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Kapitel 1

Samstag, 26.05.13, 17:00 Anthony

 

Über mir konnte ich die Unterseite meines Bootes und die Sonnenstrahlen sehen, die auf die Wasseroberfläche trafen. Mit einem letzten, kräftigen Schwimmzug durchstiess ich sie. Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne schien und das Wasser war ruhig. Obwohl es eigentlich keine Rolle spielte, wenn man Tauchte. Die meisten Tage in diesem Teil der Welt waren so wie heute. Ab und zu gab es ein kräftiges Gewitter und das Meer tobte, doch im Moment sah es nicht danach aus. Bei solchen Sachen konnte ich mich voll und ganz auf mein Bauchgefühl verlassen. Ich spürte es meist schon eine Stunde vorher, wenn ein Gewitter im Anmarsch war. Da hatten die Vorhersagen der Meteorologen keine Chance. Sobald ich ganz in meinem Motorschlauchboot sass, schob ich meine Schwimmbrille hoch. Nur um sicher zu gehen, dass ich genug Fische hatte, warf ich einen Blick in den Eimer, der neben mir stand. Zufrieden zählte ich zwei grosse und vier kleine. Die würden ein hervorragendes Abendesse abgeben. Wie immer hatte ich die Fische mit blossen Händen gefangen und mir zuerst ein Wettrennen mit ihnen geliefert. Ein normaler Mensch hätte sie wohl kaum erwischt, für mich stellte das jedoch nicht das geringste Problem dar. Soweit ich wusste gab es nur einen Menschen, der schneller schwamm als ich und das war Simon. Schnell schwimmen war aber nicht das einzige was ich konnte. Ohne Tauchausrüstung Stunden Unterwasser zu verbringen, war noch eine meiner leichtesten Übungen. Zu meinen weiteren Fähigkeiten gehörte, dass die Temperatur des Wassers auf mich keinen Einfluss hatte. Ob es nun fünf oder zwanzig Grad waren, spielte keine Rolle. Den Temperaturunterschied nahm ich zwar war, aber erfrieren konnte ich nicht. Diese beiden Fähigkeiten waren noch nichts was mich irgendwie besonders gemacht hätte. Es gab viele Leute, die Unterwasser Atmen konnten und auch noch ein paar denen die Temperaturen des Wassers nichts ausmachten. Der Grund warum man Leute wie mich mit einem misstrauischen Blick bedachte, lag ganz woanders. Simon schätzte, dass es auf der ganzen Welt etwa hundert Menschen gab, die so wie wir waren. Ich, Sophie und Simon waren in der Lage einen Schutzgeist zu rufen. Meiner trat in der Form eines Tigers auf. Auf meinem linken Oberarm hatte ich ein silbernes Mal in Form eines Tigerkopfes, der in Flammen überging. Man hätte annehmen können, dass es sich dabei um ein Tattoo handelte, würde man die Tatsache ignorieren, dass es sich ab und zu bewegte. Der Tiger sprach zwar kein Wort, aber irgendwie verstanden wir uns auch ohne. Auch hatte ich vom ersten Augenblick an gewusst, dass sein Name Patamon war. Patamon der Sturm, so hiess mein Schutzgeist. Ein kräftiger Ruck am Anlasser genügte und der Motor sprang an. Gemächlich lenkte ich das Boot zu der Insel zurück, vor der wir momentan Ankerten.

Seit nun schon sieben Jahren lebte ich bei Simon auf seinem Hausboot. Er hatte mich auf einer weit abgelegenen Insel in einem Waisenhaus gefunden und Adoptiert. Damals war ich neun Jahre alt gewesen. Meine Eltern hatten mich gleich nach meiner Geburt ins Wasser geworfen und gehofft, dass ich dort verhungern würde, ertrinken konnte ich ja nicht. Ohne Patamon wäre ich wohl auch gestorben, doch er trug mich vor die Tür eben dieses Waisenhausen, in dem mich Simon neun Jahre später fand. Ich wusste nicht wie es mir ergangen wäre, hätte er mich damals nicht gefunden. Ungefähr konnte ich es mir jedoch vorstellen. Je älter ich wurde, desto unfreundlicher wurde ich von den Leuten im Waisenhaus behandelt. Die Aufseher schlugen mich wegen jeder Kleinigkeit und die anderen Kinder mieden mich. Zuerst verstand ich nicht, warum ich so behandelt wurde. Mit sechs Jahren, fand ich es jedoch heraus. Vier ältere Jungen, einer aus dem Waisenhaus, die anderen drei wohnten bei ihren Eltern auf der Insel, hatten mich in einer Gasse in die Enge getrieben, und verprügelten mich. Weinend hatte ich mich zusammengerollt und versuchte mich vor ihren Tritten und Schlägen zu schützen. Während sie auf mich einschlugen, riefen sie spöttisch:
„Na, du Missgeburt, wo ist denn das Monster, von dem die Erwachsenen sprechen?!“
Wieder rettete mir Patamon das Leben. Das war auch das erste Mal, dass ich ihn willentlich zu mir rief. Zwar hatte ich immer gespürt, dass da etwas war, doch hatte ich nie versucht Kontakt mit dem Wesen aufzunehmen. Doch nun wollte ich nur noch eines, Rache. Diese Kinder machten mir schon seit ich denken konnte das Leben zu Hölle. Jetzt hatten sie es zu weit getrieben. Patamon erschien aus dem nichts und wischte mit einem einzigen Pfoten Schlag die Jungen beiseite. Er stellte sich zwischen sie und mich und heulte ohrenbetäubend. Das Heulen alarmierte die Erwachsenen, diese kamen mit Gewehren und Harpunen angerannt. Sie zielten auf mich und drohten mir, wenn ich nicht augenblicklich diese Bestie verschwinden lassen würde, müssten sie mich töten. Ich schrie sie an, sie sollten mich einfach in Ruhe lassen. Entweder hatte keiner von ihnen den Mut zu schiessen, oder sie meinten es nicht so ernst. Auf jeden Fall beschlossen sie mich in der Gasse liegen zu lassen und zu verschwinden. Von dem Tag an fürchteten mich die Leute noch mehr. Im Waisenhaus wollte man mich nicht mehr haben und so wohnte ich von da an in dem Schuppen im Garten. Etwas Gutes, hatte das Ganze, die Jungen wagten es nicht einmal mehr, sich mir auf drei Meter zu nähern. Den Namen Anthony, gab mir Simon, auf der Insel hatte ich keinen Namen gehabt.

Simon selbst hatte eine schwere Kindheit gehabt, ihm hatte niemand geholfen. Jeden erdenklichen Job, auf den verschiedensten Schiffen hatte er schon gehabt. Einmal war er sogar Koch auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen. Von seinem gesparten Geld hatte er sich dann die Aurelia gekauft, das Boot auf dem wir nun lebten. Obwohl es nun schon ein paar Jahre alt war, sah es noch aus wie neu. Der Bug schimmerte in einem rot, als wäre es frisch gestrichen worden. Wir brachten die Aurelia jedes Jahr wieder auf Vordermann. Dann war er von Insel zu Insel gefahren und hatte in den Waisenhäusern nach Kindern gesucht, die genau so waren wie er. Drei Jahre nachdem er mich gefunden hatte, war er mit einem sieben Jahre alten Mädchen auf dem Arm zu Hause aufgetaucht. Lächelnd hatte er sie vor mich hingestellt und gesagt:
„Anthony, dass hier ist von heute an deine kleine Schwester Sophie.“
Genau wie mich hatte er sie in einem Waisenhaus gefunden, jedoch hatte sie noch nicht lange dort gelebt. Niemand wusste wo sie vorher gelebt hatte, sie war einfach plötzlich vor der Tür gestanden. Nicht einmal sie selbst konnte sich daran erinnern. Mir war es egal woher sie kam, ich liebte sie so, als wäre sie meine richtige Schwester. Auch Simon war von jeher mein Dad, auch wenn ich ihn nicht so nannte. Er war doppelt so alt wie ich. Ich befestigte das Boot am Heck des Schiffes und kletterte mit dem Eimer in einer Hand an Bord.

Die Aurelia war ein fünfzehn Meter langes und fünf Meter breites Schiff. Sie besass vier Kajüten mit insgesamt acht Schlafplätzen. Weiter befanden sich auf dem Schiff zwei WCs, eine Dusche, eine vollausgestattete Küche und ein kleiner Wohnessbereich. Am Bug stand ein kleiner Tisch mit drei Stühlen und auf der Dachterrasse konnte man bei Bedarf ein Sonnensegel über die zwei Liegestühle spannen. In der einzigen Kajüte, die auf der Steuerbordseite des Schiffes lag, lagerten wir verschiedenste Ausrüstungs- und Ersatzteile. Die grösste und erste Kajüte auf der Backbordseite gehörte Simon, meine lag gleich daneben und in der letzten der Reihe wohnte meine kleine Schwester. Ich liess die Kajüten links liegen und ging bis zur Küche durch. Dort steckte ich die Fische in den Tiefkühler und schnappte mir einen Apfel. Kauend machte ich mich auf die Suche nach meiner kleinen Schwester. Sophie sass vorne auf der kleinen Terrasse und war damit beschäftigt eine Karte der Insel zu zeichnen, bei der wir gerade Ankerten. Mit ihren elf Jahren Zeichnete sie bereits bessere Karten als manch anderer. In ihrer Kajüte stapelten sich Karten von allen Inseln an denen wir halt gemacht hatten, schon bis unter die Decke. Meistens Zeichnete sie sie nur für sich selbst, doch manchmal bekamen wir den Auftrag, Karten von Inseln und den Umliegenden Gewässern anzufertigen. Kleinere Inseln konnten sich nämlich keine professionellen Kartenzeichner leisten. Karten anzufertigen, war nur einer von vielen Jobs, mit denen wir unser Geld verdienten.
„Na Schwesterchen, noch eine Karte für deine Sammlung?“, fragte ich sie. Sie verzog ihr Gesicht, nickte aber. Sophie konnte es nicht ausstehen, wenn ich sie Schwesterchen nannte. Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten mich böse an. „Sei nicht gleich beleidigt Soph, du wirst immer mein kleines Schwesterchen bleiben“, neckte ich sie weiter und verstrubelte dabei ihre schulterlangen, braunen Haare. Sie legte den Stift beiseite und schnappte sich meinen Apfel, von dem ich erst einen Bissen gegessen hatte. „Hey, das ist meiner!“
„Pech gehabt Bruderherz, jetzt gehört er mir“, erwiderte sie grinsend.
„Na warte du kleine, wenn ich dich erwische gehst du baden!“ Bevor ich sie jedoch packen konnte, rannte sie auch schon davon. So schnell und elegant ich mich im Wasser auch bewegte, an Land war ich ein richtiger Trampel. Dazu kam noch das ich über eins achtzig gross war. Nach drei Runden um das Schiff, holte ich sie schliesslich ein. Ich schnappte sie mir und hob sie mühelos hoch. Die harte Arbeit auf den Fischkuttern und das viele Schwimmen hatten mir ziemliche Muskeln verliehen. Vergeblich strampelte sie mit den Füssen und versuchte sich zu befreien.
„Anth, lass mich runter!“, kreischte sie.
„Wie du willst“, sagte ich während ich sie über die Reling hielt.
„Warte, du kannst deinen Apfel wieder haben“, bot sie mir an. Vorsichtig stellte ich sie vor mir ab und nahm den Apfel entgegen.
„Seit wann bist du so wasserscheu?“
„Bin ich nicht, nur trage ich gerade mein neues Kleid“, sagte sie und drehte sich vor mir im Kreis, so dass ich das kurze, weisse Sommerkleid betrachten konnte.
„Dachte ich mir doch, dass das neu ist, wann hast du es gekauft?“
„Gestern, als ich mit Dad Vorräte kaufen war.“ Meistens besorgten Simon und Sophie alleine neue Vorräte an Land, ich begleitete sie nur selten.
„Seit wann kauft er dir neue Kleider?“
„Als Belohnung für meine Karte, die ich gezeichnet habe.“
Wir gingen wieder zurück zum Tisch und ich setzte mich zu ihr. Ich sah ihr beim Zeichnen zu, während ich den Apfel ass.
„Ziest du dir nie ein T-Shirt an?“
Genervt verdrehte ich die Augen. Sophie war stets darauf bedacht, dass möglichst wenig Menschen unsere Male zu Gesicht bekamen. Sie hatte Simon dazu überredet, immer einen Verband am rechten Handgelenk zu tragen, der seine Schlange verdeckte. In gewisser Weise verstand ich sie ja, seit dem Vorfall vor zwei Jahren, liess sie mich nicht mehr ohne T-Shirt unter Leute. Wir waren am Strand schwimmen gewesen, da hatte ein Mann eine Pistole gezückt und auf mich geschossen. Zu meinem Glück war der Mann ein schlechter Schütze und der Schuss streifte mich nur auf der rechten Seite. Einen zweiten Schuss hatte er nicht mehr abgeben können, den Simon hatte sich auf ihn geworfen und ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Von der Wunde war nicht einmal die kleinste Narbe zurückgeblieben, Sophs Heilkräfte waren einfach unglaublich. Trotzdem würde ich nie in meinem Leben ihren entsetzten Gesichtsausdruck vergessen, als sie die blutende Wunde gesehen hatte. Es war zwar immer noch Mord, wenn er mich erschossen hätte und dafür wäre er sicher im Gefängnis gelandet, doch selbst das hielt Menschen wie ihn nicht davon ab auf uns zu schiessen. Vor diesem Vorfall, war ich eigentlich immer nur in Badeshorts herumgelaufen. Mir war es egal gewesen, wenn die Leute mein Mal gesehen hatten. Doch ihr zuliebe trug ich nun immer noch ein T-Shirt, ein Neoprenoberteil oder eine Armbinde zu meinen dunkelgrünen Badeshorts. Doch nicht nur mein Mal störte sie. Eine Narbe, die sich von meinem linken Oberschenkel bis kurz unter den Bauchnabel zog, erinnerte sie daran, dass ihre Heilkräfte nicht allmächtig waren. Sie schaffte es zwar fast jede Verletzung zu heilen, aber gegen Narben die schon entstanden waren, konnte sie nichts ausrichten. Mit finsterer Miene strich sie über die helle Wulst.
„Schon gut, ich geh ja schon und zieh mir was über.“ Mich erinnerte die Narbe nur an eines meiner schlimmsten Erlebnisse in meiner Vergangenheit. Doch Narben konnten nicht nur schlechte Erinnerungen wachrufen. Die kleine Narbe an meinem Kinn erinnerte mich an einen meiner schönsten Tage. Simon hatte mich zum ersten Mal mit zum Hochseefischen genommen. Als die See dann etwas rauer geworden war, war ich auf dem Deck ausgerutscht und mit dem Kinn in den Türrahmen geknallt. Trotzdem war ich unglaublich stolz gewesen, an Simons Seite zu arbeiten.

Meine Kleider stapelten sich auf dem oberen Bett des Stockbettes in meiner Kajüte. Wirklich viele Klamotten besass ich ja nicht. Insgesamt besass ich fünf T-Shirts, zwei Badehosen, eine Jeans, zwei Paar Socken, vier Garnituren Unterwäsche, eine Kapuzenjacke, eine dunkelgrüne Armbinde und in einer Ecke hing noch eine Regenjacke. Unter meinem Bett standen ein Paar Turnschuhe, das ich so gut wie nie trug. Wann immer es möglich war trug ich meine alten Ledersandalen. Fast alle meine Klamotten waren von Ölflecken übersät und manche hatten sogar Löcher. Bevor ich mir ein verwaschenes, rotes T-Shirt überzog, zog ich die Schwimmbrille so runter, das sie wie eine Kette um meinen Hals lag. Obwohl ich auch ohne Schwimmbrille Unterwasser ausgezeichnet sah, mochte ich es nicht wenn mir das Salzwasser in die Augen kam. Zwar lachten mich die beiden deswegen oft aus, doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Mit einem Handtuch rieb ich mir die dichten schwarzen Haare trocken und strich mir dann ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Schnell schlüpfte ich in die Sandalen und trat aus der Kajüte.

Am Heck des Schiffes kletterte ich die Leiter hoch, um nach Simon zu sehen. Er lag auf dem Liegestuhl, eine Sonnenbrille verdeckte seine Türkisblauen Augen und er schlürfte einen Drink. Für ihn Typisch trug er ein blaues Hawaiihemd und schwarze Jeansshorts. Ich fand die Hemden zwar scheusslich, doch er liess sie sich nicht ausreden.
„Hast du unser Abendessen gefangen?“, fragte er.
„Klar, was dachtest du denn. Ich kann die Fische zwar nicht so wie Sophie einfach zu mir rufen, aber trotzdem habe ich ein paar erwischt.“
„Dann werde ich mich wohl gleich mal an die Arbeit machen und das Abendessen kochen.“ Mit einem Satz schwang er sich auf die Beine und verschüttete dabei keinen einzigen Tropfen von seinem Getränk. Simon war etwa fünf Zentimeter kleiner als ich und sah auch weniger kräftig aus. Was allerdings gewaltig täuschte, in einem Kampf Mann gegen Mann hätte ich keine Chance gegen ihn. „Beim Essen werde ich euch auch gleich unseren neuen Auftrag erklären.“ Ich nickte, ich hatte ohnehin damit gerechnet, dass wir bald wieder einen Auftrag annehmen würden. Unser letzter Auftrag lag ja nun schon zwei Wochen zurück. Als er an mir vorbei ging, zog er eine Augenbraue hoch und sagte: „Allerdings glaube ich, dass du für diesen Auftrag ein paar neue Kleider brauchst.“
„Das musst gerade du sagen“, schoss ich zurück.
„Einigen wir uns darauf, dass wir beide ein paar neue Klamotten brauchen werden.“ Simon verschwand und liess mich allein zurück. Was war das bloss für ein Auftrag, bei dem meine Kleidung nicht geeignet war. Wenn wir auf grossen Schleppern gearbeitet hatten, war uns die Kleidung zur Verfügung gestellt worden. Eigentlich war es mir egal was für einen Auftrag wir bekommen würden, solange ich dabei in Wassernähe blieb. Wenn ich zu lange an Land war, fühlte ich mich einfach nicht wohl. Wenigstens war die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, dass wir längere Zeit an Land blieben. Bei einer Welt, die fast nur aus Wasser bestand, war das auch kein Wunder.

Simons Fischmarinade war einfach die beste. Ich kannte kein Restaurant, das so guten Fisch kochte. Wir sassen am Tisch und assen den Fisch mit Salat und Brot.
„Ich hoffe ihr habt euren letzten freien Tag genossen, denn ab Morgen beginnt unser neuer Auftrag. Es ist der mit Abstand wichtigste seit langem.“
„Was müssen wir tun, irgend einen Schatz bergen?“, fragte Sophie. Simon schüttelte den Kopf.
„Nichts dergleichen, wir wurden vom obersten Admiral der Marine angeheuert.“
Überrascht hielt ich mitten in der Bewegung inne und legte die Gabel zurück auf den Teller.
„Aus welchem Grund braucht der oberste Admiral der Marine unsere Hilfe?“
„Seine Tochter will an einer Forschungsreise teilnehmen, da sie später selbst einmal Meeresforscherin werden will. Da in letzter Zeit aber immer mehr Piraten ihr Unwesen auf See treiben und schon ein paar Entführungsversuche stattgefunden haben, braucht sie eine Leibwache.“
„Das verstehe ich nicht, die Marine ist für die Sicherheit der Meere verantwortlich und heuert fremde Leute an um jemanden zu beschützen. Warum also wendet er sich gerade an uns?“
Bevor er mir antwortete, ass er gemächlich seinen Teller leer.
„Ganz einfach Anthony, seine Tochter kennt sämtliche Offiziere, denen der Admiral ihr Leben anvertrauen würde. Sie hat ihrem Vater jedoch ausdrücklich gesagt, dass sie nicht ständig irgendwelche Marineoffiziere um sich herum haben will. Du erinnerst dich sicher noch an die Geschichte, die ich dir vor sieben Jahren erzählt habe.“
Er hatte mir viele Geschichten erzählt, doch auf welche wollte er hinaus? Einen Augenblick lang dachte ich nach und plötzlich war mir alles klar. Ich nickte.
„Jetzt verstehe ich, der Admiral vertraut dir, weil du ihm das Leben gerettet hast.“
Sophie sah Simon mit grossen Augen an.
„Du hast dem Admiral das Leben gerettet Dad?“
„Das war lange bevor er zum Admiral ernannt wurde. Ich selbst war damals genauso alt wie Anthony heute.“
„Dann ist das schon sechzehn Jahre her?“
„Ja, aber er hat es nicht vergessen.“
„Schön, aber deswegen will sie uns noch lange nicht um sich haben“, warf Sophie ein.
Ich hatte jedoch verstanden, wir würden uns ganz einfach in ihr Umfeld einfügen und sie so immer im Auge behalten.
„Wir werden also auch an dieser Forschungsreise Teilnehmen, habe ich recht?“
Simon nickte.
„Offiziell sind wir an Bord um am Meeresgrund nach Ruinen von den alten Völkern zu suchen.“
Eine leichte Aufgabe, am Meeresgrund wimmelte es nur so von alten Ruinen. Doch das was die Forscher suchten, hatte bis jetzt noch niemand gefunden. Es hiess das dort unvorstellbare Mengen an Gold und anderen wertvollen Gütern verborgen waren. Das war aber nicht mal das was die Forscher interessierte, sie waren auf etwas anderes aus. Seit dem spektakulären Fund vor zehn Jahren waren alle nur hinter einem her. Professor Markus Rickett hatte die grösste Stadt des alten Volkes entdeckt, Atlantis. Naja, zumindest wurde sie so von den Wissenschaftlern genannt. Nach den alten Innschriften hiess sie anders, aber da den Namen keiner aussprechen konnte, hatten sie sich dazu entschieden sie Atlantis zu nennen. Immerhin hatte die Menschheit schon immer nach der legendären versunkenen Stadt gesucht. Im Zentrum der Stadt befand sich ein Riesiger Tempel, der einem Meeresgott gewidmet war. Tief im Inneren stiessen sie auf ein Tor, das sich nicht öffnen liess. Es fehlten drei Schlüssel, die in die Vertiefungen eingelassen werden mussten. In der ganzen Stadt hatte man keinen einzigen gefunden. Egal was sie versucht hatten, dass Tor hatte sich nicht öffnen lassen. Da eine Inschrift davor warnte das Tor mit Gewalt zu öffnen hatte man davon abgesehen es mit Sprengstoff zu versuchen. Die Suche nach den Schlüsseln war seither das oberste Ziel vieler verschiedener Organisationen. Jeder einzelne Mensch des Volkes, das dort gelebt haben sollte, soll in der Lage gewesen sein einen Schutzgeist zu rufen. Die spezielle Kultur des alten Volkes zog die Forscher an, wie Honig die Fliegen.
„Wir werden aber nicht nur auf dem Forschungsschiff ein Auge auf sie werfen, sondern schon zwei Woche vor Beginn der Reise. Morgen früh werden wir Kurs auf die Insel Corray nehmen.“
„Die ist doch berühmt für ihre Korallenriffe, oder?“
„Ja, aber auch für die Seewespen“, antwortete ich Sophie.
„Anthony hat recht, dort zu Tauchen ist äusserst gefährlich. Deshalb wirst du auch bei der Tour für Jugendliche Teilnehmen und sie beobachten“, fuhr er an mich gewandt fort.
Ich hatte solche Kurse schon geleitet, es würde mir also nicht sonderlich schwerfallen. Auch wenn Sophie und ich keine Tauchausrüstung brauchten, um Unterwasser zu atmen, hatte es uns Simon doch beigebracht. Zu behaupten, dass ich ein Tauchprofi wäre, war zwar übertrieben, aber für so einen Kurs reichte es allemal.
„Und warum darf ich nicht teilnehmen?“
„Soph, der Kurs ist erst für Jugendliche ab zwölf Jahren und du bist nun mal erst elf.“
Beleidigt verzog sie das Gesicht.
„Ich tauche immer noch besser als die meisten anderen.“
„Das weiss ich Sophie, allerdings brauche ich dich für eine weitaus wichtigere Aufgabe“, sagte Simon und zwinkerte ihr zu.
Was für eine Aufgabe hatte er sich für sie einfallen lassen? Fragend sah ich ihn an und er gab mir zu verstehen, dass wir später darüber reden würden. Auf jeden Fall hatte sein Trick funktioniert und Sophie war höchst zufrieden.
„Wir werden schon einen Tag vor dem Kurs auf Corray eintreffen um uns dort noch mit der nötigen Ausrüstung für den Auftrag auszustatten. Weiter werden wir insgesamt vier Tage auf der Insel verbringen und von dort aus dann zehn Tage an einer Kreuzfahrt teilnehmen.“
„Auf welchem Schiff?“, fragte Sophie.
„Auf der Helios.“
Mir fiel die Kinnlade herunter. Die Helios war das grösste Kreuzfahrtschiff, das je gebaut worden war. Selbst um ein Ticket für die kleinste Kabine an Bord zu bekommen musste man ein vermögen hinblättern. Wenn man das nötige Geld dazu besitzen sollte, musste man das Glück haben, das noch etwas frei war.
„Wie um Himmelswillen sollen wir da noch einen Platz bekommen?“
„Mach dir darüber keine Sorgen Anthony, der Admiral hat sich bereits um alles gekümmert.“
„Werden wir denn überhaupt noch für den Auftrag bezahlt, die Tickest müssen doch ein Vermögen gekostet haben. Immerhin ist die Helios der Luxusdampfer schlechthin.“
Simon fuhr sich mit einer Hand durch seine kurzen, rotblonden Haare.
„Unser Auftraggeber ist der Admiral der Marine, für ihn halten sie immer ein paar Plätze frei. Aber genug davon, wenn das Schiff bei Zenymen vor Anker geht, werden wir von Bord gehen und uns bei der Arion III melden.“
Das alles hörte sich viel zu einfach an, irgendwo musste es doch einen Haken geben. Wenn der Admiral nur jemandem das Leben anvertraute, dem er wirklich vertraute, musste sie in Gefahr schweben. Ich wollte gerade fragen, was Simon uns noch verschwiegen hatte, als er mir wieder zu verstehen gab, dass wir später reden würden. Mittlerweile ging die Sonne unter und färbte den Himmel orange.
„Sophie, es ist schon spät und du solltest für die nächsten Tage ausgeruht sein, also ab ins Bett. Anthony und ich werden den Abwasch machen“, fügte er hinzu.
Die Aussicht, den Abwasch zu umgehen, liess sie ohne Murren in ihre Kajüte gehen.

„Du hast bereits bemerkt, dass dieser Auftrag nicht so einfach ablaufen wird, wie es sich zunächst anhört, oder?“, fragte er mich, als ich ihm einen Teller reichte.
Ich nickte und spülte ein paar Gläser ab.
„Ich wollte nicht, dass Sophie Angst bekommt, du weisst ja, dass sie seit dem Vorfall jeder fremden Person misstrauisch gegenüber tritt. Frederic, der Admiral, hat verlässliche Informationen, dass bewaffnete Männer an Bord der Helios sein werden. Sie werden versuchen seine Tochter zu entführen und das vielleicht schon vor Beginn der Kreuzfahrt.“
„Sollte Sophie dann nicht lieber wissen, dass gefährliche Leute an Bord sind?“
Simon schüttelte den Kopf.
„Nein, sonst vermutet sie hinter jedem harmlosen Passagier einen Entführer. Das wäre nicht gerade förderlich, ausserdem wird sie Tabib beschützen, falls sie in Gefahr gerät.“
Tabib, ihr Schutzgeist, würde bestimmt nicht zulassen, dass ihr etwas zustiess.
„Na gut, aber was machen wir?“
„Zu allererst müssen wir herausfinden wer die Leute sind die ihr Schaden wollen. Erst wenn wir uns ganz sicher sind, können wir etwas unternehmen. Ich habe dir beigebracht wie man sich verteidigt und mit deinen Kräften hat so gut wie niemand eine Chance gegen dich, mit oder ohne Waffe.“
Im Wasser hätte das vielleicht stimmen können, doch an Land war ich mir da nicht sicher. Wasser machte mich stärker, schon allein wenn ich in Wassernähe war, stieg meine Kraft. Je weiter ich mich vom Meer entfernte, desto schwächer wurde ich. Auch konnte ich Wasser manipulieren und somit alles damit anstellen was ich wollte. An Land nützten mir diese Fähigkeiten jedoch wenig. Dahingegen waren Simons Fähigkeiten an Land wesentlich nützlicher. Im Wasser bewegte er sich bereits so schnell, dass man ihn nicht mehr sehen konnte und an Land war er immer noch schneller als normale Menschen. Ausserdem besass sein Schutzgeist Boas, die Fähigkeit verschiedene Grössen anzunehmen. Seine Schlange konnte entweder acht Meter lang und riesengross, oder winzig klein sein. Da er durch ihre Augen sehen konnte, war es das ideale Mittel um Leuten hinterher zu Spionieren. Sophie hatte keinerlei Fähigkeiten die im Kampf nützlich waren, dafür besass sie ausserordentliche Heilfähigkeiten. Ihr Schutzgeist, der in Form eines Hirsches erschien, würde sie aber beschützen können.
„Warum bist du dir sicher, dass ich so stark bin?“
„Anthony, ich habe noch niemanden getroffen, der das Meer so beeinflussen kann wie du. Weisst du noch als du mal richtig ausgerastet bist?“
Ich konnte mich nicht daran erinnern, also zuckte ich mit den Schultern.
„Du warst neun Jahre alt und ein Fischer hatte Jagd auf Delfine gemacht. Als du den toten Delfin gesehen hast, bist du ausgerastet. In wenigen Sekunden ist ein gewaltiger Strudel aus dem nichts entstanden und hat das Boot auf den Grund gezogen. Unser Boot blieb jedoch wie durch ein Wunder verschont, obwohl wir eigentlich auch hätten hineingeraten sollen.“
„Ich soll einen Fischer auf dem Gewissen haben?“
Bei dem Gedanken wurde mir schlecht.
„Keine Ahnung ob er ertrunken ist, ich habe geschaut das wir möglichst schnell da weg kommen“, antwortete er und räumte den letzten Teller weg.
Konnte ich wirklich einen so grossen Strudel erzeugen um damit ein ganzes Schiff zu versenken? „Ich gehe noch eine Runde schwimmen.“
„Aber bleib nicht mehr zu lange!“, rief er mir noch nach.
Ein paar Sekunden später tauchte ich ins Wasser ein.

Hier konnte ich in Ruhe nachdenken. Von der Strömung liess ich mich durchs Wasser treiben. Da ich Objekte im Wasser spürte, hatte ich keine Angst irgendwo gegen zu driften. Mit geschlossenen Augen genoss ich die Ruhe und entspannte mich. Der Gedanke, dass ich einem Menschen das Leben genommen hatte, ging mir jedoch nicht mehr aus dem Kopf. Auch war ich nicht davon überzeugt das ich solch starken Strudel erzeugen könnte und das ohne Patamons Hilfe. Bei manchen Aufträgen hatte ich zwar schon dafür gesorgt, dass bei einem Sturm die Wellen das Schiff nicht beschädigten, Beispielsweise, als wir auf einem Fischkutter gearbeitet hatten. Aber ich hatte noch nie wirklich versucht eine riesige Welle oder einen Strudel zu erschaffen, zumindest nicht absichtlich. Manchmal, wenn ich wütend wurde, zog ich das Wasser in meiner Nähe an. Einmal war das in einem Kaffee passiert, damals war ich etwa zehn Jahre alt und wollte unbedingt noch ein Eis haben. Im Umkreis von etwa drei Metern, waren sämtliche Getränke umgefallen und der Inhalt kroch langsam auf mich zu. Simon hatte mich gepackt und war so schnell wie möglich aus dem Kaffee verschwunden. Seitdem achtete ich immer sehr darauf, in Gegenwart von anderen nie die Kontrolle zu verlieren. Wenn ich so darüber nachdachte, konnte ich sogar langsam verstehen, warum die Menschen Angst vor uns hatten. Um auf andere Gedanken zu kommen liess ich mich immer weiter von der Insel wegtreiben. Als ich auftauchte, konnte ich sie gerade noch in der Ferne erkennen. Hier sollte mich niemand beobachten können.
„Komm zu mir Patamon“, flüsterte ich mit leiser Stimme.
Kaum hatte ich es ausgesprochen, spürte ich ein leichtes Prickeln auf meiner Schulter. Einen Wimpernschlag später stand ein grosser weisser Tiger auf dem Wasser. Zu Patamons Fähigkeiten gehörte auch das Laufen auf Wasser, wobei er sich Unterwasser viel schneller fortbewegen konnte. Erst als ich mich auf seinen Rücken zog, bemerkte ich, dass ich das T-Shirt noch trug. Patamon war grösser als ein Gewöhnlicher Tiger, so gross, dass ich bequem auf ihm reiten konnte.
„Na mein Freund, freust du dich schon auf unseren nächsten Auftrag?“
In meinem Inneren spürte ich, dass er sich Sorgen machte.
„Mir geht es genauso, bei der Sache habe ich auch ein Komisches Gefühl. Allerdings sollten wir uns nicht so allzu viele Gedanken darüber machen“, sagte ich und kraulte ihn beruhigend hinter den Ohren.
Er stiess ein zufriedenes brummen aus und genoss die Streicheleinheit wie ein kleiner Welpe. Simon sagte zwar immer, dass ein Schutzgeist kein Haustier war und man sie nicht streicheln müsste. Ich betrachtete Patamon auch nicht einfach als ein Schild, dass man bei jeder kleinsten Gefahr vor sich stellte. Schutzgeister konnten zwar nicht sterben, egal was man mit ihnen anstellte. Man konnte ihnen eine Kugel in den Kopf jagen, dass machte ihnen nichts aus. Von Simon wusste ich jedoch, dass auch sie eine Grenze hatten. Wenn sie zu viele Schüsse, Stiche, oder was auch immer abbekamen, verschwanden sie wieder in uns. Gemeinsam tauchten wir unter und Patamon brachte mich zurück zum Boot. Verabschieden mussten wir uns schon unter Wasser, da ich es nicht riskieren wollte, dass ihn jemand sah. Patamon verschwand und ich Kletterte an Bord.

Simon sass noch auf der Terrasse und Tippte irgendetwas in seinen Laptop.
„Hast du nicht selbst gesagt, wir sollten früh ins Bett?“
„Ich habe heute den ganzen Tag verschlafen“, erwiderte er, ohne von seinem Bildschirm aufzublicken. „Ausserdem, habe ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass du dich abtrocknen sollst? Du tropfst alles voll.“
„Ist ja nur Wasser, ohnehin gehe ich jetzt noch Duschen.“
Bevor er noch etwas sagen konnte, verschwand ich im Boot. Ich trat in das kleine Bad und warf das nasse T-Shirt achtlos auf den Boden. Nach einer kurzen, kalten Dusche trocknete ich mich ab und verschwand in meiner Kabine. Die Schwimmbrille legte ich zu meiner Muschelsammlung auf ein Regal. Mit feuchten Badehosen liess ich mich auf meine Koje sinken. Mein Blick fiel auf die Videokamera, die sich ein Regalbrett unter den Muscheln befand. Sie war wohl das mit Abstand teuerste, das ich besass. Simon hatte sie mir zum elften Geburtstag geschenkt. Es war keine gewöhnliche Kamera, mit ihr konnte ich auch unter Wasser filmen. Auf dem USB-Stick gleich neben der Kamera hatte ich jede Menge Filme gespeichert. An Land hatte ich ein paar besondere Momente festgehalten. Zum Beispiel Sophies elften Geburtstag und einen Ausflug in den Freizeitpark. Auch im und unter Wasser hatte ich Filme gedreht. Simon beim Wasserskifahren, ein Tauchgang zu einem Wrack. Das Riff von Corray würde ich auch Filmen. Einen Moment lang blieb ich noch sitzen, bis ich mich dann ganz auf der Koje ausstreckte. Die leichten Bewegungen des Schiffes wirkten äusserst beruhigend. Es gab nichts Besseres um sich zu entspannen. An Land fiel es mir schwer einzuschlafen, weil genau diese Bewegungen fehlten. Allgemein fehlte mir die Bewegung an Land und deswegen mochte ich auch längere Aufenthalte auf Inseln nicht. Sophie und Simon ging es ähnlich, doch bei ihnen war es noch lange nicht so schlimm wie bei mir. Einmal hatte Sophie sogar gesagt, dass ich die Landkrankheit hätte. Nun liess ich mich jedoch von den Wellen in den Schlaf wiegen.

 

Kapitel 2

Sonntag, 27.05.13, 9:30 Anthony

 

Ich wachte auf, als sich das Schiff in Bewegung setzte. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich, dass noch nicht einmal die Sonne aufgegangen war. Simon war wie immer darauf bedacht pünktlich am Auftragsort zu erscheinen. Doch soweit ich wusste, hatten wir noch genügend Zeit um Corray zu erreichen. Wenn wir mit diesem Tempo weiterfuhren, würden wir schon am frühen Morgen des Tages, vor Auftragsbeginn eintreffen. Die ganze Reise würde nicht länger als drei Tage dauern. Für mich war es allerdings noch viel zu früh um aufzustehen. Gähnend legte ich mich wieder ins Bett und schlief weiter.

„Anth…, Anthony!“, brüllte Sophie mir ins Ohr, während sie mich schüttelte. „Du verschläfst noch den ganzen Tag!“
Brummend zog ich mir die dünne Decke über den Kopf. So spät war es bestimmt noch nicht, Sophie war eine Frühaufsteherin. Wenn es zehn Uhr war, bedeutete es für sie, dass der Tag schon fast vorbei war.
„Stell dich nicht so an und steh endlich auf!“
Es hatte keinen Zweck sich ihr zu wiedersetzen, sie würde mich so lange nerven, bis ich aufstand.
„Wie spät ist es denn?“
„Halb zehn.“
Ich verdrehte die Augen, stand aber auf.
„Gibt es wenigstens etwas zu essen?“, fragte ich sie. Probehalber nahm ich einen tiefen Atemzug, konnte aber keinen gebratenen Speck riechen.
„Ich weiss genau woran du gerade denkst und ich muss dich endtäuschen. Heute gibt es keinen Speck und auch keine Spiegeleier.“
Endtäuscht schlüpfte ich in ein T-Shirt, zog mir die Schwimmbrille über den Kopf und folgte ihr in die Küche. Sie drückte mir ein Brot mit Marmelade in die Hand und sagte:
„Hier, das ist ohnehin viel gesünder.“
Ich schnaubte, biss aber trotzdem hinein.
„Mir hat sie auch keinen Speck gebraten“, meldete sich nun Simon von seinem Führerstand.
„Meinst du nicht auch wir sollten uns nochmal überlegen, ob wir sie nicht doch noch über Bord werfen?“, fragte er lächelnd.
„Ich sorge nur dafür dass ihr euch halbwegs gesund ernährt“, sagte sie gekränkt und spazierte hocherhobenen Hauptes aus dem Raum.
„So übel schmeckt das Brot ja gar nicht. Auch wenn sie mit der Marmelade wirklich geizig ist!“, fügte ich so laut hinzu, dass sie mich noch hören konnte. Kauend stellte ich mich neben Simon.
„Könntest du nachher eine Weile für mich übernehmen? Dann kann ich mich kurz aufs Ohr hauen.“
„Klar, seit wann stehst du denn schon hier?“
„Seit zwei Uhr morgens.“
Er reichte mir ein paar Gefalltete Zettel.
„Gestern habe ich noch alle wichtigen Daten des Auftrages zusammengefasst, hier drauf steht ganz genau was du zu tuen hast.“
Nickend nahm ich die Zettel entgegen und faltete sie auseinander. Bei jedem grösseren Auftrag fertigte er für jeden von uns solche Zettel an. Ganze drei A4 Seiten warn bedruckt.
„Präg dir gut ein was da steht, es könnte dir später noch einmal nützlich sein.“
Ich tauschte mit Simon den Platz und übernahm für ihn das Steuer.
„In zwei Stunden löse ich dich wieder ab.“
Nachdem er gegangen war, prüfte ich zuerst den Kurs und widmete mich dann de Zetteln. Ganz schön viele Informationen dachte ich, während ich sie überflog.

  • Dienstag 6:50, Ankunft auf Corray/7:00 Beschaffung der Ausrüstungsgegenstände

  • Mittwoch 9:10, Beginn des Tauchkurses

  • Donnerstag , ganzer Tag Beobachtung am Strand

  • Freitag 20:00, Start der Kreuzfahrt

Kreuzfahrt

  • Dauer, 10 Tage/Schiff: Die Helios

  • Samstag 13:00-18:00, Beobachtung

  • Sonntag, geniess das Schiff

  • Montag 7:00-8:30, Fitnesscenter

  • Mittwoch 14:00-16:00, Kletterwand

  • Täglich 20:00, Jogging

Weitere genaue Angaben folgten, in denen stand, wann und wo ich zu welcher Zeit sein musste. Die Tochter des Admirals, schien ja ein richtiger Kontrollfreak zu sein. Wer sogar seinen Urlaub so akribisch plante konnte gar nichts anderes sein. Ob das wirklich so stimmte, würde ich Simon bei seiner Ablösung fragen. Ganz unten auf dem Blatt, befand sich etwas weitaus interessanteres. Hier hatte Simon detaillierte Angaben zu der Tochter des Admirals aufgelistet.

Name: Lucynda Callahan

Geburtsdatum: 17.01.96

Eltern: Frederic Callahan, oberster Admiral der Marine/Samantha Callahan, verstorben

Hobbies: Surfen, Meeresforschung

Grösse: 1.70Meter

Augenfarben: blau, braun

Haarfarbe: blond

Lieblingsfarbe: Smaragdgrün

 

Bei der Lieblingsfarbe stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Smaragdgrün war genau meine Augenfarbe. Simon sagte, der Ton meiner Augenfarbe verändere sich je nach meiner Stimmung und immer wenn ich mich freute, leuchten sie wie zwei Smaragde. Den Lebenslauf überflog ich nur kurz. Lucy hatte bis zu ihrem zehnten Lebensjahr auf der Hauptinsel gelebt und war dort zur Schule gegangen. Dann starb ihre Mutter bei einem Tauchunfall. Seit dem lebte sie an den verschiedensten Orten, immer an ihrer Seite Mr. Lambert, der Privatlehrer. Diesen schätzte sie sehr. Dort stand auch, dass ihr der Lehrer näher stand als ihr eigener Vater. Das konnte man ihr nicht verübeln, wahrscheinlich sah sie ihren Vater nicht besonders oft. Als Admiral hatte er schliesslich viele Verpflichtungen. Während des gesamten Auftrages würde auch Mr. Lambert anwesend sein. Ob das nun ein Vorteil oder ein Nachteil war, würde sich noch herausstellen. Der Tod ihrer Mutter, hatte sie hart getroffen. Ihre Mutter war Meeresbiologin gewesen und hatte ein eigenes U-Boot besessen. Bei einem Tauchgang mit der ganzen Familie lief irgendwas schief. Sie waren noch nicht Tief getaucht, da strömte plötzlich Wasser ins Innere des Tauchbootes. Das muss ein ziemlich beängstigendes Gefühl sein, gefangen in einem U-Boot, dass sich immer mehr mit Wasser füllte. Zumal alle drei keine Wasseratmer waren. Auch sonst würde ich mir das nicht gerade Wünschen. Ich mochte U-Boote nicht, egal ob es sich nun um eines der Marine oder ein Forschungs-U-Boot handelte. Dort war ich gefangen, in einem winzigen Raum. Ich konnte auch ohne U-Boot in die Tiefen des Meeres vordringen, der Druck dort unten machte mir nichts aus. In dem Tauchboot befand sich eine Sauerstoffflasche, die es zwei Personen ermöglichte, zurück an die Oberfläche zu kommen. Lucys Mutter bestand darauf, dass er sich mit ihrer Tochter retten sollte. Sie fand, er als Admiral, habe eine zu wichtige Funktion, um hier unten zu sterben. So brachte er sich und Lucy zurück an die Oberfläche, musste aber seine Frau zurücklassen. Seitdem hatte Lucy panische Angst vor Tauchbooten und engen Räumen. Sie gab sich auch die Schuld am Tod ihrer Mutter. Zuerst wollten ihre Eltern sie überhaupt nicht mit auf den Tauchgang nehmen. Allerdings hatte sie so lange gequengelt, bis sie nachgegeben hatten. Die Ursache für das Eindringen des Wassers, war ein Leck in einer Dichtung gewesen. Dies war keinesfalls auf Natürlichem Weg entstanden. Vermutlich handelte es sich dabei um einen Anschlag auf das Leben des Admirals. Weitere Mordversuche hatte es nicht gegeben und den Attentäter hatte man nicht fassen können. Da sah man mal wieder, was es einem brachte, Admiral zu sein. Es gab keinen anderen Posten, bei dem das Leben so in Gefahr war.

