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Vorwort

Ich bin

der Sohn des Sonn.

 

Mein Name?

 

RE - ATUM - ATON

 

Bin ich

der Sohn des Sonn?

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielleicht sind Sie ja erstaunt über dieses »Sonn« und fragen sich: Warum schreibt dieser Herr Nitzsche denn nicht »Sonne«, wie es sich gehört? Oder steht das etwa so im neuen Duden? Das andere Wort, dieses ATON, klingt ja sehr fremd, könnte ägyptisch sein, aber da kenne ich mich nun überhaupt nicht aus. Hoffentlich kommen jetzt keine Hieroglyphen! Aber Sonn im Deutschen, das geht doch nicht. Schlimm genug, wenn da einer von Mondin statt von Mond spricht. Also wirklich, also nein!

Zugegeben, Sonn ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber unsere Sprache ändert sich ja ständig - oder wird geändert. »Rechtschreibreform«, fällt mir da ein. Früher schufen Dichter neue Worte, heute die Werbetexter. Für mich als Biologen ist unsere Sonne natürlich männlich, also spreche ich vom Sonn. Denn er befruchtet mit seinem Licht unsere Mutter Erde - sie, in deren Schoß das Leben entstand und wächst. Fast alles gegenwärtige Leben hängt über die Photosynthese der Pflanzen an diesem Energiestrom. Ohne sein Licht keine Pflanzen, ohne Pflanzen keine Tiere, also auch keine Menschen.

Nun aber zum Inhalt.

Versammelt sind in diesem Buch Taggeschichten, Gedanken und Träume, thematisch in sechs Kapitel aufgeteilt. Ausgehend von unseren Wohnungen und Häusern und Straßen der Stadt entfernen wir uns immer weiter über Gärten und Wiesen hin zu Wäldern und Bergen über Seen und Meere und Wüsten von den Menschenwelten und gelangen so zu den kleinen Göttern, die da irgendwo irgendwann ihre Göttergedanken träumen. Alles klingt ein, alles klingt aus.

Dazwischen findet sich wieder ein lockerer Rahmen. Diesmal ist es ein Penner, den wir schon aus dem Ruf der Mondin kennen, dem ersten Band meiner Nachtgeschichtentrilogie um die Mondin. Sie erinnern sich? Er war es, der den jungen Mann tot auf einer Bank im Park fand. Und es sahen wohl nur wenige Fernsehzuschauer vor langer Zeit in einer Landesschau* einen jungen Mann dort unter einer Platane sitzen, lauschten dabei wenigen Worten, nicht aus dem Mund, aber aus dem Geist des noch immer so unbekannten Autors, erblickten dann auch ihn, also mich, mit Vogelspinne** auf der Schulter lachend beim Betrachten eines Spinnenhorrorfilms.

 

Rainar Nitzsche,

Kaiserslautern im April 2017

 

*: Phantastische Welten in der Pfalz. SWF3 Landesschau Kultur, 28.09.96

**: eine baumbewohnende Vogelspinne der Gattung Avicularia, die inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilt.

Der Penner im Park schläft andernorts

Du erinnerst dich an den Penner? Nein?

Ich meine den alten Mann, der ...

Nein, der trinkt keinen Wein! Der liegt auch nicht so rum, der steht - auf Bier. Ja, diesen Alten mit dem grauen Vollbart, den meine ich.

Siehst du, jetzt siehst du ihn auch, doch nicht auf einer Bank im Park. Dort schläft er nicht, sondern im Obdachlosenasyl. Schau genau hin, komm näher ran, lass dich nicht abhalten von seiner Fahne. Schau genau hin. Da, seine Augen zucken hinter geschlossenen Lidern. Der Penner träumt. Willst du erfahren, wovon?

Geh noch näher ran!

Ja, so!

Du hast es geschafft. Jetzt bist du in seinem Traum. Jetzt siehst du, was er sieht, hörst du, was er hört, riechst du, was er riecht, fühlst du, was er fühlt. Jetzt bist du er.

Jetzt bist du in einem kleinen Park. Ach, es ist ja nur ein Platz, platanenumstanden, kreisrund. Aber seltsam ist die Perspektive doch. Du erblickst einen jungen Mann auf einer Bank, allein. Es ist Nacht, die Laternen verlöschen ohne Laut. Doch noch immer ist Licht, wacht über allem die Volle Mondin. Du siehst ihn von unten.

