Vor Jahrhunderten begab es sich. Eine Geschichte, inzwischen jedermann bekannt.
Wer hätte gedacht, dass ich sie einmal erzähle?
Tic.
Ein Korb vor einer Tür. Langsam öffnet sich die Pforte und Licht scheint auf das… Geschenk
.
„Nein“, flüstert eine Stimme, „Wer tut so etwas?“
Eine Hand streicht die Decke über dem Korb beiseite und entblößt das Gesicht des Kindes.
„Na komm, mein Kleiner.“
Der Korb mit dem Kind wird hochgehoben.
Und hinter der ersten Person erscheint eine zweite.
„Was tust du da?“ Diese Stimme ist viel dunkler, scheint beinahe melodisch tief.
„Sieh dir das an. Wie kann man nur ein Kind in einer Nacht wie dieser aussetzen? Es könnte erfrieren!“
„Lass es.“
„Aber wir können es doch nicht einfach hier liegen lassen!“
„Dann nimm es mit rein. Aber morgen fragen wir unten im Dorf nach der Mutter.“
„Ja, das ist gut.“
„Nur für eine Nacht, klar?“
„In Ordnung. Für eine Nacht.“
„Dann komm ins Haus. Das Feuer brennt noch hell genug, dass es wärmt.“
„Da ist ein Zettel an dem Korb…“
Zwei Personen schauen erst in die kleine Hütte.
Dann auf das kleine Stück Papier.
Dann nach oben. In den dunklen Himmel.
„Es schneit schon wieder.“
Kleine weiße Flocken fallen durch die Tür, die sich langsam hinter den beiden Personen schließt.
Und kleine weiße Flocken fallen auf eine arme Frau, die hinter einem Busch hockt und sich das Tuch enger um die dürren Schultern schlingt.
Sie vergießt eine einzelne Träne, die im tiefen Schnee sofort gefriert.
Tic.
Und dann vergeht die Zeit.
Das tut sie ziemlich häufig. Und das macht sie so interessant.
Tic.
Ein kleiner Junge stürmt aus der Tür. Er rennt den Hang hinunter, stolpert und rollt über das sommerlich grüne Gras.
Einige Löwenzahnstängel weichen entsetzt beiseite und ein Schmetterling taumelt davon.
Sein Vater stapft an ihm vorbei.
„Na komm, Kurzer“, meint er.
Der kleine Junge lacht und springt auf.
Kichernd springt er um seinen Vater herum.
„Papa?“, fragt er.
„Hm?“, brummt der Alte mit einer tiefen Stimme wie ein großer, friedlicher Bär.
„Wo bringst du mich hin?“
Der Alte antwortet nicht. Er stapft weiter über die Wiese, den Weg entlang, die weiten Berghänge hinunter, bis in das Dorf.
Immer wieder schaut er zu dem kleinen Kind hinunter, das die gesamte Zeit um ihn herum tollt.
Als ob…
Als ob er wüsste, was die Zukunft für ihn bereithält.
Tic.
Und die Zeit vergeht.
Schon wieder. Lustig, nicht wahr?
Tic.
Sehen wir einen Jahrmarkt.
Bunte Fähnchen hängen über den Köpfen der Menschen, die lachend durch die Straßen spazieren.
Eine Mutter und ein Kind gehen nebeneinander.
Dann werden die Augen des Kleinen auf einmal größer.
Vorsichtig, aber bestimmt zerrt er die Mutter zu einer ganz bestimmten Bude. Es ist ein schmuckloses Zelt, nicht mehr als eine Ansammlung von Stoff an ein paar Seilen.
Ein Schild hängt an den Vorhängen, die den Eingang bilden.
„Zukunft“, liest die Mutter leise.
„Schicksal“, antwortet eine Stimme aus dem Zelt.
Der Kleine lässt die Hand seiner Mutter los und springt zwischen die Stoffbahnen, hinein in das Zelt.
Die Mutter tritt seufzend hinterher.
Drinnen findet sie ihren Kleinen zusammen mit einer alten Frau, die hinter einer großen Kristallkugel hockt.
Eine Wahrsagerin. Eine Hexe! Die Mutter bekommt sofort ein seltsames Gefühl. Aber es ist doch nur ein altes Weib, oder?
Die Alte sieht den Kleinen schief an.
Dann nickt sie wissend und winkt ihn zu sich. Mit einer Handbewegung deutet sie ihm, in die Kugel zu sehen.
Mit fahrigen Fingern streut sie einige seltsam riechende Kräuter über das Glas, das sich schlagartig tiefschwarz verfärbt.
Angsterfüllt beobachtet die Mutter, wie der Glasball zu einem großen Auge wird, das sich langsam öffnet, wie aus der schwarzen Pupille Flammen zum Zeltdach lecken. Dann fließt auf einmal Rot über den Rand der Kugel, schwappt über den Boden und kriecht die Wände hoch.
Die Mutter steht wie erstarrt. Der Kleine hingegen staunt über die merkwürdigen Formen, die nun aus dem Rauch der Kerzen tanzen.