 

Nachdem ich den Bericht über Lucynda Callahan gelesen hatte, wusste ich mehr über sie, als die meisten Menschen die sie kannten. Irgendwie kam es mir falsch vor, so in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzugreifen. Mir würde es auch nicht gefallen, wenn ein völlig Fremder alles über mich wusste. Simon hatte bereits solche Aufträge ausgeführt, er musste es ja wissen, wenn man all diese Informationen brauchte. Bis jetzt hatte er es jedoch stets alleine erledigt. Ich würde ihn noch fragen, warum er uns dieses Mal dabei haben wollte. Gerade als ich die Zettel faltete, tauchte Simon auf. Er machte sich einen Kaffee und stellte sich mit der Tasse in der Hand neben mich.
„Sind die zwei Stunden schon um?“
„Ja, das Nickerchen hat richtig gut getan. Heute ist das Meer ja besonders ruhig.“
„Willst du das Steuer wieder übernehmen?“
„Lass nur, ich trinke erst noch meinen Kaffee aus.“
„Weisst du eigentlich wo Sophie hin ist?“
„Sie hat sich schmollend in ihre Kabine zurückgezogen“, antwortete er nach einen grossen Schluck aus seiner Tasse. „Wahrscheinlich arbeitet sie an ihrer neusten Karte weiter.“
Ich warf einen kurzen Blick auf den Kompass und drehte dann leicht am Steuerrad um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen.
„Was ist das eigentlich für ein Forschungsschiff, auf dem wir arbeiten werden?“
„Wir werden auf der Arion III, eines von insgesamt vier der Modernsten Forschungsschiffen, arbeiten. Sie ist mit den Neusten Technischen Geräten ausgestattet, verfügt über vier Tiefseetauchanzüge und ein U-Boot.“
Arion, den Namen hatte ich doch schon einmal gehört.
„Sind das nicht die Schiffe, die für die Worldwide Organisation of the Sea arbeiten?“
Simon nickte. Die Worldwide Organisation of the Sea, kurz WOS, war ein Verbund der Weltweit besten Meeresforschern. Ihr Logo bestand aus einem Ring, im Wellenmotiv, in dessen Mitte ein blauer Delphin sass und über dessen Kopf standen die Buschstaben WOS. Ich wusste zwar nicht was dieses Logo mit Meeresforschung zu tun hatte, aber auf jeden Fall träumte jeder Meeresforscher davon, Teil dieser Organisation zu werden. In Simons Bericht hatte ich gelesen, dass auch Lucys Mutter dort gearbeitet hatte. Kein Wunder, das man sie mit auf eine der Expeditionen nahm. Wir hatten sicher drei anderen Tauchern ihre Plätze an Bord weggenommen.
„Mit uns werden vierzig Leute an Bord sein, ein paar davon kennen wir bereits. Du erinnerst dich sicher noch an Jonathan Covenant, den Jungen, den wir vor vier Jahren auf einem Schiff getroffen haben?“
„Klar erinnere ich mich an John, wir hatten viel Spass zusammen.“
Jonathan war ein Wasseratmer und hatte als Küchenjunge auf einem Schiff gearbeitet. Er verbreitete immer gute Stimmung und träumte davon einmal selbst Kapitän eines Schiffes zu werden.
„Weniger erfreulich ist, dass Kevin Billington als erster Offizier dort arbeiten wird.“
Als er den Namen aussprach, verzog sich sein Gesicht angewidert. Ich hatte Billington zwar noch nie Persönlich getroffen, doch nach Simons Beschreibung, war er eine verachtenswerte Person. Nach dem was er über ihn erzählt hatte, wusste ich, dass er Waffen schmuggelte und den Piraten half wo er nur konnte. Auffällig war auch, dass viele Schiffe auf denen er gearbeitet hatte, von den Piraten überfallen worden waren. Nur hatte man ihm nie etwas nachweisen können.
„Meinst du er gehört zu den Leuten, die die Tochter des Admirales entführen wollen?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Gut möglich, aber sicher sagen kann ich es nicht. Bei ihm wäre es aber durchaus denkbar.“ Er kippte den Rest seines Kaffees hinunter und stellte die Tasse in die Küche. „Zeit zum Tauschen, du hast dir eine Pause verdient.“
Wir tauschten die Plätze und ich stellte mich hinter ihn.
„Sag mal Simon, warum sollen wir dich bei diesem Auftrag unterstützen? Ich meine, sonst hast du uns nie bei solchen Aufträgen mittgenommen.“ Es dauerte einen Moment, bis er antwortete.
„Bei allen meinen bisherigen, solchen Aufträgen, musste ich irgendwelche Reichen Leute beschützen. Ein paar davon hatten sich mit zwielichtigen Gestalten eingelassen, doch die meisten waren einfach nur Paranoid. Aber dieser Auftrag ist etwas vollkommen anderes.“
„Warum das den, in gewisser Weise ist der Admiral auch nur eine Reiche Person.“
„Das mag sein, wir beschützen auch nicht den Admiral, sondern seine Tochter.“ Er drehte sich zu mir um und sah mir tief in die Augen. „Ich habe dem Admiral geschworen, seine Tochter mit meinem Leben zu beschützen und das werde ich auch machen. Hör mir gut zu mein Sohn, wenn dein oder das Leben deiner Schwester in Gefahr ist, setzt deine Kräfte ein. Halt dich nicht zurück, sie werden auch kein Mitleid mit dir haben.“ Während er das sagte, glänzten seine Augen kalt und abweisend.
So hatte ich ihn noch nicht oft gesehen, erst zwei Mal. Einmal, als ich ihn nach seiner Vergangenheit gefragt und das andere Mal, als der Mann auf mich geschossen hatte. In seinen Augen konnte ich einen Teil des Hasses sehen, den er gegenüber den normalen Menschen hegte. Normalerweise liess er niemanden durch seine Freundliche Fassade blicken. Mein Sohn nannte er mich auch nur dann, wenn ihm etwas wirklich wichtig war.
„Versprich es mir Anthony, versprich mir, dass du um dein Leben kämpfen wirst!“ Jetzt sah er mich fast schon flehend an.
„Ich verspreche dir, alles in meiner Macht stehende zu tun um Sophie zu beschützen.“
Mein Versprechen schien ihn fürs Erste zufrieden zu stellen. Ich liess ihn allein am Steuer und ging in meine Kajüte zurück.

 

Montag,28.05.13,18:00 Anthony

Je näher wir der Insel Corray kamen, desto angespannter wurde Simon. Eigentlich war das bei ihm bei jedem grösseren Auftrag der Fall, doch jetzt wurde auch ich immer Nervöser. Einen Tag lang schwamm ich neben dem Schiff her. Dort konnte ich mich einfach auf das Wasser um mich herum konzentrieren und alles andere in den Hintergrund stellen. Im Wasser spielte Zeit für mich keine Rolle. Stunden lang konnte ich mich dort aufhalten und es fühlte sich nicht länger als ein paar Minuten an. Da ich keine Uhr besass, verlor ich Unterwasser jedes Gefühl für Zeit. Erst als Sophie mich praktisch an den Haaren aus dem Wasser zog, bemerkte ich, dass es schon Abend war.
„Nur weil du es kannst, musst du noch lange nicht den ganzen Tag im Wasser verbringen“, sagte sie als wir gemeinsam an Bord kletterten.
„Ich musste nachdenken und im Wasser kann ich mich nun mal am besten konzentrieren.“
Sie sah mich fragend an.
„Was ist so wichtig, dass du nur im Wasser darüber nachdenken konntest?“
Ich trocknete mich ab und zog die Schwimmbrille runter.
„Du weisst doch, dass ich in der Lage bin Wasser zu manipulieren, oder?“ Sophie nickte und nahm mir das Handtuch aus der Hand.
„Aber bis jetzt hast du dir nichts aus dieser Fähigkeit gemacht. Warum denkst du gerade jetzt darüber nach?“
In der Küche füllte ich ein Glas mit Wasser und stellte es vor mich auf den Tisch.
„Wenn ich nun schon über eine solche Fähigkeit verfüge, warum sollte ich sie dann nicht nutzen?“ Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das Glas und starrte das Wasser an.
„Hast du überhaupt schon einmal willentlich Wasser bewegt?“
„Nicht direkt, aber als ich die Wellen vom Schiff abgehalten hatte, habe ich das Wasser beeinflusst. Zwar nicht alleine, aber ich habe sie umgelenkt.“ Eine Weile suchte ich in meinen Erinnerungen nach einem Ereignis in dem ich in irgendeiner Art Wasser beeinflusst hatte. „Und wenn ich wütend werde, dann ziehe ich es doch auch an. Dann muss ich sogar ziemlich aufpassen, dass ich nicht die Kontrolle verliere.“
„Versuch es doch jetzt einfach mal“, sagte sie und deutete auf das Glas.
Kurz fixierte ich das Glas, atmete tief ein und schloss dann meine Augen. Um mich herum konnte ich das Wasser im Meer genau spüren. Auch das Wasser in unserem Vorratstank nahm ich war. Biss ich nur noch das Wasser im Glas wahrnahm, musste ich erst einmal alles andere ausblenden.
„Wird das heute noch was?“
„Nur wenn du jetzt die Klappe hältst und mich in Ruhe lässt!“
Noch einmal atmete ich tief ein, blendete alles andere aus und öffnete dann die Augen. Langsam begann sich das Wasser aus dem Glas zu heben. Als alles in der Luft schwebte, streckte ich die Hand aus. Mit Zeige- und Mittelfinger beschrieb ich einen Kreis und das Wasser folgte meiner Bewegung. Ich stellte fest, dass es gar nicht so schwer war. Das Wasser tat das, was ich wollte. Nachdem ich es ein paar Mal im Kreis schweben gelassen hatte, liess ich es durch die ganze Küche flitzen.
„Was treibt ihr denn da?“
Erschrocken fuhr ich herum und das Wasser klatschte in Simons Gesicht. Es traf ihn wie ein Faustschlag, zerschmetterte seine Sonnenbrille und liess ihn zu Boden gehen.
„Dad!“, schrie Sophie entsetzt.
„Tut mir leid Simon, ich wollte nicht…“
„Ahh…schon gut“, winkte er ab und streckte mir eine Hand entgegen. Ich zog ihn auf die Beine. Aus seiner Nase lief Blut und die Brille hing ihm schief im Gesicht. Sophie reichte ihm ein Taschentuch und sah mich vorwurfsvoll an.
„Es war nicht seine Schuld Soph, ich hätte nicht so hereinplatzen sollen“, sagte er und nahm die Reste seiner Sonnenbrille ab. „Die kann ich nun wohl vergessen. Jetzt schaut nicht so entsetzt, ich habe schon weitaus schlimmere Schläge überlebt.“
„Wie es aussieht, muss ich wohl noch etwas üben.“ Verlegen fuhr ich mir durchs Haar.
„Das war gar kein Schlechter schlag, Morgen werde ich wohl ein ordentliches Veilchen haben.“
Sophie schüttelte den Kopf.
„Ich kann dich doch Heilen Dad.“
Simon beugte sich zu ihr herunter und sie legte ihm eine Hand auf das Gesicht. Ihre Augen leuchteten einen Moment lang auf und Simons Nase hörte auf zu bluten.
„So, wenn das jetzt geklärt ist, kann ich ja das Abendessen kochen.“
„Wir werden dir helfen, nicht war Anth?“
Obwohl es eine Frage war, liess sie mir keine andere Wahl und packte mich am Arm, bevor ich mich verdrücken konnte.

 

Später, nach dem Abendessen, stand ich an der Reling und starrte auf das Wasser. Gedankenversunken, streckte ich den Arm aus und begann mit Zeige- und Mittelfinger einen kleinen Kreis zu beschreiben. Neben dem Boot, bildete sich ein Ministrudel. Ich wusste nicht wieso ich nur diese beiden Finger benutzte und ich wusste auch nicht ob ich sie überhaupt brauchte, doch ich tat es einfach. Dann erinnerte mich der Strudel an den Fischer. Mein Magen krampfte sich zusammen und ich löschte ihn mit einer Handbewegung aus. Hatte ich wirklich einen Menschen auf dem Gewissen? Seit mir Simon diese Geschichte erzählt hatte, liess mich die Frage einfach nicht mehr los. Es schien fast so, als würde sie mich verfolgen. Von Simon wusste ich, dass er schon Menschen getötet hatte. Er selbst sagte, man müsse sich einen Panzer zulegen und das nicht zu nah an sich heranlassen. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt fähig wäre jemanden zu töten. Zwar hatte ich Simon versprochen Sophie zu beschützen, aber jemanden zu töten. Den Kopf in die Hände gestützt, versuchte ich diesen Gedanken einfach zu vergessen. Es musste ja gar nicht so weit kommen, beruhigte ich mich. Ich musste ja nicht immer das schlimmste vermuten. Schon in wenigen Stunden würden wir Corray erreichen und an Land gehen. Na toll, das war auch keine Angenehmer Gedanke. Am besten ich hörte jetzt ganz auf, über irgendetwas nachzudenken.

 

Kapitel 3

Dienstag, 29.05.13, 7:00 Anthony

 

Corray, die Urlaubsinsel schlechthin. Am Ufer entlang reite sich ein Hotel ans andere. Im Zentrum der Insel gab es zahlreiche Einkaufscentren und andere Einkaufsmöglichkeiten. Nebenbei gab es die verschiedensten Freizeitangebote. Tauchen, Surfen, Wasserski fahren und einen Freizeitpark. Dem zufolge gab es auch genügend Touristen. Nur dank dem Admiral hatten wir noch einen Platz im Hafen bekommen. Es gab nur wenige Leute, die das ganze Jahr auf der Insel verbrachten und das waren die Laden- und Hotelbesitzer. Sonst war Corray wirklich eine reine Touristeninsel. Bereits um fünf Uhr morgens, als wir gerade im Hafen angelegt hatten, waren die ersten Jogger unterwegs gewesen. Wir lagen perfekt im Zeitplan und so konnte ich mich noch etwas hinlegen. Pünktlich um sieben Uhr machten wir uns dann auf den Weg ins Zentrum. Ich trug T-Shirt, Shorts, Rucksack und ausnahmsweise die Turnschuhe. Eigentlich trug Simon immer, wenn er unter Leute ging eine Sonnenbrille. Da ich jedoch Gestern seine letzte zerstört hatte, musste er vorerst ohne auskommen. Sehnsüchtig warf ich dem Wasser einen letzten Blick zu. Sophie hatte ein ganz anderes Problem, sie hatte Angst vor vielen Menschen. Kaum waren wir aus dem Bus ausgestiegen, da ging sie dicht neben mir her und nahm meine Hand. Der Bus hatte direkt an der Promenade gehalten, an dessen Ende ein grosser Marktplatz lag. An der Promenade entlang gab es eine Menge Geschäfte. Ich entdeckte einen Elektronikladen, zwei Konditoreien, ein Juweliergeschäft und so viele Boutiquen, dass ich mir nicht die Mühe machte sie zu zählen. Dann blieb Simon plötzlich vor „Rossees Anzügen“ stehen.
„Perfekt, genauso einen Laden hatte ich gesucht.“
„Das ist nicht dein Ernst, ich werde auf keinen Fall einen Anzug tragen!“
„Und ob du das wirst“, sagte er und schob mich in den Laden.
Der Mann dem der Laden gehörte, wahrscheinlich Rossee, hatte dunkle Haut, lockige Haare und trug einen violetten Nadelstreifen Anzug, mit gleichfarbigen Krawatte. Seine Zähne strahlten unnatürlich weiss, als er uns anlächelte.
„Willkommen in Rosses bescheidenem Laden meine Herren.“
Sophie schien er gar nicht wahrzunehmen.
„Guten Tag, ich suche für meinen Sohn passende Bekleidung“, sagte Simon und deutete auf mich. Sofort musterte mich Rosse von den Zehen bis zum Scheitel. Gerade als Simon noch etwas sagen wollte, fing er an uns Anzüge zu zeigen. Er führte gerade einen dunkelgrünen dreiteiligen Anzug vor, als Simon ihn unterbrach.
„Endschuldigen sie, wenn ich sie kurz unterbrechen dürfte, aber ich hatte schon eine Konkrete Vorstellung.“
Einen Moment lang wirkte er beleidigt, da er jedoch ein gutes Geschäft witterte, fragte er.
„Woran hatten sie den da gedacht?“
„An einen klassischen, schwarzen Smoking mit Fliege.“
Mr. Rossee nickte und führte uns dann in einen Teil des Ladens, in dem die verschiedensten Smokings ausgestellt waren. Nach einem weiteren Prüfenden Blick auf mich, wählte er schliesslich ein elegantes, schwarzes Modell aus. Auf der linken Seite, besass er eine Tasche, mit einem weissen Taschentuch. „Probieren sie den hier an, er ist aus feinster Seide und entspricht der neusten Mode.“ Beim Blick auf das Preisschild hätte es mich fast umgehauen, 500 Dollar! Simon schien das völlig kalt zu lassen. Ich schlüpfte in den Smoking und er passte wie angegossen. Das musste man dem Mann lassen, er hatte mit nur einem Blick die richtige Grösse ausgesucht. Ob er nun passte oder nicht, ich fühlte mich in dem Teil einfach nicht wohl.
„Was halten sie davon, gefällt er ihnen?“, fragte er, nachdem er mir die Fliege zurechtgerückt hatte.
„Ja, ich glaube wir nehmen ihn“, antwortete er an meiner Stelle.
„Wenn mir diese Bemerkung gestattet ist, würde ich ihnen empfehlen, ihre Haare schneiden zu lassen“, sagte er an mich gewandt.
Ich sagte nichts, da ich wusste, dass er Recht hatte. Meine Haare reichten mir fast schon bis zu den Schultern und ich sah aus ,wie ein Wilder aus der Steinzeit. Höflich erwiderte Simon:
„Sie haben absolut recht, wir werden ihren Rat beherzigen. Haben sie auch passende Schuhe auf Lager?“
„Selbstverständlich“, erwiderte Mr. Rossee fast schon beleidigt. Er verschwand im hinteren Teil des Ladens und kam dann mit einem Schuhkarton zurück. „Diese hier passen ausgezeichnet dazu, wenn sie sie einmal probieren möchten?“
Auch bei den Schuhen hatte er die perfekte Grösse ausgewählt, die schwarzen Lederschuhe passten ausgezeichnet. Der Preis war jedoch keines Wegs niedriger als der des Smokings, 180 Dollar.
„Wir nehmen alles.“
Ich schlüpfte wieder in meine eigenen Sachen, Simon bezahlte und wir verliessen den Laden.
„Für was brauche ich einen Smoking?“, fragte ich vor dem Laden.
„Ich dachte, du hast die Notizen, die ich dir gegeben habe durchgelesen.“
„Ja, schon…“
„Dann müsstest du wissen, dass wir auf der Kreuzfahrt mit dem Kapitän essen werden.“
„Was hast du erwartet, Anth würde auch in seinen Badehosen mit dem Kapitän essen gehen.“ Das erste was sie sagte, seit wir den Bus verlassen hatten und es war eine Beleidigung.
Ohne darauf einzugehen, fragte ich Simon:
„Warum hast du nicht auch einen Anzug oder einen Smoking gekauft? Liegt es an den Preisen?“
„Nein, an den Preisen lag es nicht. Ob du es glaubst oder nicht, ich besitze bereits einen. Bis jetzt habe ich ihn zwar erst einmal getragen, aber ich besitze einen.“
„Wir hätten auch einen weniger teuren Anzug kaufen könne, ich trage ihn ohnehin nur einmal. Das Geld hätten wir uns also auch für andere Dinge sparen können.“
„Mach dir mal um das Geld keine Sorgen. Für den Auftrag, hat uns der Admiral einen ordentlichen Vorschuss bezahlt.“ Simon verstaute die Papiertasche mit dem Smoking und den Schuhen so in meinem Rucksack, dass er nicht zerknitterte. „Um die Restlichen Dinge zu besorgen, gehen wir am besten ins Einkaufscentrum.“
Das Einkaufscentrum, das Simon meinte, lag auf der anderen Seite des Marktplatzes. Ich wusste nicht, ob heute Markttag oder ob es immer so war. Auf jeden Fall wimmelte es nur so vor Menschen. Der Geruch von exotischen Kräutern, geräuchertem Fisch und gerösteten Mandeln, überlagerte sogar den Geruch des Meeres. Wir standen am Rand des Platzes und um auf die andere Seite zu gelangen, mussten wir uns einen Weg durch die Menschenmenge bahnen.
„Können wir nicht einfach aussen herum gehen?“, fragte Sophie mit zitternder Stimme.
„Lass dir nicht immer Angst einjagen Soph.“ Er ging vor ihr in die Hocke. „Nicht jeder hier hat eine Waffe und will dich erschiessen. Das sind einfach nur Touristen, genau wie wir. Jetzt kommt, wir gehen“, sagte er und ging los.
Eigentlich erfüllte ihr Simon jeden Wunsch, doch wenn es um ihre Angst ging, war er knallhart. Er meinte man müsse seine Ängste überwinden und sich nicht von ihnen beherrschen lassen. Das musste man auf die Harte oder die Sanfte Tour lernen.
„Keine Sorge Sophie, hier will dir wirklich niemand etwas tun. Wenn du willst trage ich dich auf den Schultern über den Platz.“ Vielleicht konnte es ihr Simon auf die harte Tour zeigen, aber ich konnte das nicht. Wenn es ihr nicht gut ging, tat ich alles, damit es ihr wieder besser ging. Schon seit dem Tag, an dem sie Simon mittgebracht hatte, beschützte ich sie. „Na, was hältst du davon?“
Sophie nickte und ich hob sie auf meine Schultern. Früher hatte sie Simon oft so getragen. Nun war sie zwar schon ein bisschen grösser, aber immer noch Federleicht. Trotzdem spürte ich ihr Gewicht mehr als sonst. Das lag daran, dass wir so weit vom Wasser entfernt waren. Mit Soph auf den Schultern, bahnte ich mir einen Weg durch die Menge. Die meisten Leute wichen mir aus und ich konnte mehr oder weniger geradeaus gehen. Vor dem Einkaufscenter stellte ich sie wieder auf den Boden und nahm ihre Hand.
„Siehst du, war doch gar nicht so schlimm.“
Sie sagte nichts und wir folgten Simon durch die Tür. Das Innere des Einkaufscenters war angenehm Klimatisiert. Simon bedachte mit einem Blick, der deutlich sagte, dass er meine Aktion eben nicht gut hiess.
„Habt ihr eine Ahnung, was wir hier besorgen werden?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Lebensmittel auf jeden Fall schon einmal nicht. Unsere Vorräte haben wir ja schon auf der letzten Insel aufgefüllt.“
„Willst du dir eine neue Sonnenbrille kaufen?“, fragte Sophie.
„Hahaha ja, unter anderem. Hauptsächlich sind wir aber hier, um Anthonys Garderobe auszubessern.“
Sophie sprang vor Begeisterung auf und ab.
„Was gibt es an meiner Garderobe auszusetzten?“
Mit hochgezogener Augenbraue sagte er:
„Das fragst du noch? Auf dem Kreuzfahrtschiff werden sich die Leute fragen, wie jemand seinen Sohn so herumlaufen lassen kann.“
„Moment mal, machst du dich gerade lustig über mich?“
„Nein, ich sage nur, dass wir dir ein paar neue Klamotten kaufen werden.“
Zielstrebig ging er auf die Rolltreppe zu, die in den ersten Stock führte. Auf diesem Stock gab es massenweise Kleiderläden. Simon schleifte mich in den erstbesten Laden und dann ging es los. Sophie und Simon brachten immer neue T-Shirts, Hosen und Jacken. Ich kam mir vor wie eine Spielzeugpuppe, die man immer wieder neu anziehen konnte.
„Dir macht das auch noch Spass, habe ich Recht Soph?“
Sie grinste nur breit, doch das reichte mir als Antwort.
„Wie viele Klamotten muss ich den noch anprobieren?“, fragte ich nach einer Stunde.
„So viele, biss Sophie und ich ein paar ausgesucht haben.“
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich geschlagen zu geben und darauf zu warten, dass sie etwas aussuchten. Nach einer weiteren Stunde, hatten sie sich endlich geeinigt. In die Einkaufstaschen wanderten vier neue T-Shirts, ein Sweatshirt, eine schwarze Jeans, eine Cargo Hose, zwei Poloshirts, drei kurzärmlige Hemden, ein paar kurze Hosen und eine Collegejacke. Kaum hatten wir den Laden verlassen, zerrte Sophie Simon zum nächsten.
„Dad, jetzt musst du mir auch ein paar Kleider kaufen.“
„Klar Soph, ich habe dich nicht vergessen“
„Das ist nicht dein Ernst, nicht noch eine Stunde“, stöhnte ich. Er befreite sich aus Sophies Griff und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
„Hier, lass dir die Haare schneiden und geh was trinken“, sagte er und drückte mir fünfzig Dollar in die Hand. „Wir treffen uns in zwei Stunden am Eingang.“
Dann wurde er regelrecht von Sophie davon geschleift. Ich steckte das Geld in die Tasche und machte mich auf die Suche nach einem Friseursalon. Nach der Liste mit den Geschäften, gab es sogar zwei. Ich wählte einfach einen aus und begab mich in den dritten Stock. Wenn ich alleine unterwegs war, schaute ich mich immer genauestens um. Bei jeder Person die an mir vorbei ging, prüfte ich, ob sie eine Gefahr darstellen könnte. Vielleicht war das übertrieben, aber ich traute niemandem. Sophie zeigte ihre Angst ganz offen, ich verbarg sie. Allmählich entspannte ich mich etwas, keiner konnte das „Tattoo“ sehen. Als ich an einer Gruppe Mädchen vorbei ging, schnappte ich zwischen dem Gekicher die Worte:
„So grüne Augen“, auf.
Vielen Leuten fielen meine ungewöhnlich grünen Augen auf. Es hatte sogar schon einmal ein altes Ehepaar ein Foto von mir machen wollen. Simon hatte sie jedoch abgewimmelt und ihnen gesagt, dass ich keine Zirkusattraktion sei. In dem Salon, den ich gewählt hatte, herrschte reger Betrieb. Die drei angestellten hatten alle Hände voll zu tun und der Warteraum war auch schon gut gefüllt. Ich setzte mich auf einen der letzten freien Stühle und schnappte mir eine Zeitung. Die Schlagzeile der Zeitung lautete: „Piraten ausser Kontrolle, schläft die Marine?“ Ein Foto, von einem Passagierschiff, das gerade von Piraten überfallen wurde, prangte darunter. Im Artikel, wurden verschiedene Fälle von den Überfällen der Piraten aufgezeigt und der Marine warf man vor, zu wenig dagegen zu unternehmen. Ein paar Augenzeugen schilderten die brutale Vorgehensweise der Piraten. Glücklicherweise hatte es noch keine Tote gegeben, die Opfer waren mit blauen Flecken und einem gewaltigen Schock davongekommen. Auch ein Interview mit dem Admiral, in dem er versicherte, dass bereits Vorkehrungen getroffen worden seien, war gedruckt worden. Das Problem mit dem Piraten war nichts neues, sie plünderten alles, was nicht Niet und Nagelfest war. Nur seit dem letzten Jahr hatten die Überfälle stark zugenommen. Ich selbst hatte noch nie Bekanntschaft mit Piraten gemacht und darüber war ich froh. Auf der nächsten Seite war ein Artikel über den berühmtesten Meeresarchäologen der WOS, Professor Markus Rickett. Er gehörte zu den Wissenschaftlern, die die bisher grösste Stadt des alten Volkes entdeckt hatten. Von seiner neusten Expedition, die am 11.06.13 starten soll, erhofft er sich einen noch grösseren Fund. Die Arion III, eines der neusten Forschungsschiffe der WOS, ist dazu bestens ausgerüstet. Mir klappte die Kinnlade herunter, Markus Rickett würde auch an Bord der Arion III sein. Davon hatte Simon nicht ein Sterbenswörtchen gesagt. Diese Information war zwar nicht unbedingt notwendig für unseren Auftrag, aber zumindest erwähnen hätte er es können. Ich las noch ein wenig in dem Artikel, bevor ich dann aufgerufen wurde. Weniger als zwanzig Minuten dauerte der Haarschnitt. Zu kurz liess ich mir die Haare nicht schneiden. Sie gingen immer noch über die Ohren und fielen mir in die Stirn. Ich zahlte und verliess zufrieden den Salon.

 

Laut der Uhr, die an einer Wand hing, hatte ich immer noch eine Stunde tot zu schlagen. Also tat ich das, was Simon gesagt hatte, ich ging etwas trinken. Nicht in einem Kaffee oder so, ich kaufte einfach eine Flasche Wasser und setzte mich am Eingang auf eine Bank. Dort beobachtete ich die Leute die an mir vorbeigingen. Da entdeckte ich auch eines der Mädchen wieder, die ich vor dem Salon gesehen hatte, täuschte ich mich oder kam sie wirklich auf mich zu. Ich täuschte mich nicht, sie ging wirklich direkt auf mich zu.
„Hey, dass hört sich jetzt vielleicht ziemlich bescheuert an, aber dürfte ich ein Foto von dir machen? Ich…wegen deinen Augen meine ich. Meine Mum glaubt mir das sonst nie, wenn ich keinen Beweis habe.“
Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanke, sie genau wie das alte Ehepaar, einfach abblitzten zu lassen, doch dann überlegte ich es mir doch noch anders.
„Kein Problem, wenn du einen Beweis brauchst“, sagte ich und lächelte.
„Wirklich?“
„Klar, mach ruhig.“
Sie zog ein Handy aus der Tasche und machte schnell ein Foto.
„Danke, darf ich dir noch eine Frage stellen?“
Ich nickte, warum nicht?
„Trägst du Kontaktlinsen oder ist die Farbe wirklich echt?“
„Keine Kontaktlinsen, die Farbe ist echt, wenn du mir nicht glaubst, kannst du gerne nachsehen.“
Zuerst wirkte sie von der Antwort etwas überrascht, doch dann sah sie tatsächlich nach. Dazu beugte sie sich zu mir runter und schaute mir schräg in die Augen.
„Da sind wirklich keine Kontaktlinsen.“
„Sagte ich doch. Ist das Foto wirklich für deine Mum, oder hast du mit dem Mädchen da drüben gewettet?“, fragte ich und zeigte auf die beiden anderen Mädchen, die die ganze Zeit zu uns herüber starrten. Als sie merkten, dass ich auf sie zeigte, schauten sie schnell weg.
„Vielleicht… haben wir gewettet“, stotterte das Mädchen, während sie rot anlief.
„Wusste ich es doch. Weisst du was, wenn du mir deinen Namen verrätst, kannst du noch ein Foto mit mir zusammen machen. Dann hast du die Wette auf jeden Fall gewonnen.“
Ich stand auf und stellte mich dicht vor sie.
„Was hältst du davon, dein Name, gegen ein Foto?“
„Okay, ich heisse Sarah.“
„Nett dich kennen zu lernen Sarah“, sagte ich und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Sie machte das Foto und ging dann zu ihren Freundinnen zurück.
„Hast du sie nach ihrer Nummer gefragt?“, fragte plötzlich jemand hinter mir.
„Simon, ich hab dich gar nicht gehört.“
„Kein Wunder bei dem Anblick“, sagte er lächelnd und deutete mit dem Kopf auf das Mädchen.
„Hast du sie nun nach ihrer Nummer gefragt oder nicht?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein habe ich nicht, warum auch, ich sehe sie wahrscheinlich nie wieder.“
„Das weiss man nie, du hättest es wenigstens versuchen können. Was soll‘s, lasst uns was Essen gehen.“
Mit Taschen vollbeladen, setzten wir uns in ein Restaurant und bestellten etwas zu Essen.
„Was habt ihr denn alles noch eingekauft?“
„Eine Sonnenbrille“, sagte er und tippte gegen die Brille, die auf seiner Nase sass. „Und ein paar neue Kleider und Stifte für Sophie.“
An die Sonnenbrille hatte ich gar nicht mehr gedacht.
„Haben wir jetzt alles, oder brauchen wir noch irgendetwas?“
„Etwas ist noch auf meiner Liste, das Gegengift für die Quallen. Bevor wir das jedoch besorgen, bringen wir die Restlichen Sachen auf das Boot und jetzt last es euch schmecken.“

 

Wir hatten die Einkäufe und Sophie auf dem Boot zurückgelassen und sassen nun in einem Bus, der uns auf die andere Seite der Insel brachte. Sophie hatte sich leicht überzeugen lassen, dass sie besser auf dem Boot blieb und an ihrer Karte arbeitete. Simon hatte ihr einfach gesagt, dass es dort wo wir hingingen, noch viel mehr Leute hatte, als auf dem Marktplatz. Was natürlich eine glatte Lüge war, je näher wir der anderen Seite kamen, desto weniger Leute sahen wir. Auch waren immer weniger Geschäfte zu sehen. Die Hotels und Häuser wurden immer schäbiger.
„Wohin fahren wir? Ich dachte auf dieser Insel gibt es keine Solchen Gegenden.“
„Merk dir eins Anthony, auf jeder Insel gibt es Gegenden wie diese. Es wird immer Menschen geben, denen es weniger gut geht, auch wenn das hier eine Luxusinsel ist.“
Die Gegend war mir nicht wirklich geheuer und die Gestalten die hier herumliefen schon gar nicht. Sie sahen so aus, als würden sie sich nächstens auf uns stürzen und ausrauben. In so einem Viertel würde ich heute wahrscheinlich leben, hätte mich Simon nicht Adoptiert. Simon war in einer solchen Umgebung aufgewachsen und wusste wie man sich verhalten musste. Hier schien er sich auch bestens auszukennen, ohne zu zögern Bog er in eine Gasse ein. Vor einem besonders baufälligen Haus blieb er stehen.
„Hier wohnt ein alter Freund von mir. Er kann dir einfach alles besorgen, was du dir nur vorstellen kannst.“
„Legal?“
„Würde er in so einer Gegend wohnen, wenn er legale Geschäfte machen würde?“
Simon klopfte an die Tür und trat dann, ohne eine Antwort abzuwarten ein. Zögernd folgte ich ihm in den dunklen Flur und zog die Tür hinter mir zu. Wir betraten ein kleines Zimmer, das wohl schon seit Jahren nicht mehr gelüftet worden war. Am Boden lag eine Matratze und an einer Wand stand ein Tresor, sonst stand nur noch ein Tisch mit vier Stühlen im Raum. An den Wänden hingen keine Bilder und die grüne Tapete hing schon halb herunter, von Simons Freund war keine Spur. Plötzlich packte mich jemand von hinten. Die Person die mich angriff, war aber nicht besonders stark und so konnte ich mich aus dem Griff befreien. Ich packte den Arm meines Angreifers und drückte ihn mit dem Gesicht voran zu Boden. Dann fixierte ich seinen Arm so mit meinem Knie, dass er sich nicht mehr bewegen konnte, ohne sich den Arm zu brechen. Simon drehte sich zu mir um und brach in Gelächter aus.
„Verdammt noch mal…hohl den Typen von mir runter Simon!“
„Schon gut Anth, du kannst ihn loslassen, er ist der Freund von dem ich dir erzählt habe.“
Ich liess ihn los und trat ein paar Schritte zurück.
„Ich dachte du kommst allein“, zischte er, während er sich aufrappelte und sich den Staub von den Klamotten klopfte.
„Wer zum Teufel ist das?“, fragte er und zeigte anklagend auf mich.
„Das ist mein Sohn Anthony. Anthony, das ist mein alter Freund Reilly Keane.“
Ich musterte Reilly, den ich eben noch am Boden festgehalten hatte. Er war ein grosser, drahtiger Mann mit Ziegenbärtchen. Wahrscheinlich war er etwa so alt wie Simon, hatte aber eine hässliche Narbe auf der rechten Wange.
„Seit wann hast du einen Sohn Simon?“
„Schon eine ganze Weile“, antwortete er.
„Ist ja auch egal, ist ein kräftiger Bursche. Hättest mich ruhig warnen können, dass du noch jemanden mitbringst.“
Simon klopfte Reilly auf die Schulter.
„Wäre doch lange nicht so lustig geworden“, neckte er ihn. „Hast du alles aufgetrieben, was ich bestellt habe?“
„Wenn du die Kohle dabei hast.“
„Klar habe ich die dabei, dann lass uns gleich zur Sache kommen.“
Reilly ging zu dem Safe und holte ein paar Gegenstände heraus. Er legte die Dinge auf den Tisch und mein Blick fiel sofort auf die Pistole. Simon legte zwei Geldbündel daneben und nahm dann die Pistole in die Hand.
„Was hast du mit der letzten Waffe angestellt, die ich dir besorgt habe?“
„Ach, die liegt irgendwo am Grund des Meeres“, antwortete er leichthin.
„Munition hast du auch besorgt, ich hoffe ja immer noch dass ich die gar nicht gebrauchen muss. Gib mir mal den Rucksack Anth!“ Ich reichte ihn ihm und er liess Waffe und Munition darin verschwinden.
„Wie ich sehe, hast du auch die Uhr und das Tauchermesser besorgt.“ Die Uhr, sah aus wie ein breites Armband mit einem LED Display.
„Das ist die beste Taucheruhr die du momentan bekommen kannst. Nicht nur Uhrzeit und Tauchtiefe werden angezeigt, du kannst damit auch deinen genauen Standort festlegen.“
„Dementsprechend teuer das Teil. Wenn es aber hält was es verspricht, dann ist es genau das richtige für dich Anthony.“
Ich betrachtete die Uhr auf dem Tisch, sie sah fast genau so aus, wie die, die Simon am Handgelenk trug.
„Die ist für mich?“
„Ja, es wurde langsam Zeit, dass du auch eine bekommst. Das hier gehört übrigens auch dir“, sagte er und reichte mir das Tauchermesser.
Es steckte in einer schwarzen Scheide und war etwa vierundzwanzig Zentimeter lang. Ich zog es heraus, strich über die Gezackten Sägezähne am Rücken des Messers und betrachtete den Hammerkopf am Ende des Griffes. Mit Befestigungsriemen, konnte man es, sowohl am Arm, als auch am Bein Tragen. Ohne Frage, ein ausgezeichnetes Messer.
„Du willst dem Jungen wirklich ein Messer geben, wenn er das eben schon gehabt hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.“
„Nein, wärst du nicht, Anthony verabscheut Gewalt.“
Reilly sah nicht so aus, als, würde er das Simon glauben.
„Jetzt fehlt nur noch eines, wo ist das Gegengift Reilly?“
Er fuhr sich durch den Bart und tat so, als würde er angestrengt nachdenken.
„Ich kann mich gar nicht erinnern, dass das in dem Preis inbegriffen ist“, sagte er mit einem Verschlagenen Lächeln.
„Dann will ich deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen.“
Zuerst dachte ich, Simon würde ihm einfach etwas mehr Geld Zahlen, doch da hatte ich mich geirrt. So schnell, dass ich mich nicht einmal hätte bewegen können, trat Simon hinter Reilly. Mit einer Hand, drehte er ihm einen Arm auf den Rücken, mit der anderen, schlug er ihm den Kopf auf den Tisch. Man konnte das knacken hören, als Reillys Nase brach. Der stiess einen wütenden Schrei aus und versuchte sich vergeblich gegen Simon zu wehren.
„Du weisst ganz genau, dass ich solche Spielchen nicht ausstehen kann Keane!“, fuhr er ihn an.
Ich war froh, dass wir Sophie nicht mittgenommen hatten, sie hatte Simon noch nie so gesehen.
„Sag mir jetzt, wo du das Gegengift hast! Oder muss ich dir zuerst auch noch den Arm brechen?“
Reilly knurrte wütend, gab jedoch seinen wiederstand auf. Er ging noch einmal zu dem Tresor und holte das Gegengift. Dabei presste er einen Ärmel seiner Jacke, gegen seine Blutende Nase.
„Hier, wenn du es jemandem verabreichen willst, musst du nur die Kappe abnehmen und ihm die Nadel in den Körper Jagen.“
Simon nahm es ihm ab und sagte dann:
„Geht doch, warum musst du denn jedes Mal so einen Aufstand machen?“
„Weil ich jedes Mal hoffe, dass du doch noch vernünftig geworden bist“, antwortete er lächelnd. „Aber mal im Ernst Mann, musstest du mir gleich die Nase brechen?“
„Daran bist du selbst schuld, merk dir endlich, dass bei mir deine miesen Tricks nicht funktionieren!“
Beschwichtigend hob Reilly die Arme.
„Schon gut, ich habe es kapiert, ehrlich.“
„Das werden wir das nächste Mal sehen. Anthony, wir gehen!“
Simon nahm alle Sachen und bedeutete mir, vorauszugehen. Erleichtert atmete ich die frische Luft ein, dort drinnen hatte man kaum atmen können.
„Sind alle deine Freunde so, oder war das eben eine Ausnahme?“
„Reilly ist noch einer von der Angenehmen Sorte.“
Dann wollte ich seine anderen Freunde lieber nicht kennenlernen.
„Übrigens, dass was du da mit ihm gemacht hast, war gar nicht übel. Du scheinst dir ja doch ein paar Sachen gemerkt zu haben, die ich dir beigebracht habe.“
„Was soll das den heissen, ich merke mir immer alles, was du mir beibringst.“
Simon lachte nur und ging los. Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn und befestigte die Uhr an meinem Handgelenk. Es fühlte sich zwar ungewohnt an, aber daran würde ich mich schon gewöhnen.
„Leg mal einen Zahn zu Anth, wir wollen doch Sophie nicht warten lassen“, rief er mir zu.
Ich musste rennen, um wieder zu ihm aufzuschliessen.
„Was morgen angeht, ist dir da alles klar?“
„Ja, ich kriege das schon hin. Wahrscheinlich werde ich überhaupt nichts zu tun bekommen.“
„Kann schon sein, aber du darfst trotzdem nicht unachtsam werden.“
„Ich passe schon auf.“
„Gut und jetzt komm, gehen wir zum Schiff. Die Aktion eben hat mich hungrig gemacht.“

 

Kapitel 4

Dienstag, 29.05.13, 18:00 Lucy

 

Nicht einmal auf der Yacht meines Vaters wurde ich sie los. Selbst hier bewachten mich zwei riesige Gorillas in schwarzen Anzügen. Keine Ahnung, wo er die immer Auftrieb, auf jeden Fall sahen die beiden fast identisch aus. Kurz geschorene, schwarze Haare, Sonnenbrille und griesgrämiger Gesichtsausdruck. Mein ganzes Leben lang verfolgten mich solche Männer auf Schritt und Tritt. Es war ein Wunder, dass ich wenigstens alleine auf die Toilette gehen konnte. Wirklich alleine war ich jedoch nie. Umso mehr freute ich mich auf die Kreuzfahrt und die Expedition mit der Arion III. Dort würde mich nur Lambert begleiten und ich wurde nicht ständig von diesen Kerlen beobachtet. Natürlich wusste ich, dass es mein Vater nur gut meinte, aber man konnte es auch übertreiben. Seit Mums Tod, hatte er die Sicherheitsmassnahmen noch einmal verdoppelt. Alle diese verdammten Bodyguards, hatten ihren Tod nicht verhindern können. Ich schloss das silberne Medaillon in meine Faust, dass mir meine Mutter zu meinem sechsten Geburtstag geschenkt hatte. Im Innern bewahrte ich ein Bild von ihr auf, das kurz vor ihrem Tod aufgenommen worden war. Dad sagte immer, ich sei ihr Ebenbild. Was die Gesichtszüge anging, glichen wir uns wirklich wie ein Ei dem andern. Nur hatte meine Mutter zwei warme, braune Augen und nicht noch ein blaues, so wie ich. Auch ihre Haare, waren etwas anders. Ihre waren gerade und heller als meine.
„Machen sie nicht so ein trauriges Gesicht, wenn sie an ihre Mutter denken, dass hätte sie nicht gewollt.“ Andrew wusste wirklich immer, an was ich gerade dachte. „Sie sollten lieber den Ausflug geniessen und sich entspannen.“
„Sei nicht immer so förmlich Andrew, du weisst genau, dass ich das nicht ausstehen kann. Ausserdem, wie soll man sich entspannen, wenn man die ganze Zeit von diesen Gorillas angestarrt wird?“
Er schüttelte den Kopf und sah mich tadelnd an.
„Wo bleiben ihre Manieren Lucy, ihr Vater…“
„Mir ist vollkommen gleichgültig, was mein Vater denkt“, schnitt ich ihm das Wort ab. Mir war schon klar, dass ich mich hier gerade wie eine Zicke aufführte und auch, dass Andrew für all das nichts konnte. „Tut mir leid.“
Ich legte mich vorne am Bug in die Sonne und schloss die Augen. Dad war ja nicht einmal hier. Er sass im Hotel und Arbeitete. Im Moment hatte er besonders viel zu tun, die Piraten machten ihm das Leben schwer. Dieser Urlaub hier, war einfach lächerlich. Wir sahen uns nur einmal am Tag und zwar zum Abendessen. Im Grunde genommen waren alle Urlaube so verlaufen, zumindest erinnerte ich mich an keinen, an dem er sich einmal Zeit für mich genommen hätte. Noch vier Tage und ich würde auf dem Kreuzfahrtschiff sein. Das einzige, auf das ich mich in diesen Tagen noch freute, war der Tauchgang Morgen. Bis dahin, musste ich wohl oder übel, die Zeit irgendwie totschlagen. Vielleicht sollte ich einfach tun was Andrew sagte und mich entspannen. Lange hielt ich es jedoch nicht aus, einfach herum zu liegen und nichts zu tun. Ich gehörte einfach nicht zu den Menschen, die Stundenlang tatenlos in der Gegend herum lagen. In zwei Stunden, würde ohnehin das Abendessen stattfinden, also würden wir bald zurück in den Hafen fahren. „Wisst ihr was, ich schwimme zurück!“, rief ich den beiden Gorillas und Lambert zu.
„Auf keinen Fall, dass können sie nicht…“
Mehr hörte ich nicht. Kopfvoran war ich ins Wasser gesprungen. Eine Weile liess ich mich Unterwasser einfach treiben, ich zögerte das Auftauchen extra lange hinaus, um ihnen Angst zu machen. Mittlerweile gelang es mir, drei Minuten unten zu bleiben und dass mit einem Atemzug. Bis ich das jedoch geschafft hatte, hatte ich lange trainieren müssen. Ich tauchte einige Meter von der Yacht entfernt auf und winkte ihnen zu.
„Kommen sie wieder zurück, wir haben ihrem Vater versprochen, dass wir sie heil wieder zurückbringen!“, rief mir einer der Gorillas hinterher.
Ich dachte aber gar nicht erst daran umzudrehen. Die Yacht lag nicht einmal einen Kilometer vor der Insel Corray und ich war eine gute Schwimmerin. Mit kräftigen Schwimmzügen, schwamm ich Richtung Küste. Es ging nicht lange und die Yacht fuhr an mir vorbei. Wenn ich im Hafen ankam, würde ich eine Menge Ärger bekommen. Das würde aber nichts im Vergleich zu dem sein, dass ich von meinem Vater zu hören bekommen würde, wenn er das herausfinden sollte. Auf Lambert konnte ich mich ja verlassen, aber den Gorillas vertraute ich nicht. Als ich an der Leiter aus dem Wasser stieg, standen sie bereits da.
„Was haben sie sich dabei gedacht, sie hätten ertrinken können.“
„Oder eine dieser Quallen hätte sie erwischen können“, fügte der andere hinzu.
„Beruhigen sie sich, ich bin wohlbehalten hier und sie werden bezahlt. Ich sehe hier kein Problem. Lassen sie uns gehen, sonst kommen wir noch zu spät zum Essen.“ Ich ging an ihnen vorbei und nahm das Handtuch, dass mir Lambert hinhielt. Wieder bedachte er mich mit diesem tadelnden Blick.

