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Dies ist die einzige Geschichte seines Lebens.
Und ja, auch die letzte.

Habt ihr das schon mal erlebt? Ein einziges Mal nur? Nein, sicherlich nicht. Ihr wärt alle nicht hier, wenn doch.
Die Tür schlug zu. Seufzend schleuderte er die Schultasche in die Zimmerecke und warf sich auf das Bett. Lächelnd starrte er in die drei aufgemalten Sterne an der Decke.
Es waren schwarze kleine Dinger, die in einem echten Sternenhimmel nie die Chance gehabt hätten, zu strahlen. So winzig, so verlassen, so allein.
Doch er lächelte sie an und dachte an die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Die Vergangenheit, sie enthielt die schwerste aller Bürden. Seit seiner Kindheit waren es die anderen, die ihn beherrschten, die ihn beschimpften, die ihn verprügelten, die ihm das Geld stahlen und ihn in aller Öffentlichkeit bloßstellten. Er war das Opfer aller Gewalttaten der Grundschule geworden. Und er hatte alles eingesteckt, was sie ihm antaten. Was hätte er auch tun sollen?
Die Gegenwart, die schönste Zeit seines Lebens. Natürlich war sie nicht so viel besser, aber er war nun... anders. Der Beginn einer langen Reise war die Grundschule, der Ort des Schreckens. Doch dann kam die Zeit des Umzuges. Die größte Veränderung. Seine Mutter fand einen neuen Job in einer neuen Stadt. Das bedeutete, dass er die Schule wechseln musste.
Und dann das neue Leben.
Die Gegenwart. Das Wunder vom Leben. Die Freundschaft. Diese neue Schule, mit den Lehrern, die so schrullig, wie auch lustig sein konnten. Das Gebäude, das so verfallen wie wunderschön war, so verträumt inmitten der Altstadt. Aber all das war nichts gegen diese eine große Sache, die Freundschaft. Nie war ihm etwas Derartiges widerfahren. Ewige Prügeleien, von Grundschülern zur Perfektion getrieben, wurden ersetzt durch Lucy und Luke, die Zwillinge von nebenan. Sie waren richtige Freunde, die ihm zur Seite standen, wenn es ernst wurde, die sich nicht zu schade waren für ihn, den ewigen Verlierer die Hand ins Feuer zu halten. Nie waren sich die drei böse, nie gab es Streit, nie auch nur Meinungsverschiedenheiten. Es war der Himmelabschnitt Nummer sieben, der auf einer Treppe in sein Leben gepoltert war.
Die Gegenwart. Die Freundschaft. Wie die drei kleinen Sterne an der Decke nie besonders erfolgreich, aber immerhin ein Lichtschimmer.
Seine Mutter rief zum essen. Also erhob er sich vom Bett und ging die Treppe hinunter in die Küche.
Nie im Leben hätte er sich noch einmal umgedreht, um die Sterne zu betrachten. Nie m Leben hätte er noch einmal zurückgesehen. Und so sah er nie im Leben diesen einen Stern, der sich von der Decke gelöst hätte, wäre er nicht nur eine Zeichnung auf einer weißen Tapete. Wäre er aus Glas, würde er nur mit Klebeband an der Decke befestigt sein, würde er nun, um den dramatischen Eindruck der Szene zu festigen sich langsam lösen. So langsam, dass es niemandem auffiele. Doch er würde mit einer Wucht auf dem Boden aufschlagen, die ihn zerbrechen lassen würde. Viele Millionen Splitter eines schwarzen Glassterns würden auf dem Boden liegen, ein Trümmerhaufen...
Aber nein. Es ist doch nur eine Zeichnung, oder?
Oder?

Am nächsten Tag in der Schule, diesem wunderbaren, verträumten alten Haus, da war es, als würde ein Geist durch die Gänge streifen. Stille umgab ihn, als er das Klassenzimmer betrat.
Lucy und Luke sahen ihn sofort misstrauisch an. Sie wussten sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Doch es war ihr unglaubliches Gespür für die Empfindungen der Menschen um sie herum, welches sie schweigen ließ. Jedenfalls bis zur Mittagspause. Länger hielten sie es dann doch nicht aus.
Zu zweit ließen sie einen Sprechchor ertönen, der selbst den besten Musiker überrascht hätte.
Doch nein, er antwortete nicht.
Nicht jetzt.
Nicht so.