Ein Mensch, ein Kreuz und ein Baum ohne Blätter, ein Speer und ein Schwert, ein Pfeil und…
Plötzlich ist alles vorbei.
Eine Hand schließt sich um den Arm des Kleinen und zerrt ihn aus dem Zelt.
Keuchend steht die Mutter auf der Straße. Neben ihr der Kleine.
Besorgt sieht sie ihn an.
Und noch besorgter fühlt sie in ihrer Tasche den kleinen Zettel, der immer schwerer wird.
Tic.
Und wieder vergeht die Zeit.
So ist das nun einmal.
Tic.
Es ist Abend.
Die Sonne versinkt gerade hinter dem Horizont und schickt die letzten Lichtfetzen über die Ebenen und Berge.
Ein Schatten huscht an der sterbenden Scheibe vorbei. Er springt über einen Baumstamm, landet auf dem Boden.
Schreiend rennt er weiter.
Dann bleibt er stehen. Ein Schwert aus Holz trifft auf eine Puppe aus Stroh. Es knistert und knackt.
Immer wieder schlägt der Schatten auf die Puppe ein.
Dann erstarrt er plötzlich als eine schwere Hand sich auf seine Schulter legt.
„Gut, Kurzer.“
Der junge Mann hebt den Kopf. Er lächelt den Vater an.
Ist das Stolz?
„Es ist spät. Wir sollten nach Hause gehen.“
Der junge Mann nickt.
Die Beiden gehen los.
Doch nach einigen Schritten biegt der Vater ab. Er tritt neben den Pfad und verlagert seinen Weg in den Wald. Der junge Mann folgt ihm verwirrt.
Mitten im Wald. Die Bäume rauschen im allabendlichen Konzert des Windes, hauchen ihre Geschichten und singen mit der sterbenden Sonne.
Der Alte lässt sich auf einen umgestürzten Baum fallen, der junge Mann setzt sich ihm gegenüber auf einen Baumstumpf.
Dann beginnt der Alte zu erzählen.
„Weißt du, mein Junge, es war in einer Winternacht…“
Tic.
Zeit vergeht. Nicht viel. Aber genug
.
Tic.
Eine lange Straße.
Sie führt aus dem Dorf hinaus, in die Weiten der Welt. Man könnte sie als Sinnbild für ein langes Leben sehen.
Aber glaubt mir, das ist es nicht.
Es ist noch nicht ganz Tag, die Geister der Nacht hängen noch in den Köpfen der Menschen und die Sonne hat gerade erst ihre Reise begonnen. Tau benetzt das frische Gras, Bäume und Blumen.
Ein junger Mann geht die Straße entlang. Schritt für Schritt.
Weit hinter ihm, sehr weit, steht eine kleine Hütte, in deren Türschwelle zwei Personen stehen und einander umklammern, als müssten sie sich gegenseitig stützen.
Der junge Mann weiß das.
Doch er geht weiter. Schritt für Schritt.
Er will weg.
Er hat einen kleinen, zerknitterten Zettel in der Hand und einen Gedanken im Kopf.
Das Kind wird zum Mann.
Tic.
Zeit. Niemand kann sie aufhalten oder kontrollieren.
Und was wäre das für eine Welt, wenn jeder sein Schicksal selbst bestimmen könnte?
Tic.
Schon seit Tagen hallt das Geräusch durch die Gassen der kleinen Stadt.
Leute, die an der Schmiede vorbei kommen, fragen sich, was der alte Schmied wohl treibt.
Und wer es wissen will, der öffnet die Tür der Schmiede und tritt ein. Heiße Luft schlägt ihm entgegen, einige Funken fliehen durch die Türe nach draußen. Hier drinnen ist der Ton natürlich viel lauter.
Wer es genau wissen will, der macht einen Schritt nach vorn.
Ein junger Mann steht an einem Amboss.
Der Hammer kracht immer und immer wieder auf ein Stück weiß glühendes Metall, schlägt es breit, schlägt es passend.
Der Ton ist ohrenbetäubend laut.
Neben dem Amboss steht der alte Schmied, mehr breit als hoch und ein Meister seines Faches, von allen respektiert und berühmt im ganzen Königreich und schon sehr viel herumgekommen.
Dieser Meister staunt nun.
Funken sprühen davon wie heißer Staub, als der junge Mann das Metall in den Ofen hält, bis es wieder weiß leuchtet.
Dann lässt er wieder den Hammer darauf nieder sausen, es kracht mit jedem Male und mit jedem Schlag rückt die Zukunft näher.
Tic.
Und die Zeit vergeht erneut.
Es ist fast wie ein Wunder, nicht?
Tic.
Dieses Schloss gehört dem König.
Dieser König sitzt auf dem Thron.
Und davor kniet ein junger Mann.
Er hat ein Schwert. Und er ist entschlossen. Auch wenn er es nicht weiß.
Der König lächelt erst, dann lacht er schallend.
„Wer bist du, dass du eine solche Aufgabe bewältigen willst?“
Der junge Mann senkt den Kopf. Er ist nicht etwa beschämt, getroffen oder gar enttäuscht.
Ein Stier senkt auch dann und wann den Kopf.