 

Zurück im Hotel, stellte ich mich erst einmal unter die Dusche. Danach trocknete ich meine Haare, steckte sie hoch und schlüpfte in ein blaues Sommerkleid. Mein Vater legte Wert darauf, dass man stets passend gekleidet war. Aus der Dose, die auf dem Rand des Waschbeckens lag, nahm ich eine der zwei Kontaktlinsen. Heute entschied ich mich für die blauen. Mein Vater fand meine verschiedenen Augenfarben verwirrend und so hatte er mir farbige Kontaktlinsen geschenkt. Er wäre beleidigt, wenn ich sie in seiner Gegenwart nicht tragen würde, also tat ich es. Wir assen im Restaurant des fünf Sterne Hotels, in dem wir wohnten. Jeden Abend ein zwei Stunden langes Essen, bei dem wir die meiste Zeit schwiegen. Um ehrlich zu sein, wir hatten nicht viel gemeinsam. Er interessierte sich nicht wirklich für die Forschung der Meere und auch nicht für das alte Volk. Tauchen konnte er zwar, er betrachtete es jedoch nicht als Vergnügen. Allgemein hielt er sich nicht mehr gern im Wasser auf, seit… Bei mir hatte sich das auf enge Räume beschränkt. Über Musik konnten wir auch nicht reden. Ich mochte Pop und Rocksongs und er liebte Jazz und Klassische Musik. Bei den Meisten anderen Themen war es genauso. Ich trat auf den Balkon hinaus und betrachtete das Meer. Wie konnte man davon nur nicht fasziniert sein. In den Tiefen, dieser Schönheit, gab es so viel, dass wir noch nicht wussten. So vieles, das nur darauf wartete entdeckt zu werden. In solchen Momente, beneidete ich die Wasseratmer wirklich. Es gab sogar solche, denen der Druck überhaupt nichts anhaben konnte. Sie konnten so viel Zeit dort verbringen, wie sie nur wollten. Für mich gab es nur noch die Möglichkeit zu tauchen. Somit würde ich nie wirklichen in die Tiefen des Meeres vorstossen können. Ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden, ein U-Boot zu betreten, schon allein der Gedanke daran war schrecklich. So sehr ich es auch wollte, ich schaffte es einfach nicht. Gedanken versunken, stellte ich mir vor, wie ich ohne jedes Technische Hilfsmittel, immer tiefer abtauchte. Die unglaublichsten Arten entdeckte und Ruinen des alten Volkes fand. Ich vergass einfach alles um mich herum und Andrew musste mich erst an den Schultern schütteln, damit ich ihn wahrnahm.
„Tut mir Leid Lucy, ich habe fünfmal angeklopft, doch sie haben nicht reagiert. Da habe ich mir erlaubt herein zu kommen.“
„Schon gut Andrew, ich war nur gerade ganz woanders.“
Er lächelte.
„Sie waren wieder unten, habe ich recht?“ Ich nickte. „Ich reisse sie nur ungern aus ihren Träumen, aber ihr Vater vermisst sie bereits.“
„Verdammt, dass Essen! Wie spät ist es Andrew?“
„Acht Uhr zwanzig.“
Normalerweise erwartete er mich um acht. Mein Vater kam nie zu spät und ich meinte wirklich nie. Er konnte es auch nicht ausstehen, wenn man ihn warten liess.
„Wie ist seine Laune heute?“
„Nach zwei Sitzungen mit Presseleuten, ist es um seine Laune nicht gerade gut bestellt. Ausserdem hat einer der Sicherheitsleute heute Morgen geplaudert.“
„Dann sollte ich mich wohl besser beeilen“, stellte ich trocken fest.

 

„Wo hast du nur schon wieder so lange gesteckt?“ Bevor ich jedoch antworten konnte, fuhr er fort. „Da du nicht rechtzeitig erschienen bist, habe ich mir erlaubt, bereits etwas zu bestellen. Als Vorspeise Lachsfilet mit gemischtem Salat, zum Hauptgang Schweinefilet mit Kartoffelgratin und Gemüse und als Dessert Schokoladen Soufflee auf Mango Spiegel.“
Bis auf das Dessert, war seine Auswahl gar nicht schlecht. Mango konnte ich nicht ausstehen. Andrew hatte Recht, er hatte wirklich keine gute Laune. Zwischen den Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte in die Stirn gegraben und seine grauen Augen sahen aus, als würde ein Sturm am Himmel toben. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser Sturm über mich hereinbrechen würde. Schweigend schob ich mir eine Gabel Salat in den Mund und wünschte mir, dass ich ganz woanders wäre. Am liebsten würde ich wieder auf den Balkon meines Hotelzimmers und das Meer betrachten. Nur würde ich dahin nicht so schnell kommen.
„Erklärst du mir mal, warum du dich nicht einfach mal an die Regeln halten kannst? Ich meine, ist es denn so schwer in der Nähe deiner Bodyguards zu bleiben?“
Nach einer weiteren Gabel Salat, antwortete ich.
„Ich bin nur etwas Schwimmen gegangen, nichts weiter.“
„Nichts weiter?! Du hättest dich verletzten, oder noch schlimmer, ertrinken können!“, sagte er mit wütender Stimme. Dabei sprach er aber nur so laut, dass es den anderen Gästen nicht auffiel. „Auch gestern, als wir auf dem Markt waren, bist du einfach verschwunden und erst zwei Stunden später wieder aufgetaucht. Weisst du wie viele Sorgen ich mir um dich gemacht habe?“
„Ich wollte nur mal kurz alleine sein und ich bin ja auch wieder zurückgekommen. Ausserdem hast du mir deshalb schon gestern einen Vortrag gehalten.“ Genervt ass ich noch den letzten Bissen der Vorspeise.
„Anscheinend hat der nichts gebracht.“ Er hielt einen Moment inne, um der Kellnerin zu versichern, dass die Vorspeise vorzüglich geschmeckt hätte und ihr zuzulächeln. Mit ernster Miene wandte er sich dann wieder an mich. „Die Bodyguards sind nicht umsonst da, sie sollen dich beschützen. Wenn du aber nicht bei ihnen bleibst, können sie das nicht.“
Nicht schon wieder derselbe Vortrag. Auf so etwas hatte ich nun überhaupt keine Lust. Er schwafelte noch geschlagene zwanzig Minuten darüber, wie wichtig es doch sei immer bei den Gorillas zu bleiben.
„In der Sitzung heute habe ich erfahren, dass sich auf der Insel eine Gruppe von Leuten aufhalten, die es auf dich abgesehen haben. Deshalb dachte ich mir, es wäre das Beste, wenn du die Tage, die du noch auf der Insel verbringen wirst, im Hotel bleibst.“
Es dauerte einen Moment, bis ich kapierte, was das hiess.
„Du willst, dass ich den Tauchgang Morgen absage?“ Das konnte er doch nicht machen! Jetzt wollte er mir auch noch den einzigen Lichtblick rauben, als ob diese Gorillas noch nicht reichen würden. „Es haben es immer irgendwelche Typen auf mich abgesehen, das ist noch lange kein Grund, mir alles zu verbieten!“
„Wenn du dich an die Regeln halten würdest, dann hätte ich es dir erlauben können. So wie du dich aber in letzter Zeit verhalten hast, überlege ich sogar, dir die Expedition zu streichen“, sagte er leichthin.
Wütend ballte ich die Fäuste unter dem Tisch.
„Aber…“
„Weisst du eigentlich wie viele Male du dich allein letzte Woche, ohne Sinn und Verstand in Gefahr begeben hast? Du scheinst nur darauf zu warten, von irgendetwas erledigt zu werden. Beim grössten Sturm Surfen zu gehen, oder so lange unter Wasser zu bleiben, bis man das Bewusstsein verliert, ist nicht gerade klug.“
Länger hörte ich mir das nicht mehr an. Ruckartig sprang ich auf, so dass der Stuhl hinten überkippte.
„Vielleicht bin ich einfach nur dumm und vielleicht will ich mich ja umbringen!“, brüllte ich ihn an.
Schon allein der Stuhl hatte für Aufmerksamkeit gesorgt, aber das Gebrüll zog nun auch noch die Blicke aller anderen Gäste an.
„Lucynda, setzt dich wieder hin und wir reden wie zwei Erwachsene über die Sache!“, befahl er mit ruhiger Stimme.
„Ich bin nicht erwachsen, Dad! Und ganz sicher werde ich mich nicht mehr hinsetzten und mit dir reden! Du bist vielleicht ein guter Admiral, aber der schlechteste Vater, den ich je gesehen habe!“ Schon allein diese Worte trafen ihn hart, doch das was ich noch hinzufügte, tat ihm wirklich weh. „Mum würde sich schämen, wenn sie sehen könnte, dass dir deine Arbeit wichtiger ist, als deine eigene Tochter!“ Getroffen verzog er das Gesicht. Mittlerweile hatten sämtliche Gäste aufgehört zu Essen und starrten zu uns herüber. „Aber das weiss sie längst, sie ist ja deinetwegen gestorben!“, schleuderte ich ihm ins Gesicht. Das wollte ich schon seit ihrem Tod loswerden und nun da ich es getan hatte, fühlte es sich nicht im Entferntesten so gut an, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ehrlich gesagt, sorgte es dafür, dass ich mich noch mieser fühlte. Was sollte das hier überhaupt? Wir taten jeden Abend so, als wäre alles in Ordnung. Jeden verdammten Abend mussten wir zur Show stellen, wie gut wir uns doch verstanden. Doch nun hielt ich das einfach nicht länger aus. Ich konnte nicht so tun, als hätte es Mum nie gegeben. Dad hatte das all die Jahre verdrängt, in dem er sich in seine Arbeit gestürzt hatte. „Weisst du was, ich habe diese Essen mit dir satt!“
Nun erhob er sich ebenfalls und kam langsam auf mich zu, als wäre ich ein scheues Tier, das er nicht erschrecken wollte. Mit erhobenen Händen, trat er einen Schritt nach dem anderen näher an mich heran.
„Luc, ich weiss, dass ich nicht immer für dich da gewesen bin. Keine Entschuldigung der Welt könnte das wieder gut machen.“
Luc, so hatte mich Mum immer genannt. Einen Moment lang dachte ich daran, mich weinend in seine Arme zu werfen. Dann wurde mir jedoch klar, dass er die ganze Sache einfach wieder im rechten Licht darstellen wollte. Was gäbe es herzzerreissenderes, als die Versöhnung zwischen Vater und Tochter. Nicht mit mir, dachte ich und wich vor ihm zurück.
„Nenn mich nie wieder so, die einzige, die mich so nennen durfte, war Mum!“
Ich stürmte an ihm vorbei aus dem Restaurant. Mir war vollkommen Egal, was die Leute dachten, jetzt wollte ich nur eines, ins Meer. Mir war nicht klar warum, aber das Meer schien mich förmlich zu rufen.

 

In kürzester Zeit erreichte ich den Strand und warf mich samt Kleidung und Kontaktlinse in die Fluten. Ohne darüber nachzudenken, schwamm ich immer weiter hinaus. Nach einer Weile liess ich mich einfach auf dem Rücken treiben. Was wäre, wenn ich mich jetzt einfach immer weiter treiben liesse? Wohin würden mich die Wellen tragen? Ich atmete ein und tauchte ab. Mit geschlossenen Augen genoss ich Schwerelosigkeit und stille unter Wasser. Ein Tiefer Atemzug und meine Lungen würden sich mit Wasser füllen. Ich konnte kein Wasser atmen und würde unweigerlich ersticken. Mir fiel es immer schwerer klar zu denken, der Sauerstoffmangel machte mir zu schaffen. Noch wollte ich aber nicht auftauchen. Warum nur war es mir vergönnt unter Wasser atmen zu können? Als gewöhnlicher Mensch war ich nun einmal auf Luft angewiesen. Diese Tatsache machte mich wütend. Überall auf der Welt verstreut gab es Menschen die sich nicht im Geringsten für die Erforschung der Meere interessierten und die Gabe Wasser zu atmen besassen. Tränen liefen aus meinen Augen und vermischten sie mit dem Wasser. Meine Sicht begann zu verschwimmen, mein Herz hämmerte in der Brust. Ich muss auftauche, ich muss…

 

Dienstag, 29.05.13, 21:15 Anthony

 

Das Essen hatte wieder einmal köstlich geschmeckt. Ich war davon überzeugt, dass er auch mit einem Restaurant eine Menge hätte verdienen können. Es gab zwar schon ein paar ausgezeichnete Restaurantschiffe, aber Simons Essen, hätte da locker mithalten können. Sophie hätte ich mir ja noch als Köchin vorstellen können, aber mich, niemals. Kochen war absolut nicht meine Stärke. Schon wenn ich nur versuchte einen Fisch zu Grillen, misslang mir das meistens. Entweder war der Fisch noch halb roh oder schon vollkommen verbrannt. Da überliess ich doch lieber Simon und Sophie das Kochen und beschränkte mich aufs Fische fangen. Ich warf einen prüfenden Blick auf meine neue Taucheruhr. Fünfzig Meter, sie funktionierte perfekt. Laut Simon konnte ich mit ihr auch Problemlos bis auf 2000 Meter runter gehen. Das reichte bei weitem aus, ich wusste gar nicht ob ich jemals so tief getaucht war. Von Patamon liess ich mich wieder zurück an die Wasseroberfläche ziehen. Auch das Tauchermesser sass perfekt und behinderte mich kein bisschen beim Schwimmen. Zwar war die Herkunft der Sachen fraglich, aber an Qualität mangelte es nicht. Simons „Freund“, war wirklich eine Merkwürdige Gestalt. Keine Ahnung wo sich die beiden kennengelernt hatten. Reilly Keane, wenn das überhaupt sein richtiger Name war. Vertrauen würde ich dem Typen auf keinen Fall. Höchstwahrscheinlich würden wir ihn auch nicht mehr so schnell zu Gesicht kriegen. Fraglich war, ob er jemals wieder Geschäfte mit Simon machen würde. Mir sollte das nur Recht sein, immerhin hatte er mich einfach angegriffen. Ich lächelte bei der der Erinnerung daran, wie ich ihn auf die Matte geschickt hatte. Sachte stiess mich Patamon mit seiner Schnauze an. Mit seinen grossen blauen Augen sah er mich treuherzig an. Ich wusste genau was er wollte, spielen. „Manchmal denke ich wirklich, dass du ein kleines Kätzchen bist.“ Er umkreiste mich ein paar Mal und tauchte dann unter. Ich beschloss, sein Spiel eine Weile mitzuspielen. Kaum war auch ich abgetaucht, düste er auch schon los. Wie du willst kleiner, dachte ich, dann liefern wir uns eben ein Wettrennen. Eigentlich war Patamon schneller als ich, doch er liess mich zu ihm aufschliessen. Kopf an Kopf rasten wir um die gesamte Insel. Mitten in der zweiten Umrundung, hielt ich stutzig an und befahl auch Patamon stehen zu bleiben. Irgendetwas trieb da vorne im Wasser. Nein, nicht irgendetwas, sondern ein Mensch! Sicherheitshalber liess ich Patamon verschwinden und machte ein paar Swimmzüge in die andere Richtung.

 

Irgendetwas stimmte da nicht, der Körper bewegte sich nicht, er wurde einfach von der Strömung herumgewirbelt. Schnell schwamm ich auf den im Wasser treibenden Menschen zu und zog ihn an die Wasseroberfläche. Es war eine junge Frau mit blonden Haaren, in einem blauen Kleid. Erleichtert stellte ich fest dass sie noch lebte. Das würde sich jedoch schnell ändern, wenn ich sie nicht an Land brachte und erste Hilfe leistete. So schnell ich konnte schwamm ich mit ihr im Schlepptau an den Strand. Dort angekommen trug ich sie etwas vom Wasser weg und begann sofort mit einer Herz- Lungenmassage. Nach dreissig schnellen Stössen auf ihre Brust, bog ich ihren Kopf zurück, hielt ihr die Nase zu und blies Luft in ihre Lungen, bis sich ihr Brustkorb merklich dehnte. Das hatte ich letztes Jahr schon ein paar Mal erfolgreich getan, als wir als Rettungsschwimmer gearbeitet hatten. Trotzdem fürchtete ich mich immer wieder aufs Neue davor jemanden zu verlieren. Den Vorgang wiederholte ich ganze vier Mal, bis sie endlich einen Schwall Wasser ausspuckte. Würgend erbrach sie noch mehr Wasser und ich drehte sie auf die Seite, damit sie nicht daran erstickte. Zitternd holte sie tief Luft, was einen Hustenanfall auslöste. Fürs erste war sie ausser Gefahr, doch was machte ich nun? Sie hier einfach liegen zu lassen, kam nicht in Frage. Kurzerhand hob ich sie hoch und trug sie Richtung Hotel. Dort würde man ihr bestimmt weiter helfen können.
„Keine Sorge, alles kommt wieder in Ordnung. Ich bin sicher, dass sie dir helfen können.“
Ihr gesamter Körper bebte, als sie einen erneuten Hustenanfall erlitt und dann sah sie mir zum ersten Mal direkt in die Augen. Vor Schreck hätte ich sie beinahe fallen lassen. Sie hatte eindeutig zwei verschiedenfarbige Augen. Ich hatte die Tochter des Admirals vor dem Ertrinken gerettet! Das musste sie einfach sein, die Beschreibung passte perfekt. Gerade als ich den Strand hinter mir gelassen hatte, kamen zwei Männer auf mich zu gerannt. Einer war klein, schlank und in einem eleganten, grauen Anzug gekleidet. Der andere war gross, durchtrainiert und trug eine Marine Uniform.
„Lucynda, was um Himmelswillen hast du jetzt schon wieder angestellt!“
Der Mann in der Uniform war unverkennbar der Admiral. Die Stahlgrauen Augen, die kurzen schwarzen Haare und der Schnurbart. Der andere musste Andrew Lambert sein. Alles an dem Mann wirkte irgendwie grau, sogar seine Haut hatte einen leichten Grauton. Sein alter konnte ich unmöglich schätzen, er hätte um die fünfzig, aber genauso gut über siebzig sein können. Was mich jedoch mehr als Lambert erstaunte, war der Admiral. Seine Tochter war eben fast ertrunken und er schrie sie nur an.
„Kommen sie junger Mann, sie können sie mir geben“, bot mir Lambert an.
Mein Blick schien wohl ziemliche Ungläubigkeit auszudrücken, den er lächelte und sagte:
„Ich sehe zwar nicht so aus, aber ich werde das schon hinbekommen.“
Etwas verlegen übergab ich sie ihm und er eilte mit ihr davon.
„Vielen Dank, dass sie meiner Tochter das Leben gerettet haben“, sagte er und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Auf einmal wirkte er traurig und erschöpft. „Ich hatte zwar gehört, dass sie wirklich gut sein sollen, aber das sie sogar schon vor Beginn ihres Auftrages auf sie Aufpassen würden, habe ich nicht erwartet.“ Ich hatte nicht erwartet, dass der Admiral mich erkennen würde. Bevor ich ihm sagen konnte, dass ich nur zufällig vorbeigeschwommen war, fuhr er fort. „Meine Wahl scheint wohl richtig gewesen zu sein. Nun weiss ich das ich mich auf sie verlassen kann.“ Er sah sich kurz um und wandte sich dann wieder an mich. „Sie sollten jetzt besser gehen, man sollte uns hier nicht zusammen sehen.“ Ich nickte nur, gab ihm die Hand zum Abschied und sprang dann wieder ins Wasser.

 

„Du wirst nie erraten, was mir gerade passiert ist!“, riss ich Simon aus seinen Gedanken. Etwas verwirrt sah er von seinem Laptop zu mir auf.
„Was denn?“
„Ich habe gerade die Tochter des Admirals vor dem Ertrinken Gerettet.“
„Was hast du da eben gesagt?“
„Ich habe der Tochter des Admirals das Leben gerettet“, wiederholte ich mich.
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“, fragte er.
„Nein, ich meine es ernst.“
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und er sagte dann:
„Dann hatten wir wohl ziemliches Glück, dass du da warst, sonst wäre sie jetzt vermutlich tot und wir müssten uns einen Neuen Auftrag suchen. Ausserdem scheint er uns nun wirklich zu vertrauen.“
„Es bringt aber auch deine Planung durcheinander. Nach dem Vorfall, wird sie wohl kaum morgen am Tauchgang teilnehmen.“
Er nickte.
„Das mag sein, spielt aber keine Rolle, du wirst trotzdem dabei sein.“
„Gut, dann kann ich wenigstens den Tauchgang geniessen und muss nicht auf jemanden aufpassen.“
Ich ging nach hinten, Sophie würde sich sicher brennend für die Geschichte interessieren.

Kapitel 5

Mittwoch, 30.05.13, 11:00 Lucy

 

Ich erinnerte mich nur noch Lückenhaft an das, was gestern Abend geschehen war. Irgendjemand hatte mich aus dem Wasser gezogen, wiederbelebt und dann zum Hotel getragen. Dieser Jemand hatte wirklich starke Arme, da war ich mir sicher. Dann hat der Fremde mich Andrew übergeben, zwischendurch hat mich mein Vater noch angebrüllt, dass wusste ich auch noch. Andrew brachte mich in mein Zimmer zurück. Nach einer Weile war dann auch noch ein Arzt aufgetaucht und hatte mich untersucht. Er teilte meinem Vater mit, dass ich grosses Glück gehabt hätte, ich mich aber noch etwas ausruhen müsste. Wie ich in mein Pyjama gekommen war, wusste ich nicht mehr. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich, als wäre ich von einer Dampfwalze überfahren worden. Meine Lunge brannte bei jedem Atemzug und sprechen konnte ich auch nur mit grösster Anstrengung. Andrew machte mir den Tee, den mir der Arzt verschrieben hatte. Er schmeckte zwar scheusslich, aber wenigstens half er. Die nächsten Stunden des Tages verschlief ich. Was mich richtig ärgerte, war, dass ich nun doch noch den Tauchgang verpasste. Dad hatte genau das bekommen, was er gewollt hatte, das ich meine Zeit im Hotel verbrachte. Um mir dann die Zeit etwas zu vertreiben, liess ich mir die Zeitung aufs Zimmer bringen. Die Schlagzeile handelte schon wie die letzten Tage von den Piratenüberfällen. Fiel ihnen den mittlerweile nichts anderes mehr ein. Es gab doch sicher noch interessantere Dinge über die sie berichten konnten. Während ich die erste Seite kurz überflog, nippte ich an der zweiten Tasse des scheusslichen Tees. Als ich den Titel des nächsten Artikels las, verschluckte ich mich und erlitt einen Hustenanfall. Sofort kam Andrew herbeigeeilt, der auf dem Balkon Stellung bezogen hatte.
„Ist mit ihnen alles in Ordnung?“, fragte er besorgt.
„Hab mich nur an diesem verdammten Tee verschluckt“, krächzte ich. Der Rest des Tees war auf meinem Pyjama gelandet. Ich zog mich um legte mich dann wieder hin. „Hast du heute schon Zeitung gelesen?“
Er nickte.
„Dann hast du bestimmt auch den Artikel hier gelesen“, sagte ich und zeigte ihm die Zeitung. „Admiralstochter vor Ertrinken gerettet“, las ich vor. „Mussten die das gleich in der Zeitung bringen?“
„Kümmern sie sich nicht weiter darum, über den Admiral und seine Familie wird immer berichtet.“ Ich schnaubte und wandte mich wieder dem Artikel zu.

 

Gestern Abend eskalierte ein Streit zwischen dem Admiral und seiner Tochter Lucynda Callahan. Es ist nicht bekannt, worüber sich die beiden gestritten hatten. Augenzeugen berichten jedoch, dass sie von Selbstmord geredet und dann wutentbrannt aus dem Restaurant gestürmt sei. Kurz darauf wäre sie beinahe im Meer ertrunken. Ob es sich dabei um einen Selbstmordversuch handelte, können wir nicht sicher sagen. Weder der Admiral noch sie selbst haben sich dazu bisher in einem Interview geäussert. Der behandelnde Arzt erzählte uns, dass es Lucy bereits wieder besser ginge und sie keine Ernsthafen Verletzungen davon getragen hätte. Das hat sie nur dem geistesgegenwärtigen Handeln ihres geheimnisvollen Retters zu verdanken. Es handelt sich dabei um einen jungen, attraktiven Mann, von grosser Statur und schwarzen Haaren. Weder Name noch die Beziehung zu Lucynda Callahan sind bekannt. Viele nehmen an, dass es sich um ihren neuen Freund handle.

 

Das Reichte, mehr brauchte ich nicht zu lesen. Einfach unglaublich, die dachten wirklich ich hätte versucht mich umzubringen. Und dann noch diese absurde Vermutung, der Fremde sein mein Freund. Wütend zerknüllte ich die Zeitung und warf sie weg.
„Ich habe nie von Selbstmord gesprochen, das haben die vollkommen falsch interpretiert!“
„Was genau ist eigentlich vorgefallen, sie sind doch eine ausgezeichnete Schwimmerin.“
„Naja, es war ein Unfall. Ich bin getaucht und hab wohl den Sauerstoffmangel unterschätzt. Bevor ich wusste wie mir geschieht, habe ich das Bewusstsein verloren. Ich wollte mich ganz sicher nicht umbringen!“
Schreien war im Moment nicht gerade die Beste Idee, Beweis genug war der darauffolgende Hustenanfall.
„Sie sollten sich nicht so darüber aufregen, nur sie wissen was wirklich passiert ist.“
Ich liess mich aufs Bett zurücksinken und entspannte mich. Andrew wollte schon wieder auf den Balkon hinausgehen, als ich fragte:
„Sah mein Retter wirklich so gut aus?“
Er lachte herzhaft.
„Das kann ich nicht beurteilen, aber ich würde sagen, die Journalisten haben nicht übertrieben. Ruhen sie sich aus, für die Kreuzfahrt wollen sie doch wieder fit sein, oder?“
Ich nickte und zog mir die Decke über den Kopf. Da wurde man einmal von einem gutaussehendem Typen gerettet und bekam nichts davon mit, dass leben war doch einfach nicht fair.

 

Mittwoch, 30.05.13, 12:00 Anthony

 

Wie erwartet kam sie nicht zum Tauchgang und so hatte ich mich vollkommen auf die Schönheit des Riffes konzentrieren können. Natürlich erst nachdem ich die einstündige Einweisung über mich ergehen lassen hatte. Ich hatte immer gedacht, dass die Leute in ihren Berichten übertrieben hätten, aber da lag ich wohl falsch. Ein so wunderschönes Riff hatte ich noch nie gesehen. Da vergass ich sogar fast, dass ich mit diesen Tauchflaschen tauchen musste. Die vielen Formen und Farben der Korallen und die Fische die dort schwammen, waren einfach umwerfend. Leuchtend orange, satte Grün, knallige rot und violett töne. Wir bekamen sogar eine Meeresschildkröte und einen Manta Rochen zu Gesicht. Als sich ein paar Quallen der Gruppe nähern wollten, spülte ich sie weg, damit niemand zu Schaden kam. Ich beobachtete wie einer der Teilnehmer unerlaubterweise ein Stück einer Koralle abbrach. So etwas machte mich wütend. War den Leuten denn nicht bewusst, dass sie so diesen wunderschönen Anblick nach und nach zerstörten? Ich musste mich ziemlich beherrschen, damit ich ihn nicht nach dem Tauchgang zur Rede stellte und ihm eine verpasste. Simon hätte es wahrscheinlich getan, doch ich verabscheute Gewalt. Um nicht doch noch in Versuchung zu geraten, gab ich die Ausrüstung zurück und verschwand gleich wieder im Wasser. Bevor ich zurück zum Schiff schwamm, nahm ich mir noch etwas Zeit um das Riff, ganz ohne Sauerstofflaschen und mit meiner Videokamera zu besichtigen.

 

„Wie war der Tauchgang?“, fragte Simon und sah mich über die Zeitung hinweg an. „Einfach Atemberaubend, dass musst du dir unbedingt auch einmal ansehen. So viele verschiedene Korallen- und Fischarten auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen. Ich habe auch ein paar Aufnahmen gemacht.“ „Ich war schon ein paarmal dort, aber schön dass es dir gefallen hat. Sobald ich Zeit habe, lade ich dir den Film auf deinen USB-Stick. Da wir ja nun Morgen auch noch frei haben, kannst du Sophie das Riff zeigen, sie wäre ganz sicher begeistert.“ Ich setze mich zu ihm an den Tisch und zog die Schwimmbrille herunter. „Das ist eine gute Idee. Wo steckt sie eigentlich wieder?“ Simon blätterte in der Zeitung und antwortete dann: „Sie arbeitet an der Vermessung der Insel, du weisst doch, es gibt nichts wichtigeres als ihre Karten. So wie ich sie kenne, wird sie wahrscheinlich nur einen kurzen Blick auf das Riff werfen und das auch nur um es zu vermessen.“ „Wie kann man nur Vermessungen spannender finden, als dieses Riff? Ich verstehe das nicht.“ „Das ist eben Sophie“, sagte er Schulterzuckend. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. „Ach übrigens, hast du heute schon die Zeitung gelesen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Steht irgendetwas Interessantes drin?“ „Und ob, schau dir das einmal an.“ Er legte die Zeitung vor sich auf den Tisch, drehte sie und deutete dann auf einen Artikel. Der Titel des Artikels, auf den er deutete war: „Admiralstochter vor Ertrinken gerettet“. „Was ist daran so besonders, das war doch ein gefundenes Fressen für die Presse.“ „Liess den Artikel, du wirst darin auch erwähnt.“ Ich folgte seiner Aufforderung und überflog ihn. „Na, was hältst du davon?“, fragte er erwartungsvoll. „Die haben dich als jungen, attraktiven Mann beschrieben.“ Ich grinste. „Wenn es doch stimmt. Aber weisst du was, ich habe gar niemanden gesehen. Also woher haben die Gewusst wie ich aussehe?“ „Vielleicht hat dich einer der Hotelgäste aus dem Fenster beobachtet.“ „Möglich“, räumte ich ein. „Was denkst du über den Teil mit dem Selbstmord?“, fragte er mich. „Ich weiss nicht“, sagte ich Kopfschüttelnd, „aber ich denke nicht, dass sie sich umbringen wollte. Nach dem was ich in den Unterlagen gelesen habe ist sie nicht der Typ, der einfach so alles hinter sich lässt.“ „Du willst das nur mit Hilfe der Unterlagen beurteilen, die du über sie gelesen hast?“ „Mir ist schon klar, dass ich im Moment noch gar nicht sicher sagen kann was für ein Mensch sie ist. Es würde mich aber sehr wundern, wenn sie sich wirklich hätte umbringen wollen. Sie hat genaue Zukunftspläne und sogar die perfekte Chance diese zu erreichen, also wieso sollte sie gerade jetzt aufgeben?“ „Gutes Argument, lassen wir uns doch einfach überraschen.“ Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. „Hat sie dich eigentlich erkannt?“ Ich überlegte einen Moment und verneinte dann. „Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich denke nicht, dass sie viel mittbekommen hat. Es könnte sein, dass sie mich wieder erkennt, wenn sie mich sieht.“ „So oder so, wir werden es zu unserem Vorteil nutzen.“ Er nahm das Glas Wasser, das vor ihm auf dem Tisch stand und trank einen Schluck. „Hast du es eigentlich noch einmal probiert?“ Fragend hob ich die Augenbrauen. „Wasser zu manipulieren. Der Schlag, den du mir verpasst hast, war wirklich nicht übel.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nicht, dass noch jemand zu Schaden kommt.“ „Es ist aber noch gefährlicher, wenn du die Fähigkeit nicht im Griff hast.“ Simon hatte Recht, wenn ich wieder einmal die Kontrolle darüber verlor, konnte das böse enden. „Na gut, ich werde das mehr trainieren.“ Zufrieden stellte Simon das Gals beiseite und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.

 

Freitag, 31.05.13, 7:00 Lucy

 

Ich hatte mich schon fast wieder von dem Vorfall erholt. Da Lunge und Atemwege immer noch etwas gereizt waren, trug ich ein Halstuch und war in eine Decke eingehüllt. So war es ganz gemütlich, draussen auf dem Balkon zu liegen und das Meer zu betrachten. Vor drei Tagen wäre ich genau dort beinahe ertrunken. Ich schloss die Augen und versuchte mich noch einmal daran zu erinnern, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Doch egal wie ich mich anstrengte, es blieb mir ein Rätsel. Auch wenn ich versuchte mir das Gesicht meines Retters in Erinnerung zu rufen, scheiterte ich. Es war wie verhext, ich war absolut sicher, dass ich sein Gesicht gesehen hatte. Umso erstaunlicher fand ich es, dass ich mich an seine Stimme erinnern konnte. Normalerweise war es doch genau das, was man am schnellsten vergass. Seine blieb aber einfach hängen. Sie klang so unglaublich warm und beruhigend, dass ich mich fragte ob er wohl immer so sprach. Verdammt, warum hatte Andrew ihn bloss nicht nach seiner Nummer gefragt? Ich wusste noch nicht einmal wie er aussah und trotzdem wollte ich ihn wiedersehen. Die Chance dafür war allerdings gleich Null. Seufzend verscheuchte ich diesen Gedanken aus meinem Kopf. Im Moment sollte ich mich eigentlich mit ganz anderen Dingen beschäftigen. In weniger als zwei Stunden, würde ich auf der Helios sein und die Kreuzfahrt konnte endlich beginnen. Das Packen hatte ich Andrew überlassen, er wusste, was ich brauchen würde. Alles was mein Vater ins Hotel hatte bringen lassen konnte ich unmöglich mit aufs Schiff nehmen. Ausserdem konnte ich mich selbst sowieso nie entscheiden, was ich nun mitnahm und was nicht.

„Lucy, ihr Vater steht vor der Tür und wünscht sie zu sprechen“, teilte mir Andrew mit.

Seit unserem Streit, hatte ich kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Eigentlich wollte ich gar nicht mehr mit ihm reden. Deshalb hatte ich Andrew angewiesen, meinem Vater auszurichten, dass er sich von mir fernhalten sollte.

„Na gut, lass ihn rein“, gab ich nach.

„Lucy, ich wollte…ich meine ich.“

Erstaunt stand ich auf und wandte mich meinem Vater zu. Normalerweise kam es nicht vor, dass er stotterte.

„Ach verdammt, ich will nicht, dass wir so auseinander gehen. Du hast mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt.“ Er zog mich so schnell an sich, dass ich vor Schreck beinahe aufgeschrien hätte. „Hast du eigentlich eine Ahnung wie froh ich bin, dass du noch lebst? Als ich dich da sah, in den Armen dieses Typen, da dachte ich für einen Moment, du seist Tot.“

Ich befreite mich soweit aus seiner Umarmung, dass ich ihm in die Augen sehen konnte.

„Ich will dich nicht verlieren Lucy, ich kann dich nicht auch noch verlieren“, sagte er mit fast schon verzweifelter Stimme.

„Dad, ich will dich ja auch nicht verlieren, aber ich…ich brauche etwas Zeit. Seit Mums Tod haben wir nicht mehr richtig miteinander geredet, wir hatten uns nie etwas zu sagen.“

„Aber…“

Ich schüttelte den Kopf und brachte ihn zum Schweigen.

„Sieben Jahre ist es nun schon her und wir beide haben ihren Tod noch nicht überwunden. Weisst du Dad, warum ich Meeresbiologin werden will? Ganz einfach darum, weil das Meer Mum fasziniert hat und ich das Gefühl habe ihr näher zu sein, wenn ich Forsche.“ Ich küsste ihn auf die Wange und trat dann zurück. „Wir werden uns gründlich unterhalten, wenn ich wieder zurückkomme.“

Mein Vater nickte, er hatte verstanden.

„Sei vorsichtig Lucy und ruf auch mal an, ok?“

„Nur wenn du versprichst auch ran zu gehen.“

„Versprochen. Andrew, ich verlasse mich auf sie. Ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn sie mir meine Tochter an einem Stück zurückbringen würden.“

„Selbstverständlich Mr. Callahan, ich werde sie keinen Moment aus den Augen lassen“, sagte er und zwinkerte mir dabei zu. Zum ersten Mal seit langem, huschte wieder ein Lächeln über das Gesicht meines Vaters.

„Gut, dann wünsche ich euch beiden eine gute Reise.“

„Bis bald Dad“, sagte ich und umarmte ihn noch einmal.

 

Freitag, 31.05.13, 7:30 Anthony

 

Seit sechs Uhr morgens herrschte Hochbetrieb auf der Aurelia. Wir waren alle dabei unsere Sachen zu packen und das Boot auf Vordermann zu bringen. Simon hatte jemanden organisiert, der regelmässig nach ihr schauen und sie in standhalten würde. Er fühlte sich überhaupt nicht wohl dabei, sein Schiff für längere Zeit zu verlassen. Mir gefiel der Gedanke auch nicht, aber es war nun mal nötig, um den Auftrag auszuführen. Ich verstaute all meine Habseligkeiten in einer grossen Tasche und meinem Rucksack.

„Anth, hilfst du mir mal, ich bekomme meinen Koffer nicht zu.“

Sophie hatte den Kopf zur Tür hereingestreckt und sah mich lächelnd an.

„Klar, ich komme schon.“

Ich folgte ihr in ihr Zimmer und betrachtete ihren übervollen Koffer mit hochgezogener Augenbraue.

„Bist du dir ganz sicher, dass du all den Kram brauchst? Ich meine jetzt mal im Ernst“, ich zog einen kanariengelben Pullover mit einem aufgedruckten Bieber hervor, „willst du dich wirklich mit dem Ding in der Öffentlichkeit zeigen?“

„Ich bin elf, ausserdem musst du gerade was sagen“, entgegnete sie schnippisch und schnappte mir den Pullover weg. „Du ziehst immer noch eines deiner alten T-Shirts und deine Badehose an, obwohl du nun lauter neue Sachen hast.“ Sie legte den Pullover wieder zurück in den Koffer und klappte ihn zu. „Wärst du nun so freundlich und würdest ihn zu machen?“

Ich drückte mit meinem ganzen Gewicht den Deckel runter und sie zog den Rissverschluss zu.

„Hoffen wir mal, der Koffer hält das aus. Kannst du ihn überhaupt hochheben?“ Grinsend sah ich ihr dabei zu, wie sie sich vergeblich damit abmühte. „Dachte ich es mir doch, du kannst ihn keinen Millimeter von der Stelle bewegen.“

„Tu nicht so selbstgefällig und hilf mir lieber!“

Der Koffer war wirklich ziemlich schwer, trotzdem konnte ich ihn mit Leichtigkeit hochheben. Ich trug ihn nach draussen und stellte ihn dort ab.

„Wie es aussieht werde wohl ich derjenige sein, der ihn an Bord schleppt.“

Simon kam nämlich gerade selbst vollbepackt aus dem Boot. Auf dem Rücken trug er einen vollgestopften Rucksack, links und rechts hielt er zwei schwere Taschen. Für seine Verhältnisse war er ziemlich elegant gekleidet. Braune, saubere Hosen, ein weisses T-Shirt und darüber ein blaues Hemd. Seine Sonnenbrille sass ihm schief auf der Nase.

„Dad, was schleppst du denn alles mit?“

„Ach, nur dies und das“, antwortete er ausweichend. „Seid ihr beide Startklar?“, fragte er und stellte die Taschen ab.

„Von mir aus können wir jederzeit gehen.“

„Du bist ja noch gar nicht umgezogen Anthony.“

Triumphierend sah mich Sophie an, so als wolle sie sagen: Siehst du, ich hatte recht.

„Gut, ich gebe mich geschlagen, was soll ich anziehen?“

Sie steckten mich in die beige Cargo Hose und das grüne Poloshirt. Das Shirt ging ja noch, aber meine Badehosen waren mir lieber.

„Wie kommen wir mit all dem Gepäck eigentlich auf die andere Seite der Insel?“

„Keine Sorge, ich habe an alles gedacht, unser Taxi müsste jeden Moment hier ankommen.“

„Du hast ein Taxi bestellt?“

Simon nickte.

„Ja, ich dachte mir es sei etwas bequemer mit dem ganzen Gepäck. Der Fahrer muss denken, wir hätten für ein ganzes Jahr gepackt.“

Ich setzte mich auf Sophies Koffer.

„Ihr beide schleppt so viel mit, dass man das denken könnte. Soph kann ihren Koffer noch nicht einmal selber tragen.“

„Dafür habe ich ja dich Bruderherz“, sagte sie und setzte sich auf meinen Schoss.

Als das Taxi vorfuhr, warf Simon seinem Schiff noch einen letzten wehmütigen Blick zu, bevor er einstieg. Wir würden die Aurelia eine Weile nicht mehr sehen.

Kapitel 6

 

Freitag, 31.05.13, 9:00 Anthony

 

Staunend stand ich vor dem riesigen Schiff. Unglaublich, wozu die Ingenieure heutzutage in der Lage waren. Dieses Ungetüm war doch kein Schiff mehr, das war eine schwimmende Stadt. Wenn man Abgeschiedenheit wollte, war man hier fehl am Platz. Die Helios bot Platz für mehr als 5000 Passagiere, Crew und Personal nicht inbegriffen. Dementsprechend viele Leute wollten an Bord. Sophie klammerte sich an meinem Arm fest, um auf keinen Fall in der Menge verloren zu gehen. Beruhigend drückte ich ihre Hand und lächelte ihr zu. Simon studierte unterdessen einen Flyer des Schiffes.

„366 Meter lang und sechzig Meter breit, wahrlich eine Meisterleistung. Achtzehn Decks, unsere Kabinen liegen auf Deck siebzehn, also müssen wir ziemlich weit nach oben.“

„Ich hoffe doch sehr, dass der Architekt daran gedacht hat einen Fahrstuhl einzubauen. Denn eines steht fest, ich schleppe diese Koffer nicht hunderte von Stufen hinauf.“

„Keine Sorge Anth, das Schiff hat natürlich Fahrstühle. Sehen wir zu, dass wir an Bord kommen.“

„Wie willst du eigentlich die Waffe an der Sicherheitskontrolle vorbeischmuggeln?“, flüsterte ich ihm zu.

Er zog ein Blatt Papier aus seiner Hosentasche.

„Mit dem hier, kommen wir ohne Probleme durch. Dieses Schreiben wurde vom Admiral persönlich verfasst und Unterschrieben. Folgt mir, wir müssen hier nicht anstehen.“

Ohne lange Schlange zu stehen, gingen wir auf den Landesteg zu. Das brachte uns viele wütende Blicke und aufgebrachte Rufe ein.

„Sir, dürfte ich sie bitten, sich wie alle anderen auch hinten anzustellen“, bat uns einer der Sicherheitsoffiziere höflich.

Schweigend hielt er ihm das Schreiben unter die Nase.

„Ich verstehe“, er nickte einem Kollegen zu, „bitte folgen sie mir.“

Der Offizier führte uns an den Metalldetektoren vorbei, direkt zu den Fahrstühlen. Er erklärte uns, dass es vorne, hinten und in der Mitte Fahrstühle gäbe, ausserdem würde in ein paar Stunden eine Sicherheitsübung beginnen, die für alle Passagiere obligatorisch sei. Näheres würde uns über Lautsprecher mittgeteilt werden.

„Geniessen sie ihren Aufenthalt, an Bord der Helios, wenn sie irgendwelche Wünsche haben, zögern sie nicht sich an unser ausgezeichnetes Personal zu wenden. Wenn sie wünschen, werde ich ihnen mit ihrem Gepäck helfen und sie bis zu ihren Kabinen begleiten.“

„Sehr freundlich von ihnen, mein Sohn nimmt ihre Hilfe sicher gerne an.“

Ich bedankte mich und reichte ihm Sophies Koffer. Bei Deck siebzehn stiegen wir aus und folgten dem Offizier, bis zu unseren Kabinen.

„Kabine 714 und 715, sie sind mit einer Verbindungstür miteinander verbunden. Wie sie bereits bei der Anmeldung gewünscht haben, steht die Tür offen, wenn sie das noch ändern wollen, werde ich das selbstverständlich noch für sie erledigen.“

„Nein danke, es ist alles bestens, so wie es jetzt ist.“

„Nun dann bleibt mir nur noch eines, hier, das sind die Zugangskarten zu ihren Zimmern“, sagte er und reichte Simon drei Schlüsselkarten.

„Vielen Dank“, sagte Simon und steckte ihm einen Schein zu.

„Ich bedanke mich.“

Gerade als er sich zum Gehen wandte, schien ihm noch etwas einzufallen.

„Beinahe hätte ich das hier vergessen“, er zog einen Umschlag unter seiner Uniform hervor. „Man hat mich gebeten, ihnen diesen Umschlag zukommen zu lassen.“

Der Offizier nickte Simon zu und ging dann davon.

„Hast du eine Ahnung was da drin ist?“, fragte ich ihn.

„Nein, aber anscheinend ist er für dich.“

„Für mich?“, fragte ich ungläubig und nahm ihn entgegen.

„Soweit ich das gesehen habe steht da Anthony Graves, oder irre ich mich da?“

Tatsächlich, mein Name stand vorne auf dem Umschlag.

