„Halte nach einer Kritik über das Restaurant Bogus Ausschau.“ Voller Tatendrang teilte er den Stapel in zwei Teile auf und reichte einen davon Martin. Es musste einfach eine Kritik über dieses Restaurant geben, da war sich Ende absolut sicher. Wenn sie die erst fanden, konnte er den Fall wirklich aufklären. Minuten fühlten sich wie Stunden an, als die beiden Kritik über Kritik überflogen. Die meisten davon fielen negativ aus. Dupont schien wirklich äusserst streng zu sein und fand immer ein Haar in der Suppe. Wie so jemand Erfolg haben konnte, war Ende schleierhaft. Dann fand er endlich wonach er suchte. Es war ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „Tödliche Kritik“. Je mehr er las, desto klarer wurde ihm der ganze Fall. „Wir müssen los. Haben sie schon einmal eine Verhaftung miterlebt?“ Stöckli schüttelte den Kopf. „Dann werden sie gleich eine zu sehen bekommen.“ Ende stand auf und spurtete los. Der Kellner, der ihnen hinterher schrie, dass sie noch nicht bezahlt hätten, ignorierten beide.
„Du willst jetzt doch Dupont verhaften?“, fragte ihn Martin, weil er in Richtung Aufzug ging.
„Nein, aber ich muss sicher gehen, dass mit ihm alles in Ordnung ist, schliesslich sollte er sterben und nicht Örtlinger.“

Doch sie kamen zu spät. Eine überraschte Frau Dupont öffnete ihnen. „Was ist denn los?“
„Wo ist ihr Mann?“
„Wusste ich es doch, er war es. Dieses Schwein, ich werde ihn…“
„Nein, er war es nicht. Sagen Sie mir, wo er ist.“ Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wiederfand.
„Vor ein paar Minuten ist er gegangen. Er sagte, dieser Küchenchef vom Albatros hätte noch etwas mit ihm wegen der Kritik zu besprechen.“
Verdammt, hoffentlich kamen sie nicht zu spät. Moran hatte nun, da er den Falschen getötet hatte, nichts mehr zu verlieren. Wie von der Tarantel gestochen, rannte er los, Martin folgte ihm.
„Korbin wa…was ist denn los? Was zur Hölle st…stand in dem Artikel.“ Seine Worte überschlugen sich vor Nervosität.
„Keine Zeit für Erklärungen, wir müssen uns beeilen. Vielleicht ist es schon zu spät.“ Als der Aufzug nicht sofort kam, liess er ihn links liegen und nahm die Treppe. Mit lautem Gepolter platzte er ins Restaurant. Alle Anwesenden starrten ihn entgeistert an. Ein paar sprangen sogar unter den Tisch, als er seine Waffe zog und Richtung Küche stürmte. Die mussten ihn für einen Verrückten halten. Er riss einen Kellner von den Beinen, der gerade aus der Küche kam. Heisse Suppe verbrühte ihm den Arm. Doch um das zu bemerken, fehlte ihm die Zeit. „Wo ist Moran!“, brüllte er die anderen Küchenangestellten an. Sie erstarrten mitten in ihrer Arbeit und ein paar Teller gingen zu Bruch.
„In seinem Büro, mit diesem Kritiker“, antwortete ihm ein Hilfskoch und deutete in den hinteren Teil der Küche.
„Danke!“, rief er ihm zu, während er an ihm vorbeihastete. Wenigstens ein bisschen Höflichkeit musste sein, immerhin wollte er keine Bank überfallen oder sonst irgendein Verbrechen verüben. Ohne anzuklopfen und mit entsicherter Waffe stürmte er das kleine Büro. Dort erwartete sie Moran mit einem grossen Fleischermesser. Dupont war an einen Stuhl gefesselt und schien nicht recht zu verstehen, was eigentlich vor sich ging. Der Koch hatte die Situation schneller verarbeitet als Ende selbst und bevor der Kommissar auch nur auf ihn zielen konnte, hatte er Dupont das Messer an die Kehle gelegt.