Der König brummt etwas Unverständliches in seinen Bart.
Daraufhin erhebt sich der junge Mann und verbeugt sich.
Die Prinzessin lächelt schüchtern, als sie seinen Blick auffängt.
Und der junge Mann geht entschlossenen Schrittes aus dem Saal hinaus.
Die gewaltige Tür fällt zu und…
Tic.
Zeit vergeht.
Diesmal in die andere Richtung
.
Tic.
Sehen wir, was vor ein paar Wochen geschah.
Viel gibt es nicht zu sehen.
Ein alter Mann sitzt mit seiner Frau am Feuer und wartet.
Beide zittern ein wenig, obwohl es nicht kalt ist.
Auf dem Tisch steht ein alter Weidenkorb, an dem einst ein Zettel hing.
Sie wissen, was gleich passiert.
Die Beiden stehen auf, als die große Standuhr Mitternacht schlägt.
Mit wackligen Schritten gehen sie aufeinander zu und fallen sich in die Arme.
Plötzlich explodiert die Tür und ein riesiges, rotes Auge starrt in das Haus.
Wenige Sekunden später ist es vorbei.
Und alles, was bleibt, ist ein großer, schwarzer Brandfleck.
Tic.
Zeit. Sagen wir mal…drei Monde.
Gegenwart. Schicksal. Und dann… wird alles Vergangenheit
.
Tic.
Der junge Mann zückt sein Schwert.
Die Landschaft spiegelt sich in der blanken Klinge. Es ist mehr ein graues Bild, grau und grausam, schwarz und weiß, verbrannt.
Ruhig geht er ein paar Schritte vorwärts, bleibt stehen und schaut noch einmal in die dunkle Höhle.
Schwarze Baumleichen lehnen am Eingang. Keine Blätter, keine Äste.
Seit Jahren wagt sich nichts und niemand mehr an diesen Ort.
Und viele Dinge sprechen auch dagegen.
Ein Grund dafür sind vermutlich die Bäume.
Ein anderer könnten geschwärzte Schwerter sein, die auf dem dunklen Boden verstreut liegen.
Oder vielleicht könnte es auch…
Der junge Mann stürmt vor, das Schwert hoch erhoben, bereit.
Ihm hinterher stapft ein kleiner, alter Mann, mehr breit als hoch.
Der Alte hört einen Schrei, einen menschlichen, dann einen anderen.
Dann verstummt die Welt für einige Augenblicke.
Und der junge Mann tritt aus der Höhle.
Er lächelt nicht, stolziert nicht, weder schreit er, noch spricht er.
Seine Haut schimmert dunkelrot, hinter sich her zerrt er einen gewaltigen Kopf, der mit dunkelgrünen Schuppen besetzt ist.
Einer der schwarzen Bäume hat vor wenigen Augenblicken sein letztes Blatt verloren.
Tic.
Die Zeit vergeht.
Schnell, unaufhaltsam -und aus dem Alten wird der Krieger und aus dem Mann… der Held
.
Tic.
Ein Wald in tiefen Orangetönen.
Die herbstlichen Blätter tanzen über den Boden, springen zur Seite, als der Held den Weg entlang reitet.
Hinter ihm jagt der Krieger durch den Wald.
„So warte doch!“, ruft er seinem… Freund zu.
Der Held zügelt sein Pferd und lacht laut, woraufhin der Krieger neben ihm zum Stehen kommt.
Die Pferde schnaufen.
Da dreht sich der Held um und blickt zwischen die Bäume.
Schweigend deutet er in den Wald.
Der Krieger blickt an der ausgetreckten Hand entlang und sieht den Hirsch.
Ohne Worte nimmt der Held den Bogen von der Befestigung am Sattel, einen Pfeil aus dem Köcher und spannt die Sehne.
Zischend schießt der Pfeil davon und bohrt sich dem Hirsch in das Herz.
Der Held keucht. Er hustet.
Mit zitternder Hand greift er sich an die Schulter, wo sich ein langer Speer in eine ganz bestimmte Stelle des Umhangs bohrt.
Doch es ist zu spät.
Der Held schließt die Augen und lässt es geschehen.
Hinter ihm ragt der Schatten des Mörders auf und verdeckt die Sonne, die zwischen den blattlosen Bäumen hindurch scheint.
Tic.
Zeit.
Sie ist begrenzt
.
Tic.
Rot und Gold.
Ein Begräbnis für einen König.
Die Trauer um den Helden.
Doch als der Freund, der Krieger zum Sarge tritt, schwappt das erste Rot über den Rand.
Rot, Rot, Rot…
Es umspült die Füße des Kriegers, bildet seltsame Formen.
Flüsternde Stimmen singen von einem blattlosen Baum.
Von einem edlen Hirsch.
Einem Pfeil.
Einem gestickten Kreuz auf rotem Samt.
Einem Speer.
Und von… einem Zettel mit nur einem Hinweis.
„Der Held"
Tic.
Dies ist der Moment, wo der Held zur Legende wird
.
Bildmaterialien: Das Copyright am Cover geht an mich. Leider.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2012
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