„Lasst uns zuerst rein gehen, du kannst ihn später öffnen.“

Ich nahm den Umschlag zwischen die Zähne, schnappte mir die Koffer und folgte Simon durch die Tür. Überhaupt eine Kabine auf der Helios zu bekommen, war schon so gut wie unmöglich. Es sei denn, man kannte den Admiral. Eine grössere und eine kleinere Kabine, waren durch eine anderthalb Meter breite Tür miteinander verbunden. Die Wände waren in einem schlichten Weiss gehalten und wurden teils von Bildern verdeckt, die die verschiedensten Inseln zeigten. Durch zwei Bullaugen konnte man aufs Meer hinaussehen. Im grösseren Zimmer standen zwei getrennte Betten, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und ein Schrank. Auf einer Kommode befand sich ein kleiner Fernseher. Ich stellte das Gepäck auf eines der Betten und erkundete dann den Rest der Kabine. Das kleinere Zimmer hatte man mit einem Doppelbett, einem Schreibtisch und einem Schrank ausgestattet. Aus diesem Zimmer führte eine Schiebetür auf einen kleinen Balkon hinaus. Da wir zwei Kabinen hatten, standen uns auch zwei Bäder zur Verfügung.

„Ich halte es für das Beste, wenn ich das Zimmer hier nehme, dann habe ich einen Schreibtisch und jeder von euch beiden hat sein eigenes Bett.“

Sophie war damit einverstanden und liess sich gleich auf das freie Bett fallen.

„Willst du etwa schon schlafen gehen Soph? Dabei haben wir uns noch nicht einmal das Schiff angesehen.“

Ich schob Sophie ihren Koffer unter ihr Bett und liess mich auf den frei gewordenen Platz fallen.

„Ich ruhe mich nur bis zu dieser Sicherheitsübung etwas aus.“

„Was ist mit dir Simon?“

„Tut mir leid Anth, aber ich werde den Rundgang auf später verschieben. Auf mich wartet noch etwas Arbeit.“

Er stellte sein Gepäck ab und startete seinen Laptop.

„Wenn du dir das Schiff ansiehst, präg es dir gut ein, dass könnte später einmal von Vorteil sein, wenn du es wie deine Westentasche kennst.“

Wie ich Simon kannte, hatte er sich den Schiffsplan bereits bis ins kleinste Detail gemerkt.

„Na gut, dann werde ich mich eben allein auf zu einer Erkundungstour machen.“

Bevor ich jedoch das Schiff genauer unter die Lupe nehmen würde, wollte ich mir vorher den Inhalt des Umschlages ansehen. Gespannt riss ich den Umschlag auf und schüttelte den Inhalt auf das Bett. Beeindruckt stiess ich einen Pfiff aus.

„Was zum…“, murmelte ich und griff das Geldbündel, dass aus dem Umschlag gefallen war. Neugierig öffnete Sophie die Augen, um zu sehen, was ich entdeckt hatte.

„War das ganze Geld in dem Umschlag?“

„Ja, es ist samt diesem Brief herausgefallen.“

„Von was für Geld sprecht ihr da?“, fragte Simon und trat hinter mich.

„Von dem, das eben aus dem Umschlag gefallen ist. Das sind zweitausend Dollar!“, rief ich nachdem ich es gezählt hatte.

Simon nahm es mir ab und zählte selbst nach.

„Du hast recht, steht in dem Brief von wem das Geld kommt?“

Ich schnappte mir den Brief und las ihn laut vor:

„Sehr geehrter Mr. Graves, ich danke ihnen sehr für die Rettung meiner Tochter. Um mich bei ihnen erkenntlich zeigen, habe ich diesem Umschlag zweitausend Dollar beigelegt. Ich weiss, dass ich mich damit nicht annähernd dafür bedanken kann, was sie getan haben. Doch hoffe ich, dass sie das Geld annehmen und weiterhin so gute Arbeit leisten werden. Mit freundlichen Grüssen, Frederic Callahan.“

„Er hat dir einen Bonus zukommen lassen.“

„Das kann ich doch nicht annehmen, ich meine für diesen Auftrag werden wir schon ausgezeichnet bezahlt.“

„Du würdest den Admiral nur beleidigen, wenn du das Geld nicht nehmen würdest. Er muss sich keine Gedanken um Geld machen, zweitausend mehr oder weniger spielen für ihn keine Rolle.“

Zweitausend Dollar, die konnte ich doch nicht einfach mit mir herumtragen. Ich zog zweihundert Dollarscheine aus dem Bündel und steckte den Rest unter meine Kleider in meine Tasche. Dann kramte ich nach meiner Kamera. Eines musste man dieser Cargo Hose lassen, sie hatte wirklich viele Taschen, was ganz nützlich war. In die grösste davon verstaute ich meine Kamera.

„Wenn ihr beide mich immer noch nicht begleiten wollt, dann werde ich mich jetzt eben allein auf den Weg machen.“

„Vergiss die hier nicht“, sagte Simon und warf mir eine der Schlüsselkarten zu.

„Danke, bis später.“

Mit Schwung trat ich zur Tür hinaus und stiess mit jemandem zusammen. Um nicht umzufallen, trat ich einen Schritt zurück.

„Ach verdammt, das war neu!“

Vor mir auf dem Boden sass Lucynda Callahan und fluchte was das Zeug hielt. Der Inhalt ihres Kaffeebechers befand sich nun auf ihrem roten Top. Das konnte doch nicht wahr sein! Wir sollten sie möglichst unauffällig und von weitem beobachten und jetzt traf ich sie schon wieder. Ich setzte ein unschuldiges Lächeln auf und streckte ihr die Hand entgegen.

„Tut mir wirklich leid, ich habe sie nicht gesehen. Ist alles in Ordnung?“

„Bis auf die Tatsache, dass mein Top ruiniert und mein Kaffee verschüttet ist, ist alle in bester Ordnung.“ Sie nahm meine Hand und liess sich auf die Füsse ziehen. „Naja, das Top steht mir sowieso nicht und der Kaffee war zum Glück ein Eiskaffee.“

Wenigstens machte sie keinen Aufstand daraus.

„Es tut mir wirklich leid, wenn ich das wieder irgendwie gut machen kann?“

„Ich vergesse die Sache, wenn du mich auf einen Kaffee einlädst, schliesslich schuldest du mir noch einen.“

„Klar, wann haben sie Zeit?“

Einen Kaffee, was war da schon dabei?

„Morgen Nachmittag wäre es nicht schlecht, heute bin ich schon mit meinem Onkel zum Essen verabredet.“

Mit Onkel meinte sie wahrscheinlich Lambert.

„In Ordnung, wenn sie mir Zeit und Ort nennen, werde ich sie dort treffen.“

Schliesslich war das mein Job.

„Wir sind beide nicht älter als achtzehn, da können wir uns diese Höflichkeitsfloskeln sparen. Mein Name ist Lucy“, sagte sie und hielt mir ihre Hand entgegen. Sie verhielt sich genauso, wie sie in den Unterlangen beschrieben wurde. Ich schüttelte ihre Hand und überlegte, ob ich ihr meinen richtigen Namen nennen sollte.

„Anthony.“

„Anthony…gut, sagen wir um drei Uhr in der Lounge auf diesem Deck.“ Sie wartete erst gar nicht ab, ob ich dann Zeit hatte. „Dann sehen wir uns Morgen und vergiss dein Portemonnaie nicht“, sagte sie, drückte mir den leeren Kaffeebecher in die Hand und verschwand in Kabine 716.

Einen Moment lang blieb ich verdattert stehen, dann drehte ich mich um und ging zurück in die Kabine.

„Anth, ich dachte du wolltest dir das Schiff ansehen und seit wann trinkst du Kaffee?“

„Das ist nicht meiner, rate mal wer mir über den Weg gelaufen ist.“

„Der Kapitän?“, riet Simon.

Ich schüttelte den Kopf.

„Lucynda Callahan ist eben auf dem Gang voll in mich hinein gekracht, oder umgekehrt, kommt ganz darauf an wie man es betrachtet. Dabei hat sie ihren Kaffee verschüttet, grössten Teils auf ihr Oberteil.“

„Und wie hat sie reagiert?“

Ich warf den leeren Becher in den Mülleimer unter dem Schreibtisch und setze mich auf die Schreibtischkannte.

„Zuerst hat sie eine Schimpftirade losgelassen und mich dann Morgen in die Lounge bestellt, damit ich ihr den Kaffee ersetzten kann.“

Nachdenklich lehnte sich Simon auf seinem Stuhl zurück.

„Dass sie schon so früh mit einem von uns in Kontakt kommt, hätte ich nicht gedacht, aber man kann es ja nicht ändern. Hat sie dich erkannt?“

„Keine Ahnung, falls sie mich irgendwie wiedererkannt hat, hat sie sich nichts anmerken lassen. Wie soll ich mich Morgen ihr gegenüber verhalten, wenn sie mich darauf anspricht?“

„Am besten du bleibst so nah an der Wahrheit wie nur möglich. Patamon und weshalb wir wirklich hier sind, erwähnst du natürlich mit keinem Wort. Alles andere ist deine Sache, lass dir da was einfallen.“

Ich nickte.

„Ok, ich überlege mir etwas. Jetzt werde ich mir aber erst einmal das Schiff näher ansehen.“

 

Freitag, 31.05.13, 9:30 Lucy

 

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, lehnte ich mich dagegen und atmete tief durch. Diese Stimme, der Typ eben hatte genau die gleiche Stimme wie mein Retter. So einen Zufall konnte es gar nicht geben, dass musste er sein. Die Beschreibung in der Zeitung passte auch. Ich hatte mich zusammenreissen müssen, um ihn nicht sofort danach zu fragen. Allerdings wäre es ziemlich peinlich geworden, wäre er es nicht.
„Lucy, sie sehen aus, als hätten sie einen Geist gesehen und was ist nur mit ihrem Oberteil passiert?“
Ich schloss das Medaillon in meine Faust und stiess mich von der Tür ab.
„Geister gibt es nicht Andrew. Ausserdem bist du jetzt mein Onkel, also siez mich nicht immer.“
Er sah mich verständnislos an.
„Ich verstehe nicht…“
Ich begann im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Wenigstens bot die Suite genügend Platz. Normalerweise hätte ich das Angebot meines Vaters abgelehnt und eine kleinere Kabine genommen, aber dort fühlte ich mich einfach nicht wohl.
„Du hast doch meinen Retter gesehen, oder?“
„Ja, aber…“
„Würdest du ihn erkennen, wenn du ihn siehst?“
„Ich denke schon. Warum wollen sie…willst du das wissen?“
Ich blieb einen Moment stehen und wandte mich ihm zu.
„Weil ich ihm eben draussen auf dem Flur begegnet bin.“
„Wem?“
So viel Begriffsstutzigkeit war doch einfach nicht zu fassen.
„Meinem geheimnisvollen Retter natürlich. Er hat mich einfach umgerannt, deshalb befindet sich auch mein ganzer Kaffee auf dem Top. Netterweise hat er mir aufgeholfen und sich mehrmals bei mir entschuldigt. Ausserdem treffen wir uns Morgen um drei in der Lounge auf einen Kaffee.“
„Und wo ist der Teil, bei dem ich zum Onkel wurde?“, fragte er schmunzelnd.
„Naja, da ich eine Ausrede brauchte, warum es heute nicht geht, habe ich einfach gesagt, dass ich mit meinem Onkel Essen gehe.“
„Ich nehme mal an, dass ich dazu noch eingeladen werde.“
Ich lächelte und setze mich auf die Couch.
„Unter einer Bedingung.“
„Und die währe?“
„Du begleitest mich Morgen, siehst ihn dir an und sagst mir dann ob er es ist oder nicht.“
„Wenn es weiter nichts ist.“
„Dann lade ich dich heute Abend zum Essen ein. Jetzt ziehe ich mich um, es ist nicht gerade angenehm ein Kaffeedurchtränktes Top zu tragen.“

Freitag, 31.05.13, 9:30 Anthony

Ich fuhr mit dem Fahrstuhl bis zum dritten Deck hinunter, um von dort aus meine Besichtigungstour zu starten. Hier befand sich die Rezeption des Schiffes, die hatten sicher auch noch einen Schiffsplan für mich übrig.
„Guten Tag, was kann ich für sie tun?“, begrüsste mich die Frau hinter dem Tresen und lächelte breit. „Hi, ich bin auf der Suche nach einem Schiffsplan, wissen sie, auf diesem Schiff kann man sich ohne leicht verirren.“
„Natürlich, den Schiffsplan und andere Flyer über das Schiff finden sie gleich dort drüben“, sagte sie und deutete auf ein Regal gleich neben der Rezeption.
Ich bedankte mich und schlenderte dann zu dem Regal. So ziemlich über jede Attraktion auf diesem Schiff gab es einen Flyer. Auf der Vorderseite befand sich jeweils die Nummer des Decks auf der sich die Attraktion befand. Kurzerhand steckte ich einen Flyer mit Übersicht über die Decks und einen Fahrplan des Schiffes mit den verschiedenen Anlaufstellen in meine Gesässtasche.
„Entschuldigen sie noch Mal, aber ich hätte da noch eine Frage. Könnten sie zwei Hundert Dollarscheine für mich wechseln?“
Ich zog das Geld aus der Tasche und legte es auf den Tresen.
„Selbstverständlich, wie möchten sie es?“
„Den einen Hunderter hätte ich gerne in Zwanziger. Den anderen teilen sie bitte in fünf zehn Dollar, sechs fünf Dollar, fünf zwei Dollar und fünf ein Dollarnoten auf.“
Sie wechselte das Geld und steckte die Scheine mit einer Büroklammer zusammen.
„Kann ich sonst noch etwas für sie tun?“
„Nein Danke, fürs Erste war es das.“
Ich zog den Decksplan aus der Tasche und wandte, mich mit meiner Kamera bewaffnet, Richtung Heck des Schiffes. Dort befand sich ein grosser Speisesaal, der gleich drei Deckshöhen einnahm. Rechts und links vom grossen Speisesaal lagen zwei kleinere, die für die höchsten Klassen reserviert waren. Soweit ich informiert war, fand im rechten Saal das Essen mit dem Kapitän statt. In der Mitte dieses Deckes, hatten die Architekten eine Eislauffläche eingebaut. Auf einem der Flyer war eine Eiskunstläuferin abgebildet gewesen. Einmal in der Woche wurde eine grosse Show veranstaltet, bei der eine berühmte Eiskunstlaufgruppe auftrat. Wobei ich von denen noch nie etwas gehört hatte. Vorne im Bug befand sich ein kleines Theater, in diesem wurden täglich zwei Stücke aufgeführt.
Auf Deck vier gab es weitere Unterhaltungsmöglichkeiten. Davon nahm das Kasino den grössten Raum ein. Rein kam man da allerdings erst mit achtzehn. Da ich nicht viel von Glückspiel hielt, störte mich das nicht weiter. Also fuhr ich mit dem Aufzug direkt zum fünfen Deck.
Hier befand sich befand sich ein weiteres Theater, das Aquatheater. Von Sprungbrettern führten hier Artisten die waghalsigsten Sprünge vor, um das Publikum zu begeistern. Fand gerade keine Vorstellung statt, so standen die Sprungtürme den Gästen offen. Nachdem ich ein paar Kindern beim Springen zugesehen hatte, machte ich mich auf den Weg zur Royal Promenade. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich mich auf einem Schiff befand, hätte ich meinen können, ich sein in der Stadt. Bereits jetzt wimmelte es hier nur so von Leuten, die über die Promenade schlenderten und sich die zahlreichen Geschäfte, Bars und Restaurants ansahen. Ich mischte mich unters Volk und kaufte mir ein Softeis. Bevor ich wieder zurück in die Kabine ging, würde ich für Sophie noch ein Eis hohlen gehen. Denn eines war klar, sie würde sich hier nicht wohlfühlen. Um das Deck herum führte eine Joggingstrecke. Lucy drehte hier sicher Morgen ein paar Runden. Dieses Mal nahm ich die Treppe um ein Deck höher zu gelangen. Ich sah mir weitere Shops und Restaurants an, bis ich dann vor dem Fitnesscenter stand. Wie ich mich schon darauf freute, den Montagmorgen hier zu verbringen. Genau so wenig freute ich mich darauf, die Kletterwand auf Deck sieben hochzuklettern. Höhen konnte ich nicht ausstehen, vor allem dann nicht, wenn sich darunter kein Wasser befand. Um nicht weiter darüber nachzudenken, ging ich einfach aufs nächste Deck. Bis hier nach oben fuhr auch die Bar, die auf Deck fünf startete. Mitten im Park hielt sie an und fuhr dann wieder auf Deck fünf zurück.
Und tatsächlich gab es hier einen richtigen Park, mit Bäumen, Wiesen und Blumenbeeten. Über gepflegte Kieswege konnte man gemütliche Spaziergänge machen und die Natur auf hoher See geniessen, so stand es jedenfalls im Prospekt. Wenn man schon eine Kreuzfahrt machte, sollte man doch das Meer geniessen.
Die Decks neun und zehn waren reine Kabinendecks, da gab es nicht viel zu sehen. Die Bibliothek auf Deck zwölf interessierte mich auch nicht wirklich, vielleicht würde ich mir da ein Buch über Meeresbiologie ausleihen und mich etwas in das Thema einlesen, vielleicht. Nicht das mich Meeresforschung nicht interessieren würde, aber im Moment fehlte mir die Zeit, um mich näher damit zu beschäftigen. Deck dreizehn gehörte allein den Angestellten und war für Passagiere nicht zugänglich. Weitere Kabinen und Kindertagestätten, waren auf dem nächsten Deck untergebracht. Beim Pool konnte ich nicht wiederstehen, ich zog die Schuhe aus und hielt die Füsse ins Wasser. Mit dem Meer konnte man es zwar nicht vergleichen, aber es tat ungemein gut. Es gab vier verschiedene Pools, einen mit Sandstrand, einen zum Schwimmen, eine Kinder und Spasszone und einen Whirlpool. Neben den Pools befand sich ein grosser Sportplatz, auf dem man Tennis, Basketball oder Fussball spielen konnte. Am Solarium ging ich vorbei und kaufte mir an der nächsten Bar eine Flasche Wasser. Der Wellensimulator auf dem nächsten Deck war gut besucht, viele Leute standen an um auf dem mickrigen Wellen zu reiten. Mit richtigem Surfen konnte man es natürlich nicht vergleichen, aber Spass machte es trotzdem. Über der Anlage raste ein Junge an einer Zipline über das Schiff. Da würde ich mich auch nicht freiwillig dranhängen.
Etwas gemütlicher ging es da auf dem Minigolfplatz zu. Schlussendlich landete ich wieder auf Deck siebzehn, Deck achtzehn würde ich mir gar nicht erst ansehen, dort lagen nur noch weitere Kabinen. Da sah ich mir doch noch lieber die Lounge an, von der Lucy gesprochen hatte und natürlich die Arcade mit den Videospielen.
Von der Lounge aus hatte man einen Fantastischen Blick auf das Meer, da sie leicht über das Siff hinausragte. Ich gab zehn Dollar, für Videospiele aus, fuhr anschliessend nach unten und kaufte das Eis für Sophie. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, dass ich schon fast drei Stunden auf dem Schiff unterwegs war. Zwölf Uhr dreissig. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis das Schiff ablegte. Auf dem Weg zurück zur Kabine, warf ich rasch einen Blick nach draussen. Es waren nur noch wenige Leute damit beschäftigt, ihr Gepäck an Bord zu bringen. Um vier Uhr würde die Sicherheitsübung stattfinden, bis dahin hatte sich jeder in seiner Kabine eingerichtet.

Ich zog die Schlüsselkarte durch und stiess die Tür auf.
„Hey Schwesterchen, ich hab dir ein Erdbeereis mittgebracht.“
Sophie sass auf ihrem Bett vor einer Ausgebreiteten Karte und sah bei dem Wort Erdbeereis gespannt zu mir auf.
„An deinen armen, hart arbeitenden Vater hast du wohl nicht gedacht“, sagte Simon und streckte den Kopf durch die Verbindungstür.
„Ich weiss doch genau, dass du nichts Süsses magst. Ausserdem hat der arme Vater gar nicht so hart gearbeitet, wie er vorgibt“, sagte ich mit einem Blick auf die Flasche Bier und das Magazin auf dem Schreibtisch.
Simon lachte und boxte mir in die Rippen.
„Du hast mich erwischt, Anth, aber ich schwöre dass ich gearbeitet habe.“
„Eine halbe Stunde“, meldete sich Sophie.
„Verräterin!“, rief er mit gespieltem Entsetzen und stürzte sich dann auf sie.
Soph fiel beinahe das Eis aus der Hand, als er sie auskitzelte.
„Dad, aufhören!“, brachte sie zwischen dem Kichern hervor.
Simon liess von ihr ab und setzte sich auf die Bettkannte.
„Habt ihr nicht auch Lust, den Nachmittag am Pool zu verbringen? Ich meine, bis die Sicherheitsübung beginnt haben wir noch eine Menge Zeit.“
„Gar keine schlechte Idee Anthony, schliesslich bleibt am Abend noch genug Zeit, um zu Arbeiten.“
Ich zog meine Badehose und ein Handtuch aus dem Koffer und zog mir die Schwimmbrille über den Kopf.
„Na dann, wollen wir mal.“

Freitag, 31.05.13, 16:00 Lucy

Das Deck füllte sich immer weiter mit Leuten und die Besatzung war damit beschäftigt, Anweisungen zu erteilen. Mit angezogener Schwimmweste stand ich neben Andrew und versuchte an etwas anderes zu denken, als dass es hier immer enger wurde. Warum musste ich mich überhaupt an dieser Übung beteiligen, immerhin war ich schon einmal dabei gewesen.
„Atmen sie ganz normal weiter, sonst fallen sie mir hier noch in Ohnmacht“, sagte Andrew und legte mir eine Hand auf die Schulter.
Erst jetzt merkte ich, dass ich fast schon Hyperventilierte. Wie ich diese Schwäche hasste.
„Andrew, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht siezen sollst.“
Er lächelte und zog mich zu einer Stelle, die nicht ganz so überfüllt war.
„Ich ziehe es vor, sie weiterhin so anzureden, es sei denn, ich schlüpfe in meine Rolle als Onkel.“
Seufzend schüttelte ich den Kopf und konzentrierte mich ein paar Minuten auf meine Atmung.
„Na gut, ich gebe es auf. Zwingen kann ich dich nicht, aber eines musst du wissen, für mich bist du bereits so eine Art Onkel.“
Einen kurzen Moment lang, dachte ich, er wäre darüber verärgert, doch dann breitete sich wieder sein typisches lächeln auf seinem Gesicht aus. Um mich weiter etwas abzulenken sah ich mich um. Auf der anderen Seite des Decks entdeckte ich Anthony, an ihn klammerte sich ein kleines Mädchen. Sie schien genauso wie ich nicht gerade davon begeistert zu sein hier teilnehmen zu müssen. Ein Mann mit Sonnenbrille hielt Anthony eine Schwimmweste hin, der verzog verächtlich das Gesicht und drückte sie einem vorbeigehenden Mann in die Hand. Anscheinend schien er nicht viel von den Westen zu halten. Schade dass ich nicht verstehen konnte, was sie zueinander sagten. Gerade als ich Andrew auf Anthony aufmerksam machen wollte, tauchte dieser in der Menge unter. Der Typ war so gross und trotzdem konnte ich ihn nicht mehr ausfindig machen.
„Suchen sie jemanden bestimmten?“
„Ich habe eben meinen Retter in der Menge gesehen. Zumindest glaube ich, dass es mein Retter war.“
„Morgen, werde ich ihnen sicher sagen können, ob er es ist. Bis dahin müssen sie sich noch etwas gedulden, auch wenn er noch so gut aussieht“, sagte er mit einem breiten Lächeln.
„Ich hoffe sie werden heute Abend mit meiner Gesellschaft vorlieb nehmen.“
„Wenn du nicht mein Onkel wärst, hättest du dir eine gefangen.“
Er lachte in sich hinein und ging sicherheitshalber einen Schritt zurück. Dabei trat er fast einer Frau auf die Füsse. Manchmal fragte ich mich wirklich woher Andrew kam. Mein Vater hatte ihn irgendwo her aufgetrieben, nachdem meine Mutter gestorben war. Vom ersten Moment an hatte ich ihn gemocht. Tagelang hatte ich am Strand gesessen und das Meer angeschrien es solle mir meine Mutter wiedergeben. Dad hatte es aufgegeben, mich vom Strand wegbringen zu wollen. Ich hatte mich strikt geweigert zu gehen, vielleicht weil ich glaubte, meine Mutter würde aus dem Wasser steigen und wieder zurückkommen. Auf einmal war ein Mann in grauem Anzug aufgetaucht. Er war lächelnd auf mich zugekommen und hatte sich neben mich in den Sand sinken lassen.
„Das Meer ist wunderschön, finden sie nicht. Tief und unergründlich, man weiss nie was sich alles darin verbirgt. Aber eines müssen sie sich immer im Klaren sein, was sich das Meer einmal genommen hat, gibt es nicht mehr zurück.“ Mit traurigem Blick sah er aufs Meer hinaus und fing an ein Gedicht aufzusagen:

„Im Mondenglanze ruht das Meer,
Die Wogen murmeln leise;
Mir wird das Herz so bang und schwer,
Ich denk der alten Weise,
Der alten Weise, die uns singt
Von den verlornen Städten,
Wo aus dem Meeresgrunde klingt
Glockengeläut und Beten -
Das Läuten und das Beten, wisst,
Wird nicht den Städten frommen,
Denn was einmal begraben ist,
Das kann nicht wiederkommen.“

Durch diese Worte begriff ich, dass das Meer meine Mutter nicht mehr zurückgeben würde. Naja, wirklich begriffen hatte ich es erst mit zwölf, aber das ist eine andere Geschichte.
„Haben sie sich das selbst ausgedacht?“, hatte ich ihn gefragt.
„Nein, dass Stammt von einem anderen, aber ich finde es passt nur allzu gut. Kommen sie junge Dame, ihr Vater macht sich bereits Sorgen um sie.“
Er hatte meine Hand genommen und mich zurück nachhause gebracht. Von dem Tag an war er immer an meiner Seite. Ich wusste schon gar nicht mehr, was ich ohne ihn machen sollte. Wenn ich meinem Vater für irgendetwas dankbar war, dann war das Andrew. Ich entschuldigte mich bei der Frau und hielt weiter Ausschau nach Anthony.
„Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit, da nun alle Passagiere versammelt sind, werden wir nun mit der Sicherheitsübung beginnen.“
Von jetzt an konnte ich auf durch Zug schalten und mich einfach von Andrew durch die Gegend schieben lassen. Die verschiedenen Anweisungen hatte ich ja bereits einmal gehört und ausserdem ging ich nicht davon aus, dass das Schiff untergehen würde. Zum Abschluss der Übung mussten wir uns alle noch in die Rettungsboote quetschen. Andrew schaffte es irgendwie mir einen Platz am Rand des Bootes zu besorgen. So stand ich das durch, ohne ganz in Panik zu geraten.

„Sehen Sie, es war doch gar nicht so schlimm“, sagte Andrew und lud sich eines der belegten Brote auf seinen ohnehin schon voll beladenen Teller.
Ich schnaubte und nahm mir etwas Salat.
„Nicht so schlimm, pfff.“ Obwohl das Buffet mehr bot als nur Salat, gab ich mich damit zufrieden und marschierte zu unserem Tisch. Eigentlich war mir der Appetit vergangen, aber da ich Andrew versprochen hatte mit ihm zu Abend zu essen, würgte ich noch etwas Salat herunter. Hier im Speisesaal wimmelte es nur so vor Leuten. Kein Wunder, das Buffet war schliesslich gratis.
„Ziehen sie nicht so ein Gesicht, das Essen ist einfach vorzüglich.“
Er schob sich ein gefülltes Ei in den Mund. Wie konnte jemand so dünn sein und gleichzeitig so vieles Essen?
„Mir ist der Appetit vergangen, ich will mich einfach nur noch hinlegen. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich jetzt in die Kajüte zurückziehen. Das mit dem Essen hohlen wir ein andermal nach.“
„Natürlich, ich verstehe, ruhen sie sich aus.“
Ich liess Andrew mit seinem Berg von Essen allein zurück und ging zurück auf das Zimmer.

Vom Balkon aus, beobachtete ich, wie das Schiff ablegte. Leute winkten vom Steg her und viele Passagiere winkten zurück. Endlich, endlich ging es los. Lange hatte ich nur davon träumen können und jetzt war es Wirklichkeit. Ich hatte mich noch nie so frei gefühlt. Keine Bodyguards, niemand der mir auf Schritt und Tritt folgte. Fast niemand, Andrew war ja noch da. Ohne ihn hätte mich mein Vater niemals gehen lassen. Es hatte mich schon erstaunt, dass er mich überhaupt ohne einen dieser Bodyguards hatte gehen lassen. Was machte ich mir darüber überhaupt Gedanken? Mit Geschlossenen Augen genoss ich die sanfte Briese. Ich schloss das Medaillon meiner Mum in meine Faust. „Mum, ich wünschte du könntest jetzt hier sein. Die Kreuzfahrt hätte dir gefallen.“ Das wusste ich mit Sicherheit. Dad hatte Mum zu ihrem Hochzeitstag die Kreuzfahrt geschenkt. Ein Jahr vor ihrem Tod hatten wir hier Urlaube gemacht. Richtigen Urlaub. Wenn ich mich nicht irrte, hatten wir sogar dieselbe Suite. Ohne zu übertreiben, war das die schönste Woche in meinem Leben gewesen. Nun konnte ich nach vorne sehen und mich auf meine Zukunft konzentrieren. Mein Traumberuf rückt in greifbare Nähe. Ausserdem hatte ich morgen eine Verabredung mit einem echt gut aussehenden Typen. Ich war mir fast zu hundert Prozent sicher, dass er mich aus dem Wasser gezogen hatte. Dann konnte ich ihm wenigstens noch danken. Normalerweise glaubte ich ja nicht an Zufälle, aber dieses Mal konnte es nichts anderes sein. Viele Leute die auf Corray Urlaub machten, unternahmen eine Kreuzfahrt. Aber ausgerechnet auf der Helios? Ich schüttelte den Kopf. Schon wieder fing ich an über solche Sachen nachzudenken. Wurde ich etwa langsam Paranoide?
„Reiss dich zusammen Lucy!“, ermahnte ich mich selbst.
Manchmal musste ich meine Gedanken einfach im Zaum halten, sonst entwickelte ich noch irgendwelche Verschwörungstheorien. Auch als Corray am Horizont verschwunden war, blieb ich noch draussen stehen.

Freitag, 31.05.13, 17:30 Anthony

Das musste man den Köchen lassen, sie verstanden ihr Handwerk. Sophie verpasste etwas, aber nach der Sicherheitsübung war sie wirklich fertig gewesen. Wahrscheinlich schlief sie schon und würde gar nicht mehr mittbekommen wie das Schiff ablegte. Ich lud mit gerade ein Steak auf den Teller, als jemand hinter mich trat.
„Das Steak kann ich nur empfehlen, das Fleisch ist vorzüglich.“
Andrew Lambert nahm sich selbst noch eines und wandte sich dann mir zu.
„Wie ich von Lucy gehört habe, laden sie sie morgen zum Kaffee ein.“
„Gezwungen trifft es wohl eher. Sie sind dann wohl ihr „Onkel““, sagte ich und ging weiter zum Salat.
Er folgte mir und blieb ebenfalls vor dem Salatbuffet stehen.
„Lucy hat mich gebeten, ihr Morgen zu bestätigen, dass sie ihr Retter sind. Wenn sie es wünschen, kann ich es natürlich leugnen, aber ich glaube, sie weiss es bereits.“
Hatte ich es doch gewusst, wenigstens war es jetzt sicher.
„Nicht nötig, ich komme schon klar. Auf eine Weise macht es das sogar einfacher.“
Lambert nickte.
„Da wäre noch eine Sache“, sagte er, gerade als ich zurück zum Tisch gehen wollte. Fragend zog ich eine Augenbraue hoch.
„Ich würde gerne mit ihnen zusammenarbeiten, dann wäre Lucys Sicherheit garantiert. Mit meiner Hilfe könnten sie sich näher bei ihr Aufhalten, ohne dass sie irgendeinen Verdacht schöpft. Als „Onkel“, bin ich ihnen natürlich sehr dankbar, dass sie meine Nichte gerettet haben. Und als Ausdruck meiner Dankbarkeit, werde ich sie morgen Abend zum Essen einladen.“
Eigentlich hatte ich ja vorgehabt sie von weitem zu beobachten, aber das konnte ich jetzt wohl vergessen. Andererseits war es gar nicht so schlecht, wenn ich näher dran war.
„Wie sie sicherlich bemerkt haben, hat bereits ein älteres Ehepaar ein Auge auf Lucy geworfen“, sagte er und ging davon.
Was sollte das denn wieder heissen, verwirrt setze ich mich zu Simon an den Tisch.
„War das eben Mr. Lambert mit dem du da gesprochen hast?“
Ich nickte.
„Was wollte er denn?“
„Er will mit uns zusammenarbeiten und ausserdem hat er gesagt, ein altes Ehepaar hätte ein Auge auf Lucy geworfen.“
„So alt ist das Ehepaar gar nicht“, sagte er lächelnd. „Sie verkleiden sich nur sehr gerne“, erklärte er. „Du hast bestimmt schon einmal einen Artikel über sie gelesen. Sie sind besser unter dem Namen Chamäleons bekannt.“
Grübelnd schob ich mir ein Stück Steak in den Mund. Chamäleons…? Genau, vor einem Jahr stand dieser Name in den Schlagzeilen.
„Ich dachte, die Marine hat sie geschnappt. Wie kommt es, dass sie jetzt an Bord dieses Schiffes sind?“
„Ganz einfach, die Marine hat die Falschen geschnappt. Die Chamäleons haben die Marine hereingelegt und ihnen zwei Unschuldige ausgeliefert. Im Moment sitzen sie genau wie wir in diesem Speisesaal und geniessen das Essen.“
Nur mit Mühe unterdrücke ich den Drang mich umzusehen.
„Keine Sorge, Boas beobachtet sie bereits, ich werde sie nicht aus den Augen lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich gering, dass sie Lucy auf dem Schiff kidnappen wollen.“
„Warum sind sie ausgerechnet jetzt wieder aufgetaucht und warum wollen sie Lucy?“
Simon zuckte mit den Schultern.
„Dafür könnte es mehrere Gründe geben. Vielleicht ist ihnen das Geld ausgegangen und sie brauchen dringend neues. Oder sie suchen eine neue Herausforderung.“
Das mit dem Geld schien mir noch am ehesten zuzutreffen, nur wegen einer Herausforderung machte man doch so etwas nicht. Lambert und Simon hatten sie bemerkt, mir waren sie noch nicht einmal aufgefallen, geschweige denn hätte ich an die Chamäleons gedacht. Bei Simon hatte ich nichts anderes erwartet, aber Lambert? Egal wer oder was er war, er war auf keinen Fall ein einfacher Lehrer.


Kapitel 7

 

Samstag,01.06.13,14:00 Lucy

 

Schon eine Stunde vor der vereinbarten Zeit sass ich in einem der gemütlichen Sessel der Lounge und trank meinen fünften, oder sechsten Kaffee. Na gut, wenn man die Kaffees mittzählte die ich zum Frühstück getrunken hatte, waren es noch ein paar mehr. Ich liess mich in den Sessel zurücksinken und spielte mit meinem Medaillon. Was erhoffte ich mir eigentlich von dem Treffen? In letzter Zeit wusste ich überhaupt nicht mehr warum ich gewisse Dinge tat. Plötzlich stand ich am Fenster und sah aufs Meer hinaus, hatte aber keine Ahnung mehr wie ich dort hingekommen war. Immer wenn ich traurig bin gehe ich ans Meer, sogar jetzt noch, obwohl es mir meine Mutter genommen hatte. Gedankenversunken sah ich auch jetzt aufs Meer hinaus.
„Ist alles in Ordnung mit ihnen, Lucy?“
Überrascht bemerkte ich, dass Andrew mir gegenüber Platz genommen hatte.
„Ich schwärme jetzt schon seit einer Minute wie toll doch die Aussicht hier ist und sie scheinen mir gar nicht zuzuhören.“
Ein Minute lang? Kein Wort hatte ich gehört, ich hatte nicht einmal gemerkt wann er sich gesetzt hatte.
„Tut mir leid Andrew, in letzter Zeit lasse ich mich etwas leicht ablenken. Manchmal fehlen mir dann einfach ein paar Minuten.“
Er nickte wissend und lächelte.
„Machen sie sich keine Sorgen, dass wird sich mit der Zeit legen. Mir ging es genauso als ich noch Jung war.“
„Wirklich?“
„Ja, mir fehlt sogar eine ganze Stunde von meinem Leben.“
Bei ihm hörte sich das an, als wäre es die normalste Sache der Welt.
„Eine ganze Stunde?“
„Mhmm.“
Das war ja nicht gerade erbaulich. In einer Stunde könnte ich weiss ich was anstellen.
„Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen“, versicherte er mir noch einmal.
Erst da fiel mir auf, dass er mich schon wieder die ganze Zeit siezte.
„Du bist mein Onkel Andrew und ich glaube nicht, dass ein normaler Onkel seine Nichte siezt.“
„Etwas was man sich gewohnt ist, lässt sich nicht so schnell ändern.“
„Solange es dir nicht passiert, wenn Anthony in der Nähe ist, kann ich noch darüber wegsehen“, sagte ich.
Andrew zog sich meinen Kaffee zu sich heran und wies dann zum Eingang. Ich folgte seiner Aufforderung und blickte Richtung Tür. Dort stand Anthony und sah sich suchend um. Als er mich gesehen hatte, lächelte er und kam zielstrebig auf mich zu. Dann war er also tatsächlich mein Retter.
„Du musst Anthony sein. Schön dass wir uns dieses Mal unter weniger ernsten Umständen wieder sehen“, sagte er und hielt ihm die Hand hin. „Nenn mich einfach Andrew. Ich konnte mich ja noch gar nicht richtig bei dir bedanken“, fuhr er überschwänglich fort. Andrew war wirklich ein guter Schauspieler, normalerweise würde er niemanden sofort duzen und sei es nur ein zehnjähriges Mädchen.
„Ach das ist doch nicht der Rede wert. An meiner Stelle hätte jeder so gehandelt“, wehrte er ab.
„Keine falsche Bescheidenheit, immerhin hast du meiner Nichte das Leben gerettet. Wie wäre es wenn ich dich morgen Abend zum Essen einlade?“
Zum Essen einladen? Jetzt ging er aber wirklich zu weit, er hätte mich ja wenigstens fragen können.
„Das ist wirklich sehr freundlich von ihnen, aber das kann ich nicht annehmen.“
Ich dachte schon damit wäre die Sache erledigt, aber nein.
„Ich bestehe darauf, natürlich ist auch deine Familie eingeladen“, beharrte er.
„Mein Vater und ich werden ihre Einladung gerne annehmen, aber mit meiner Schwester müssen sie nicht rechnen“, gab Anthony nach. „Sie ist nämlich nicht sehr gesellig.“
Andrew erhob sich samt meinem Kaffee von dem Sessel und bot den Platz Anthony an.
„Vielleicht macht sie eine Ausnahme und begleitet uns doch. Aber ich will ja niemanden zwingen.“ Natürlich nicht, dachte ich und verdrehte die Augen. „Für alle Fälle werde ich im Steak House einfach für fünf Personen reservieren.“
Bevor er ging, verabschiedete er sich und wünschte uns einen schönen Nachmittag. „Tut mir leid, dass dich mein Onkel so überrumpelt hat. Setzt dich doch.“
„Keine besonders gute Idee“, sagte er und wies auf seine nassen Badehosen.
Erst jetzt fiel mir auf, dass er vor kurzem im Pool gewesen sein musste. Seine Haare waren nass, das T-Shirt das er trug klebte teilweise an seinem Körper und um seinen Hals hing eine Schwimmbrille. „Beim Schwimmen habe ich vollkommen die Zeit vergessen, so musste ich mich etwas beeilen und hatte keine Zeit mehr zum umzuziehen.“
Er musste es ja wirklich eilig gehabt haben, denn bis zu meinem Platz hatte es eine Spur mit nassen Fussabdrücken und dort wo er jetzt stand, sammelte sich eine kleine Pfütze. Wie hatte mir das nicht auffallen können und warum hatte auch Andrew nichts gesagt? Dem Kellner jedenfalls war es aufgefallen. Mit finsterer Miene kam er auf uns zu. Auf halber Strecke rutschte er aus und knallte der Länge nach hin. Ich musste mich zusammenreissen, um nicht gleich loszulachen. Anthony schien es ähnlich zu gehen. Er fuhr sich durch die nassen Haare und grinste. Fluchend rappelte sich der Kellner wieder auf und setzte seinen Weg fort. Mittlerweile schauten alle Besucher der Lounge dem wütenden Kellner nach. Vor Anthony hielt er an und richtete sich zu seiner voller Grösse auf, was ihm jedoch nicht viel brachte. Ohne Mühe war Anthony einen Kopf grösser.
„Ich muss doch sehr bitten!“, legte er los. „Sehen sie sich doch nur mal die Schweinerei an, die sie hier veranstaltet haben! In dieser Lounge sind Badesachen ausdrücklich verboten! Wissen sie eigen…“
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, wenn sie mir einen Lappen hätten, könnte ich es augenblicklich aufwischen“, schnitt er ihm das Wort ab.
Einen Moment lang starrte der Kellner ihn mit offenem Mund an, bevor er sich wieder gefasst hatte. „Natürlich wischen sie diese Sauerei hier auf!“, rief er aufgebracht.
Was hatte der eigentlich gegen Schweine? Gespannt verfolgte ich weiter die Szene. Nachdem sich der Kellner etwas beruhigt hatte, brachte er Anthony ein Tuch. Der beseitigte seine Spuren und drückte dem Kellner das nasse Tuch in die Hand.
„Jetzt muss ich sie bitten, die Lounge zu verlassen und sich passend zu kleiden“, forderte ihn der Kellner auf.
„Das wird nicht nötig sein, bringen sie ihm doch einfach ein Handtuch“, mischte ich mich ein. „Ausserdem würde ich gerne noch einen Kaffee bestellen und…“, fragend sah ich Anthony an.
„Für mich einen Eistee.“
„Gut, einen Kaffee und einen Eistee bitte, schreiben sie es auf Zimmer 716“, wies ich ihn an.
Bei der Erwähnung der Zimmernummer wurde er etwas blass um die Nase und eilte davon. Dem Personal war nämlich wohlbekannt, wem Zimmer Nummer 716 gehörte. Sie hatten die Anweisung sich um diese Gäste besonders zuvorkommend zu kümmern. Normalerweise spielte ich diese Karte nie aus, doch jetzt wollte ich mit Anthony reden und nicht noch warten bis er sich umgezogen hatte.
„Und ich dachte, dass ich dich einladen sollte.“
„Naja, da ich jetzt weiss, dass du mir das Leben gerettet hast, bin ich dir wohl noch was schuldig.“
Dann kam der Kellner mit einem Tablett in der einen und einem Handtuch in der anderen Hand wieder zurück. Etwas zerknirscht und mit einem aufgesetzten Lächeln Servierte er die Getränke und verzog sich wieder. Anthony setzte sich auf das Handtuch und nahm einen Schluck von seinem Eistee. Ich wartete bis er sein Glas abgestellt hatte und legte dann mit meiner ersten Frage los.
„Wusstest du eigentlich, wen du aus dem Wasser gezogen hattest?“
Er nickte.
„Aber erst, als mir der Admiral höchst persönlich gegenüberstand. Da ich keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte, bin ich gleich wieder gegangen“, beantwortete er mir gleich meine nächste Frage.
„Was ja wohl nicht ganz hingehauen hat, immerhin warst du am nächsten Tag in der Zeitung.“
Er lachte und fuhr sich wieder durch die Haare.
„Ein Foto gab es wenigstens keines. Sind die Journalisten eigentlich immer hinter dir her?“
In letzter Zeit hatten sie mich mehr oder weniger in Ruhe gelassen und sich auf meinen Vater konzentriert. „Seit die Piraten wieder ihr Unwesen treiben, haben sie meinen Vater im Visier. Doch ich fürchte mit der Geschichte des „Selbstmordversuches“, werden wieder ein paar hinter mir her sein.“
Ich nippte an meinem Kaffee und schlug die Beine übereinander.
„Muss ja ziemlich anstrengend sein, wenn der Vater der Admiral der Marine ist. Ich meine du bist sicher viel unterwegs, oder?“
„Ja, ich habe nirgends länger als ein, zwei Jahre gelebt, meistens waren es jedoch nur ein paar Monate“, sagte ich und zupfte an meinem Medaillon. „Deshalb bin ich auch zu meinem Onkel gezogen, damit ich mal etwas Ruhe habe. Bald werde ich sowieso Studieren und dann Meeresforscherin werden, da werde ich auch viel unterwegs sein.“
„Meeresforscherin? Auf welchem Gebiet denn?“
„Meine Mutter war Meeresbiologin, hat aber auch viele andere Gebiete erforscht. Zum Beispiel das alte Volk. Ich bin noch nicht sicher welches Gebiet ich wählen werde.“
Anthony war ein unheimlich guter Zuhörer, nie wirkte er auch nur im Ansatz gelangweilt. So erzählte ich ihm, dass ich schon immer das Meer erforschen wollte. Auch dass meine Mutter mein grösstes Vorbild gewesen war, erzählte ich ihm. Als ich Anthony sagte wie sehr ich doch die Wasseratmer beneidete, grinste er breit. Davon liess ich mich nicht beirren und fuhr fort. Keine Ahnung wie lange ich von den verschiedensten Fischen und Riffen redete, Anthony sass entspannt in seinem Sessel und trank einen Eistee nach dem anderen.
„Wenn du Riffe magst, hast du dir bestimmt das Riff in Corray angesehen“, bemerkte er.
„Leider bin ich nicht mehr dazu gekommen“, sagte ich kopfschüttelnd.
„Hast du es dir angesehen?“
Er nickte und begann mir das Riff zu beschreiben. Ich merkte gar nicht, wie ich mich immer näher zu ihm lehnte.
„Jedenfalls übertreiben die Reiseführer hier für einmal nicht“, schloss er.
„Dann muss ich mir das Riff unbedingt auch einmal ansehen. Verdammt, wie gerne ich es gesehen hätte“, seufzte ich und liess mich in den Sessel zurücksinken.
„Wenn du willst kann ich dir das Video zeigen, dass ich bei meinem Tauchgang aufgenommen habe“, bot er mir an.
„Ist filmen da ohne Genehmigung nicht verboten?“
Wieder lächelte er und sagte dann:
„Ich habe nirgends ein Schild gesehen und ausserdem muss man solch schöne Orte doch irgendwie festhalten. Und da ich nicht zu den Leuten gehöre die dafür Korallen abbrechen, habe ich das ganze aufgenommen.“
Da hatte er Recht und ein Video war tausendmal besser als eine abgebrochene Koralle. Wenn jeder Tourist eine Koralle mittgehenlassen würde, wäre bald kein Riff mehr da. Solche Menschen konnte ich nicht ausstehen, was dachten die sich eigentlich dabei?
„Erlaubt oder nicht, ansehen würde ich es mir auf jeden Fall gerne.“
„Dann werde ich meine Kamera holen gehen.“ Er stand auf, drehte sich aber noch mal zu mir um. „Falls du einen Laptop hast, könnte ich dir noch ein paar weitere Aufnahmen zeigen. Ein paar Wracks und sogar eine alte Ausgrabungsstädte des alten Volkes.“
Das hörte sich wirklich sehr verlockend an. Ohne noch weiter zu überlegen, nahm ich sein Angebot an. Aber besser wir trafen uns dafür in meiner Kabine, da starrte uns dieser Kellner nicht die ganze Zeit finster an.
„Hohl du deine Kamera und dann treffen wir uns bei mir in der Kabine, da habe ich auch gleich meinen Laptop.“

Zehn Minuten später sassen wir beide auf dem Sofa und Anthony hantierte an meinem PC. Als er mit der Kamera und einem USB-Stick eingetreten war, hatte er sich staunend umgesehen. Mir war es schon fast peinlich, als er sagte:
„Die Suite muss ja ein Vermögen kosten, die ist ja riesig. Im Vergleich dazu wirkt meine Kabine ja gerade zu mickrig.“
„Mein Dad hat darauf bestanden“, hatte ich ihm darauf geantwortet.
Obwohl es so nicht ganz stimmte. Ich hatte sie ja nur genommen, weil sonst nur noch wirklich kleine Kabinen frei gewesen waren. Auf dem Forschungsschiff würde es schon eng genug werden. Da musste ich nicht auch noch auf der Kreuzfahrt schlaflose Nächte verbringen.
„Fertig, das Video läuft“, sagte er und stellte den Laptop auf den Tisch.
Für die nächste halbe Stunde war ich vollkommen von den Bildern fasziniert. Ich fühlte mich, als würde ich selbst dort tauchen und all diese wundervollen Farben sehen. Anthony hatte das Riff wirklich gut eingefangen, er führte die Kamera unglaublich ruhig. Die Fische bekam man ziemlich nahe zu sehen. Es war schon fast schade, als das Video zu Ende war.
„Wow, ich muss unbedingt noch einmal nach Corray und mir das Riff selbst ansehen. So viele verschiedene Arten habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Kein Wunder, dass meine Mutter immer davon geschwärmt hat. Corray war ihr Lieblings Urlaubsort.“
„Ich war schon auf vielen Inseln und Riffe habe ich auch schon eine Menge gesehen, aber was die Artenvielfalt angeht kann Corray bis jetzt nichts das Wasser reichen“, sagte er und stellte das nächste Video ein. „Hier bin ich mit meinem Vater zu einem berühmten Wrack getaucht, der alten Galeone „Pelican“. Sie ist erstaunlich gut erhalten, es war ein schöner Tauchgang.“
Nach diesem Video zeigte er mir noch viele weitere. Eines davon war einfach nur ein ganz normaler Tauchgang, bei dem er einen Sardinenschwarm gefilmt hatte. Ich hatte immer geglaubt, dass ich viel Zeit im Wasser verbrachte, aber wie es mir schien, lebte Anthony praktisch im Wasser. So viele verschiedene Orte gesehen zu haben und das in seinem Alter. Meiner Schätzung nach war er höchstens neunzehn Jahre alt.
„Wie lange filmst du schon?“
Er überlegte kurz und antwortete dann:
„Fast seit sechs Jahren, mein Dad hat mir die Kamera zum Geburtstag geschenkt. Sie ist so ziemlich das teuerste, das ich besitze.“
Wie teuer war so eine Unterwasserkamera? Fünfhundert, tausend Dollar? Das Bild war nicht schlecht, aber eine professionelle Kamera war es nicht. Ich besass Schmuck, der mehr als 4000 Dollar wert war. Da kam mir die Suite gleich noch protziger vor.
„Vielleicht werde ich irgendwann einmal ein berühmter Unterwasserkameramann. Bis dahin reicht mir meine jetzige Kamera aber vollkommen“, sagte er und fuhr sich lachend durch die Haare.
Das machte er öfters, es schien ihm schon gar nicht mehr aufzufallen.
„Das waren nun alle guten Videos. Aber jetzt sollte ich dir wirklich noch einen Kaffee ausgeben, immerhin hast du mir heute fünf Eistees spendiert.“
„Wie ich bereits sagte, du hast mir das Leben gerettet, da sind fünf Eistees und ein Kaffee wirklich nicht der Rede wert.“
Er schüttelte den Kopf.
„Ich bestehe darauf, schliesslich habe ich dich über den Haufen gerannt. Ausserdem würde ich zu gerne das Gesicht des Kellners sehen, wenn ich nochmal in die Lounge komme.“
Beim Gedanken daran musste ich lachen und Anthony fing ebenfalls an los zu prusten.
„Ihr scheint euch ja köstlich zu amüsieren“, hörte ich Andrew hinter uns sagen. „Es ist bereits sechs Uhr abends. Lucy, du hast versprochen mir heute beim Essen Gesellschaft zu leisten.“
Verblüfft schaute ich auf die Uhr, Andrew hatte Recht, es war tatsächlich schon sechs Uhr.
„Schon so spät? Dann muss ich mich beeilen, ich habe meiner kleinen Schwester versprochen noch einmal mit ihr schwimmen zu gehen.“ Anthony stand auf und nahm seinen Stick an sich. „Wir sehen uns ja morgen Abend, zum Essen, wieder. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend“, sagte er und gab Andrew die Hand. Mir nickte er zu, bevor er durch die Tür verschwand.