„Verschwinden Sie, dass geht sie alles nichts an!“
„Legen Sie das Messer weg und wir können in Ruhe darüber reden.“ Moran bewegte sich keinen Millimeter.
„Dieses Arschloch hat es verdient zu sterben! Sie haben ja keine Ahnung, was er mir und meiner Familie angetan hat!“
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht weiss, wovon sie sprechen“, wimmerte Dupont.
„Halten Sie die Klappe“, fuhren ihn Ende und Moran gleichzeitig an. War er denn immer noch so betrunken, dass er das Messer an seiner Kehle nicht realisierte? In seiner Lage sollte man lieber still sein.
„Tun Sie nichts Unüberlegtes Clément. Ich kann verstehen, dass Sie ihn umbringen wollen, aber dann sind Sie kein Stück besser als er.“
„Was wissen Sie schon…“
„Er hat Ihre Familie zerstört, er hat Ihren Eltern das Liebste auf der Welt genommen, Ihr Restaurant, das Bogus.“ Überraschung zeichnete sich auf Morans Gesicht ab und er lockerte den Griff um das Messer ein wenig. Diese Chance nutzte Stöckli. Aus den Augenwinkeln konnte Ende nur eine schemenhafte Gestalt ausmachen, die an ihm vorbei auf Moran zuschoss. Mit einer Kraft und Schnelligkeit, die er Martin nie zugetraut hätte, riss er den verdutzen Koch von den Füssen. Sie krachten gemeinsam zu Boden und wälzten sich dort hin und her. Das Messer kam dabei ein paar Mal gefährlich nahe an Martins Kehle. Ende blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Schiessen konnte er nicht, die Gefahr war viel zu gross, dass er den ersten Offizier traf. Nach einer endlos langen Minute gelang es Stöckli schliesslich, die Oberhand zu gewinnen. Er schlug dem Koch das Messer aus der Hand, wobei er sich eine Schnittwunde zuzog. Schnaufend und mit hochrotem Kopf drückte er Moran mit seinem ganzen Gewicht zu Boden.
„Sie sind festgenommen“, keuchte er und brach dann in hysterisches Gelächter aus. Ende löste sich aus seiner Starre und eilte seinem Freund zu Hilfe. Er kickte das Messer weiter weg und drehte Moran den Arm auf den Rücken.
„Eine einwandfreie Verhaftung, hätte ich nicht besser machen können. Leider habe ich keine Handschellen dabei. Wärst du so nett und würdest du mir die Fesseln von Dupont reichen?“
Immer noch wie eine Lokomotive schnaufend kam er der Bitte nach. Auch als Dupont seine Fesseln los war, blieb er wie versteinert auf seinem Stuhl sitzen und starrte mit offenem Mund den nun gefesselten Moran an.
„Wie…was…warum“, stammelte er vor sich hin. Ende nahm ein Geschirrtuch und wickelte es um Stöcklis Wunde.
„Du solltest dich bei Dr. Meile verarzten lassen.“
„Das kommt gar nicht in Frage, bis der Fall hier nicht abgeschlossen ist, gehe ich nirgends hin. Ich lasse mir doch nicht wegen eines kleinen Kratzers den Abschluss meines ersten Falles entgehen.“
„Nicht nur deines ersten Falls, mein lieber.“ Martin sah ihn fragend an. „Naja, ich bin noch nicht so lange Kommissar und habe noch nie selbst einen Mordfall übernommen.“
„Dann haben wir was zu feiern.“
„Aber erst, wenn der Fall auch wirklich abgeschlossen ist. Bringen wir die beiden zur Kommandobrücke.“
Sie führten die beiden durch die Küche und dann an den Gästen vorbei aus dem Albatros heraus. Dabei wusste Ende nicht, wer von den beiden mehr Blicke auf sich zog, der gefesselte Koch oder der vor sich hinmurmelnde Kritiker. Auf dem Weg beauftragte Stöckli einen der Stewards, Frau Dupont, Dr. Meile und den Kapitän zu benachrichtigen.