Und dann... dann an diesem einen Tag war der Tag der Wende da.
Ohne ein Wort zu verlieren wuchtete er den schweren Koffer auf die Ladefläche des Wagens. Kartons und Kisten standen schon im Kofferraum, Möbel und die größeren Pappschachteln waren mit dem anderen Wagen schon unterwegs.
Seine Mutter stand aufrecht vor dem Haus. Die Hände in die Hüften gestemmt und lächelnd.
Sie murmelte: „Und nun, ein neuer Anfang. Das wird ein neuer Anfang, wenn wir erst mal dort sind. Stimmt’s, mein Schatz?“
Nein, er antwortete nicht. Doch sie redete weiter: „ In Ehren verabschiede ich mich von diesem alten Heim, das uns so einige schöne Zeit hier gegeben hat. Good Bye, altes Haus, ich geh nun nie mehr ein und aus.“ Noch einmal seufzte sie, drehte sich um und stieg zu ihrem Sohn ins Auto.

Der erste Tag. Schon wieder. Er ging quälend langsam vorbei, wie eine Steckbank, an die ein stetig tickendes Uhrwerk angeschlossen war, das das große Rad in Bewegung hielt, während die Henker schon hinter der nächsten Tür lauerten und nur darauf warteten, dass der Neuling in ihrem Revier einen Fehler beging.
Die Tür schlug zu. Stumm schleuderte er die Schultasche in die Ecke eines Zimmers, in der noch keine Kisten standen und warf sich auf das Bett. Ohne eine Reaktion betrachtete er die Sterne an der Decke. Sie waren schwarz. Wäre es ein echter Sternenhimmel gewesen, so hätten sie alles in sich gerissen, bis nur noch sie übrig waren. Wie schwarze Löcher in den Wänden des Universums. Alles wäre hindurch gefallen.
Dies war also die Zukunft. Eine zweite Vergangenheit. Die Schläge hatte er weggesteckt. Alle Tritte in seinem Innersten einfach beiseite geschoben, die Fausthiebe, waren sie noch so hart und gut gezielt, ohne Gegenwehr hingenommen.
Ausdruckslos Augen betrachteten die schwarzen Farbkleckse.
Ein leiser Gedanke dachte an die schwarzen Sterne zu Hause. Sie warn so freundlich gewesen, ihre Farbe war eine Einladung zum Träumen. Diese hier waren kalt und einfach nur schwarz wie ein tiefer Abgrund ohne Licht.
Und dann kamen die Gefühle. Sie drängten wie dunkle Murmeln in seine Seele und zermalmten die schönen Erinnerungen unter ihrem unglaublichen Gewicht.
Er blinzelte und Tränen schossen ihm in die Augen. Nur Tränen, nichts weiter. Er schwieg.
Er blinzelte erneut und stand auf. Mit einer Hand wischte er die Tränen davon. Es hatte keinen Sinn zurückzublicken. Es würde ja sowieso nur ein zerbrochener Sten auf dem Boden liegen.
Er schnappte sich einen Mantel, es war ihm egal, ob es seiner war, oder nicht, und rief noch: „Ich werde mir die Stadt ein wenig ansehen gehen.“
Aus der Küche kam die Antwort seiner Mutter: „Ja, mein Schatz, pass auf dich auf!“
Er lächelte.

Dunkelheit brach über die Stadt herein. Fenster bekamen den gelben Schein einer elektrischen Lampe, die Straßenlaternen gingen an.
Natürlich regnete es.
In einem solchen Moment regnete es immer. Das war einfach... sinnvoll.
Auf dem Dach stand eine Gestalt.
Wie war sie da rauf gekommen?
Ein Mantel flatterte hoch oben im Wind. Er gehörte einer verzweifelten Mutter, die umringt von blauen Lichtern auf einer Straße stand und vor Verzweiflung zerrann.

Er war allein dort oben.
Ganz allein.
Hier. In einer fremden Stadt.
Er ließ sich fallen.
Er war ein kleiner, schwarzer Stern, der vom Himmel fiel und einen langen Schweif der Stille hinter sich herzog.
Ein kleiner, einsamer schwarzer Stern.
Doch wisst ihr was? Dieser Stern war kein schwarzer Farbklecks an der Decke.
Dies hier war ein Glasstern.
Und er zerbrach auf dem Boden.

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Texte: Alle Rechte Rechte an diesem Werk liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2011

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