„Und wie war es? Ist ihr Retter so wie sie es sich vorgestellt hatten?“, fragte mich Andrew später, als wir beim Essen am Tisch sassen.
„Ich weiss nicht so recht, eigentlich habe ich ihm mehr von mir erzählt, als er von sich. Wie oft muss ich es dir eigentlich noch sagen, dass du mich nicht siezen sollst!“
Schmunzelnd schob er sich ein Stück Fisch in den Mund.
„Jedenfalls weiss ich jetzt, dass er eine kleine Schwester hat und sehr viel Zeit im Wasser verbringt. Du hättest seine Videos sehen müssen, ein paar davon waren richtig gut. Wir haben praktisch nur über Riffe und Schiffwracks geredet.“
„So wie es aussieht kennt er sie bereits besser als sie ihn. Er hat in kürzester Zeit herausgefunden mit was man sie ablenken kann.“
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Und das wäre?“
„Denken sie doch mal kurz nach. Er musste das Gesprächsthema nur auf etwas lenken, das mit dem Meer zu tun hat und schon hatte er sie.“
Da hatte Andrew gar nicht so Unrecht. Anthony hatte mich gleich zu Beginn des Gespräches dazu gebracht ihm meine ganzen Träume und Ziele zu erzählen und das nur in dem er mir zugehört hatte. Wie kam ich eigentlich dazu ihm all das zu erzählen? Andrew musste an meinem Gesichtsausdruck gesehen haben, dass ich ihm Recht geben musste.
„Keine Sorge, sie bekommen morgen noch eine Gelegenheit ihn auszufragen, wenn sie sich nicht wieder ablenken lassen.“
„Zweimal hintereinander werde ich ganz bestimmt nicht auf seinen Trick herein fallen.“

Samstag,01.06.13,19:50 Anthony

Es war gar nicht so schwer gewesen mit ihr zu reden. Ich hatte nichts über mich erzählen müssen. Nachdem ich bei ihrem Traumberuf nachgefragt hatte, konnte ich mich einfach zurücklehnen und ihr zuhören. Meine Befürchtung, dass sie mich Verhören würde, war nicht eingetroffen. Alles in allem war es ein ganz angenehmer Nachmittag gewesen. Der Kellner war bei der Erwähnung ihrer Zimmernummer beinahe in Ohnmacht gefallen.
„Was grinst du so dämlich vor dich hin? Musst du nicht noch Joggen gehen?“, fragte mich Sophie.
„Keine Sorge Schwesterchen, ich binde mir nur noch kurz die Schuhe und dann bin ich auch schon weg.“
Ich zog den letzten Knoten fest und schaute dann Sophie über die Schultern. Vor ihr lag eine ihrer Karten, wahrscheinlich war es Corray.
„Ist das deine neuste Karte?“
Sie nickte.
„Heute werde ich noch damit fertig. Leider bleiben wir bei den Stopps nicht lange genug bei einer Insel, als dass ich sie vermessen könnte.“
Sophie hatte wirklich nur ihre Karten im Kopf, anstatt sie zu vermessen könnte sie sich auch einfach einmal ansehen und den Aufenthalt geniessen.
„Ich muss dann los, wir sehen uns später!“, rief ich in Simons Kabine.
„Anth, warte noch kurz!“ Er streckte den Kopf durch die Tür. „Behalt die Umgebung genau im Auge, die Chamäleons könnten ihr auflauern. Um diese Zeit ist nämlich fast niemand unterwegs, die meisten Passagiere geniessen noch immer das köstliche Essen.“
„Gut, ich werde meine Augen und Ohren offen halten.“
Bevor ich durch die Tür trat, streifte ich mir noch die Kapuze von meinem Pullover über. Sie musste mich ja nicht gleich erkennen. Ein kurzer Blick auf meine neue Uhr verriet mir, dass ich noch fünf Minuten hatte. Im Laufschritt machte ich mich auf den Weg zur Jogging Lane. Dort hielt ich mich im Schatten versteckt, bis Lucy heraus trat. Punkt zwanzig Uhr. Pünktlich war sie, dass musste man ihr lassen. Sie steckte sich Kopfhörer ins Ohr und lief dann los, ich heftete mich an ihre Verse. Na gut, so nahe ging ich jetzt auch wieder nicht ran. Mindestens sechs Meter Abstand liess ich zwischen uns. Lucy legte gleich zu Beginn ein ordentliches Tempo vor. Innerlich betete ich, dass sie nicht mehr als zwei Runden drehte. Die Jogging Lane führte einmal um das ganze Schiff herum und bei einer Länge von 362 und einer Breite von 66 Metern, ergab das eine Rundenlänge von 856 Metern. Die erste Runde drehten wir alleine, doch bei der zweiten stiess jemand dazu. Es war der ältere Mann, den mir Simon beim Essen gezeigt hatte. Er trug ein Schweissband um die Stirn und lange Jogginghosen. Zuerst schien er mich gar nicht zu bemerken und reite sich zwischen mir und Lucy ein. Eine Weile Joggte er so hinter ihr her, doch dann zog er irgendetwas aus der Tasche. Von dieser Entfernung aus konnte ich nicht sehen, was es war. Alarmiert legte ich einen Zahn zu und schloss zu ihnen auf. Als der Mann mich kommen hörte, steckte er das Ding schnell wieder zurück in seine Tasche. Wenn ich mich nicht täuschte, handelte es sich um einen Wattebausch. Die nächste Viertelstunde wich ich ihm nicht von der Seite. Nach dieser Zeit beendeten wir unsere dritte Runde und Lucy verschwand im Schiff. Gerade als er ihr folgen wollte, stellte ich mich ihm in den Weg.
„Sie sind ziemlich fit für ihr Alter“, keuchte ich.
„Ich konnte kaum mit ihnen mitthalten.“
Etwas verärgert antwortete er:
„So alt bin ich nun auch wieder nicht. Sie sollten mehr trainieren, wenn sie das schon so ausser Puste bringt.“
„Da haben sie vielleicht Recht, ich werde wohl etwas mehr laufen gehen müssen.“
„Tun sie das“, sagte er und ging an mir vorbei.
Nachdem er gegangen war lehnte ich mich gegen die Reling und streifte die Kapuze zurück. Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch, die Briese war angenehm kühl. Im Wasser konnten mir die Temperaturen nichts anhaben, doch an Land sah das anders aus. Der Schweiss rann mir am ganzen Körper herunter. Doch bevor ich eine Dusche nahm, musste ich Simon davon erzählen.

 

Kapitel 8

Sonntag,02.06.13,20:00 Anthony

 

 

Die Kellnerin führte uns zu einem Tisch, der direkt am Fenster stand. Ich schob Sophie vor mir her und überliess ihr den Platz direkt am Fenster. Der Blick auf das Meer beruhigte sie, dass wusste ich, denn bei mir war es nicht anders. Trotzdem wirkte sie noch immer angespannt. Das Steak House war gut besucht und wir hatten nur noch einen Tisch bekommen, weil Andrew reserviert hatte. Er nahm gerade Sophie gegenüber Platz, während sich Lucy mir gegenüber setzte. Simon liess sich mit dem Rücken zum Fenster auf seinen Stuhl fallen, damit er den ganzen Raum im Blick behalten konnte. Die Kellnerin die uns zum Tisch geführt hatte war verschwunden und dafür kam nun ein Kellner zu uns herüber. Es war derselbe Kellner, der uns schon in der Lounge bedient hatte. Als er uns wieder erkannte, gefror sein Lächeln und er brauchte einen Moment um seine Fassung wieder zu finden.
„Wie sie sehen können bin ich dieses Mal ordnungsgemäss gekleidet, trocken und sie müssen nicht fürchten noch eine Bruchlandung hinzulegen“, sagte ich, das ich nicht wiederstehen konnte.
Lucy unterdrückte ein Lachen und hustete stattdessen. Ohne einen Kommentar nahm er unsere Getränkebestellungen entgegen, verteilte uns die Speisekarten und ging zähneknirschend davon. Fragend sah mich Simon an.
„Du bist diesem Kellner schon einmal begegnet?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Bei unserer letzten Begegnung ist er in einer Pfütze ausgerutscht, die ich hinterlassen habe.“
Simon schüttelte den Kopf.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht mit nassen Sachen durch die Gegend laufen sollst!“, schimpfte er. Sein Lächeln strafte seinen strengen Ton jedoch Lügen.
„Keine Sorge Dad, die Leute fanden es ganz unterhaltsam und selbstverständlich habe ich angeboten die Schweinerei zu beseitigen.“
Sophie rammte mir ihren Ellenbogen in die Seite und sah mich mit finsterem Blick an. Sie konnte es nicht leiden, wenn ich auf irgendwelche Art Aufmerksamkeit erregte.
„Aua“, sagte ich und rieb mir die Stelle an der sie mich getroffen hatte.
Eigentlich hatte ich den Schlag kaum gespürt, aber ich liess sie in dem Glauben. Andrew wollte natürlich die Einzelheiten wissen und ich überliess es Lucy, die Geschichte zum Besten zu geben. Nachdem sie zu Ende erzählt hatte, sah ich, dass auch Sophies Mundwinkel verdächtig zuckten.
„Kein Wunder, dass er uns jetzt nicht mehr bedienen will, immerhin habt ihr ihn ganz schön gedemütigt.“
Der Kellner bediente tatsächlich nun einen anderen Tisch und die Kellnerin, die uns den Platz zugewiesen hatte war wieder da.
„Ich werde ihm ein extra Trinkgeld zukommen lassen, aber jetzt lasst uns das Thema wechseln. Wie kommt es dass sie jetzt auch auf der Helios Urlaub machen?“, fragte er an Simon gewandt.
„Der Urlaub war schon seit einem Jahr geplant, sie wissen ja wie schwer es ist an Tickets zu kommen. Corray bot sich natürlich wegen seinen wunderbaren Korallenriffen an. Wir sind begeisterte Taucher, was gleichzeitig Hobby und Beruf ist.“
Interessiert beugte sich Andrew nach vorne.
„Dann sind sie also richtige Berufstaucher?“
„Ja, wir übernehmen jegliche Arbeiten unter Wasser. Beispielsweise vermessen wir Inseln, um genaue Karten anfertigen zu können“, antwortete Simon nachdem er einen Bissen hinunter geschluckt hatte.
„Sie müssen wissen, dass wir recht gefragt sind, da wir drei Wasseratmer sind und so keine Probleme haben auch in tiefen Gewässern zu arbeiten.“
Scheppernd fiel Lucys Gabel unter den Tisch. Eine Verwünschung murmelnd, folgte sie ihr.
„Interessant, sie sind also alle drei Wasseratmer. Dann haben sie bestimmt schon die ein oder andere alte Ruine gesehen.“
Simon nickte.
„Allerdings, davon gibt es ja auch eine Menge“, antwortete ich an Simons stelle.
Ein dumpfer schlag und noch mehr Verwünschungen waren zu hören, als Lucy mit dem Kopf gegen den Tisch knallte. Ich hob das Tischtuch an und spähte unter den Tisch.
„Hast du dich da unter verlaufen oder was?“ Sie gab keine Antwort und tastete weiter auf dem Boden herum. Als ich das Tischtuch gerade wieder loslassen wollte, entdeckte ich die Gabel genau neben meinem Fuss. „Hier, ich habe sie gefunden.“
Wortlos nahm sie die Gabel entgegen und tauchte dann wieder bei ihrem Platz auf. Was mir langsam seltsam erschien, war das Andrew immer ein paar graue Handschuhe trug. Jedes Mal wenn ich ihn gesehen hatte, trug er sie. Selbst jetzt während des Essens behielt er sie an. Galt es nicht als äusserst unhöflich am Tisch Handschuhe zu tragen? Auf jeden Fall musste es dafür irgendeinen triftigen Grund geben. Denn so wie ich ihn kennengelernt hatte und nachdem was ich über ihn gelesen hatte, legte er sehr grossen Wert auf gutes Benehmen. Bevor ich mir darüber weiter den Kopf zerbrechen konnte, richtete Andrew das Wort an mich.
„Dein Vater hat mir gerade erzählt, dass du auch schon als Bergungstaucher gearbeitet hast.“
Ich nickte.
„Eine gefährliche Arbeit für einen elfjährigen Jungen.“
„Das war zu der Zeit als die Queen Mary mit dem Frachtschiff Arktos zwei kollidiert ist. Wir waren gerad in der Gegend und hatten von dem Unglück gehört. Sie konnten jede Hilfe gebrauchen, insgesamt hatten wir zwei Jahre Arbeit an den beiden Schiffen. Die Leute auf der Queen Mary und der Arktos zwei mussten so schnell wie möglich gerettet werden.“
Lucy schien angestrengt nachzudenken und zerlegte dabei fachmännisch ihren gegrillten Schwertfisch.
„Sind bei dem Schiffsunglück nicht mehr als 400 Menschen ums Leben gekommen? Soweit ich weiss war diese Kollision eines der schlimmsten Schiffsunglücke der Neuzeit. Nicht nur das es viele Menschenleben gefordert hat, auch sind enorme Umweltschäden durch den Ölaustritt entstanden.“
„Wir hatten enorm mit den Öl Massen zu kämpfen. Das Leck abzudichten war gar nicht so einfach, zumal die Arktos zwei vollständig gesunken war.“
Ich schilderte die Lage der beiden Schiffe und erzählte von den Arbeiten. Einige Details, wie die umhertreibenden Leichen, der Leute die es nicht geschafft hatten, liess ich aus. Es schien mir nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um über solche Dinge zu reden. Immerhin wollte ich niemandem den Appetit verderben. Auch wollte ich nicht an diese Bilder erinnert werden. In meinem kurzen Leben hatte ich schon so manches gesehen, was ich lieber wieder aus meinem Kopf verbannen würde.
„Kann ich ihnen noch etwas zu trinken bringen?“, riss mich die Kellnerin aus meinen Gedanken.
„Noch einen Eistee bitte.“
Ich nippte an meinem Getränk und überliess nun wieder Simon das Reden. Er war zwar genau wie ich kein grosser Redner, genoss es aber sich mit jemandem zu unterhalten, der so viel vom Meer und der Schifffahrt verstand. Man konnte sich schwer vorstellen, dass Lucys „Onkel“ ein einfacher Koch sein sollte. Wobei er ja auch nicht nur ein Hauslehrer sein konnte. Lambert wirkte einfach zu geheimnisvoll, seine ganze Ausstrahlung war… mysteriös. Ein besseres Wort fiel mir dafür nicht ein. Mysteriös beschrieb ihn ganz gut. Wusste Lucy mehr über ihn oder war er für sie auch nur der Hauslehrer?
„Du starrst sie an.“
„Was?“
„Du starrst sie jetzt schon eine geschlagene Minute an“, flüsterte mir Sophie ins Ohr.
Ich starrte noch ein paar Sekunden länger und wandte mich dann ab. Mittlerweile hatten sich Simon und Andrew einem erfreulicheren Thema zugewandt. Sie sprachen über die Zubereitung von Fisch. Davon verstand ich wenig, ich beschränkte mich aufs Fische fangen, das Zubereiten überliess ich Simon.

Sonntag,02.06.13,23:00 Lucy

Der Abend war angenehm gewesen. Mir kam es vor, als würde ich die Graves schon länger kennen. Sie hatten viel gesehen und erlebt. Ihnen zuzuhören war sehr interessant. Alle drei waren Wasseratmer und konnten so etwas, was ich nie können würde. Damit hatte ich mich eigentlich abgefunden und doch versetzte es mir jedes Mal einen Stick, wenn ich einem Wasseratmer begegnete. Ich lehnte mich an das Balkongeländer und schaute aufs Meer hinaus. Ausserdem hatte mich Anthony so angesehen, als würde er versuchen meine Gedanken zu lesen. Doch nicht nur mich hatte er so angesehen, auch Andrew hatte er mit seinen Blicken durchbohrt. Nur wiederstrebend wandte ich meinen Blick vom Meer ab und ging zurück in die Kabine. Andrew sass auf dem Sofa und lass in einer Zeitung. Manchmal hatte ich das Gefühl er würde nie schlafen. Er ging immer nach mir ins Bett, stand aber am nächsten Morgen auch wieder früher auf.
„Steht irgendetwas Interessantes drin?“
„Nein, nur das Übliche.“
Das Übliche hiess, dass die Piraten wieder einmal etwas überfallen hatten.
„Gute Nacht Andrew.“
„Gute Nacht Lucy und denken sie daran, dass wir morgen bei Little Island halt machen.“
Ich nickte ihm zu und ignorierte, dass er schon wieder so förmlich redete.

 

Montag,03.06.13,9:00 Lucy

 

Little Island machte seinem Namen alle Ehre. Es war wirklich eine der kleinsten Inseln die ich je gesehen hatte. Das Schiff hatte nicht im Hafen anlegen können, Passagiere, die auf die Insel wollten, mussten mit den Rettungsbooten übergesetzt werden. Viele Leute hatten sich nicht für den Ausflug angemeldet, sodass zwei Rettungsboote völlig ausreichten. Die meisten Leute schienen den Luxus auf dem Schiff vorzuziehen. Die Graves schienen das wohl genauso zu sehen, denn ich konnte sie in den Booten nirgends entdecken. Darüber war ich etwas enttäuscht, ich hätte sie gerne wieder gesehen. Andrew kannte die Insel, hier verbrachte er gerne seinen Urlaub. Deshalb machte er es sich zur Aufgabe, den Stadtführer zu spielen und mir die Altstadt zu zeigen. Viel mehr als die Altstadt gab es ja auch nicht zu sehen. So verbrachten wir praktisch den ganzen Tag damit durch die Gassen zu schlendern und uns die verschiedenen Geschäfte anzusehen. Geduldig liess sich Andrew in jeden Laden zerren und schleppte meine Einkaufstaschen. Andrew ging gerade an einem kleinen Unscheinbaren Ladenvorbei, als mir ein Symbol ins Auge stach. Um ganz sicher zu sein, zog ich mein Medaillon unter meinem T-Shirt hervor. Ich hatte mich nicht geirrt, es war dasselbe Symbol.
„Wo bleiben sie den?“, fragte Andrew der bereits ein paar Schritte weiter gegangen war.
„Ich will mir den Laden hier ansehen.“
Andrew kam zurück.
„Was wollen sie in einem Tattoo Studio?“
Erst jetzt bemerkte ich das Schild über dem Eingang. „Miles Tattoo Studio“, stand dort.
„Siehst du das Tattoo dort“, fragte ich und zeigte auf ein Bild im Schaufenster, „das gleiche Symbol ist auf dem Medaillon meiner Mutter. Ausserdem hatte sie selbst auch so eines auf dem Schlüsselbein.“
Andrew trat näher an das Schaufenster und beugte sich vor.
„Ich glaube, dass mir das Symbol auch sonst bekannt vorkommt.“ Angestrengt dachte ich nach, wo hatte ich das sonst noch gesehen. „In den Notizbüchern meiner Mutter taucht es mehrmals auf. Eigentlich immer wenn ich es irgendwo gesehen habe, hatte es mit meiner Mutter zu tun.“
„Ihre Mutter hat sich auch intensiv mit den alten Städten beschäftigt. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie das Symbol im Zusammenhang mit ihrer Mutter gesehen haben. Eigentlich sollte jeder, der bei mir Unterricht hatte das Symbol ebenfalls kennen.“
Täuschte ich mich oder hörte ich da einen leisen Vorwurf in seiner Stimme. Erwartungsvoll schaute ich Andrew an.
„Es handelt sich um die geflügelte Sonnenscheibe. Sie ist das Zeichen der versunkenen Königshäuser und deren Wächtergarde.“
Wann hatte er das den bitte im Unterricht erwähnt? War ja jetzt auch egal. Da ich jetzt wusste um was für ein Symbol es sich handelte, fand ich es umso interessanter.
„Angeblich diente die Sonnenscheibe dazu, die Geister des Wassers zu rufen und sich ihre Kräfte zunutze zu machen. Anders als bei den heute sehr selten gewordenen Geisterrufern, waren die Wächter jedoch nicht in der Lage den geistern eine feste Gestalt zu geben.“
„Das sind doch alles nur Märchen, so etwas wie Geisterrufer gibt es nicht“, unterbrach ich ihn.
Mit todernster Stimme erwiderte er:
„Märchen? Nein Lucy, Geisterrufer sind keine Märchen.“
„Wieso bist du da so sicher, bist du schon mal einem begegnet?“, fragte ich nicht überzeugt.
„Ja, mein bester Freund war einer von ihnen.“
Sein bester Freund? Das war das erste Mal, dass ich etwas von seiner Vergangenheit erfuhr. Normalerweise erzählte er nie etwas über sich. Alles was ich über ihn wusste, hatte ich in seinen Bewerbungsunterlagen gelesen und noch nicht einmal die hätte ich lesen dürfen. Woher er kam und was er gewesen war interessierte mich schon, aber wichtiger war mir jedoch, dass er überhaupt da war.
„Na gut, nehmen mir einmal an, dass alles gibt es wirklich, könnte sich dann nicht einfach jeder ein Tattoo stechen lassen und die Geister rufen?“
„Nein, nein, so einfach funktioniert das nicht. Nehmen wir Beispielsweise die Wasseratmer.“
„Was hat denn das jetzt mit denen zu tun?“
„Lassen sie mich ausreden, dann kommen sie schon noch dahinter.“ Jetzt war er wieder vollkommen in seine Lehrerrolle zurückgefallen. „Genauso wie nicht jeder die Fähigkeit hat Wasser zu atmen, so kann auch nicht jeder die Geister rufen. Die Tätowierung dient lediglich als Katalysator.“
Woher wusste er das alles? Bevor ich an so etwas glauben konnte, musste ich es mit meinen eigenen Augen gesehen haben.
„Wie werden dann die ausgewählt, die die Geister rufen können und was für Fähigkeiten verleihen einem die Geister?“
Andrew lächelte Seelig und seine Augen glänzten freudig.
„So viele Fragen, obwohl sie mir kein Wort glauben. Die alle zu beantworten wird eine Weile dauern und das würde ich lieber bei einem gemütlichen Essen tun, schliesslich sind wir schon den ganzen Tag unterwegs.“
Ich nickte und sah mir noch einmal das Tattoo im Schaufenster an. Das Symbol zog mich an, genau wie es das Meer manchmal tat.
„Weisst du was, ich schaue doch noch kurz rein.“

Das letzte an das ich mich noch erinnern konnte, war, dass ich den Laden betreten hatte. Dann setzte mein Gedächtnis erst wieder ein, als ich den Laden wieder verliess. Verwirrt sah ich mich um und rieb mir über das linke Handgelenk. Ich hielt inne, als meine Finger über einen Verband tasteten. Hatte ich mir gerade ein Tattoo stechen lassen? Hinter mir trat Andrew durch die Tür.
„Den Verband solltest du noch nicht wegnehmen“, riet er mir, als ich daran zupfte.
„Habe ich mir gerade ein Tattoo stechen lassen?“
Andrew nickte. Dann hatte sich meine Vermutung also bestätigt.
„Warum hast du mich nicht davon abgehalten?“
„Sie haben sehr entschlossen gewirkt.“
Entschlossen? Ich hatte mich keinesfalls dazu entschlossen ein Tattoo zu stechen. Zugegeben, meine Mum hatte eines gehabt, aber ich hatte erst in Ruhe darüber nachdenken wollen.
„Na gut, so schlimm wird es schon nicht sein. Solange es kein Arschgeweih ist. Jetzt würde ich gerne etwas essen gehen.“
„Gut, ich kenne ein wirklich nettes Lokal“, sagte er und ging los.
„Ach Andrew, wenn ich das nächste Mal so entschlossen wirke, bindest du mich fest.“

Eigentlich hatte ich mit Andrew über die Geisterrufer und die Wächter reden wollen, aber kurz nach uns waren die Graves im Lokal aufgetaucht. Sie hatten uns begrüsst und sich dann an einen Tisch ganz in der Nähe gesetzt. Ich konnte hören, wie sie sich über das Essen unterhielten. Irgendwie kam es mir dann nicht so passend vor hier darüber zu reden. Ich konnte hören wie sie sich über das Essen unterhielten. Wenn ich sie hören konnte, konnten sie uns ganz bestimmt auch hören. Ich schlang mein Essen herunter, um möglichst schnell mit Andrew alleine reden zu können. Dafür warf er mir einen Blick mit hochgezogener Augenbraue zu.
„Das Essen schmeckt besser wenn man es auch kauen würde. Wir haben alle Zeit der Welt, du kannst das Essen auch geniessen.“
Ich schluckte und legte das Besteck beiseite.
„Habe ich mir wirklich eine Geflügelte Sonnenscheibe stechen lassen?“, fragte ich und strich über den Verband.
„Ja und ich muss sagen du hast ein sehr schönes Motiv ausgewählt. Es sieht beinahe so wie ein Armband aus.“
Andrew musste ebenfalls bemerkt haben dass die Graves in Hörweite sassen, er duzte mich wieder.
„Im Moment schwirren mir so viele Dinge durch den Kopf, das ich gar nicht mehr klar denken kann. Ich muss erst einmal meinen Kopf freikriegen, aber du schuldest mir noch ein paar Antworten.“
Andrew nickte.
„Natürlich, frag mich alles was du willst.“
„Alles?“
„Alles“, versicherte er mir.
Das machte mich gleich noch verwirrter.
„Gut…, ist es in Ordnung wenn ich, sobald wir zurück auf dem Schiff sind, Joggen gehe?“
„Im Moment kann man mit dir sowieso kein vernünftiges Gespräch führen. Geniess dein Essen und dann fahren wir zurück.“

Bei der Rückfahrt zum Schiff sassen die Graves mit uns zusammen im Boot. Ich war mir aber sicher, dass sie auf dem Hinweg in keinem der beiden Boote gewesen waren. Sophie sass auf Anthonys Schoss und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin grinste er breit und schaute in meine Richtung. Einen kurzen Moment erwiderte ich seinen Blick, schaute dann aber weg und fragte mich was sie ihm zugeflüstert hatte.

 

Montag,03.06.13, 7:00 Anthony

 

Heute stand als erstes das Fitnesscenter auf dem Programm. Ich wählte eine Maschine von der aus ich Lucy perfekt im Blick hatte. Zuerst stellte ich das leichteste Gewicht ein, es war schliesslich erst 7:00 Uhr morgens. Das war dann doch viel zu leicht. Zwei Stufen höher war es wenigstens etwas fordernd. Wie auch schon beim Joggen schien Lucy nichts um sich herum wahrzunehmen. Durch die Kopfhörer wurde das Ganze noch verstärkt, sie war ganz auf ihr Training fixiert. Ausser mir und Lucy waren nur noch zwei andere Menschen im Fitnessstudio, die Chamäleons. Sie arbeiteten sich Gerät für Gerät näher an Lucy heran. Hatten die wirklich vor sie direkt vor meinen Augen zu entführen? Auf jeden Fall gefiel mir das Ganze nicht. Ich legte mir das Handtuch um den Nacken und schlenderte langsam zu ihr rüber. Neben dem Crosstrainer stand eine Hantelbank. Auf diese liess ich mich fallen und trank einen Schluck Wasser.
„Entschuldigen sie Junger Mann, das hier ist keine Parkbank auf der man sich ausruhen kann.“
Ich schraubte in aller Ruhe die Flasche zu und Blickte ihm dann direkt ins Gesicht. Es war definitiv der Gleiche wie beim Joggen.
„Natürlich nicht, ich wollte nur etwas trinken. Wissen sie es ist äusserst wichtig, dass man während des Trainings genügen Flüssigkeit zu sich nimmt.“
Ich stellte die Flasche beiseite und legte mich hin. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er mich an.
„Sind sie sicher dass sie gleich mit vierzig Kilo starten wollen?“
Ein kurzer Blick auf die Hantel verriet mir, dass tatsächlich auf beiden Seiten je zwanzig Kilo montiert waren. Sophie ist in etwa gleich schwer, da schaffe ich das schon.
„Machen sie sich mal keine Sorgen, solche Gewichte hebe ich täglich.“
Unter den Wachsamen des Chamäleons hob ich die Hantel an. Erleichtert stellte ich fest, dass sie nicht viel schwerer als Sophie war. Vorsichtig machte ich zwei Wiederholungen. Gar nicht so übel, dachte ich. Für jemanden der nicht täglich trainierte war das gar nicht so schlecht. Ich war von Natur aus stark und schwamm jeden Tag, was ja auch eine Art Training war. Nach acht weiteren Wiederholungen legte ich die Hantel zurück und richtete mich auf. Meine Arme brannten leicht und der Schweiss rann mir den Nacken hinunter. Ich stand ganz auf und wischte mir mit dem Handtuch übers Gesicht.
„Bitte, das Gerät gehört ihnen“, sagte ich und deutete auf die Hantelbank. Mit überlegener Miene setzte er sich auf die Hantelbank. Er schien sich vor mir nicht die Blösse geben zu wollen, das Gewicht zu verringern. Ich stachelte ihn noch etwas an, indem ich ihn erwartungsvoll anschaute.
„So schwer kann das gar nicht sein“, murmelte er.
Was für eine Show der abzog. Bevor er sich hinlegte rieb er sich die Hände, plusterte sich auf und holte tief Luft. Mit einem lauten Schnauben wandte er seine ganze Kraft auf um das Gewicht in die Höhe zu Stämmen. Bei dem Versuch eine Wiederholung hinzubekommen lief er knallrot an. „Sie sollten es lieber zuerst mit etwas weniger Gewicht versuchen“, wiederholte ich seine Worte. Vor lauter Anstrengung blieb ihm seine Antwort im Hals stecken. Sein Ego liess es wohl nicht zu das er aufgab.
„Was in Gottes Namen treibst du da Schatz!?“, rief die Frau und eilte zu uns herüber.
Mittlerweile war er nun unter dem Gewicht eingeklemmt und seine Gesichtsfarbe würde schon bald von Rot auf Blau wechseln. Gemeinsam mit seiner Frau mühten sie sich nun zu zweit ab, die Gewichte wieder zurück in die Halterung zu hieven. Ich wollte gerade meine Hilfe anbieten, als sie es doch noch schafften. Vielleicht wäre es je besser gewesen wenn er erstickt wäre. Schnell verwarf ich diesen Gedanken wieder und zog mich unauffällig etwas zurück. Lucy hatte von dem Ganzen rein Garnichts mitbekommen. Wie konnte eine Person eigentlich so unaufmerksam sein? Sie hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt wenn das Chamäleon erstickt wäre. Ich machte auf einem Fahrrad weiter und wartete darauf, dass Lucy ihr Training beendete. Die Chamäleons schienen genug vom Fitnesscenter zu haben und gingen. Lucy beendete ihr Training, nach zehn weiteren Minuten. Ich hielt mich hinter ihr und folgte ihr bis zur Kabine zurück.

„Und, wie war’s?“, fragte mich Simon.
„Naja, ich bleibe beim Schwimmen, aber die Chamäleons scheinen richtige Fitnessstudio Freaks zu sein, sie waren auch da.“
Ich zog mir mein verschwitztes T-Shirt über den Kopf und warf es auf mein Bett.
„Das ist nicht weiter überraschend, es heisst nur für uns, dass wir noch Vorsichtiger sein müssen. Ich werde sie heute keine Sekunde aus den Augen lassen.“
Meine Schuhe und Socken folgten dem T-Shirt.
„Ok, ich gehe erst einmal duschen.“
Gerade als ich mich mitsamt meiner Hose unter die Dusche stellen wollte, fiel mir auf, dass ich ja gar nicht meine Badehose trug. Sophie sagte immer es sei eine schlechte Angewohnheit von mir, mit meiner Badehose zu duschen. Ich fand es einfach praktischer. Als das kühle Wasser meinen Körper hinunter lief, fühlte ich mich gleich besser. Meerwasser fühlte sich besser an, schoss es mir durch den Kopf. Keine Ahnung warum, aber wenn ich im Meer schwamm fühlte ich mich noch lebendiger. Um mich ein zu schamponieren, leitete ich das Wasser von der Dusche um meinen Körper herum. Das Wasser mit meinem Willen zu lenken fiel mir immer leichter. Die ersten zwei Male, als ich es versucht hatte, verlor ich schon nach wenigen Sekunden die Kontrolle, weil ich mich ja gleichzeitig noch am ganzen Körper mit Duschmittel einreiben musste. Doch dann war mir klar geworden, dass ich zu sehr daran dachte das Wasser zu bewegen. Man dachte ja auch nicht daran den Arm zu bewegen, wenn man etwas aufheben wollte, man tat es mehr oder weniger einfach. Genauso verhielt es sich mit der Wasserkontrolle, es ging einfacher, wenn ich genau wusste was ich eigentlich tuen wollte. Natürlich spielte auch die Erfahrung eine Rolle. Ich war so in meine Übungen versunken, dass ich gar nicht merkte wie die Zeit dahinflog.
„Anth, was treibst du denn so lange da drin!?“, rief Sophie und hämmerte an die Tür. „Die Boote fahren in fünf Minuten!“
Verdammt, hätte sie nicht früher etwas sagen können? So schnell ich konnte drehte ich das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Dabei rutschte ich aus und krallte mich am Duschvorhang fest, was im Nachhinein gesehen keine so gute Idee war. Mein Gewicht war zu viel für den armen Vorhang und ich riss ihn mit mir zu Boden. Unsanft schlug ich mit meinem Hintern auf dem Boden auf.
„Scheisse!“, entfuhr es mir.
„Ist alles in Ordnung?“
Ich schnaubte, wand mich aus dem Vorhang, rappelte mich auf und wickelte mir schliesslich ein Handtuch um die Hüfte.
„Mir geht’s gut, aber der Duschvorhang ist hinüber“, sagte ich und trat aus dem Bad.
„Wie ist das denn passiert?“
„Ausgerutscht“, antwortete ich knapp und tauschte das Handtuch gegen meine Badehose.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr, viertel nach neun.
„Moment mal, die Boote sind schon vor einer Viertelstunde losgefahren“, stellte ich fest und drehte mich zu meiner Schwester um.
Sie setzte ihre Unschuldsmiene auf und sagte dann:
„Ich hätte dich doch nie aus der Dusche bekommen, wenn ich gesagt hätte, dass die Boote schon weg sind.“
Ich warf ihr einen Vorwurfsvollen Blick zu und rieb mir über den Hintern.
„Du hast mein Steissbein auf dem Gewissen.“
„Soll ich mal nachsehen?“, bot sie versöhnlich an.
„Nein, ich werde es auch so überleben, aber die Frage ist jetzt wie wir auf die Insel kommen.“
Sophie ging zu ihrem Bett und hob einen dunkelblauen Rucksack hoch.
„Hiermit. Dad hat ihn für uns hiergelassen. Er hat den anderen mitgenommen und ist dem Boot Unterwasser gefolgt.“
Der Rucksack war eigentlich mehr ein Seesack und wasserdicht.
„Seit wann haben wir wasserdichte Seesäcke?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Du kennst ja Dad, er ist immer für eine Überraschung gut.“
Da hatte sie Recht, ausserdem musste sich ja auch etwas in den Zahlreichen Taschen befunden haben, die er mit sich geschleppt hatte.
„Das heisst wohl wir schwimmen rüber.“
„Mmmh“
Dann beliess ich es bei meiner Badehose, zog mir noch die Armbinde über und packte ein T-Shirt und meine Sandalen in den Sack.
„Was nimmst du mit?“
„Hier“, sie reichte mir ein blaues Kleid, Unterwäsche und ihre Turnschuhe.
„Sonst noch was?“
„Ja, du brauchst vielleicht keines, aber ich mag es nicht nass durch die Gegend zu laufen“, sagte sie und gab mir noch ein keines Handtuch.
Zugut er Letzt steckte ich noch ein paar Scheine und die Schlüsselkarte zwischen die Kleidung.
„Na dann, auf geht’s.“
Wir fuhren mit dem Fahrstuhl zum untersten Deck und gingen dort zu den Rettungsbooten. Dort kletterte ich über die Reling auf das Dach des Rettungsbootes.
„Beeil dich Soph, ich will keinen Ärger kriegen, nur weil uns jemand sieht.“
Ich hielt ihr eine Hand hin und zog sie hoch. Sichtlich nervös schaute sie nach unten.
„Meinst du wirklich, dass wir hier runter springen sollten? Ich meine das sind mehr als fünfzehn Meter bis nach unten.“
Mit Schwung beförderte ich den Rucksack über Bord.
„Komm her Soph, wir springen zusammen. Dir wird nichts passieren, Bruderehrenwort.“
Ich legte die Arme um sie, zog meine Schwimmbrille fest und sprang dem Gepäck hinterher.

Sanfter als ich es erwartet hatte glitten wir ins Wasser. Wir wurden förmlich aufgefangen. Unten angekommen liess ich Sophie los und tauchte auf um den Rucksack zu holen. Mit ihm auf dem Rücken, tauchte ich zurück zu Sophie. Sie hielt sich am Rucksack fest und liess sich von mir durchs Wasser ziehen. So machten wir das fast immer, wenn wir zusammen schwammen. Da Sophie viel langsamer war als ich, zog ich sie, damit wir schneller vorankamen. Wie ein Pfeil schoss ich durchs Wasser auf die Insel zu, das zusätzliche Gewicht machte mich kaum langsamer. Ich lokalisierte den nächsten Strand, indem ich nach vielen im Wasser treibenden Personen Ausschau hielt, oder besser gesagt fühlte. Dort tauchten wir in mitten vieler anderer Badegäste auf und wateten an Land.
„War doch gar nicht so schlimm, oder?“
„Dieses eine Mal reicht mir vollkommen“, gab sie zurück.
„Ach was, das hat doch Spass gemacht. So, was willst du nun machen, die Insel erkunden oder noch etwas hier schwimmen gehen?“
Eigentlich wusste ich die Antwort bereits, sie war bei weitem nicht so eine Wasserratte wie ich.
„Gehen wir erst ein Eis essen und dann die Insel erkunden. Ausserdem hat Dad gesagt, dass wir uns um fünf vor dem Einkaufscenter der Insel treffen sollen.“
Das sich Sophie umziehen konnte, suchten wir eine dieser Umkleidekabinen, die überall am Strand verteilt standen. Danach kaufte ich uns beiden zwei grosse Eistüten und wir schlenderten Gemütlich durch die Altstadt.

Am Ende war es dann nicht bei der einen Tüte Eis geblieben. Wir hatten uns noch eine gegönnt und Sophie hatte mich solange bearbeitet, bis ich ihr ein silbernes Armband mit einem Saphirblauen Anhänger in Form eines kleines Herzchens gekauft hatte. Da ich so viel Geld vom Admiral erhalten hatte, war ich recht spendabel.
„Langsam wird es Zeit, dass wir uns mit Simon treffen. Du weisst ja, er mag es nicht wenn wir ihn warten lassen.“
Kaum kam Simon in Sichtweite, hüpfte Soph fröhlich auf ihn zu und wedelte mit ihrem neuen Armband vor seinem Gesicht herum.
„Dad, schau mal was mir Anth geschenkt hat.“
Er betrachtete es eingehend und lächelte sie an.
„Ein schönes Schmuckstück, hast du dich überhaupt bei deinem Bruder dafür bedankt?“
„Noch nicht“, gab sie zu.
„Na dann wird es aber höchste Zeit“, tadelte er sie.
„Du bist der beste Bruder der Welt, danke Anthony“, sagte sie und umarmte mich.
„Wie sieht es aus?“
Simon wurde wieder ernst.
„Die Chamäleons waren ihnen den ganzen Tag auf den Fersen. Lambert ist Lucy aber nie von der Seite gewichen, sodass sie keinerlei Chancen hatten. Jetzt gerade gehen sie etwas essen.“
Diese Chamäleons waren wirklich hartnäckig, aber ich glaube, dass sie langsam aber sicher immer nervöser wurden.
„Lambert hat ein wirklich gutes Lokal ausgewählt, das Sam’s. Kommt, ich lade euch zum Abendessen ein.“

Dieser Fisch kam fast an Simons heran und übertraf den, den ich auf dem Kreuzfahrtschiff gegessen hatte um Längen. Sam’s Restaurant war auch über Little Island hinaus für seine Fischspezialitäten bekannt. Die Chamäleons waren natürlich auch wieder hier und sassen ganz in der Nähe von Lucys Tisch. Im Gegensatz zu mir schien Lucy nicht gerade begeistert von ihrem Essen zu sein, sie stocherte lustlos darin herum. Auch sonst wirkte sie eher ziemlich Geistesabwesend und ich schnappte von ihrem Gespräch auf, dass sie gleich nach der Rückkehr aufs Schiff joggen gehen wollte. Das hiess dann für mich, dass ich mich auch gleich bereithalten musste. Zurück aufs Schiff liessen wir uns auch mit den Rettungsbooten fahren.
„Lucy zerbricht sich gerade den Kopf darüber, warum wir jetzt auch auf dem Boot sind, sie starrt uns schon die ganze Zeit über an“, flüsterte sie mir ins Ohr.
Ich konnte nicht anders als breit zu grinsen und in ihre Richtung zu Blicken. Kurz erwiderte sie meinen Blick, schaute dann aber ertappt weg.