Während sie auf den Kapitän warteten, rauchte Ende eine Zigarette und Stöckli liess sich verarzten. Die Duponts sassen schweigend am Tisch und tranken Kaffee. Moran hatten sie vorübergehend in der kleinen Küche eingesperrt.
„Sie haben den Fall tatsächlich gelöst.“ Dr. Meile klang überrascht. „Ich muss gestehen, dass hätte ich Ihnen nie zugetraut. Sie sind ja doch recht jung für den Posten als Kommissar.“
„Ohne Ihre Unterstützung wäre das nicht möglich gewesen. Ausserdem müssen wir noch die Hautpartikel mit der DNS von Moran abgleichen, dann ist die Sache offiziell. Und natürlich brauchen wir noch sein Geständnis.“
„Die DNS stammt ganz sicher von ihm. Als ich mit ihm gerungen habe, habe ich auf seinen Unterarmen Kratzspuren gesehen.“
„Als Sie mit wem gerungen haben?“, fragte Willsberger hinter ihnen.
„Kapitän, ich…ich habe Sie gar nicht kommen hören“, stotterte er.
„Ich weiss nicht, ob Ihr erster Offizier mutig oder einfach nur lebensmüde ist. Er hat sich auf Moran geworfen und ihm das Messer aus der Hand geschlagen. Das hätten Sie sehen müssen!“
„Da kann ich nur froh sein, dass Sie noch am Leben sind Martin.“ Willsberger klopfte ihm auf die Schulter.
„Jetzt holen wir Moran dazu, dann können wir das Ganze aufklären.“ Gespannt warteten sie darauf, dass Ende ihn in den Raum brachte. Hasserfüllt starrte er zu Dupont herüber, als wolle er ihn mit seinen Blicken doch noch töten.
„Können Sie sich daran noch erinnern?“, fragte er und legte ihm den Artikel unter die Nase.
„Einer meiner Kritiken, was ist damit? Ich habe im Laufe meines Lebens so viele davon geschrieben, da können Sie nicht erwarten, dass ich mich an jede einzelne Kritik erinnere.“
„An diese hier sollten Sie sich aber erinnern. Sie hat sie heute fast das Leben gekostet.“ Ende wartete, bis Dupont den Artikel überflogen hatte. „Und, klingelt da was?“
„Ja, ja, jetzt wo ich es wieder vor mir liegen habe, erinnere ich mich. Eine tragische Geschichte. Nicht alle Menschen können mit Kritik umgehen.“ Moran knurrte und zerrte an seinen Fesseln.
„Wir haben wegen Ihnen alles verloren. Zuerst das Bogus und dann meine Mutter! Sie hat es nicht mehr ausgehalten, wie sich mein Vater zu Tode säuft. Nach dem Tod meiner Mutter hat er mich regelmässig verprügelt und ist dann selbst gestorben. Ich hatte nichts mehr!“
„Ein anderer Restaurantbesitzer hat mir viel Geld geboten, ich konnte doch nicht ahnen…“
„Wie konntest du nur Philippe!“ Astrid Dupont rückte von ihrem Mann ab. „Aber was ich immer noch nicht verstehe ist, warum Herbert sterben musste, er hatte doch mit der ganzen Sache gar nichts zu tun.“
„Sie haben die beiden verwechselt, nicht wahr?“ Der Koch nickte.
„Wie konnte ich auch wissen, dass seine Frau ihn betrügt. Die ganze Zeit habe ich auf eine gute Möglichkeit gewartet. Ich wollte ihn ermorden und dann über Bord werfen. Doch als ich bemerkt hatte, dass ich den falschen vor mir habe, bin ich in Panik geraten.“ Tränen liefen über sein Gesicht. „Glauben Sie mir, ich wollte nur Dupont und keinen anderen.“
„Das ist alles deine Schuld!“, schrie Astrid Dupont und kippte ihm den Kaffee ins Gesicht. „Ich will die Scheidung, sofort!“ Sie drehte sich zu Ende um. „Ich werde hier doch nicht mehr gebraucht oder?“
„Nein, Ihnen steht es frei zu gehen.“ Dupont klappte seinen Mund auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen.
„Wie es scheint, sind Sie nun ein freier Mann Herr Dupont“, stellte der Kapitän fest.
„Was die Sache mit den falschen Kritiken angeht, darum kümmere ich mich noch.“ Clément Moran lachte, als hätte er den Verstand verloren. Zwar war Dupont nicht tot, aber zumindest hatte er alles verloren. Seinen Geschäftspartner, seine Frau und seinen Ruf als Kritiker. Er lachte immer noch, als Ende ihn zurück in die Küche brachte.
„Gute Arbeit Herr Ende, in so kurzer Zeit den Fall zu lösen.“
„Danken Sie nicht mir, sondern Ihrem ersten Offizier, er hat mich erst auf die Lösung gebracht.“
„Nicht so bescheiden Korbin, wir sind ein gutes Team.“
„Da stimme ich Martin zu, kommen Sie aber nicht auf die Idee, ihn mitzunehmen. Als erster Offizier macht er nämlich auch einen guten Job.“
„Keine Sorge Kapitän, mein Leben gehört der Schifffahrt.“ Dupont zog sich mit hängenden Schultern zurück und versprach, in seiner Kabine zu bleiben. Ende war sich aber sicher, dass man ihn bald an einer Bar sehen würde.
„So, zur Feier des Tages lade ich Sie alle zu einem Drink ein. Kommen Sie meine Herren, den haben Sie sich mehr als verdient.“ Willsberger wandte sich der Schiffsärztin zu. „Ramona, Sie sind selbstverständlich auch eingeladen.“

 

Wenig später sassen sie in einer gemütlichen Runde zusammen und stiessen auf den erfolgreich abgeschlossenen Fall an. Ende rauchte zufrieden seine Zigarette. Der Kapitän hatte eine Ausnahme gemacht.
Jetzt konnte Korbinian seinen Kollegen doch mehr von seinem Urlaub vorweisen, als nur ein paar Bilder. Damit würde er auf dem Revier mächtig Eindruck machen. Doch das einzige, das er wirklich von der Kreuzfahrt vermissen würde, war sein neu gewonnener Kumpel Martin. Im Grunde freute er sich, schon bald wieder festen Boden unter den Füssen zu haben.

 

Vielleicht könnte er sich ja mal mit Stöckli zum Angeln treffen…

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.08.2015

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