Zurück auf dem Schiff eilte ich in die Kabine zurück, zog mich um und ging gleich zum Joggingtrack. Kurze Zeit später tauchte Lucy auf und natürlich auch der Mann der Chamäleons. Heute sprintete Lucy regelrecht um das Schiff herum. Ich hatte meine liebe Not ihr zu folgen. Hinter mir schloss das Chamäleon langsam zu mir auf.
„Sieh an, hier begegnen wir uns also schon wieder.“ Er schien mehr Ausdauer als Kraft zu haben, den er atmete nicht so angestrengt wie ich. „Langsam habe ich das Gefühl, dass sie dieses Mädchen verfolgen.“
Das ich nicht lache, er verfolgte sie schliesslich auch.
„Wissen sie, ich finde sie unglaublich attraktiv und würde sie gerne näher kennenlernen, nur traue ich mich nicht sie anzusprechen“, log ich stattdessen. „Was denken sie, sollte ich sie ansprechen und sie fragen ob sie mit mir ausgehen will?“
Ich traute meinen Ohren kaum, als ich seine Antwort hörte.
„Ich gebe ihnen einen gut gemeinten Rat. Wenn ihnen ihre Gesundheit lieb ist, sollten sie sich von diesem Mädchen fernhalten.“
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte bog er ins Innere des Schiffes ab und verschwand. Hatte mir das Chamäleon etwa gerade gedroht?

 

 

 

Kapitel 9

Montag,03.06.13, 23:00 Lucy

Frisch geduscht, noch mit nassen Haaren, ging ich nach draussen auf den Balkon. Andrew sass bereits dort, trank einen Tee und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Ohne mich fragen zu müssen warf er zwei Stück Zucker hinein, goss etwas Milch dazu und rührte um. Er wusste genau, wie ich meinen Kaffee gerne trank. Ich bedankte mich und nahm die warme Tasse in die Hand. Es war gar nicht so einfach gewesen zu duschen, ohne dass mein Verband nass geworden war. An das Geländer gelehnt trank ich einen Schluck Kaffee und ordnete noch einmal meine Gedanken.
„Sie sollten sich die Haare trocken, sonst hohlen sie sich noch den Tod“, unterbrach Andrew die Stille.
„Nicht nötig, der Tod scheint an mir nicht interessiert zu sein“, gab ich leichthin zurück. „Beim Surfen im Sturm ist mir nichts passiert und auch vor Corray bin ich nicht ertrunken. Da brauche ich mir wegen einer kleinen Erkältung keine Sorgen zu machen.“
„Sie sollten ihr Schicksal nicht zu oft herausfordern. Doch wollten sie nicht etwas ganz anderes mit mir Besprechen?“
Ich liess mich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen und fragte: „Woher kommen diese Geister, ich will dass du ganz von vorne anfängst.“
„Nun gut. Von vorne. Die Geister, die zu Hilfe gerufen werden können, sind allesamt Lebewesen die ihm Meer ihr Ende fanden. Fische, Pflanzen, Säugetiere und auch Menschen.“
„Menschen…“
„Da muss ich sie endtäuschen, Lucy. Man hat keinerlei Kontrolle darüber wessen Geist man zu sich ruft, auch ist es sehr selten, dass ein Menschlicher Geist auf den Ruf reagiert. Theoretisch ist es jedoch möglich den Geist ihrer Mutter anzutreffen“, beantwortete er meine unausgesprochene Frage. „Ausserdem kann ich ihnen nicht sagen inwieweit man mit den Geistern sprechen kann.“
Das ich überhaupt daran dachte mit dem Geist meiner Mutter zu sprechen zeigte, dass ich langsam anfing an die Sache zu glauben. Theoretisch war es also möglich…
„Die Geister erkennen das Symbol und leihen dem Träger ihre Kraft. Dazu muss man etwas Meerwasser über die Sonnenscheibe streichen.“
„Das heisst, wenn ich etwas Meerwasser über das Tattoo streiche rufe ich die Geister? Hört sich ja nicht gerade schwierig an.“
Er warf mir einen tadelnden Blick zu.
„So einfach ist das nicht. Für das erste Mal, dass man Geister rufen will, muss man im Meer stehen. Dort entscheiden sie dann wen sie als würdig endfinden und wen sie ablehnen.“
„Was geschieht wenn sie mich nicht würdig finden?“
„Dann wird deine Tätowierung zu einem Brandmal, dass sie täglich mit höllischen schmerzen daran erinnert.“
Ich schluckte. Das war ja nicht gerade angenehm. Übertrieben die Geister da nicht ein wenig. Höllische Schmerzen bis ans Lebensende?
„Machen sie sich keine Sorgen, die Geister werden sie auf jeden Fall akzeptieren.“
„Ach ja? Was macht dich da so sicher?“
Er goss sich Tee nach und antwortete dann:
„Das Meer ruft dich, habe ich recht? Du fühlst dich zum Meer hingezogen, das sind die Geister. Deshalb glaube ich nicht, dass sie sie ablehnen werden“, sagte er zuversichtlich.
Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass ich mich so vom Meer angezogen fühle läge an meiner Mutter. Aber Andrew hatte recht, in letzter Zeit war es anders. Waren das wirklich diese Geister?
„Nehmen wir mal an sie akzeptieren mich, was fange ich mit den Geistern an?“
„Mein alter Freund hat immer gesagt, es sei ein unbeschreibliches Gefühl wenn man mit den Geistern verschmilzt. Sie verstärken alle Sinne, machen einen schneller und stärker. Sie ermöglichen einem normalen Menschen unter Wasser zu atmen.“
Andrews Augen glänzten, als er von den Geistern berichtete. Ich konnte seine Begeisterung verstehen. Unter Wasser atmen! Davon träumte ich seit ich denken konnte. Wenn Andrew mir kein Märchen erzählte, musste das nicht länger ein Traum bleiben.
„Man kann wirklich unter Wasser atmen?“
„Ja, es sind Wassergeister und sie nehmen sie in ihren Körper auf, um ihre Kräfte zu nutzen. Aber unter Wasser zu atmen ist nur eine der zahlreichen Fähigkeiten, die einem die Geister verleihen können. Dank ihnen ist es möglich sich in Nebel zu hüllen, Wunden zu heilen und Illusionen zu erschaffen. Nach einer Weile ist es sogar möglich ohne vorher einen Geist zu rufen unter Wasser zu atmen, da die Geister den Körper nach und nach verändern. Jeder gerufene Geist hinterlässt etwas seiner Kraft im Körper des Geisterrufers.“
„Die Geister verändern den Körper?“
Das wurde ja immer unheimlicher. Lebenslange Höllenqualen und ein veränderter Körper. War es das wirklich wert? Die Höllenqualen waren zwar nicht hundertprozentig sicher, aber das diese Geister meinen Körper veränderten, diese Vorstellung gefiel mir nicht.
„Diese Veränderungen bringen eigentlich nur Vorteile mit sich.“
„Eigentlich?“
Seine eben noch heitere Stimmung verflog und machte einem ernsten Gesichtsausdruck Platz. Dieses eigentlich schien ja grösser zu sein, als er zuerst zugeben wollte.
„Es kann sein, dass die in ihrem Körper verbleibende Energie der Geister sie in den Wahnsinn treibt. Dafür leben Geisterrufer wesentlich länger als gewöhnliche Menschen und ihre Körper werden immer widerstandsfähiger.“
Wahnsinn, noch ein Punkt den ich auf die Listen von unerwünschten Nebeneffekten setzen konnte. Ich musste jedoch auch ein paar Punkte auf der Liste der positiven Effekte ergänzen. Die positiven Effekte waren zwar in der Überzahl, aber die negativen waren nicht gerade angenehm.
„Je älter ein Geisterrufer wird, desto mächtiger ist er“, fügte er hinzu.
„Vorausgesetzt man verliert nicht vorher den Verstand oder wird von den Geistern nicht akzeptiert.“
Andrew nickte.
„Ich habe nie behauptet, es wäre leicht ein Geisterrufer zu sein. Wenn sie sich aber dazu entschliessen sollten die Geister zu rufen, werde ich ihnen alles beibringen, was ich weiss. Es wäre mir eine grosse Ehre, eine Junge Geisterruferin auszubilden. Sie müssen wissen, dass es nicht mehr viele davon gibt und es doch äusserst schade wäre, wenn diese Tradition ausstirbt. Denken sie gut darüber nach“, sagte er und stand auf, „haben sie einmal einen Geist gerufen, gibt es kein Zurück mehr.“
Andrew hielt mir seine Hand entgegen, als wolle er das Ganze mit einem Handschlag besiegeln.
Eine Ausbildung zur Geisterruferin? Man sollte meinen, dass ich wenigstens einen Tag darüber nachdachte. Doch genau wie bei dem Tattoo schien mein Hirn auf Autopilot umzuschalten. Ich nahm seine Hand und fragte: „Wann kann es losgehen?“
Er erwiderte meinen Händedruck und sah aus, als hätte er gerade im Lotto gewonnen.
„Sobald wir auf den Zenymen ankommen und bevor wir die Forschungsreise antreten, werden wir das Ritual vollziehen. Ich kenne eine Bucht, die dafür perfekt geeignet ist.“

 

Mittwoch,05.06.13, 15:00 Anthony

Mit aller Kraft klammerte ich mich an der Kletterwand fest und vermied es nach unten zu sehen. Dass ich einen Klettergurt trug und mich einer der Aufseher sicherte beruhigte mich nicht im Geringsten. Noch nicht einmal die Hälfte der Wand lag hinter mir und ich verspürte keinerlei Lust noch weiter nach oben zu klettern. Sophie schien die Höhe überhaupt nichts auszumachen, flink wie sein Wiesel war sie an mir vorbeigeklettert. Während ich mich hier abmühte, sass Simon in einem Liegestuhl und schlürfte einen Drink. Warum konnte ich nicht auch dort unten sitzen? Die Liegestühle lagen direkt neben der Kletterwand und man konnte alles perfekt überblicken. Lucy kletterte am anderen Ende der Wand die schwierigste Route. Bei ihr sah das ganz einfach aus. Mit hochkonzentriertem Gesichtsausdruck suchte sie sich den besten Weg. Die Augen immer noch auf Lucy gerichtet, griff ich ins leere.
„Ouhhhh“, stiess ich aus als ich den Halt verlor. Irgendwie schaffte ich es kopfüber zu hängen. Nun konnte ich auch Sophie sehen, die vor Lachen fast selbst herunter viel. Der Aufseher hatte meinen Sturz gebremst und liess mich dann langsam herunter.
„Willst du es noch einmal versuchen?“, fragte er mich.
„Nein danke, das ist nichts für mich.“ Ich schlüpfte aus dem Klettergurt und stapfte zu Simon rüber. „Es reicht wohl aus wenn du und Sophie hier seid, ich gehe mich fürs Surfen umziehen.“ Simons Drink schwappte über und das Rinnsal floss auf mich zu. Eine Entschuldigung murmelnd machte ich mich aus dem Staub. Bevor ich zu den Surfanlagen ging, zog ich ein paar Banen im Pool.

 

Das Schwimmen kühlte mich etwas runter und ich konnte mich wieder entspannen. Klettern war eindeutig nichts für mich. Doch dass es ausgereicht hatte, dass ich die Kontrolle verlor, gab mir zu denken. Da ich länger als geplant im Pool war, traf ich nicht vor Lucy bei der Surfanlage ein. Sie war bereits dort und zwei Typen standen bei ihr. Beides aufgeblasene Muskelprotze mit Solarium braun gebrannter Haut. Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete die Szene. Die beiden versperrten den Weg zur Surfanlage. Hinter ihr standen noch ein paar andere, die die Anlage gerne ausprobiert hätten. Doch anscheinend hatten die zwei und noch ein Typ, der gerade Surfte, die Anlage für sich beansprucht. Wo war eigentlich die Poolaufsicht? Es schien niemand etwas gegen die drei unternehmen zu wollen. Naja, fast niemand. Lucy stellte sich ihnen mit vor der Brust verschränkten Armen entgegen und funkelte sie wütend an. Glupschauge und Hackennase, so nannte ich die beiden, liessen sich davon nicht weiter beeindrucken. Bevor sie etwas sagen konnte, trat der dritte hinzu.
„Na süsse, Lust Profis beim Surfen zuzusehen?“ Bei der Frage trat er näher an sie heran, sodass sie sich fast berührten. Der Typ war gerade mal eine Handbreite grösser als sie. Lucy wich keinen Millimeter zurück, sondern erwiderte zuckersüss:
„Kein Bedarf süsser, ausserdem kann ich hier nirgends Profis ausmachen.“ Kurz sah ich, wie ein Anflug von Ärger über sein Gesicht huschte.
„Du wirst deine Meinung schon noch ändern, wenn du uns zusiehst. Danach lade ich dich zu einem Drink ein“, sagte er versöhnlich und rückte ihr noch näher auf die Pelle. Das war jetzt eindeutig zu nahe. Ich setzte mich in Bewegung.
„Nein danke, ich bin wie alle anderen auch zum Surfen und nicht zum Zuschauen hier. Diese Anlage gehört euch nicht, also lasst mich durch!“ Nun mischte sich auch noch Glubschauge ein.
„Ach nein? Weisst du denn nicht wer das ist?“
„Unser Freund hier ist Daith Morea“, sagte Hackennase.
„Soll mich das jetzt beeindrucken?“, fragte ich.  Alle vier Köpfe flogen zu mir herum. Hackennase grinste mich dümmlich an.
„Wenn du nicht beeindruckt bist, dann…“
„Ich kenne den Namen Morea“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Aber soweit ich weiss, gehören die Phoenix Lines immer noch Niclas Morea.“ Die Phoenix Lines war eine grosse Reederei, zu deren Schiffen auch die Helios gehörte. Daith war sein einziger Sohn und sollte einmal die Reederei übernehmen.
„Und nur weil deinem Vater die Helios gehört, heisst das noch lange nicht, dass dir das Ganze Kreuzfahrtschiff gehört.“ Ich schnappte mir eines der kurzen Surfboards und ging an ihnen vorbei zur Surfanlage. Daith schien es nicht gewohnt zu sein, dass man so mit ihm redete. Er war einen Moment lang sprachlos, bis er sich von Lucy abwandte und mich musterte. Hackennase und Glubschauge wollten gerade auf mich zugehen, als er sie mit einer Handbewegung zurückhielt.
„Wartet, lasst mich das machen. Der Typ gefällt mir.“ Er schnappte sich ebenfalls ein Board und folgte mir. „Wenn du hier Surfen willst, dann musst du erst mich schlagen. Solltest du es schaffen länger als ich auf dem Board zu stehen, dann kannst du hier Surfen solange du willst.“
„Warum sollte ich darauf eingehen, die Anlage steht jedem zur Verfügung. Ich muss nicht erst gegen dich antreten um hier zu Surfen.“ Wie schon zuvor, entgleisten seine Gesichtszüge. Er schien eine ziemlich dünne Maske zu tragen, wenn sie so schnell zerbrach. Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. Hackennase ging auf mich zu und riss mir das Surfboard aus der Hand.
„Verzieh dich“, blaffte er mich an. Langsam aber sicher ging mir das Ganze auf die Nerven, ich hatte keine Lust mich mit denen anzulegen. Aber jetzt einfach klein bei zu geben, kam auch nicht in Frage. Zur vollen Grösse aufgerichtet ging ich auf Hackennase zu. Ich spürte wie sich Patamon in mir regte. Ihn schienen die Typen auch gewaltig zu Nerven. Tut mir leid Pat, aber ich kann dich nicht rauslassen, sagte ich zu ihm, liess mich aber trotzdem von seiner Kraft durchströmen. Bevor ich jedoch Hackennase erreichte, trat Lucy zwischen uns und hob beschwichtigend die Hände.
„Kommt wieder runter Jungs.“
„Misch dich nicht ein kleine“, zischte Glubschauge. Was ziemlich absurd klang, da er zwei Handbreiten kleiner war als sie. Lucy liess sich nicht aus der Ruhe bringen, ignorierte ihn und nahm Hackennase das Brett ab.
„Ich hoffe, dass du besser surfst, als du kletterst“, raunte sie und drückte mir das Board in die Hand. Dann hatte sie also gesehen, wie ich mich an der Kletterwand blamiert hatte. Ich blickte auf sie herunter und hob eine Augenbraue. „Überlass das Reden mir, mit deinen Verhandlungskünsten scheint es ja nicht gerade weit her zu sein.“ Mit einem Schulterzucken gab ich mein Einverständnis. Sie wandte sich wieder Daith und seinen Bodyguards zu. „Bist du immer noch bereit gegen ihn anzutreten?“ Er überlegte eine Weile und nickte dann.
„Gut, aber mit einer weiteren Bedingung.“ Auf seinem Gesicht breitete sich ein breites Grinsen aus. „ Wenn ich gewinne, bekomme ich einen Kuss von dir“, er deutete auf Lucy, „und wenn du gewinnst, darfst du hier surfen.“
„Ich und alle anderen auch“, fügte ich hinzu und reichte ihm die Hand. Er schlug ein. Dann ging er auf die andere Seite der Anlage und machte sich bereit. Bevor ich mich jedoch ebenfalls aufstellen konnte, packte mich Lucy am Arm.
„Du bist vielleicht mein Lebensretter, aber mich als Wetteinsatz zu setzten…“
„Du wolltest doch dass ich Diplomatisch bin und ausserdem werde ich nicht verlieren.“ Ich schnappte mir das Brett und machte mich bereit. Simon hatte mir einmal gesagt, dass ich fürs surfen geboren worden war. Vielleicht lag es aber auch nur daran dass ich das Wasser beeinflussen konnte und deshalb nicht so schnell vom Brett flog.
„Kann es losgehen?“, fragte Glubschauge. Wir nickten beide und er gab das Startsignal. Ich sprang aufs Board. Dort überliess ich mich meinen Instinkten. Als ich mir sicher war, dass ich einen festen stand hatte, wagte ich es mich umzusehen. Daith war zwar ein reicher Schnösel, aber surfen konnte er, dass musste man ihm lassen. Wenn er oder ich keinen blöden Fehler machten, konnte das ewig so weitergehen. Ich musste ihn irgendwie provozieren, damit er übermütig wurde. Fürs erste vollführte ich einen Sprung. Davon liess er sich nicht beeindrucken, sondern machte ihn einfach nach. Auch die komplette Drehung kopierte er. Hackennase und Glubschauge Grölten und Johlten. Sie feuerten ihren Kumpel an und buhten mich aus. Sie stand mit versteinerter Miene daneben. Wahrscheinlich malte sie sich aus, wie der Widerling sie küsste. Mit einer Handbewegung wischte ich diesen Gedanken beiseite und verlor beinahe das Gleichgewicht. Neben mir stiess Daith einen Schrei aus und wurde regelrecht von seinem Surfboard geschleudert. Unbeabsichtigt hatte ich seinem Brett einen kräftigen Schlag verpasst. Mit einem Satz sprang ich auf den Rand der Anlage zurück. Dieser kleine Ausrutscher hatte das Ganze nur beschleunigt, ich hätte so oder so gewonnen. Vollkommen durchnässt und mit dem Board unter den Arm geklemmt kam er mit zerknirschtem Gesichtsausdruck auf mich zu gestampft.
„Anfängerglück“, murmelte er, als er an mir vorbei ging und direkt auf Lucy zuhielt. „Ich habe zwar gegen ihn verloren, aber den Kuss bekomme ich trotzdem“, sagte er und nahm ihre Hand. Schneller als ich es ihr jemals zugetraut hätte, drehte sie ihm den Arm auf den Rücken.
„Davon kannst du nur träumen! Halt dich von mir fern!“ Sie liess ihn los und stiess ihn von sich. Wutentbrannt schleuderte er das Board auf den Boden.
„Jetzt reicht es mir! Ich wollte höflich sein, aber das lasse ich mir nicht bieten! Braden, Kasey, entfernt sie von der Anlage!“ Entfernen, er wollte uns entfernen lassen.
„Höflich!“, stiess ich hervor, während ich schallend lachte.
„Das Lachen wird dir noch vergehen“, rief Hakennase. Wie ein Stier kurz vor dem Angriff senkte er den Kopf und rannte auf mich zu. Ich trat einen Schritt beiseite und der rutschige Untergrund erledigte den Rest. Mit einem lauten platschen landete er im Becken der Surfanlage. Einer weniger, dachte ich und ging auf Glubschauge zu.
„Zeig ihm deinen rechten Hacken Kasey“, forderte Daith ihn auf. Breit grinsend kam er dieser Aufforderung nach. Ich fing seine Hand ab und hielt sie fest. Mit Pats Kraft, hatte er keine Chance gegen mich. Langsam drückte ich zu. Glubschauges Gesicht verzog sich vor Schmerz und seine Augen schienen nun förmlich aus den Höhlen zu fallen.  
„Ich würde dir nur ungern die Hand zerquetschen, ich lasse dich los, wenn du dann verschwindest.“ Er nickte eifrig und ich liess von ihm ab. Nachdem seine beiden Handlanger nun nicht mehr länger an seiner Seite standen, wirkte Daith gar nicht mehr so überheblich. Er blickte zu Hakennase herüber, der sich gerade aus dem Becken zog und dann zu Glubschauge, der sich seine Hand rieb. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass er mit sich rang.
„Gehen wir, ich hab keinen Bock mehr.“ Ohne ein weiteres Wort zogen sie ab. Ich atmete aus und liess Patamon wieder zur Ruhe kommen. Da die Anlage nun nicht mehr besetzt war, strömten die anderen Passagiere herbei.
„Hier, jetzt will ich sehen, ob du Surfen kannst“, sagte ich und drückte ihr das Brett in die Hand, dass Daith auf den Boden geschleudert hatte.
„Nicht so gut wie du, dass muss ich ohne Neid zugeben. Wer hat dir das Surfen beigebracht?“
„Das habe ich mir selbst beigebracht.“
„Du hattest keinen Lehrer?“, fragte sie ungläubig. Ich schüttelte den Kopf.
„Ich bin dazu geboren worden“, sagte ich breit grinsend. Sie zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts. „Na los, wir haben die Anlage nicht umsonst erobert.“ Ich schnappte mir eines der anderen Boards und stellte mich in die Schlange.

Donnerstag,06.06.13, 10.00 Lucy

 

Sein Blick war eiskalt gewesen. Er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als er alleine drei Typen gegenüberstand. In dem Moment, als sich seine Augen veränderten, lief mir ein Schauer über den Rücken und ich machte mir mehr Sorgen um Daith und sein Gefolge, als um Anthony. Je näher ich ihn kennenlernte, desto rätselhafter wurde er. Auf dem Surfboard machte er eine unglaublich gute Figur, wohingegen er sich beim Klettern zum Affen machte. Zum Surfen trug er kein T-Shirt, deshalb konnte ich auch die grosse Narbe sehen, die sich von seinem Bauchnabel bis wo weiss wohin zog. Woher stammte diese Verletzung? Das war aber nicht das Einzige, das mich brennend interessierte. Warum trug er eine schwarze Armbinde am linken Oberarm? Beides Dinge, die ich ihn noch fragen wollte. Dafür blieben mir jedoch nur noch sechs Tage Zeit, dann würde für mich die Kreuzfahrt Enden und sich unsere Wege trennen. Ich musste ihn unbedingt nach seiner Nummer fragen. Was erhoffte ich mir eigentlich von ihm? Er war zwar mein Lebensretter, aber war da noch mehr? Eigentlich war er gar nicht mein Typ. Seine Haare waren viel zu lang und irgendwie war er auch zu gross. Andererseits waren da seine Augen und seine Stimmen. Das Meer schien ihm genau so viel zu bedeuten wie mir. Das Klatschmagazin „The Talk“ schien Anthony schon als meinen neuen Freund zu sehen. Andrew hatte mich heute Morgen darauf Aufmerksam gemacht. Immerhin war ich nicht auf dem Cover, aber für zwei Seiten mit vielen Fotos hatte es dann doch gereicht. Es hiess, dass ich auf dem Kreuzfahrtschiff mit meinem neuen Freund und Lebensretter Urlaub machen würde. Auf einem Foto hing Anthony kopfüber an der Kletterwand und ich grinste wie ein Honigkuchenpferd. Man konnte wirklich meinen ich sei in ihn verknallt. Auf dem nächsten Bild drückte mir Anthony das Bord in die Hand. Dann gab es noch Bilder von unserem Treffen in der Lounge und beim Abendessen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir fotografiert worden waren. Mein „Selbstmordversuch“ hatte das Interesse der Fotografen geweckt. Als ich mich mit Lars getroffen hatte, hatte das niemanden interessiert. Die meisten Fotografen waren mir nach dem Tod meiner Mutter auf die Pelle gerückt. Wenn einer erwischt worden war, hatten ihn die Sicherheitsleute ziemlich unsanft von seiner Kamera getrennt und hinausbefördert. Wenigstens las mein Vater solche Magazine nicht. Eigentlich interessierte sich auch Andrew nicht für solche Klatschhefte. Hoffentlich traf das auch auf Anthony zu. Irgendwie wäre es mir peinlich wenn er diese Bilder zu Gesicht bekommen würde.
„Wollen sie sich die Insel gar nicht ansehen?“, holte mich Andrew ins hier und jetzt zurück. Wir sassen gerade in einem Bus, der uns ins Zentrum der Insel zum Botanischen Garten brachte. Barbaros war eine der grösseren Inseln, es dauerte immerhin fast zwei Stunden bis ins Zentrum. Mein Blick war auf Anthony gerichtet, der zwei Reihen schräg vor uns sass. Seine Augen waren geschlossen und es sah so aus als wäre ihm übel.
„Auf der Rückfahrt habe ich auch noch Gelegenheit dazu.“ Die Stadt interessierte mich wenig, mein Interesse galt dem botanischen Garten von Barbaros. Für viele Passagiere war er das Highlight der Kreuzfahrt. Freunde der Botanik kamen dort voll auf ihre Kosten. Obwohl auf der Insel ein gemässigtes Klima herrschte, war es dank spezieller Gewächshäuser möglich, Pflanzen aus allen möglichen Klimazonen heranzuziehen. Gespannt war ich vor allem auf das Gewächshaus mit den Algen. Ein äusserst faszinierendes Lebewesen. Nicht nur als Lebensmittel war es äusserst Nahrhaft, man konnte es auch in der Medizin verwenden und Kraftstoff daraus gewinnen. Man nahm an, dass es mehr als 400‘000 Arten gab, davon waren aber erst rund 20% bekannt. Auch eines der Zahlreichen Gebiete die ich gerne erforschen würde. Auf einer der Hauptinsel nahe gelegenen Inseln wurde die Fläche hauptsächlich dazu genutzt Algenkraftstoff herzustellen. Auch viele andere Inseln waren auf den Kraftstoff angewiesen. Es wurde zwar auf vielen Ölplattformen Öl gefordert und es gab auch ein paar wenige Inseln, die ein reiches Ölvorkommen hatten, aber für die kleinen Inseln war das zu teuer. Sie nutzten Solarpanels und Windräder um Strom zu erzeugen und setzten bei ihren Booten auf die Algen. Das Ganze war aber erst dank einem Forscherteam möglich, dass eine Algen Art entdeckt hatte, die in Rekordzeit wuchs. Ausserdem hatten sie die Bioreaktoren so verbessert, dass sie effizienter arbeiteten. Für die kleineren Inseln bedeutete das einen grossen Anstieg vom Wohlstand. Es gab sogar schon Inseln die ihre Überproduktion verkauften und so noch Geld verdienten. Auf jeden Fall freute ich mich auf das Algengewächshaus.

 

Im botanischen Garten schlossen wir uns, wie alle anderen aus dem Bus, einer Führung an. Die junge Frau die uns führte sprühte geradezu vor Leidenschaft. Ich merkte schnell, dass ihr Herz für Rosen und Orchideen schlug. Sie schwärmte von ihren Rosa alba Suaveolens und Vanda tricolor. Bei den Lilien zeigte sie uns wie sie die Setzlinge aufzogen und neue Arten kreuzten. Algen interessierten sie wenig. Sie erzählte so gut wie gar nichts über die verschiedenen Arten und rannte förmlich durch das riesige Gewächshaus. Die anderen Besucher störte das nicht, sie trabten hinter ihr her und waren schon auf die äusserst seltene Dahlie gespannt. Diese Sorte blühte nur alle fünf Jahre und wir hätten das Glück dieses Spektakel zu erleben. Diese Blume konnte ich mir ja wohl noch eine halbe Stunde später ansehen, solange würde sie ja wohl noch blühen. Das Algengewächshaus durfte man ohne Guide eigentlich gar nicht betreten. Die Geräte waren sehr empfindlich. Dafür, dass sie angeblich so kostbar waren, hielten sich die Sicherheitsmassnahmen in Grenzen. Das einzige was mich davon abhalten sollte war ein Verbotsschild. Vor lauter Dahlien hatte Führerin vergessen den Tür Stopper zu entfernen. Andrew lauschte gebannt ihrem Vortrag und bemerkte nicht einmal wie ich mich davon schlich.

 

Donnerstag,06.06.13, 13.00 Anthony

 

Simon irrte sich gewaltig. Im Moment fühlte ich mich überhaupt nicht stark, ganz im Gegenteil. Der botanische Garten lag soweit vom Meer entfernt wie es auf dieser Insel nur irgend möglich war. Meine Landkrankheit wurde mit jedem Kilometer den der Bus zurücklegte schlimmer. Es grenzte an ein Wunder, dass ich mich nicht schon während der Fahrt übergab. Als sich die anderen bei einem der Tourguids versammelten, verschwand ich hinter dem Bus und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Schade um das schöne Frühstück. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen und gleich darauf verzichten sollen. Nachdem ich auch wirklich den letzten Rest von mir gegeben hatte, schleppte ich mich zu dem Brunnen der gleich beim Eingang des Gartens stand. Ich spülte mir den Mund aus und hielt den Kopf unter Wasser. Am liebsten wäre ich gleich ganz in den Brunnen gestiegen und hätte dort gewartet, bis die Anderen von der Tour zurückkahmen und wir wieder zurück zum Schiff fahren konnten. Doch daraus wurde nichts, ich hatte einen Auftrag zu erfüllen. Seufzend zog ich den Kopf aus dem Wasser und trank einen Schluck, bevor ich mich auf dem Weg machte, meine Gruppe wieder zu finden. Das stellte sich als weniger schwierig heraus als erst gedacht. Die Tour Route war gut ausgeschildert und ich brauchte nur den Schildern zu folgen, dann würde ich schon auf die Gruppe stossen. Mit hängenden Schultern schleppte ich mich durch den botanischen Garten. Mir war immer noch speiübel. So nahm ich die Pflanzen um mich herum kaum war. Von der Botanik an Land hatte ich sowieso keine Ahnung. Wenn es hoch kam, konnte ich ein Gänseblümchen von einer Rose unterscheiden. Soweit konnten sie doch noch gar nicht gekommen sein. Da entdeckte ich das die Tür eines Gewächshauses offen stand, vor dessen Eingang ein „Betreten ohne Tourguide verboten“ Schild stand. In der Erwartung im Innern die gesamte Gruppe vorzufinden ging ich hinein. Zuerst konnte ich überhaupt niemanden ausmachen. Erst als ich etwas weiter hineinging, entdeckte ich Lucy. Sie war vor einem der Algenbecken in die Hocke gegangen. Gerade als ich auf sie zugehen wollte hörte ich Stimmen vom Eingang her und ging hinter ein paar weiteren Becken in Deckung. Wenige Sekunden später tauchten die Chamäleons auf. Ich hatte mich also nicht geirrt. Die Stimme war mir gleich bekannt vorgekommen. Man vergass auch nicht so schnell eine Stimme, die einem gedroht hatte. Das Summen der Bioreaktoren war so laut, dass Lucy nichts davon mitbekam. Nur wenige Meter von mir entfernt gingen die Chamäleons ebenfalls in Deckung. Mit routinierten Handgriffen setzte er etwas zusammen. War das etwa ein Blasrohr? So leise wie möglich schlich ich näher und duckte mich hinter ein paar Holzpaletten. So konnte ich sogar hören was sie zueinander sagten.
„Schiess ja nicht daneben! Eigentlich hätten wir sie schon lange abliefern sollen.“
„Ich weiss, ich weiss, aber dieser verdammte Bengel ist mir immer wieder in die Quere gekommen. Langsam aber sicher geht mir dieser Auftrag auf die Nerven.“ Sie nickte zustimmend und reichte ihm einen Pfeil. „Wenn die nicht so gut zahlen würden, hätte ich mich längst aus dem Staub gemacht. Ich hoffe nur das dieses Piratenpack Wort hält, dann können wir uns für eine Weile aus dem Berufsleben zurückziehen.“
„Bartolomé zahlt, aber nur wenn wir ihm das Mädchen bringen, also mach endlich hinne“, zischte sie ihm zu. Er zielte mit dem Rohr auf Lucy und weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel, schnappte ich mir eine der Paletten und sprang vor den Lauf des Blasrohres. Der Pfeil blieb zu meinem Glück im Holz stecken.
„Puhh, das war ganz schön knapp. Sie sollten mit dem Ding besser aufpassen, das hätte auch ins Auge gehen können.“

„Du…!“ Er rang um Fassung. Ich nutzte ihre Starre und zog etwas Wasser aus dem Algenbecken. Erleichtert stellte ich fest, dass es mir gehorchte, obwohl ich nicht in bester Verfassung war.
„Wer zum Teufel ist das David?!“ Sie sah fragend zwischen mir und ihrem Partnern hin und her und richtete eine Waffe auf mich. Die Sache lief ganz schön aus dem Ruder. Jetzt wurde ich mit einer Waffe bedroht.
„Das ist der kleine Scheisser, der mir schon ein paarmal in die Quere gekommen ist. Aber nun ist endgültig Schluss damit.“ Er wandte sich an mich. „Nimm die Hände hoch Junge und denk nicht einmal daran irgendwelche Dummheiten zu machen.“ Ich tat was er sagte, liess die Palette zu Boden sinken und hob meine Arme.
„Wollen sie mich etwa erschiessen? Wissen sie, ich wollte nur…“
„Halt die Klappe“, zischte er mir zu. „Wir müssen ihn loswerden, ein Schuss wäre zu laut.“ Er zog einen weiteren Betäubungspfeil aus der Tasche. Langsam aber sicher musste ich etwas unternehmen. Genau wie es mir bei Simon passiert war, nur diesmal mit voller Absicht und Wucht, knallte ich ihr das Wasser ins Gesicht. Bewusstlos sank sie mit der Waffe zu Boden. Um die Pistole aus der Reichweite ihres Partners zu bringen, spülte ich sie weg. David stand mit offenem Mund da und starrte mich an. Ich stand noch immer mit erhobenen Händen da. Sein Gehirn versuchte zu verarbeiten was gerade geschehen war. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass er nicht kapierte wie so etwas möglich war.
„Wie wäre es jetzt, wenn sie den Pfeil einfach hinlegen und von hier verschwinden?“, versuchte ich es noch einmal. Meine Stimme holte ihn wieder aus seinen Gedanken zurück.
„Ich weiss nicht wie du das angestellt hast, aber jetzt ist Schluss!“ Er stürzte auf mich zu. Gerade so gelang es mir seinen Arm zu packen und so zu verhindern, dass er mir den Pfeil in den Körper rammte. Dabei riss er mich von den Beinen und wir landeten beide am Boden. Im Vollbesitz meiner Kräfte wäre mir das nie passiert. Eine Weile rangen wir darum, die Oberhand in diesem Kampf zu gewinnen. Mir fehlte die Konzentration ihm einen Kinnhaken mit dem Wasser zu verpassen, aber es reichte um es zu mir heranzuziehen. Es umfloss mich, gab mir neue Kraft. Mit einem entschlossenen Knurren warf ich ihn herum, nagelte ihn unter mir fest und entwand ihm den Betäubungspfeil.
„Süsse Träume“, flüsterte ich ihm ins Ohr, bevor ich ihm den Pfeil in den Oberarm rammte. Nicht einmal fünf Sekunden später war er weggetreten. Erleichtert rappelte ich mich hoch und sah mich nach Lucy um. Sie befand sich noch immer auf der anderen Seite des Gewächshauses und bestaunte den Bioreaktor. Sie hatte von alldem nichts mittbekommen. Ich schleifte die Beiden in eine abgelegene Ecke, dann schob ich ein paar der Paletten davor. Hier würde sie bestimmt keiner so schnell finden. Jetzt musste ich Simon informieren. Ich hatte sie ausser Gefecht gesetzt, sollte er sich doch um den Rest kümmern. Am besten Sorgte er dafür, dass sie für lange Zeit hinter Gitter kamen. Gerade fragte ich mich, ob ich zuerst zu Lucy oder zu Simon gehen sollte. Bevor ich eine Entscheidung getroffen hatte, spürte ich etwas an meinem linken Fuss. Es war Boas, er ringelte sich in der Gestalt einer winzigen Schlange um meinen Knöchel. Simon wusste schon bescheid. Ich hob Boas hoch, so dass er mich direkt sehen konnte. Da er mich nur sehen, aber nicht hören konnte, zeigte ich ihm das Tauchzeichen für alles in Ordnung. Dann zeigte ich in die Richtung in der ich die beiden abgelegt hatte und setzte Boas zurück auf den Boden. Blitzschnell schlängelte er davon und verschwand hinter den Paletten. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis Simon hier auftauchte. Am besten ich sorgte dafür das Lucy auch weiterhin nichts mitbekam. Ich trat aus der Ecke heraus und ging auf sie zu. Langsam aber sicher liess das Adrenalin nach. Die Übelkeit kam mit voller Wucht zurück. Warum ausgerechnet jetzt? Mein Magen rebellierte und mir brach der kalte Schweiss aus. Mir blieb gar nichts anderes übrig als stehen zu bleiben. Das letzte Mal als ich mich so schwach gefühlt hatte war nach dem Sturz von der Klippe gewesen, bei dem ich mir die Narbe vom Bauchnabel bis zur Hüfte zugezogen hatte. Patamon wollte mir helfen, doch ich konnte ihm nicht gestatten hier aufzutauchen.
„Geht es dir gut?“ Diese Stimme kannte ich doch. Ich öffnete die Augen und sah in das besorgte Gesicht von Lucy.
„Ging schon besser. Die Fahrt hat mich wohl mehr mitgenommen als ich gedacht habe. Wenn ich auf Sophie gehört und eine Reisetablette genommen hätte, würde ich mich jetzt nicht so Elend fühlen.“ Ich versuchte das Ganze mit einem Grinsen abzutun, aber es musste wohl eher wie eine Grimasse aussehen.
„Hast du die Tabletten bei dir?“ Natürlich hatte ich keine Tabletten. Es lag auch nicht an der Reise, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte.
„Nein, die sind in meiner Kabine auf dem Schiff.“ Auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte. Sie schien sich nicht sicher zu sein was sie jetzt machen sollte.
„Du siehst aus als würdest du gleich umfallen. Am besten wir bringen dich an die frische Luft und besorgen dir etwas zu trinken.“ Entschlossen nahm sie meinen Arm und legte ihn sich um die Schulter. Bevor ich protestieren konnte, bugsierte sie mich zum Ausgang des Gewächshauses. Ich musste aber feststellen, dass ich für ihre Hilfe dankbar sein konnte. An ihr konnte ich mich festhalten. Sie blieb an Ort und Stelle, während der Rest hin und her schwankte. Sie half mir bis zu einer Bank, die im Schatten einer grossen Pinie stand. „Warte hier, ich besorge etwas zu Trinken.“ Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Am liebsten wäre ich ja jetzt in den Brunnen am Eingang gesprungen, aber ich konnte nicht einfach so verschwinden und Lucy hier zurücklassen. Wenigstens kümmerte sich Simon um die Chamäleons. Was hatten die Chamäleons mit Ignazio Bartolomé zu schaffen? Er war der berüchtigte Anführer einer der grössten Piratenbanden. Entführungen standen normalerweise nicht auf seinem Programm, was ihn interessierte waren Luxusyachten und Frachtschiffe. Warum wollte er ausgerechnet die Tochter des Admirals? Wenn er auf ein hohes Lösegeld aus war, dann konnte er Daith Morea kidnappen. Vielleicht hatte Simon eine Idee. Eines war sicher, wenn Bartolomé seine Finger im Spiel hatte, würde es noch gefährlicher werden. Immer gab es Verletzter und sogar Tote, wenn er an einem Überfall beteiligt war. Und Lucy hatte keine Ahnung davon in welcher Gefahr sie schwebte. Vorübergehend konnte ich mich aber entspannen, auch Bartolomé war nicht in der Lage so schnell Ersatz aufzutreiben.
„Hier, trink das.“ Als ich die Augen öffnete, schwebte eine Eisteeflasche vor meinem Gesicht. Dankbar nahm ich sie entgegen und stürzte sie in einem Zug hinunter. Kaum hatte ich die Leere Flasche in den Mülleimer neben der Bank geworfen, hielt sie mir noch eine hin. „Ich dachte mir schon, dass ich mehr als eine brauchen werde.“
„Danke, den Preis zahle ich dir selbstverständlich zurück.“ Sie winkte ab.
„Nicht nötig.“ Lucy liess mir noch ein paar Minuten Zeit, mich einfach nur zu erholen. Schweigend sass sie neben mir. Die Kühle des Schattens schien auch sie zu geniessen. Mein Blick viel auf ihr linkes Handgelenk. Ich spürte wie sich Patamon in mir regte. Das weckte auch meine Neugierde. Täuschte ich mich oder schimmerte ihre Tätowierung silbern? Seit wann hatte sie überhaupt ein Tattoo? Mich von Patamon leiten lassend, beugte ich mich zu ihr hinüber und nahm ihre Hand, um es besser betrachten zu können. Es durchfuhr mich wie ein Blitz, mein Mal brannte förmlich auf meiner Haut. Trotz des Brennens liess ich sie nicht los und auch Lucy zog ihre Hand nicht zurück. „Hat dieses Symbol eine besondere Bedeutung? Irgendwie fasziniert es mich“, fügte ich hinzu.
„Es erinnert mich an meine Mutter, ausserdem war es das Zeichen der Wächter des versunkenen Königreiches.“ Das versunkene Königreich, Gegenstand zahlreicher Sagen und Legenden. Für mich waren das immer nur alte Ruinen und Gutnachtgeschichten.
„Deine Mutter hat sich auch mit dem alten Volk beschäftigt, ich dachte sie war Meeresbiologin.“
„Das war sie, aber ihre wahre Leidenschaft galt dem alten Volk.“ Ihr Blick schweifte ab und sie umschloss ihr Medaillon. Kaum hatte sie mir ihre Hand entzogen, verschwand das Brennen. Über ihre Mutter schien sie nicht weiter reden zu wollen. Ich trank den zweiten Eistee aus. „Wollen wir uns diese überaus seltene Dahlie ansehen? Schliesslich blüht die nur alle fünf Jahre und wir sollten unser Privileg nutzen.“ Dahlie? Keine Ahnung von was sie da sprach. Ich spielte einfach mit.
„Klar, dass können wir uns doch nicht entgehen lassen.“

 

Kapitel 10

Montag,10.06.13, 19:00 Anthony

 

Mit versteinerter Miene sah ich in den Spiegel. Es gefiel mir ganz und gar nicht, was ich darin zu sehen bekam. Ich steckte in dem teuren Smoking, was aber noch schlimmer war, waren meine Haare. Sophie hatte sie mit einer Tonne Haar Gel nach hinten gekämmt. So würde ich diese Kabine auf keinen Fall verlassen. Simon musste auch nicht wie ein schleimiger Aal gehen, warum sollte ich es dann tun?
„Das geht entschieden zu weit! Mit dieser Frisur setzte ich keinen Fuss vor die Tür.“ Ich lockerte die Fliege und knöpfte Sakko und Hemd auf.
„Was tust du denn da? In zwanzig Minuten hält der Kapitän seine Rede.“ Verstimmt zupfte Sophie an ihrem weissen Kleid herum.
„Keine Sorge Schwesterchen, bis dahin schaffe ich es noch, geht doch schon einmal ohne mich vor.“ Während ich das sagte, entledigte ich mich auch noch meiner Schuhe und der Hose. „Na los, ab mit euch.“ Ich scheuchte sie mit einer Handbewegung aus der Kabine.

So schnell ich konnte wusch ich mir das ganze Gel aus den Haaren. Kurz trockengerieben und leicht gekämmt war ich mit dem Ergebnis ganz zufrieden. Ich steckte wieder im Smoking und kämpfte nur noch mit der Fliege als ich zur Tür hinaustrat. Dort wäre ich fast erneut mit Lucy zusammengestossen.
„Auch spät dran?“ Sie war gerade dabei sich den zweiten silbernen Ohrring anzustecken.
„Ja und jetzt will sich dieses verdammte Ding einfach nicht binden lassen.“ Ich bekam diesen verdammten Knoten einfach nicht hin.
„Lass mich mal, du zerknitterst sie nur.“ Mit ein paar geschickten Handgriffen band sie mir die Fliege. Bei ihr sah das so verdammt einfach aus. Die Rede des Kapitäns hatte in dieser Minute begonnen.
„Danke, jetzt können wir ja gleich zusammen zu spät kommen.“ Ich bot ihr meinen Arm an.
Sie hackte sich bei mir unter. „Beeilen wir uns lieber, sonst findet das Dinner noch ohne uns statt.“

Der Kapitän hielt bei dieser Kreuzfahrt zweimal eine Rede. Die erste nach der Hälfte und die zweite am Ende der Kreuzfahrt. Der Grund dafür war, dass viele Leute nur bis zu den Zenymen mitfuhren. Die Helios war das mit Abstand teuerste Kreuzfahrtschiff und normale Familien konnten sich nur einen halben Urlaub leisten, deshalb hatte man dieses Angebot eingeführt. So ging etwa die Hälfte der Passagiere von Bord und andere begannen dafür ihren Urlaub. Die Zenymen verfügten aber auch über einen grossen Hafen. Von dort aus fuhren viele Schiffe alle möglichen Ziele an. Es war der perfekte Knotenpunkt um eine neue Reise zu starten. Kein Wunder, das sich die WOS nicht die Hauptinsel als Startpunkt für ihre Expedition ausgesucht hatten. Wir hatten schon im Hafen angelegt, morgenfrüh konnten gleich alle von Bord gehen, damit sie ihre Anschlussboote noch erwischten. Wenigstens mussten wir uns nicht beeilen, da wir noch einen Tag auf den Zenymen verbringen würden. Genauso wie Simon hätte ich diese einen Nacht lieber auf der Aurelia verbracht, nur leider war sie noch immer auf Corry und dort würde sie auch bis zum Ende unseres Auftrages auf uns warten. Doch bis es soweit war, musste noch eine Menge Zeit vergehen. Als wir den grossen Speisesaal betraten, entbrannte gerade der Applaus für die Rede des Kapitäns. Wenigstens den Beginn des Essens hatten wir noch nicht verpasst. Ich sichtete Simon und Sophie am Tisch des Kapitäns, Andrew sass ebenfalls schon dort. Ungefähr zwanzig Gäste hatten die Ehre dort zu Essen. Lucys Platz war direkt neben dem Kapitän, kein Wunder sie war schliesslich die Tochter des Admirals. Zu seiner rechten sass jemand, denn ich eigentlich nicht hatte wiedersehen wollen, Daith Morea.
„Ihm fällt jetzt dann gleich die Kinnlade auf den Boden. Es muss wohl an deinem umwerfenden Kleid liegen“, flüsterte ich ihr ins Ohr, als ich ihr den Stuhl zurückzog, damit sie sich setzten konnte. Bevor ich zu meinem Platz etwas weiter entfernt ging, warf ich Morea noch einen warnenden Blick zu. Ihr dunkelgrünes Kleid passte ohnehin besser zu meinen, als zu Daiths Augen. Ich setzte mich zwischen Sophie und Simon, an den Platz, an dem eine Karte mit meinem Namen stand.
„Ich wusste gar nicht, dass du so gute Manieren hast Bruderherz, zu spät bist du trotzdem.“
„Sei etwas nachsichtig Soph, er ist ja noch rechtzeitig zum Essen hier. Sie gab einen abfälligen Laut von sich und widmete sich dann dem Salat, der soeben gebracht worden war.

 

Montag,10.06.13, 19:40 Lucy

 

„Mr. Garrik, ich muss mich für mein Zuspätkommen bei ihnen entschuldigen.“ Der Kapitän winkte ab.
„Nicht doch meine Liebe, nennen sie mich doch Tom. Schade, dass ihr Vater die Reise nicht antreten konnte.“ Garrik hatte zusammen mit meinem Vater früher auf einem Marineschiff als Matrose gedient. Aber im Gegensatz zu Dad hatte Garrik die Marine später verlassen und war Kapitän der Helios geworden.
„Er hat in letzter Zeit sehr viel zu tun.“
„Ja, das habe ich gehört. Richten sie ihm meine besten Grüsse aus, wenn sie ihn das nächste Mal sehen.“
„Natürlich, darüber wird er sich bestimmt freuen.“ Den Gruss würde ich lange nicht überbringen können. Voraussichtlich sah ich ihn in gut vier Monaten wieder.
„Entschuldigen sie, wenn ich mich in ihr Gespräch einmische, aber ich glaube wir wurden noch nicht miteinander bekannt gemacht.“ Morea fixierte mich mit einem überheblichen Blick, ich starrte ebenso zurück.
„Daith, das ist Lucynda Callahan, Lucy, das ist Daith Morea.“ In seinem Kopf schien es förmlich zu rattern. Nach und nach verschwand sein überheblicher Blick.
„Callahan, wie Frederic Callahan?“ Ich nickte.
„Der Admiral ist mein Vater. Unsere Väter sind sich erst kürzlich auf einem Wohltätigkeitsdinner begegnet. Wie ich von Niclas erfuhr hattest du ja etwas Besseres zu tun, als Spenden für bedrohte Meerestiere zu sammeln.“ Normalerweise begleitete ich meinen Vater nicht auf solche Anlässe, aber wenn es um den Schutz der Meere ging, musste er mich nicht einmal dazu zwingen. Dort hatte ich mich kurz mit Niclas Morea unterhalten. Er hatte mir erzählt wie endtäuscht er darüber war, dass sein Sohn sich lieber die Nächte um die Ohren schlug, anstatt sich für Wohltätige Zwecke einzusetzen.
„An dem Tag habe ich mich nicht sonderlich wohlgefühlt. Natürlich engagiere ich mich sonst sehr für den Umweltschutz.“ Das war mir neu, ich hatte ihn noch nie an einer solchen Veranstaltung gesehen.
„Ach ja, dann habe ich dich wohl bis jetzt auf sämtlichen Veranstaltungen übersehen.“ Er verschluckte sich an seinem Salat.
„Muss wohl so sein.“ Daith schien keine Lust mehr auf eine weitere Unterhaltung zu haben. Mir konnte das nur recht sein.
„Man hat mir gesagt, dass sie uns Morgen verlassen werden, Lucy. Gefällt es ihnen denn nicht auf der Helios?“
„Ganz im Gegenteil, es gefällt mir sogar sehr hier. Nur habe ich noch Verpflichtungen. Man kann nicht ein Leben lang nur Urlaub machen.“ Tom lachte.
„Da stimme ich ihnen voll und ganz zu. Wo werden sie denn Arbeiten?“ Eine Kürbissuppe wurde als zweite Vorspeise gebracht.
„Die nächsten Wochen werde ich auf der Arion III verbringen. Es ist eine Art Praktikum."

„Die Arion III, ist das nicht das Forschungsschiff auf dem Professor Marcus Ricket arbeitet?“ Ich nickte. „Dann werden sie sich wohl eher mit dem alten Volk beschäftigen, anstatt die Meerestiere zu erforschen.“
„Es stimmt schon, dass diese Expedition vorranging der Suche der alten Ruinen gilt, aber ich werde nicht direkt mit Professor Ricket zusammenarbeiten. Meine Aufgabe wird sein, mit den Meeresbiologen an Board, Wasserproben zu untersuchen und Fischpopulationen zu Kategorisieren.“ Er trank einen Schluck Wein und nickte bedächtig.
„Vielleicht ist es besser so, ich habe gehört, dass der Professor kein besonders umgänglicher Zeitgenosse ist. Seine Ansprüche seien so hoch, dass kein normaler Mensch ihnen gerecht werden könnte.“ Davon hatte ich auch schon gehört. In einem Artikel hatte ich gelesen, dass es äusserst schwer gewesen war ein Team zu finden, dass sich dazu bereit erklärt hatte, mit ihm zusammen zu arbeiten.
„Lucy ist auch kein gewöhnlicher Mensch, Mr. Garrik. Ich bin davon überzeugt, dass sie mit Marcus Ricket bestens zurechtkommen wird.“ Überrascht sah ich zu Andrew hinüber. Beinahe hatte ich vergessen, dass er auch anwesend war. Überhaupt überraschte er mich. Normalerweise hielt er sich bei solchen Anlässen im Hintergrund und beteiligte sich nur an einem Gespräch, wenn er dazu aufgefordert wurde.
„Natürlich, ich wollte sie in keinster Weise beleidigen Lucy. Ich…“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen Tom. Mir ist auch schon zu Ohren gekommen, dass er kein einfacher Mensch sei. Was Andrew damit sagen wollte ist, dass ich mich von solchen Dingen nicht so schnell entmutigen lasse.“

„Wer war der gutaussehende junge Mann, der sie zum Tisch begleitet hat?“, wechselte er das Thema. Ich sah zu Anthony hinüber. Er war gerade dabei, den Hummer seiner Schwester fachmännisch zu zerlegen. Automatisch fuhr ich mir über mein linkes Handgelenk. Als er mich dort berührt hatte, war ein seltsames kribbeln an der Stelle des Tattoos aufgetreten. Es war aber nicht besonders stark gewesen. Mittlerweile fragte ich mich schon, ob ich mir das nicht nur eingebildet hatte.
„Das ist mein Lebensretter. Anthony hat mich aus dem Wasser gezogen. Sie haben sicher schon von der Sache gelesen oder gehört.“
„In der Tat, ich hoffe doch die Klatschpresse hat wieder einmal masslos übertrieben.“ Seine Augen musterten mich, als versuche er zu erkennen ob ich ihm auch wahrheitsgemäss antwortete.
„Sie haben es dramatischer dargestellt, als es wirklich war. Ich habe mich überschätzt und bin deshalb in Not geraten.“
„Dann hatten sie Glück. So etwas kann böse enden. Nicht immer ist jemand in der Nähe, der sie retten kann.“ Jetzt klang er fast schon wie mein Vater.
„Das ist mir durchaus bewusst Tom, ich versichere ihnen, dass ich nicht vorhabe mich in nächster Zeit leichtsinnig in Gefahr zu begeben.“ Im Grunde genommen war das eine Lüge. Ich würde mich schon morgen Abend wieder einer Gefahr aussetzten. Wenn Andrew wirklich die Wahrheit sagte, dann konnten mich die Geister in den Wahnsinn treiben oder mir bis ans Ende meines Lebens Höllenqualen bereite. Andrew lächelte wissend, er wusste genau was ich im Moment dachte.
„Das freut mich zu hören, Lucy.“ Den Rest des Abendessens verbrachten wir damit uns über belanglose Dinge zu unterhalten. Dem Hummer folgten ein Lachsfilet und ein Zitronen Sorbe. Obwohl der Nachtisch wirklich köstlich war, musste ich die Hälfte Andrew überlassen, ansonsten wäre ich geplatzt. Ein paar der Gäste hatten sich zur Tanzfläche begeben und wiegten sich dort im Takt der Musik. Anthonys Vater wurde von Sophie auf die Tanzfläche gezerrt. Er selbst sass grinsend am Tisch und sah ihnen nach. Nichts und niemand würde mich auf diese Tanzfläche bringen. Doch genau das schien Daith vorzuhaben. Bevor er mich zum Tanzen auffordern konnte, entschuldigte ich mich und verliess den Tisch. Zielstrebig ging ich aus dem Saal. Etwas frische Luft würde mir nach diesem üppigen Essen gut tun.

 

Kein Mensch hielt sich jetzt auf dem Sonnendeck auf. Die Ruhe geniessend lehnte ich mich an die Rehling und lauschte den Wellen. Auf den Zenymen brannten hunderte Fackeln am Strand, um das Schiff zu begrüssen. Am liebsten wäre ich von Board gegangen, damit ich im Meer schwimmen konnte. Morgen würden wir den ganzen Tag auf der Insel verbringen. Andrew wollte mir die Bucht zeigen, in der wir das Ritual vollziehen würden. Das Ritual. Mittlerweile war ich schon davon überzeugt, dass Andrew die Wahrheit sagte. Zumindest wollte es mein Herz glauben, mein Verstand hinterfragte es noch. Bis jetzt hatte er mich noch nie endtäuscht, warum sollte das dieses Mal der Fall sein?
„Ist die frische Luft nicht herrlich?“ Erschrocken zuckte ich zusammen, als ein Mann neben mich an die Rehling trat. Er war um die dreissig, gross und drahtig. Sein Anzug schlackerte um seine Gliedmassen, er war sicher zwei Nummern zu gross.
„Viel angenehmer als im Speisesaal“, antwortete ich ihm.
„Das Schiff ist wirklich beeindruckend nicht. Nur schade, dass ich mir einen Urlaub hier nie leisten könnte.“
Verwirrt fragte ich: „Wie meinen sie das, sie können es sich nicht leisten?“
„Ich bin nur wegen eines Jobs hier an Board. Eine ziemlich kurzfristige Sache. Musste von Corray hierher fliegen um es noch zu schaffen und dabei hasse ich es zu fliegen.“ Seine Stimme nahm einen scharfen Unterton an. Plötzlich erschien mir der Mann etwas zu nahe bei mir zu stehen. Ich rückte von ihm ab. „Wenn ich meinen Auftrag erledigt habe, werde ich mir von dem Geld so ne Kreuzfahrt leisten.“ Er wandte mir sein Gesicht zu. Die hässliche Narbe auf seiner rechten Wange stellte sein verschlagenes Grinsen und das Pflaster auf der Nase in den Schatten.
„Dann wünsche ich ihnen noch viel Erfolg und einen erholsamen Urlaub.“ Ich drehte mich um, was sich als grosser Fehler erwies.
„Mein Urlaubsgeld bekomme ich nur, wenn ich dich in einem Stück abliefere“, flüsterte er mir ins Ohr, während er mir etwas auf mein Gesicht presste. Bevor ich auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurde mir schwarz vor Augen.

 

Montag,10.06.13, 23:00 Anthony

 

„Komm schon Anth, lass uns Tanzen“, bettelte Sophie und zerrte an meinem teuren Anzugärmel.
„Vergiss es Schwesterherz, mehr kannst du mir an diesem Abend nicht zumuten. Aber Dad würde ganz bestimmt liebend gern mit dir das Tanzbein schwingen, nicht wahr Simon?“
„Eigentlich…“ Sein Protest ging unter, als Sophie ihn packte und auf die Tanzfläche schleifte. Zufrieden schnappte ich mir den Rest von Sophies Dessert, bevor es einer der Kellner abräumen konnte. Simon fügte sich seinem Schicksal und wirbelte mit Sophie über das Parkett. Ich wandte meinem Blick ab und starrte auf Lucys leeren Platz. Verdammter Misst, da liess man sie eine Sekunde aus den Augen und sie löste sich in Luft auf. Ich konnte sie nirgends ausmachen, wahrscheinlich war sie nur kurz frische Luft schnappen. Schnell schob ich mir den letzten Löffel Sorbe in den Mund und erhob mich von meinem Platz. Nach diesem köstlichen Essen konnte ich auch einen Verdauungsspaziergang gebrauchen, ausserdem war ich nicht zum Spass hier. Wo war sie bloss hin? Das Schiff war verdammt gross. Am besten ich ging Systematisch vor und fing mit meiner Suche auf dem obersten Deck an und arbeitete mich nach unten durch.

Das Glück war auf meiner Seite, sie stand auf dem Sonnendeck an der Reling. Ich blieb stehen, als ich erkannte, dass neben ihr noch jemand stand. Sie schien es nicht zu mögen, dass er so nahe war, sie rückte von ihm ab. Kurz darauf drehte sie sich um und wollte gehen. In einer fliessenden Bewegung zog der Mann Lucy zu sich heran und presste ihr etwas aufs Gesicht. Bevor sie ihm Bewusstlos in die Arme sank, hatte sich mein Körper schon in Bewegung gesetzt. Mit voller Wucht prallten wir zusammen. Lucys Angreifer wurde gegen die Reling geschleudert und ich federte ihren Sturz mit meinem Körper ab. Halb aufgerichtet sah ich wie sich mein Gegner mühsam hochrappelte.
„Keane…“ Was machte Simons Freund hier?
„Wenn das nicht der Rotzlöffel von Simon ist. Wie du weisst habe ich noch eine Rechnung mit deinem Vater offen“, er tippte sich an die Nasenspitze. „Du hast mich das letzte Mal aufs Kreuz gelegt und dieses Treffen hat auch nicht besonders Nett angefangen, aber eigentlich habe ich nichts gegen dich.“ Er richtete sich ganz auf. „Gib mir die kleine, dann vergesse ich dich hier gesehen zu haben.“ Langsam schob ich Lucy hinter mich.
„Was willst du von ihr?“
„Keine Sorge, ihr werde ich nichts tun. Meine Aufgabe ist es nur sie abzuliefern und das habe ich auch vor.“ Keane zog eine Pistole unter seinem Jackett hervor. „Für deine Sicherheit kann ich jedoch nicht garantieren.“ 

In Sekundenbruchteilen stand Patamon zwischen uns. Er gab ein leises warnendes Fauchen von sich. Sein Ohrenbetäubendes Brüllen verkniff er sich, um niemanden auf uns aufmerksam zu machen. Ich konnte nicht sehen wie Reilly darauf reagiert, dass einzige was ich von ihm sehen konnte, waren seine Füsse. Was ich aber hörte, war ein erstickter Schrei.
„Schnapp ihn dir!“ Auch wenn Pat nicht danach aussah, er war schnell, selbst an Land. Mit einem kräftigen Prankenhieb schlug er ihm die Waffe aus der Hand. In hohem Bogen flog sie ins Meer. Im nächsten Augenblick drückte er Keane mit seiner Tatze zu Boden und hielt ihn dort mühelos fest. Mit Lucy auf dem Arm trat ich neben ihn.
„Du bist also auch eines dieser Ungeheuer“, zischte er. „Kein Wunder haben die Chamäleons versagt, gegen so eine Miss…“ Er stöhnte vor Schmerz auf, als sich Patamons Krallen in seine Brust bohrten. Blut hinterliess dunkle Flecken auf seinem blauen Hemd. Bevor er Reilly ganz durchbohrte, hielt ich Patamon zurück.
„Anthony!“ Simon kam in einem unglaublichen Tempo angerannt. Als er sah, dass ich die Lage vollkommen im Griff hatte, wurde sein besorgter Gesichtsausdruck zu einem breiten Grinsen. „Reilly mein alter Freund, wusste ich es doch, dass du immer noch mit Bartholomé Geschäfte machst.“
„Simon, du verstehst das falsch, hätte ich gewusst, dass du etwas mit der kleinen zu tun hast, wäre ich doch nicht auf die Idee gekommen... Ich meine du musst mir glaube, ich schuldete ihm wegen der letzten Lieferung noch etwas.“
„Halt die Klappe, du bist ein elender Feigling. Aber du hast die falsche Seite gewählt, vor mir solltest du dich fürchten.“ Boas schlängelte sich um Keane und fesselte ihn. Ich dankte Pat und rief ihn zurück. „Gut gemacht Anth.“ Er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Tut mir leid, dass ich erst jetzt auftauche, ist mit ihr alles in Ordnung?“
„Er hat sie mit irgendetwas betäubt, wahrscheinlich wird es noch eine Weile dauern, bis sie wieder zu sich kommt.“
„Vielleicht ist das besser so, kümmere dich um sie.“ An Reilly gewandt sagte er: „Wir zwei werden eine Runde schwimmen gehen.“ Er packte ihn am Kragen und zerrte ihn hoch.
„Wir können über alles reden. Simon, ich biete dir einen lebenslangen Rabatt, egal was du willst.“ Er flehte ihn förmlich an. Vor Panik waren seine Augen weit aufgerissen, sein Körper zitterte.
„Boas!“  Seine Kobra wurde riesengross und katapultierte die beiden vom Schiff. Simon hielt ihm den Mund zu und stiess ein höhnisches Lachen aus. Zusammen verschwanden sie im Wasser, Boas folgte ihnen. Eine Weile starrte ich auf die Stelle, an der sie abgetaucht waren, doch sie tauchten nicht wieder auf.
„Simon wird schon wissen, was er tut“, murmelte ich, bevor ich mich abwandte. Meine Aufgabe war es Lucy zurück in ihre Kabine zu bringen. Die meisten Passagiere waren noch immer im Speisesaal oder schon in ihren Kabinen. So musste ich keine unangenehmen Fragen beantworten.

Vor ihrer Kabine lief ich Andrew in die Arme.
„Sie kommen gerade recht, wenn sie so nett wären und uns die Tür öffnen würden?“ Er kam meiner Bitte nach, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Er schloss auf und liess mich eintreten. Vorsichtig legte ich sie auf die Couch ab. Sie sah aus, als würde sie tief schlafen. Zur Sicherheit fühlte ich ihren Puls, der schien in Ordnung zu sein. Als ich sie berührte tauchte sofort wieder dieses Brennen auf. Lucys Augenlieder flackerten leicht. Schnell zog ich meine Hand zurück.
„Was ist passiert?“ Verwirrt blickte ich zu Andrew hoch ich hatte ganz vergessen, dass er hier war.
„Ignazio Bartolomé scheint grosses Interesse an Lucy zu haben.“ Ich erzählte ihm was wir von den Chamäleons erfahren hatten. Auch was sich auf dem Sonnendeck zugetragen hatte berichtete ich ihm.
„Ich war wohl keine besonders grosse Hilfe.“ Im botanischen Garten habe ich sie wegen einer Dahlie aus den Augen verloren und heute Abend liess ich mich vom ausgezeichneten Essen ablenken.“
„Es ist auch nicht ihre Aufgabe sie zu beschützen, dazu hat man schliesslich uns engagiert. Wahrscheinlich kann sie sich an gar nichts mehr erinnern. Sollte das der Fall sein, ist es wohl das Beste wenn wir ihr den Angriff vorenthalten.“ Andrew nickte. „Ich verschwinde besser, bevor sie zu sich kommt.“

Ich ging zurück in meine Kabine, Simon war noch nicht hier, aber Sophie lag schon in ihrem Bett und schlief tief und fest. Leise schälte ich mich aus dem Smoking, der beim Zusammenprall mit Reilly etwas gelitten hatte. Am rechten Ärmel wies er einen kleinen Riss auf. Achtlos stopfte ich ihn in meine Reisetasche. Den Rest meiner Habseligkeiten hatte ich schon gepackt, um am nächsten Morgen ausschlafen zu können. Nur mit meiner Badehose bekleidet ging ich in Simons Kabine rüber und schloss die Verbindungstür hinter mir. Ich legte mich auf sein Bett um dort zu warten. Es verging etwas noch eine Stunde bis er zurückkam. In der Zwischenzeit war ich schon fast eingeschlafen und musste meine Augen mit meiner Hand abschirmen, als er das Licht einschaltete.
„Wo warst du so lange?“ Simon schien nicht überrascht zu sein mich hier zu sehen. Seelenruhig zog er sich den triefend nassen Smoking aus.
„Ich musste mich erst um Reilly kümmern. Gib mir eine Minute und dann erzähle ich dir alles“, fügte er hinzu als ich gerade zu einer Frage ansetzen wollte. Er verschwand im Bad und kam kurz darauf in den Bademantel gehüllt wieder heraus. „Wie du dir sicher schon denken konntest, ist Keane kein Wasseratmer. Nach unserem nächtlichen Bad war er äusserst gesprächig. Nur leider wusste er nicht besonders viel“, sagte er und liess sich neben mir aufs Bett fallen. „Eines hat ihm Bartholomé aber eingeschärft, er wollte, dass Lucy kein Haar gekrümmt wird.“
„Sonst wusste er überhaupt nichts?“
„Es scheint so, als wäre Bartholomé geradezu versessen darauf Lucy in seine Finger zu kriegen. Reilly wurden 30‘000 geboten. Wir müssen damit rechnen, dass es weitere Entführungsversuche geben wird.“
„Das ergibt doch keinen Sinn. Warum der ganze Aufwand? Sie ist zwar die Tochter des Admirales, aber wenn es um Geld geht, könnte er es doch viel einfacher haben.“
„Unsere Aufgabe ist es, sie zu beschützen, dass alleine steht im Vordergrund. Was genau Ignazio Bartholomés Absichten sind, ist zweitranging.“ Mich interessierte es schon, was einen Piraten dazu veranlasste. Spontan viel mir nur ein guter Grund ein. Er wollte den Admiral damit erpressen und ihn dazu zu zwingen, die Sicherheitsmassnahmen zu verringern und weniger Jagd auf seine Leute zu machen. Wenn ich aber weiter darüber nachdachte, schien es immer unwahrscheinlicher. Die Marine würde sich lächerlich machen, wenn sie wegen einer Geisel den Forderungen eines Piraten nachgeben würden. Damit würde die Marine ihre Präsenz erst recht erhöhen.
„Na gut, was hast du mit Keane gemacht?“
„Es gibt ein paar kleine, unbewohnte Inseln in der Nähe. Auf einer habe ich ihn abgesetzt, dort soll er eine Weile darüber nachdenken, ob er sich noch einmal mit mir anlegen will. Und jetzt sollten wir schlafen gehen, morgen müssen wir besonders aufmerksam sein.“ Ich wünschte ihm eine gute Nacht und verschwand durch die Verbindungstür. Bevor ich schlafen ging, trat ich noch auf den Balkon hinaus.

 

Dienstag,11.06.13, 24:30 Lucy

 

Ich fühlte mich etwas benommen. Stöhnend öffnete ich die Augen, es dauerte eine Weile bis ich kapierte, wo ich mich befand. Wie war ich zurück in meine Kabine gekommen? Das letzte an das ich mich erinnern konnte, war, dass ich an die frische Luft gehen wollte. Nun lag ich jedoch auf dem Sofa und war mit einer dünnen Decke zugedeckt.
„Lucy, sie sind wieder zu sich gekommen. Wissen sie noch was passiert ist?“
„Ich wollte etwas frische Luft schnappen aber das letzte was ich noch weiss ist, wie ich mich von meinem Platz erhoben habe.“ Andrew reichte mir ein Glas Wasser. Dankbar nahm ich es entgegen.
„Auf dem Weg nach draussen sind sie im Gang ohnmächtig geworden. Zu ihrem Glück war Anthony zur Stelle. Er hat sie hierher getragen.“ Ohnmächtig geworden? Von Anthony hierher getragen? In letzter Zeit passierte eindeutig zu viel, ohne dass ich davon etwas mitbekam.
„Anthony hat mich hierher gebracht?“
„Ja, er hat gesehen, dass es ihnen nicht besonders gut ging und ist ihnen hinterher. Vielleicht haben sie sich noch nicht ganz von ihrem Unfall erholt oder es waren heute Abend einfach zu viele Leute.“ Ich liess mich zurück aufs Sofa sinken. Jetzt stand ich schon wieder in seiner Schuld. Schon Morgen würden sich unsere Wege trennen und ich hatte noch immer nicht seine Nummer. „Sie sollten sich hinlegen, Morgen wird es anstrengend. Ich für meinen Teil werde mich zurückziehen, wenn sie meine Hilfe nicht benötigen.“
„Ich komme schon klar Andrew und hör auf mich zu siezen!“
„Wie ich sehe geht es ihnen wirklich schon besser“, sagte er und lächelte. Nachdem er gegangen war wickelte ich mich in die Decke ein und ging auf den Balkon hinaus. Wenn ich es vorher nicht an die frische Luft geschafft hatte, dann konnte ich es jetzt noch nachholen.
„Wie ich sehe bist du wieder unter den Lebenden. Aber solltest du dich nicht lieber wieder hinlegen? Sonst muss ich dich gleich wieder aufsammeln.“ Vor Schreck wäre ich fast über die Brüstung gefallen. Auf dem Balkon neben an stand Anthony und lehnte lässig am Geländer. Soweit ich im Halbdunkeln erkennen konnte, trug er nur seine Badehose. Ich liess meinen Blick über seinen Körper wandern. Bei seinem Anblick hätte ich fast vergessen, dass er mir eine Frage gestellt hatte.
„Das wird nicht nötig sein. Mit geht es wieder gut. Nur kann ich mich gar nicht daran erinnern den Tisch verlassen zu haben.“ Anthony drehte sich um und stützte sich mit den Ellbogen am Geländer ab.
„Du hast blass ausgesehen und auch etwas geschwankt, also bin ich dir gefolgt, um zu sehen ob du Hilfe brachst.“ Anscheinend war seine Hilfe auch nötig gewesen.
„Danke, ich schulde dir schon wieder etwas.“ Er schüttelte den Kopf.
„Nicht der Rede wert.“
„Ich finde schon, dass du bei mir etwas gut hast. Warte kurz hier, ich gebe dir meine Nummer, damit du den Gefallen irgendwann einfordern kannst.“ In der Suite schnappte ich mir das erstbeste und kritzelte meine Nummer darauf. Mit der abgerissenen Ecke des Werbekataloges ging ich zurück zu Anthony. „Hier, damit kannst du mich jederzeit erreichen.“ Er beugte sich weit über das Geländer, um den Zettel entgegen zu nehmen.
„Danke, ich werde ganz bestimmt darauf zurückkommen.“ Lächelnd liess er meine Nummer in der Tasche seiner Badehose verschwinden. „Jetzt sollte ich aber schlafen gehen. Wie ich meine Schwester kenne, wirft sie mich morgen zu Unzeiten aus dem Bett, damit ich ihr beim Packen helfe. Sie hat so viele Klamotten dabei, dass sie ohne meine Hilfe ihren Koffer noch nicht einmal mehr zu bekommt.“
„Ich denke an dich, wenn ich morgen noch gemütlich im Bett liege.“ Mit einem Satz stand er neben mir auf dem Balkon.
„Vielleicht träumst du ja sogar von mir.“ Von seinem Sprung überrascht blieb ich wie versteinert stehen, als er mir einen Kuss auf die Stirn gab. „Gute Nacht“, hauchte er mir ins Ohr und dann war er auch schon wieder auf seinem Balkon zurück. Bevor ich auch nur etwas erwidern konnte, war er im Innern seiner Kabine verschwunden. So etwas hatte ich von ihm nicht erwartet, bis jetzt war er sehr zurückhaltend gewesen. Jetzt fand ich es erst Recht schade, dass die Kreuzfahrt morgen für mich zu Ende war.  

 

Mittwoch,12.06.13, 10:30 Anthony

 

Was hatte mich gestern Abend nur geritten? Aber ihr verblüffter Gesichtsausdruck war einmalig gewesen. Mit einer Hand drückte ich den Deckel von Sophies Koffer hinunter, damit sie ihn schliessen konnte. Eigentlich hatte ich damit nicht nur sie, sondern auch mich überrascht. Gespannt war ich nun auf ihre Reaktion, wenn sie mich an Bord der Arion III wiedersah.
„Seit ihr fertig mit Packen? Ich habe dem Kapitän der Arion III gesagt, dass wir um elf unser Gepäck an Bord bringen.“ Er stellte gerade seine letzte, fertig gepackte Tasche zu den anderen.
„Ich war gestern schon abreisebereit. Sophie jedoch musste erst ihre Sachen zusammensuchen und dann noch irgendwie in den Koffer quetschen.“
„Wir sind gerade eben fertig geworden. Anth, du darfst gerne meinen Koffer tragen.“
„Die Arion III liegt nicht weit von hier im Hafen, da macht es mir nichts aus.“
„Wenn das geklärt ist, können wir ja los.“ Ich hob meine Tasche auf meine Schulter, griff Sophies Koffer und studierte dann das Blatt mit den Fakten von Simon.

 

  • Mittwoch 11:00, Gepäckabgabe

Patrouille um die Insel, siehe Karte

  • Donnerstag, Tag frei, 17:00 Arion III läuft aus

16:00 Treffen mit der Crew

 

Forschungsreise

  • Dauer, 5Wochen/Schiff: Die Arion III
  • Hauptforschungsauftrag: Erforschung des alten Volkes
  • Wissenschaftlicher Leiter: Markus Ricket

 

Die Arion III war 97.5 Meter lang, 16.5 Meter breit und verfügte über zehn Decks, was eine Gesamthöhe von 46.4 Metern ergab. Das Hauptdeck lag auf 7.7 Meter Höhe. Zahlreiche Kräne und Winden ermöglichten den Einsatz modernster Geräte und auch die Ausstattung der Labors war auf dem neusten technischen Stand. Insgesamt konnte das Schiff 63 Personen aufnehmen. Auf dieser Reise würden aber weniger Personen teilnehmen. Laut Simons Notizen waren 50 Passagiere vorgesehen, uns eingeschlossen. Wir waren als Spezialtaucher angestellt und würden sowohl bei Bergungen als auch beim Sammeln von Proben helfen. Und auch alles was sonst noch im Wasser erledigt werden musste. Das Ziel der Arion war ein Gebiet, das nicht sonderlich Tief war. Dort war vor etwas mehr als einem Jahrhundert durch vulkanische Aktivitäten eine ganze Inselgruppe unter gegangen. An der tiefsten Stelle war es dort gerade mal 200 Meter tief. Ganz in der Nähe dieser versunkenen Inselgruppe hatte Ricket auch eine der grössten Ruinen entdeckt. Deshalb erhoffte er sich dort noch mehr zu finden.

 

Die Arion III lag zehn Minuten Fussmarsch von der Helios entfernt. Ich konnte schon von weitem sehen, dass wir bereits erwartet wurden. Die beiden Männer trugen keine Uniform, deshalb konnte ich nicht erkennen welche Position die beiden bekleideten. Wir hielten direkt auf sie zu und als ihnen klar wurde, dass wir drei die erwarteten Taucher waren, konnten sie ihre Überraschung nicht verbergen. Ein kleines Mädchen und einen jungen Grünschnabel hatten sie nicht erwartet. Drei von Simons Sorte hätten wohl eher ihren Erwartungen entsprochen. Aber sie würden schon noch sehen, dass wir für diesen Job mehr als qualifiziert waren. Simon reichte dem grösseren von beiden die Hand.
«Kapitän Donnavan, mein Name ist Simon Graves. Meine Kinder und ich wurden als Taucher angeheuert.» Donnavan schüttelte seine Hand und zwirbelte mit seiner anderen seinen Schnauzbart. Skeptisch schweiften seine dunklen Augen über meine Schwester und mich.
«Sie sind die drei Taucher, die das Forschungsteam von Markus Ricket unterstützen sollen?» Bevor Simon antworten konnte, klopfte der andere dem Kapitän auf die Schulter.
«Das hat er doch gerade gesagt Charles.» Lächelnd wandte er sich mir zu. «Wenn ich meine Wenigkeit vorstellen dürfte, mein Name ist Robert Davidson, aber nennt mich ruhig Bobby. Ich bin der erste Steward, willkommen an Board der Arion III. Kann ich dir einen Koffer abnehmen?»
«Gerne, mein Name ist Anthony und das ist meine Schwester Sophie», stellte ich sie gleich mit vor und rückte etwas zur Seite, damit er sie auch sehen konnte. Dann reichte ich ihm den Koffer. Er rückte sein grünes Baseballcap zurecht und griff dann nach dem Koffer.
«Dann zeige ich euch jetzt euer neues zu Hause für die nächsten Wochen. Ich bin sicher ihr werdet euch wohlfühlen. Sie ist zwar noch ein sehr junges Schiff, aber ein paar heftige Stürme hat sie schon unbeschadet überstanden. Und die letzten zwei Jahre war sie sehr zuverlässig, nicht war Charles?» Der Kapitän brummte nur zustimmend, er schien, im Gegensatz zu seinem ersten Steward kein Mann der grossen Worte zu sein. Er folgte uns und Bobby ins Innere des Schiffes. Ich musste ein Lachen unterdrücken, als er weiter über das Schiff redete, als handle es sich dabei um sein eigenes Kind. Ganz klar war er die gute Seele auf diesem Schiff. «Euch sind zwei Kammern zugeteilt worden, eine Einzel- und eine Doppelkabine. Wer wo unterkommt ist euch überlassen.» Beide Kabinen lagen auf dem Backdeck, ein Deck unter dem ersten Aufbaudeck, auf dem Lucys Kabine lag. Die Aufteilung war schnell geregelt, wir machten es im Grunde genauso wie bei der Kreuzfahrt. Soph und ich teilten uns eine Kabine und Simon nahm eine für sich alleine. Die Kabinen lagen aber nicht direkt nebeneinander. Die Doppelkabine, die Nummer neun, war die erste auf der linken Seite des Ganges. Simons, die Nummer 28, lag an dritter Stelle auf der rechten Seite des Ganges. Im Vergleich zu der Kabine auf der Helios, war diese hier winzig und erinnerte mich deshalb an mein zu Hause, die Kabine auf der Aurelia. Wir waren ja auch nicht zum Vergnügen, sondern zum Arbeiten da. Kurz verstauten wir unser Gepäck und machten dann eine Führung über das Schiff. Die beiden Aufbaudecks fünf und sechs wurden vorwiegend von den Meteorologen genutzt. Neben dem Luftchemielabor gab es dort aber auch noch einen Raum für Gasflaschen. Der nächste Halt war auf der Brücke, dem vierten Aufbaudeck. Bis auf einen kleinen Wissenschaftsarbeitsraum, nahm der Fahrstand das gesamte Deck ein.
«Ab dem dritten Aufbaudeck haben die Türen der Decks verschiedene Farben, das erleichtert die Orientierung.» Jetzt wo er es erwähnte, vielen mir die dunkelgrünen Türen auf. «Hier ist der Funkraum und die Lotzentrale, ausserdem haben wir hier noch eine Telefonzelle, die jedem frei zur Verfügung steht.» Die Türen des zweiten Aufbaudecks waren hellgrün. «Die Bordwetterwarte ist gleich dort drüben, deshalb sind auch die Kabinen unserer Wetterfrösche gleich neben an», erklärte er mit einem Schmunzeln. Die Kapitänskajüte, die Kabine des dritten Offiziers, des Chefingenieurs, Leiter des WTD und des Technischen Fahrleiters befanden sich auch hier auf dem zweiten Aufbaudeck. «Wenn es einmal nötig werden sollte, gibt es hier auch einen Helikopterlandeplatz.» Auf den nächsten beiden Decks waren vor allem Kabinen für die Crew und die Wissenschaftler. Eine Saune, einen Fitnessraum und auf dem Backdeck befand sich das Hospital. Nachdem er uns noch den Zugang zum Rettungsboot gezeigt hatte, folgte das Hauptdeck. Hauptsächlich hier wurden die Wissenschaftlichen Arbeiten ausgeführt, da hier die meisten Labors lagen. Vorne waren noch ein paar Kabinen für die Wissenschaftler, die Bibliothek und ein Konferenzraum. Beim letzten Deck führte er uns durch mehrere Werkstätte nach vorne zum Bug des Schiffes. «Hier ist Messe eins, der grössere Speiseraum. Die meisten essen hier, deshalb ist es hier eigentlich immer brechend voll. Mir ist Messe zwei lieber, nicht nur, weil sie direkt neben der Küche liegt», sagte er und zwinkerte mir zu. «So, das ist alles was die Arion zu bieten hat. Unter uns befinden sich nur noch die Stauungen, Kühlräume und dergleichen.» Um seine Worte zu unterstreichen, Stampfte er zweimal kurz auf. Simon stellte seine Kaffeetasse ab und erhob sich vom Sofa. Wir befanden uns in einem gemütlich eingerichteten Raum, der als Besprechungszimmer angeschrieben war, aber mehr an ein Wohnzimmer erinnerte.
«Vielen Dank für die Führung Mr. Davidson, wir werden den Rest des Tages nutzen und die Insel erkunden.»
«Bobby», sagte er bestimmt.
«Bis später Bobby», sprang ich Simon bei. «Der Kakao war wirklich köstlich, ich freue mich schon auf eine weitere Tasse nach der Arbeit.». Er strahlte über das ganze Gesicht und begleitete uns nach draussen. Dort wünschte er uns einen schönen Tag auf der Insel.

«Was macht der denn hier?», frage ich Simon und machte ihn auf Andrew aufmerksam, der uns schon zu erwarten schien. Mit einem Schulterzucken signalisierte er mir, dass er auch keine Ahnung hatte.
«Könnten sie einen Moment für mich erübrigen, ich würde gerne kurz mit ihnen reden.»
«Natürlich, worum geht es denn?»
«Ich will ihnen nur einen gutgemeinten Rat geben. Ich weiss das sich immer jemand von ihnen in Lucys nähe aufhält. Aber heute sollten sie davon absehen. Sie müssen sich keine Sorgen machen, ich werde nicht von ihrer Seite weichen. Vertrauen sie mir», sagte er eindringlich und sah uns dabei ernst an. Bevor wir etwas sagen konnten, drehte er sich um und eilte davon.
«Was hat er denn damit gemeint?»
«Das weiss ich auch nicht Soph. Aber ehrlich gesagt traue ich ihm nicht über den Weg.» Simon wandte sich mir zu. «Du wirst wie geplant auf Patrouille gehen Anthony und ich weiss das sie heute Abend einen Ausflug zu einer abgelegenen Bucht machen. Vom Wasser aus solltest du sie gut im Auge haben, die Stelle habe ich dir auf der Karte markiert.» Ich nickte zustimmend. Den ganzen Tag im Wasser zu verbringen war verlockend, ausserdem traute ich Andrew auch nicht.

 

 

 

 

 

Kapitel 11

Mittwoch, 12.06.13, 21:00 Anthony

 

Schon seit Stunden glitt ich durch das Wasser und umrundete die Insel. Viel Zeit, in der ich meine Gedanken schweifen lassen konnte. Dabei dachte ich über das seltsame Brennen meines Males nach, wenn ich Lucy berührte. Es war erst aufgetreten, nachdem sie sich ihr Tattoo hatte stechen lassen. Ausserdem war das Brennen nur stark, als sie oder ich nicht im Vollbesitz unserer Kräfte gewesen waren. Sonst hatte ich nur ein schwaches kribbeln verspürt. Wäre das Brennen nicht gewesen, könnte man meinen ich hätte mir das Ganze nur eingebildet. War an dem Symbol doch mehr dran, als nur ein Märchen? Die Wächter des versunkenen Königreiches. Irgendwie reagierte Pat darauf und ich hatte keine Ahnung warum. Hatte es Lucy auch bemerkt? Naja, keiner von uns beiden hatte etwas dazu gesagt. Und dann Andrews Warnung. Warum wollte er uns unbedingt heute von ihr fernhalten? Man konnte sich ja denken, dass mich das erst recht neugierig machte. Die Bucht von der ich mich fernhalten sollte lag sehr abgelegen und war weder auf dem Land- noch auf dem Wasserweg einfach zu erreichen. Felsen, die heimtückisch unter der Wasseroberfläche lauerten und die unberechenbare Strömung machten es schwierig die Bucht mit einem Boot zu erreichen. Über den Landweg musste man eine steile Wand hinunter klettern. Ich war gespannt, wie Lucy und Andrew die Bucht überhaupt erreichen wollten. Mit meinen Fähigkeiten, konnte ich die Strömungen wahrnehmen und wurde praktisch ohne grosse Anstrengung zur Bucht getragen. An ihr konnte ich aber nichts Besonderes ausmachen. Ohne Frage war es ein sehr schöner Ort. Ein kleiner, unberührter Strand. Nach meiner kurzen Besichtigung, kehrte ich ins Wasser zurück. Bald würde die Sonne untergehen. Ich schwamm wieder an der Bucht vorbei und dieses Mal spürte ich eine neue Präsenz im Wasser. Ein Motorboot näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Hinter einem Felsen versteckt, beobachtete ich die Neuankömmlinge. Sie hatten also den Wasserweg gewählt. Nur wie wollten sie die gefährlichen Felsen umschiffen? Bevor ich dazu kam mir Sorgen zu machen, steuerte Andrew bereits mit einer mörderischen Geschwindigkeit zielsicher zum Strand. Lucy klammerte sich am Rand des Bootes fest und sah so aus, als würde sie sich nächstens übergeben. Andrew musste die Bucht sehr gut kennen, wenn er mit einer solchen Selbstverständlichkeit zwischen den Felsen hindurchmanövrierte. Als das Boot zum Stillstand kam, sprang Lucy raus und liess sich in den Sand fallen.

 

Mittwoch, 12.06.13. 21:00 Lucy

 

«Verdammt noch mal, willst du mich umbringen?! Beinahe wären wir an diesen Felsen zerschellt!» Mit zittrigen Knien liess ich mich in den Sand sinken, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. «Mein Vater und du predigt doch immer, ich solle nicht so leichtsinnig sein und du fährst wie ein Irrer!» Seelenruhig zog er das Boot etwas weiter auf den Strand und hob dann den Picknickkorb aus dem Boot, den er noch gepackt hatte.
«Beruhigen sie sich, zwischen Selbstüberschätzung und Können liegt ein grosser Unterschied. Ich kenne die Strömungen und Untiefen dieser Bucht wie meine Westentasche, ich würde den Weg hierher mit verbundenen Augen finden.» Mit offenem Mund starrte ich ihn an. So hatte ich ihn ja noch nie erlebt, dieser Ort schien ihn richtig aufzuwühlen. «Jetzt geniessen wir erst unser Picknick, es bleiben uns noch ein paar Minuten Sonne und gestärkt das Ritual anzutreten ist angenehmer.» Wir liessen uns auf der karierten Decke nieder und assen schweigend unsere belegten Brote. Mein linkes Handgelenk kribbelte seit wir die Bucht betreten hatten. Und je tiefer die Sonne sank, desto intensiver wurde es. Aber es war noch nicht mit dem Brennen zu vergleichen, dass ich im botanischen Garten gefühlt hatte. Schliesslich ging die Sonne ganz unter. Mein Tattoo fing ganz leicht an zu Glühen. Nun war es an Andrew mich mit offenem Mund anzustarren. Ehrfürchtig streckte er seine Hand nach meiner aus, doch kaum hatte er sie berührt, zog er sie auch schon wieder zurück, als hätte er sich verbrannt. Ein trauriger Ausdruck trat in seine Augen.
«Was hat das zu bedeuten?», fragte ich und deutete auf mein leuchtendes Handgelenk.
«Das ist ein sehr gutes Zeichen, die Geister scheinen es kaum erwarten zu können, sich mit ihnen zu verbinden. Am besten wir beginnen gleich mit dem Ritual.» Seine eben noch so traurige Miene wurde durch ein begeistertes Glänzen in den Augen ersetzt. Meine Begeisterung hielt sich bisher eher noch in Grenzen. Zögernd folgte ich Andrew ins Wasser. Wir hatten das Ritual schon ausführlich besprochen. Bei der ersten Verbindung musste ich mich im Wasser aufhalten, später war das nicht mehr nötig, da genügte etwas Meerwasser. Doch allein mit dem Meerwasser konnte ich keine Verbindung herstellen, ich musste die Geister darum bitten. Diese Bitte stellte gleichzeitig einen Schwur dar, der mich an die Geister band. Nach dem Schwur würden die Geister entscheiden ob sie sich mit mir verbinden würden oder nicht. Was passierte, wenn sie mich nicht akzeptierten, daran wollte ich gar nicht denken. Viel wichtiger war es mir darüber Gedanken zu machen, was ich tat, wenn sie mich akzeptierten. Ich durfte mich nicht von ihnen überwältigen lassen, musste die Kontrolle über meinen Körper behalten.
«Wir sind weit genug draussen, sie können hier stehen bleiben.» Mittlerweile standen wir hüfttief im Wasser. «Konzentrieren sie sich ganz auf das Meer, es wird sie leiten und nun sprechen sie mir nach.» Die Worte des Schwurs hatte ich mir nicht merken können, sie waren schlicht zu kompliziert. «Aumakua ha`awi mai ho`ailona kekuhaeoe Mana, ho`omana.» Ich strich Wasser über das Symbol und sprach die Worte nach. Übersetzt hiessen sie so viel wie: Ahnengeister leiht mir eure Kraft, durch das Symbol soll mich die Macht durchfliessen.
Das Stimmengewirr, das darauf folgte liess beinahe meinen Kopf platzen. Es hörte sich an, als würden tausende Stimmen rufen, nur konnte ich einfach nicht verstehen, was sie riefen. Überwältigt hielt ich mir die Ohren zu und schloss die Augen. Doch das half kein Stück, die Stimmen waren direkt in meinem Kopf. Zu allem Übel schien dann auch noch mein Handgelenk in Flammen zu stehen. Etwas legte sich auf meine Schulter. Ich riss die Augen auf und blickte direkt in Andrews Gesicht. Er versuchte mir etwas mitzuteilen, durch die Rufe konnte ich ihn aber nicht verstehen. Als ich schon glaubte, dass ich gleich den Verstand verlieren würde, hörten die Rufe genau so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Ein lautes Geräusch blieb, es dauerte einen Moment bis ich begriff, dass das meine eigene Stimme war, die schrie. Das Wasser um mich herum brodelte wie in einem Kochtopf. Andrew wich mit schmerzverzerrtem Gesicht vor mir zurück, dass Wasser schien ihn zu verbrühen. Mir kam es nicht heiss vor. Eine Kraft schien mich zu durchfliessen, nie in meinem Leben hatte ich mich so lebendig gefühlt, wie in diesem Moment. Aus dem brodelnden Wasser tauchten dutzende, durchscheinende Gestalten auf. Doch nur eine davon konnte ich genauer erkennen, es war ein Riesenkrake. Eigentlich hätte ich jetzt schreiend davonlaufen sollen, doch ich blieb wo ich war und starrte wie gebannt auf das riesige Tier. Mit sechs seiner Tentakel hielt es die anderen Erscheinungen zurück und mit den zwei anderen umschlang es meinen Körper. Es schien ganz so, als wolle der Krake mich für sich ganz alleine haben. Ich hielt den Atem an, als eines seiner riesigen Augen direkt von meinem Gesicht schwebte. Eine Stimme tauchte in meinem Kopf auf. Unverständliche Gedankenfetzen, die nicht meine waren und ein Name, der so klar in meinem Kopf wiederhallte, dass ich ihn schon fast vor meinem geistigen Auge sehen konnte: «Cora». Ein Schauer durchlief mich, als der Geist mit mir verschmolz. Die anderen Geister wirbelten um mich herum und einige flogen durch mich hindurch. Mehr von ihnen verschmolzen mit mir. Mein Körper fühlte sich an, als würde er gleich zerbersten.
«Andrew, ich halt das nicht mehr aus!»
«Sperren sie die Geister aus, sie sind noch nicht stark genug, um so viele in sich aufzunehmen! Zeigen sie ihnen wer hier wen beherrscht!» Verzweifelt schlug ich nach einer Erscheinung und wie hätte es auch anders sein können, ich glitt einfach durch sie hindurch.
«Hört auf, lasst mich in Ruhe!» Die Geister liessen sich davon nicht beeindrucken. Sie machten einfach weiter. Ein ohrenbetäubendes Brüllen schallte durch die Bucht. Es war kein menschliches Geräusch, es klang wie von einem wilden Raubtier. Dieses Brüllen war meine Rettung, die Geister liessen von mir ab und verschwanden im Wasser. Das Licht erlosch und das Wasser beruhigte sich wieder. Vollkommen erschöpft sackte ich zusammen. Andrew hielt mich fest und ich hörte noch wie er zu mir sagte: «Sie haben es geschafft, die Geister haben sie akzeptiert.»

 

Mittwoch, 12.06.13, 21:40 Anthony

 

Sie machten ein Picknick. Kurz überlegte ich mir, am Strand aufzutauchen und mich einfach zu ihnen zu setzen. Doch ich blieb wo ich war, mein Magen musste sich noch etwas gedulden. Wegen eines Picknicks musste ich mich ja auch nicht von ihr fernhalten, die beiden hatten noch irgendwas Anderes vor. Nachdem die Sonne untergegangen war, meinte ich Lucys Handgelenk aufleuchten zu sehen, doch von meiner Position aus konnte ich das nicht sicher sagen. Von meiner Neugierde getrieben, tauchte ich näher heran, im Dunkeln konnten sie mich im Wasser sowieso nicht sehen. Ich hatte mich nicht geirrt, ihre Tätowierung leuchtete. Sie folgte Andrew ins Wasser. Kaum hatte sie einen Fuss ins Wasser gesetzt, fing mein Mal an zu kribbeln. Als sie Hüfttief im Wasser standen, blieben sie stehen und Andrew sagte etwas zu Lucy. Was dann geschah, übertraf alles, was ich bisher gesehen hatte. Lucy hielt sich die Ohren zu und schrie, sie schien Schmerzen zu haben. Andrew schüttelte sie und brüllte ihr etwas zu. Irgendetwas wie Ruhe bewahren und auf das Meer hören. Mehr verstand ich nicht. Die Worte ergaben für mich keinen Sinn. Das Kribbeln auf meinem Mal wurde von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, es wurde zu einem Brennen. Dieses übertraf das vom letzten Mal bei weitem. Patamon rebellierte in mir, er wollte unbedingt raus. Mit aller Macht musste ich ihn daran hindern. Die ganze Situation wurde noch verrückter. Das Wasser in Lucys Nähe schien zu kochen. Mit einem gleissend hellen Licht erschienen seltsame, durchscheinende Wesen. Ein besonders grosses, das aussah wie ein Riesenkrake verschwand in ihrem Körper. Irgendetwas löste das in ihr aus, eines ihrer Augen begannen genau so hell zu leuchten wie ihr Tattoo. Weiter konnte ich mich nicht mehr auf das Geschehen konzentrieren, Pat liess sich nicht mehr zurückhalten. Er erschien vor mir. Nun wusste ich auch was er wollte, er wollte zu ihr gelangen, mit den Erscheinungen um ihre Aufmerksamkeit ringen. Ich konnte nicht zulassen, dass er sich ihr näherte. Mit aller Kraft warf ich mich auf ihn und schlang meine Arme um seinen Hals. Er stiess ein empörtes Brüllen aus. Wie von Sinnen schüttelte er sich. Meine Hände rutschten ab und ich wurde in hohem Bogen gegen einen Felsen geschleudert. Der spitze Felsen schrammte mir den Rücken auf und presste mir die Luft aus den Lungen. Vor meinen Augen tanzten kleine Sterne, Pat war wieder verschwunden. Unsanft klatschte ich zurück ins Wasser. Meine Sicht verschwamm, ich war kurz davor das Bewusstsein zu verlieren. Auf keinen Fall durfte ich mich dann noch hier im Meer befinden, die Strömung würde mich an den Felsen zerschellen lassen. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich so viel Angst vor den Fluten wie jetzt. Adrenalin schoss durch meinen Körper. Unter Aufbietung meiner ganzen Kräfte, erreichte ich irgendwie den rettenden Strand der Bucht. Dort kroch ich an Land und brach zusammen.

 

Donnerstag, 13.06.13, 6:32 Anthony

 

«Verdammte Scheisse, was ist passiert?!» Stöhnend richtete ich mich auf und spuckte Sand aus. Mein Rücken brannte wie Feuer und mein Schädel dröhnte. Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder daran erinnerte, was passiert war.
«Pat ist vollkommen durchgedreht», murmelte ich und strich mir den Sand aus den Haaren. Simon stand triefend nass neben mir am Strand.
«Patamon hat dir das angetan?» Ungläubig starrte er auf meinen Rücken.
«Nicht direkt, ich habe beinahe die Kontrolle über ihn verloren, er wollte unbedingt zu Lucy, ich konnte ihn kaum bändigen, da hat er mich gegen die Felsen geschleudert. Ich weiss nicht was in ihn gefahren ist, aber so habe ich ihn noch nie erlebt, dass musst du mir glauben.» Nachdenklich betrachtete er meinen Rücken.
«Sophie wird sich darum kümmern, gehen wir erst einmal zurück zum Schiff, dann kannst du uns alles in Ruhe berichten.» Er zog mich hoch und als er sich sicher war, dass ich nicht gleich wieder umfallen würde, liess er mich los. «Bist du sicher, dass du es ohne Hilfe zurück zum Schiff schaffst?»
«Ja, das sind nur ein paar Schürfwunden, damit komme ich schon klar.» Probehalber liess ich die Schulter kreisen. Es zog ganz schön, aber davon liess ich mich nicht unterkriegen.
«Na dann, wir schwimmen erst zu einem Strand, der liegt gleich neben dem Hafen, dort habe ich ein paar Sachen deponiert.» Ich folgte ihm und liess mich dabei so viel wie möglich von der Strömung tragen.

Zu dieser frühen Stunde war der Strand fast Menschenleer. Die Sonne stand noch nicht besonders hoch am Himmel und es herrschte ein angenehmes Klima. Sobald ich jedoch ganz aus dem Wasser trat, fühlte sich mein Körper an, als wäre er aus Blei. Jeder Schritt fiel mir schwer. Simon steuerte auf ein einsames Handtuch zu. Daneben lag eine Tasche mit seinen anderen Sachen. Stöhnend liess ich mich auf das Handtuch fallen und schloss kurz die Augen. Es waren nicht nur die Schürfwunde und die Kopfverletzung, die mir so zu schaffen machten. Das gestrige geistige Kräfteringen mit Patamon hatte auch seine Spuren hinterlassen.
«Zieh dir das über und trink erstmal einen Schluck.» Er hielt mir eines meiner alten T-Shirts und eine Flasche Wasser hin. «Du siehst wirklich fertig aus. Am besten bringen wir dich so schnell wie möglich zu Sophie, sie kann dir bestimmt helfen.» Dankend nahm ich das T-Shirt entgegen und leerte die Flasche in einem Zug.
«Eigentlich will ich nicht, dass Sophie ihre Kräfte einsetzt, du weisst doch wie sehr sie das schwächt.»
«Natürlich weiss ich das, aber in deinem momentanen Zustand bist du wohl kaum in der Lage zu arbeiten und es sollte ausreichen, wenn sie sich nur um die Verletzung am Rücken kümmert.» Damit war für ihn die Sache erledigt. Ich sparte mir einen weiteren Versuch, ihn davon zu überzeugen, das ich auch ohne Sophies Hilfe zurechtkommen würde. Genau wie bei Sophs Angst vor Menschenmengen, war er auch beim Einsatz ihrer Kräfte hart. Seine Meinung war, dass man sich nur verbesserte, wenn man dafür auch etwas aushalten musste. Er sammelte seine Sachen zusammen und ich reichte ihm das Handtuch, nachdem ich mich aufgerafft hatte. Schweigend liefen wir den Strand entlang Richtung Hafen hinunter. Der Hafen von den Zenymen war riesig und deshalb war ich mehr als froh über die Golf Card ähnlichen Gefährte, die man benutzen konnte um sich auf dem Gelände fortzubewegen. Normalerweise liebte ich es diese Cards zu fahren, doch heute überliess ich es ohne Protest Simon. Ein Tropfen Blut ran mir denn Rücken hinunter und ich spürte, dass mir das T-Shirt stellenweise am Rücken klebte. Trotz der frühen Stunde herrschte reger Betrieb auf der Arion III. Kein Wunder, immerhin sollte bis heute Nachmittag um 17:00 alles bereit zum Auslaufen sein. Die letzten Gerätschaften wurden mit Kränen an Bord geschafft. Und Bobby überwachte zusammen mit einem anderen Mann, wahrscheinlich dem Koch, wie ein paar Männer frische Lebensmittel an Bord trugen. Ich warf mir das Handtuch über den Rücken, um das Blut zu verdecken. Kaum hatte uns Bobby entdeckt kam er auch schon freudenstrahlend auf uns zu.
«Normalerweise bin ich derjenige der zuerst auf den Beinen ist, aber ich habe gar nicht bemerkt wie ihr das Schiff verlassen habt.»
«Wir waren noch eine Runde schwimmen, der Strand ist am schönsten wenn man ihn für sich alleine hat.» Er nickte zustimmend und begleitete uns an Bord.
«Der frühe Vogel fängt den Wurm, nicht wahr mein Junge?», lachte Bobby und schlug mir auf den Rücken. Ich biss die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Verdammt tat das weh. Zu dem brennenden Rücken kam mein brummender Schädel hinzu. Simon schob sich zwischen uns, um zu verhindern, dass er mir weiter zu nahekam.
«Wenn es für uns nichts zu tun gibt, werden wir uns bis zur Zusammenkunft der Crew zurückziehen.»
«Natürlich ich habe hier alles im Griff, wir sehen uns dann an Deck.» Er zwinkerte uns zu und verschwand um die nächste Ecke.
«Puh, er hat wirklich eine sehr freundschaftliche Art.»
«Zu freundschaftlich, für meinen Geschmack war das zu viel Körperkontakt.» Ich stiess die Tür zu Sophies und meiner Kabine auf und wurde fast von den Füssen gerissen. Geistesgegenwärtig stützte Simon uns von hinten ab, netterweise hielt er mich dabei an meinen Schultern, die weniger abbekommen hatten. Sophie hatte mich angesprungen und klammerte sich nun wie ein Schraubstock an meinem Hals fest.
«Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Gott sei Dank ist dir nichts passiert!» Normalerweise machte mir ihr Gewicht nichts aus, aber in meinem momentanen Zustand war sie mir dann doch zu schwer.
«Es ist schön zu sehen, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast Schwesterchen, aber wenn du willst, dass ich mich weiterhin am Leben erfreuen kann, solltest du mich besser loslassen», keuchte ich. Erschrocken liess sie von mir ab und musterte mich. Ich trat an ihr vorbei in die Kabine und liess mich mit dem Gesicht voran auf das Kajütenbett fallen.
«Ist das Blut?» Sie schob mein T-Shirt hoch und sog laut die Luft ein.
«Sieht es so schlimm aus?» Sie ging nicht auf meine Frage ein, sondern antwortete mit einer Gegenfrage.
«Wie ist das passiert?»
«Erzählen wir dir später, erst einmal solltest du dich um diese Verletzungen kümmern», meldete sich Simon zu Wort. Sie zog mir das Shirt ganz aus und dann strichen ihre Hände auch schon Sanft über meinen Rücken. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Wie wenn man an einem kalten Wintertag einen heissen Kakao trank und er den Körper von innen wärmte. Ihre Hände wanderten zu meinem Kopf hinauf, sie hatte natürlich bemerkt, dass der auch einen kräftigen Schlag abbekommen hatte. Die Kopfschmerzen liessen schlagartig nach, sie verwandelten sich in ein leichtes Pochen und verschwanden dann ganz. Doch als dann auch noch meine Stärke langsam zurückkam, drehte ich mich um und hielt ihre Hände fest.
«Hör auf Soph, du hast schon mehr als genug getan, wenn du mir meine ganze Energie wieder zurückgeben willst, übernimmst du dich.» Das leuchten in ihren Augen verschwand und ihre Atmung beruhigte sich etwas. Ich wischte ihr die Schweisstropfen von der Stirn und Simon reichte ihr ein Glas Wasser. Genau wie mir half ihr das Wasser wieder etwas zu Kräften zu kommen. Auf ihrem Arm hatte sich eine Gänsehaut gebildet und sie zitterte leicht, ein Sicheres Zeichen, dass sie sich bereits übernommen hatte. Immer dann fing sie an zu frieren, als würde die Wärme, die sie anderen spendete aus ihrem Körper fliessen. Nachdem sie ihr Glas geleert hatte, sank sie neben mir auf das Bett und ich zog sie nah zu mir heran, um sie mit meinem Körper zu wärmen. Um es für sie noch etwas wärmer zu machen, zog ich die Decke über uns.
«Ihr solltet euch jetzt etwas ausruhen, ich werde euch wecken wenn es Zeit für die Crewversammlung ist.» Simon liess uns alleine und zog sich in seine Kabine zurück.
«Erzählst du mir jetzt was deinen Rücken so zugerichtet hat?», murmelte Sophie mit geschlossenen Augen.
«Eigentlich ist es keine besonders gute Geschichte, aber du gibt’s ja sonst doch keine Ruhe.» Ich berichtete ihr erst über das seltsame Ritual, das ich beobachtet hatte und wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie mir Löcher in den Bauch gefragt. Patamons Reaktion darauf entlockten ihr dann doch ein paar Worte.
«Wie kann das sein, dass du Patamon nicht mehr im Griff hast, ich meine er wollte dich ganz bestimmt nicht Verletzten, so etwas kann ich mir noch nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorstellen.»
«Ich weiss und ich bin mir sicher das Tabib dich niemals verletzen würde, er ist nicht so ein Heisssporn wie Pat.» Ich wusste das sie grossen Respekt vor ihrem Schutzgeist hatte und ich wollte nicht, dass sie Angst vor ihm bekam, es reichte, wenn ich mir darüber den Kopf zerbrach. Tiefe, regelmässige Atemzüge zeigten mir, dass sie eingeschlafen war.

 

Donnerstag, 13.06.13, 13:20 Lucy

 

Mein Mund war staubtrocken und durch meine Lippen mussten sich Risse ziehen, tiefer als der Mariannengraben. Ich stürzte das Glas Wasser hinunter, dass auf meinem Nachttisch stand. Nachdem ich meinen Durst gelöscht hatte, bemerkte ich erst die Kopfschmerzen und das mir mein Pyjama schweissnass am Körper klebte. Ich brauchte dringend eine Dusche und ein paar frische Klamotten. Stöhnend schwang ich mich aus dem Bett, schälte mich aus meinen Sachen und warf sie achtlos auf den Hotelzimmerboden. Im Bad stellte ich das Wasser der Dusche heiss ein und stellte mich darunter. Seufzend schloss ich die Augen und genoss das Gefühl der herabfliessenden Tropfen. Die Erinnerung der vergangenen Nacht traf mich wie ein Blitz und wie auf Kommando schlängelte sich ein kleiner Krake um mein Handgelenk, an dem ich auch das Tattoo trug. Einen erstickten Schrei ausstossend, glitt ich an der Wand entlang auf den Duschboden. Meine Hand traf ins Leere, als ich den Kraken wegwischen wollte und wieder hallte ein Name klar und deutlich in meinem Kopf wider: «Cora.» Mein Atem ging stossweise und ich klemmte meinen Kopf zwischen meine Knie, um mich zu beruhigen. In dieser Position verharrte ich unter der laufenden Dusche. Dabei liess ich mir die Geschehnisse von Gestern und das eben durch den Kopf gehen. Irgendetwas unvorstellbares, unglaubliches, unmögliches war an diesem Strand mit meinem Körper geschehen. Da war etwas mit mir verschmolzen, da war ich mir ganz sicher. Doch was danach geschehen war, daran konnte ich mich nicht erinnern. Wie war ich von der Bucht zurück ins Hotel und von dort in mein Bett gekommen? Wer hatte mich umgezogen, das Glas Wasser auf meinen Nachttisch gestellt? Dafür kam eigentlich nur einer in Frage.
«Andrew», hauchte ich. «Andrew», sagte ich immer lauter, während ich das Wasser abdrehte und aus der Dusche stieg. Ich schrie seinen Namen beinahe schon, als ich nur in ein Handtuch gehüllt, in das Wohnzimmer der Suite platzte. Diese war sogar noch grösser als die auf dem Schiff. Andrew sass mit übereinander geschlagenen Beinen zeitungslesend auf dem Sofa, vor ihm eine dampfende Tasse Tee.
«Ihnen auch einen guten Morgen, wobei man schon fast nicht mehr Morgen sagen kann.» Seelenruhig hob er die Tasse an seine Lippen und trank einen Schluck. Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet mir, dass es schon zwei Uhr nachmittags war. «Ich wollte eben nach ihnen sehen und mich vergewissern das mit ihnen alles in Ordnung ist. Immerhin haben sie über eine halbe Stunde geduscht.»
«Das kann nicht…»
«Oh doch meine Liebe.» Ich schüttelte den Kopf, für mich hatte sich das gerade einmal wie ein paar Minuten angefühlt.
«Andrew, hast du mich zurückgebracht, umgezogen und dann ins Bett gelegt?»
«Ja, nach der Verschmelzung haben sie das Bewusstsein verloren und da ihre Sachen nass waren, habe ich mir erlaubt ihnen etwas Anderes anzuziehen, sonst hätten sie sich noch den Tod geholt. Wo wir jetzt davon reden, sie sollten sich umziehen, sonst war mein Einsatz vergebens. Ein paar frische Kleider liegen in ihrem Zimmer bereit.» Als er bemerkte, dass ich mich nicht vom Fleck gerührt hatte und ihn weiterhin anstarrte, fügte er hinzu: « Ich werde ihnen alles Weitere erklären, wenn sie vollständig bekleidet wieder hier sind.» Ich fügte mich seinen Anweisungen und trottete ins Zimmer zurück. Tatsächlich lagen dort, fein säuberlich gefaltet, die versprochenen Anziehsachen, samt Unterwäsche. Ich schlüpfte in die hellblaue Sommerhose, knöpfte die weisse Bluse zu und wickelte meine nassen Haare in ein Handtuch. Dabei fiel mir auf, dass ich das Medaillon gar nicht mehr trug. Kurz blieb mir das Herz stehen, bis ich es neben dem Wasserglas auf dem Nachttisch entdeckte. Mein Herzklopfen liess erst nach, als es sich wieder an seinem gewohnten Platz um meinen Hals befand. So ging ich dann zu Andrew zurück. «Gut, so können wir uns unterhalten, setzen Sie sich doch.» Er deutete auf einen Sessel, vor dem auf einem kleinen Tisch eine Tasse Kaffee stand. Ich setzte mich und trank einen Schluck Kaffee, es brachte nichts ihn mit Fragen zu bombardieren. Gerade als ich die Tasse abstellen wollt, war da wieder dieser Krake um mein Handgelenk. Dieses Mal versuchte ich erst gar nicht ihn zu verscheuchen. «Das ist ihr Spirit, Sie sollten sich besser an ihn gewöhnen. Sie haben die Angewohnheit immer mal wiederaufzutauchen. Die anderen Geister in ihrem Körper werden sich ihnen aber nie so direkt zeigen.»
«Du kannst das hier auch sehen?», fragte ich und hob meinen linken Arm. Dort kringelte sich immer noch ein kleiner Krake. Wobei ich die Bewegung gar nicht wirklich wahrnahm, es war mehr wie ein Lufthauch, der sanft über meine Haut strich.
«Ja, aber machen sie sich keine Sorgen, einen Spirit können nur ganz wenige Leute sehen. Wie lautet sein Name?» Name? Wie sollte ich wissen wie er hiess? «Cora», hallte es in meinem Kopf wider.
«Ich glaube es ist eine Sie, ihr Name ist Cora.» Immerhin hiess das, dass ich nicht verrückt wurde. Obwohl ich mir bei Andrew da nicht mehr ganz so sicher war.  
«Das Ritual ist sehr gut verlaufen, die Geister haben sich förmlich um dich gerissen!» Er war so begeistert, dass er glatt vergass mich zu siezen. «Und wie sich dein Spirit durchgesetzt hat, du kannst sicher sein, dass er besonders stark ist. Nun ist ein wichtiger Schritt getan, was aber nicht heisst, dass es von nun an leichter wird.» Natürlich nicht, in meinem Leben wurden die Dinge immer komplizierter, nicht andersherum.
«Wie kann ich denn nun die Kraft meines Spirits nutzen?» Anstatt einer Antwort, zog er etwas aus seiner Hosentasche und reichte es mir. Es war ein kleines Glasfläschchen mit Deckel, dass an einer Kette hing.
«Darin befindet sich Meerwasser, es ist nur dafür gedacht, falls sie einmal sonst kein Meerwasser zur Verfügung haben. Denn um Coras Kraft zu nutzen, müssen sie etwas Wasser über ihr Tattoo am Handgelenk streichen.»
«Das funktioniert also auch mit Süsswasser?»
«Ja, aber mit Meerwasser ist es einfacher.» Ich öffnete den Deckel des Fläschchens und wollte es gleich einmal ausprobieren, da hob er die Hand und stoppte mich. «Warten sie, ich halte es für keine gute Idee, dass gleich nach dem Ritual zu versuchen. Ihr Körper muss sich erst an den Spirit gewöhnen, jegliche weitere Anstrengung würde ihren Körper momentan überfordern.» Resigniert schloss ich das Fläschchen wider und hängte es mir um.
«Das heisst, dass ich meine neuen Kräfte momentan gar nicht einsetzen kann.»
«Ich rate ihnen dringend davon ab, wenn sie die nächsten Tage nicht in einem Bett verbringen wollen, würde ich davon absehen. Wir müssen erst noch sehen, wie ihr Körper mit der neuen Situation umgehen wird.»
«Was soll das heissen?», fragte ich, während ich die leere Kaffeetasse in meinen Händen drehte.
«Stellen sie sich vor, ihnen ist ein neues Organ transplantiert worden und nun muss man…»
«Abwarten, ob der Körper keine Abstossungsreaktionen zeigt», beendete ich seinen Satz. Er nickte. «Ok, dann habe ich noch eine Frage. Um welches Organ würde es sich denn handeln?» Na gut, das war eine dämliche Frage. Soweit ich wusste endete eine Abstossung meist tödlich, egal um welches Organ es sich handelte.
«Das Herz.» Ich schluckte leer. «Machen sie sich nicht allzu viele Gedanken, ich bin sicher sie werden sich an ihr neues Herz gewöhnen.» Cora erschien wieder an meinem Handgelenk, als wolle sie Andrews Worte bestärken. «Nur werden wir auf der Arion III nicht besonders viel Zeit haben, um zu trainieren.» Jetzt wo er das Schiff erwähnte, viel mir das Crewtreffen um 16:00 ein. Die Uhr zeigte bereits 15:30 an.
«Verdammt!», rief ich, während ich aufsprang. «Wir müssen auf das Schiff, das schaffen wir nicht mehr rechtzeitig.» Durch das schnelle Aufspringen und wohl auch durch die Nachwirkungen der letzten Nacht, drehte sich alles.
«Langsam, langsam Lucy», beschwichtige er mich. «Ich habe bereits für alles gesorgt, die Koffer sind gepackt und werden in diesem Moment in unser Taxi eingeladen, mit dem Hotel ist auch alles geregelt, wir müssen nur noch ins Taxi steigen und in sind in fünf Minuten beim Hafen.» Er dachte wirklich immer an alles, beruhigt liess ich mich noch einmal in den Sessel zurückfallen.

 

Donnerstag, 13.06.13, 15:45 Anthony

 

Simon hatte uns eine Viertelstunde vor vier geweckt und als wir um zehn vor auf dem Deck auftauchten, fuhr gerade eines dieser Golfcards vor. Lucy war demnach auch nicht allzu früh dran. Andrew mühte sich gerade mit dem Gepäck ab, als Bobby, wie aufs Stickwort angetrabt kam. Er trug seine Uniform und seine grüne Baseballcap hatte er gegen eine weisse getauscht. Bei mir blieb er stehen.
«Ach Anthony, du kommst wie gerufen. Könntest du mir bitte mit dem Gepäck unserer letzten Neuankömmlinge helfen?»
«Natürlich.» Ich folgte ihm die Gangway hinunter. Mit seiner überschwänglichen Art begrüsste er die beiden, schüttelte ihnen die Hände und bot ihnen gleich das Du an. Lucy bemerkte mich nicht, da sie sich gleich nach der Begrüssung damit abmühte einen ihrer zwei Koffer vom Card zu heben. Sie war blass und wirkte allgemein müde und schlapp. Das Ritual hatte wohl nicht nur mich ziemlich mittgenommen. Ich beugte mich über sie und hob den Koffer mit einem Ruck an. «Darf ich dir den abnehmen?» Sie wirbelte herum, wobei sie das Gleichgewicht verlor und gegen mich stolperte. Das erwartete brennen blieb aus, das Mal kribbelte nur angenehm. Mit dem freien Arm hielt ich sie fest und bewahrte sie davor, mit dem Boden Bekanntschaft zu machen. «Mit so einer stürmischen Begrüssung hatte ich jetzt aber nicht gerechnet», sagte ich und lachte. Um mir ins Gesicht sehen zu können, lehnte sie sich zurück.
«Anthony?» Ungläubig starrte sie mich an. «Was um alles auf der Welt machst du hier?» Ich liess sie los und trat einen Schritt zurück.
«Hatte ich nicht erwähnt, dass ich auf der Arion III als Taucher arbeiten werde?»
«Mit keinem Wort», erwiderte sie trocken und stapfte vor mir die Gangway hinauf.
«Kabine 543, Anthony», sagte Bobby der uns schon wieder entgegen geeilt kam. «Normalerweise ist das die Kabine vom Seniorwissenschaftler, aber McCade hatte nichts dagegen sie ihnen zu überlassen.»
«Das ist doch nicht nötig, ich komme auch mit einer normalen Kabine zurecht.»
«Aber nicht doch, McCade teilt lieber eine Kabine mit seinen Kollegen, da ist sie ohnehin frei.» Man konnte richtig sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Ich wusste zwar nicht ob dieser McCade wirklich lieber bei seinen Kollegen schlief, aber Bobby wusste einfach wie man mit Leuten umging.
«Na gut, dann nehme ich das Angebot an.»
«Sehr schön, dann bringen wir erst einmal dein Gepäck in die Kabine und dann ist es höchste Zeit für unser Treffen.» Er wollte sich schon den zweiten Koffer nehmen, als ich ihm zuvorkam.
Spar dir die Mühe Bobby, ich übernehme das.»
«Danke Anthony, dann sehen wir uns gleich wieder an Deck.» Ich ging voraus und zeigte ihr den Weg.
«Taucher, ja? Da musst du ja wirklich gut sein, wenn Ricket mit dir arbeiten will.»
«Warum das denn?»
«Er gilt als äusserst schwierig, es heisst sogar, das wenn sein Ruf nicht so gut wäre, niemand mit ihm arbeiten würde.» Die Kabinentür stand noch offen, also ging ich rein. «Und ausserdem ist er sehr wählerisch was seine Mittarbeiter angeht.»
«Mit Ricket werde ich schon fertig.» Ich stellte die Koffer ab und sah mich um. Die Kabine war wirklich etwas geräumiger. «Wenn er wirklich so speziell ist, wie kommt es dann das du hier ein Praktikum machst?» Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und auf ihre blassen Wangen trat etwas Farbe.
«Ich verstehe meine Arbeit sehr gut, ich brauche den Admiral nicht, um so eine Stelle zu bekommen», zischte sie, während sie näherkam. Da hatte ich wohl einen Nerv getroffen. «Ich werde mit Ricket ebenfalls fertig», fügte sie hinzu und trat noch einen Schritt näher. Ihre Augen funkelten angriffslustig.
«So hatte ich das nicht gemeint, du musst nicht gleich alles persönlich nehmen, was ich sage. Manchmal sollte ich besser die Klappe halten.» Entwaffnend hob ich die Hände und lächelte. Sie musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen und ging wieder etwas auf Distanz.
«Besser wir gehen wieder an Deck, die Anderen warten sicher bereits auf uns.» Sie ging an mir vorbei, ohne meine Antwort abzuwarten und sie blieb auch nicht stehen, um zu sehen ob ich ihr folgte. Im Geiste notierte ich mir, dass ich ihren Vater wohl besser nicht mehr erwähnte.

Tatsächlich waren die Anderen bereits alle versammelt. Man konnte deutlich sehen, wer zur Crew und wer zu den Wissenschaftlern gehörte. Bei den fünfzehn Wissenschaftlern hatten sich auch Lucy und Andrew aufgestellt. Ich ging zu meiner Familie, die bei den Tauchern stand. Ein breites Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich John neben Simon entdeckte.
«Die Uniform steht dir.»
«Du trägst immer noch Badehosen», erwiderte er, ebenfalls breit grinsend. Er schlug bei mir ein.
«Siehst müde aus Anth.» Das hätte ich auch zurückgeben können, unter seinen dunkelbraunen Augen lagen dunkle Augenringe. «Man bist du gross geworden.» Ich überragte ihn um eine halbe Kopflänge. «Wie lange haben wir uns jetzt schon nicht mehr gesehen?»
«Das ist ganz bestimmt schon vier Jahre her. Ich war fünfzehn und du achtzehn. Viel zu lange auf jeden Fall.»
«Die nächsten Wochen werden wir sicher eine Gelegenheit finden uns zu unterhalten.» Er richtete seinen Blick auf Sophie, die sich wieder einmal hinter mich gestellt hatte. «Wir haben uns einander noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Jonathan, aber alle nennen mich John.» Lächelnd streckte er ihr die Hand entgegen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie ein paar Wochen, nachdem wir John getroffen hatten zu uns gestossen war und ihn somit gar nicht kennen gelernt hatte. Sophie rührte sich nicht von der Stelle. Ich beugte mich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: «John ist ein Freund, er beisst dich schon nicht, versprochen.» Sie nickte und schüttelte seine Hand.
«Sophie», hauchte sie, so leise, dass er es wahrscheinlich nicht hören konnte.
«Meine kleine Schwester ist etwas schüchtern. Wenn Sophie sich aber mal an jemanden gewöhnt hat, dann kannst man auch ein normales Gespräch mit ihr führen.» Für diese Aussage erntete ich einen Tritt gegen mein Bein.
«Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit, in Kürze werden wir ablegen und unsere Expedition beginnen.» Kapitän Donnavan hatte sich wohl dazu entschlossen die Versammlung jetzt zu eröffnen. Er stand in der Mitte des Decks und wurde links von Bobby und rechts von einem Mann, den ich nicht kannte, flankiert. «Die nächsten fünf Wochen werden wir alle Teil einer neuen Familie sein. Viele von ihnen haben bereits zusammengearbeitet. Nun sind ein paar neue Mitglieder zu dieser Familie dazugestossen. Damit wir möglichst bald ablegen können, werde ich das hier kurzhalten und die Neuen herzlich Willkommen heissen.» Er winkte ein paar Leute zu sich nach vorne, uns eingeschlossen. Donnavan begann damit die beiden neuen Klimatologen vorzustellen, Paul und Ida Tate. Das Ehepaar war der einzige Neuzugang bei den Wissenschaftlern, von Lucy einmal abgesehen. Sie und Andrew wurden als nächstes vorgestellt. Als er ihren Nachnamen nannte, lagen sofort alle Augen auf ihr. John stiess mir den Ellenbogen in die Rippen.
«Ist das wirklich die Tochter des Admirals?», flüsterte er mir zu. Ich nickte nur. Nun konnte ich auch in seinem Blick neues Interesse aufflackern sehen. Der Name Callahan genügte und schon wurden die Leute neugierig.
«Dann möchte ich euch meinen neuen ersten Offizier vorstellen, Kevin Billington.» Der Mann zu seiner Rechten nickte einmal in die Runde. Das war also der Mann, von dem ich schon so viel gehört hatte. Er war fast ein Kopf kleiner als ich, aber seine muskulösen Schultern waren so breit, dass man schon angst hatte, seine Uniform würde jeden Moment zerreissen. Ich fragte mich, ob er mit seinem gewaltigen, blonden Bart versuchte seinen kahlen Schädel zu kompensieren. Simon und er tauschten finstere Blicke aus. «Dieser Junge Mann hier, wird heute seine erste Fahrt als Bootsmann antreten.» Der Kapitän deutete auf John. «Ich bin sicher das Jonathan Covenant gute Arbeit leisten wird.» Jetzt blieben nur noch wir übrig, die vorgestellt werden mussten. «Zu guter Letzt heisse ich unsere drei neuen Spezialtaucher willkommen. Sophie, Anthony und Simon Graves.» Ricket lachte höhnisch.
«Drei? Ich sehe hier höchstens einen Spezialtaucher. Oder wollen sie mir allen ernstes weissmachen, das der Grünschnabel und diese kleine Göre Spezialtaucher sind, Kapitän?» Er zeigte anklagend mit dem Zeigefinger auf meine Schwester und mich. Vor Wut schäumend ballte ich meine Hände zu Fäusten. Es war mir egal, wenn jemand mich beleidigte, aber hatte er gerade wirklich Sophie eine kleine Göre genannt?
«Meine kleine Schwester ist ganz bestimmt eine bessere Taucherin, als Sie es jemals sein werden!», schleuderte ich ihm an den Kopf. Ricket starrte mich entsetzt an, seine wässrig blauen Augen funkelten mich hinter den Brillengläsern wütend an, er schien nicht damit gerechnet zu haben, dass ihm jemand die Stirn bot.
«Beruhig dich Anth, ich regle das.» Simon legte mir eine Hand auf die Schulter und Sophie griff nach meinem Arm. Jetzt bemerkte auch ich, dass von einer kleinen Pütze an Deck, sich das Wasser begonnen hatte, auf mich zu zu schlängeln. Ich hörte sofort auf, dass Wasser anzuziehen. «Mr. Ricket ich verbitte mir, dass sie meine Tochter eine kleine Göre nennen. Gleichzeitig will ich mich für die ungestüme Antwort meines Sohnes entschuldigen.» Ich schnaubte, was mir jedoch nur einen strengen Blick von Simon einbrachte. «Sie sollten nicht auf Grund ihres Alters vorschnell über sie urteilen», fügte er hinzu.
«Alle drei haben die besten Empfehlungen», kam ihm der Kapitän zu Hilfe.
«Ich kann zwar nicht für seine beiden Kinder sprechen, aber eines kann ich Ihnen versichern, Simon Graves ist einer der besten Taucher, wenn nicht sogar der Beste, den ich je gesehen habe. Wenn seine Kinder auch nur halb so gut sind wie er, dann können Sie sich glücklich schätzen sie zu haben.» Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich mich verhört hatte, aber diese Worte waren ganz sicher aus dem Mund von Billington gekommen. Dieses Lob entsprach so gar nicht meinen Vorstellungen von ihm. Simons Gesichtsausdruck verriet nichts darüber was er davon hielt.
«Wir werden ja sehen wie sie sich schlagen. Lassen Sie uns ablegen, Zeit ist Geld.» Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand unter Deck. Donovan räusperte sich verlegen.
«Bis zu unserer nächsten Station sind es zwei Tage, bis dahin werden wir Gelegenheit haben uns näher kennen zu lernen. Wir liegen sehr gut in der Zeit und in zehn Minuten werden wir bereit sein um auszulaufen.» Die Versammlung löste sich auf und alle gingen eilig ihren Beschäftigungen nach. John versprach mit uns zu Mittag zu essen und folgte dann Billington.
«Ich komme mit Ricket klar…da bin ich ja mal gespannt», raunte mir Lucy zu, als sie an mir vorüber ging. Bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, war sie auch schon mit den anderen Wissenschaftlern verschwunden. Ich musste zugeben, dass mit Ricket war kein besonders guter Start gewesen, aber eines wusste ich jetzt schon, ich konnte diesen arroganten Typen nicht ausstehen. Er würde schon noch sehen, dass wir wussten was wir taten.
«Wissen sie wo ich den Chief finde?»
«Üblicherweise ist Max im Maschinenraum», antwortete der Kapitän, bevor er sich verabschiedete und in Richtung Brücke verschwand. Das war eine von Simons Eigenheiten. Immer wenn wir auf einem neuen Schiff arbeiteten, dann nahm er den Maschinenraum unter die Lupe, vorzugsweise mit dem Chief. Der Motor ist das Herz eines Schiffes, pflegte er zu sagen. Ich machte mir nicht viel aus Motoren, aber ich konnte gewisse Defekte reparieren, wenn es notwendig war. Simon hingegen war von Motoren fasziniert. Er konnte sich stundenlang über alle möglichen technischen Details unterhalten.
«Das trifft sich doch gut, begleitet ihr mich?»
«Nein Danke Dad, ich gehe weiter auspacken», lehnte Sophie ab.
«Was ist mit dir Anth?» Einen kurzen Blick konnte ich schon auf das Herz des Schiffes werfen, also folgte ich ihm.  

 

 

 

Kapitel 12

 

Donnerstag, 13.06.13, 18:00 Lucy

 

Mit dem Ärmel wischte ich mir den Schweiss von der Stirn. Erschöpft liess ich mich auf eine der Kisten sinken, die noch fortgeschafft werden mussten. Beinahe schon zwei Stunden waren wir dabei die mitgebrachten Geräte und anderen Ausrüstungsgegenstände, die für die wissenschaftliche Arbeit gebraucht wurde in den verschiedenen Laboratorien und Arbeitsräumen unterzubringen. Alle Wissenschaftler packten mit an und als Praktikantin schleppte auch ich eine schwere Kiste nach der anderen. Normalerweise kam ich nicht so schnell ausser Atem, aber Andrew hatte wohl recht, mein Körper musste sich erst an seine neuen Mitbewohner gewöhnen. So gesehen war es nicht besonders klug gewesen, ausgerechnet kurz vor dem Start der Expedition den Bund mit den Geistern einzugehen. Ein leichtes Kribbeln zog sich über mein Handgelenk. Ich schaute über meine Schulter und tatsächlich, mit einem breiten Grinsen im Gesicht kam Anthony auf mich zu geschlendert. Er liess sich auf eine weitere Kiste, die meiner gegenüber stand fallen.
«Machst du eine Pause?»
«Im Gegensatz zu dir habe ich schon zahlreiche von diesen Kisten herumgeschleppt, ausserdem sind das hier die Letzten. Du kannst froh sein, dass ich noch nicht fertig bin, sonst hättest du ja keine Sitzgelegenheit mehr.» Er grinste weiter. «Machst du dich über mich lustig oder ist das dein Standard Gesicht?» Entwaffnend hob er seine Hände, das bereite Lächeln blieb.
«Tut mir leid, aber wenn du das eben mitbekommen hättest, würdest du auch so dreinschauen. Ich lache nicht über dich, sondern über meinen Vater.» Fragend sah ich ihn an. «Wir haben uns vorhin den Maschinenraum angesehen. Mein Dad wollte unbedingt mit dem Chief sprechen. Er fachsimpelt gerne, musst du wissen. Da er nirgends zu finden war hat er gesagt: «Dann knöpf ich mir den Kerl eben später vor.»
«Den Kerl? Ich dachte…»
«Anscheinend bist du besser informiert, wir waren es nicht. In den Unterlagen stand, dass ein gewisser Charly Alvares Chief sei. Naja und dann ist Charly aufgetaucht und Simon hat sie gefragt, ob sie wisse wo ihr Chef stecke.» Nun breitete sich auch auf meinem Gesicht ein Grinsen aus. «Du hättest einmal sein Gesicht sehen müssen, als sie gesagt hat: «Ich bin hier der Chef.» Dabei hat sie wie wild mit einem riesigen Schraubenschlüssel herumgefuchtelt.» Anthony lachte lauthals los.
«Hat sie euch aus ihrem Maschinenraum geworfen?» Er schüttelte immer noch lachend den Kopf.
«Nein, aber sie hat eine Tirade Schimpfwörter abgelassen und etwas von Männern und ihren Vorurteilen gemurmelt. Simon hat eine Entschuldigung gestammelt und dann hat sie uns den Maschinenraum gezeigt.» Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich lässig etwas zurück.
«Und, wo hast du deinen Vater gelassen?»
«Nach anfänglichen Start Schwierigkeiten hat er den Chief auf einen Kaffee eingeladen.» Bei der Erwähnung von Kaffee seufzte ich tief. Nur zu gerne würde ich die restlichen Kisten einfach stehen lassen und mir auch einen Becher davon genehmigen. Unvermittelt sprang Anthony auf die Füsse und hielt mir die Hand hin. «Na los, ich helfe dir mit den letzten Kisten und dann gehen wir in die Mensa und hören den beiden beim Fachsimpeln zu.»
«Einverstanden, aber du trägst die besonders schweren Kisten», sagte ich und liess mich von ihm auf die Füsse ziehen. Jetzt wo ich ihn direkt berührte, war das Kribbeln besonders stark zu spüren, aber es brannte nicht mehr so, wie es im botanischen Garten der Fall gewesen war. Als ich bemerkte, dass ich immer noch seine Hand festhielt, zog ich sie schnell zurück und verschränkte sie hinter meinem Rücken. Mit dem Kopf wies ich auf die Kiste, auf der ich gerade eben noch gesessen hatte. «Die muss ins Labor 16 (Geologie Labor auf dem Hauptdeck) und diese zwei kleineren ebenfalls.» Er stapelte die beiden kleineren auf die grosse Kiste und hob sie an. Mühelos trug er sie an mir vorbei. Nun blieb nichts mehr übrig, was ich hätte tragen müssen. Er blickte über seine Schulter zurück.
«Kommst du?» Ich beeilte mich, zu ihm aufzuschliessen. Im Geologie Labor wurden die Kisten von den Dunn Brüdern in Empfang genommen.

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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2015

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