Aus tiefster Froschperspektive?

Nein, von noch tiefer, von unterhalb der Erdoberfläche aus! Dort siehst du ihn sitzen auf einer Bank unter Platanen und träumen im Licht der Mondin. Du schaust die Bank und den Mann von hinten, als Silhouette nur, dann wieder von der Seite, dann von vorne, als würdest du dich unter der Erde im Kreis bewegen. Niemals aber schaust du in sein Gesicht! So käme es dir seltsam vor, woher du weißt, dass er jung ist, wärest du wach. Doch du schläfst, doch du träumst. Also stellst du keine Fragen.

Aber du träumst nicht die Träume des jungen Mannes auf der Bank. Also hörst du niemals ihren Ruf, den Ruf der Mondin, also stirbst du nicht, noch nicht, also lebst du weiter. Du schläfst in der Nacht und bist wach am Tag. Denn du bist ein Kind deines Vaters. Der aber heißt Sonn. Jetzt aber bei Nacht ist er untergegangen, hinabgefahren unter die Erde, in die Unterwelt. Dort gleitet er auf einer Barke dahin durch schwarze Höllen. Doch es wird ein Morgen kommen. Dann geht er wieder auf im Osten, so strahlend hell gigantisch über dieser deiner Stadt.

Einklang

Damals, als wir erwachten, zu werden begannen, vor Zeiten, damals öffneten wir Ohren und Augen und Nase und Mund, die Welt um uns zu fühlen. Wir atmeten ein das Leben.

So brachen auf Zunge und Geist. Und das Wort wurde. Und das Wort war Macht.

Auf ewig erwoben aber in den Träumen, die da wuchsen im Dunkel der Nacht, sind die Schreie unserer Brüder und Schwestern, sie alle: Opfer der fauchenden Dolche. So stiegen auf aus unseren Mündern Worte, die flogen von Ohr zu Ohr zu Mund und durch die Zeit, vom Vater dem Sohne gegeben.

Dann schrieben wir auf - aus Bildern wuchsen Zeichen - diese Worte. So wurde die Schrift in den Sand, auf Holz, in Tafeln aus Ton, in Steine geritzt. Papyrus, Papier.

Jetzt aber laufen die Bilder über Wände aus Stoff und finden sich wieder in Röhren und Chips. Und Worte schlafen auf Bändern und Scheiben, erwachen.

Ewig lauschen wir still den Klängen von fern - träumen in unzähligen Welten.

All dies: die Klänge und Bilder und Düfte, die meine Sinne mir spiegeln aus den Räumen dort draußen, und die Träume in mir, all dies, das eben noch war, und die Gedanken, dem Morgen entsprungen, aus Welten so weit von hier, das ALLes sind Fäden, die sich weben zu Worten in Sätzen, die da warten so still und geduldig gleich einer Spinne im Netz, auch dich zu fangen.

Sonn über Beton

Manche Wüsten leben am Tag,

nachts aber sind sie tot!

Erstaunlich aber ist,

wie viele fantastische Dinge

unter seinem Licht geschehen.

 

 

Das Aaah und Oooh

Du drehst deinen Kopf im roten Licht des Abendsonns, immer weiter und weiter, langsam zunächst.

Du schaust hinab im Drehen, siehst dort unten auf der Bank deinen kopflosen Körper sitzen. Und nun - mein Gott! - schreit dein Mund aus einem immer schneller rotierenden Kopf so was wie: »Aaah!«

Und ich, der ich dich treffen wollte, und auch du - ja dich, liebe(r) LeserIn, meine ich - wir beide sehen den blutenden, zuckenden Körper noch nicht. Denn noch immer schauen wir mit offenen Mündern empor zu dem dort oben im roten Licht rotierenden Kopf: »Oooh!«

 

Abendsonn und Nacht

Ein kräftiger Sonn am Abend.

Eigentlich ist noch später Nachmittag, aber bei dieser Sommerzeit gehen ja alle Uhren eine Stunde vor.

Also: ein kräftiger Sonn am Abend. Und was geschieht da wohl?

Du streckst die Arme nach hinten aus. Neben dir wächst der Efeu empor an der Häuserwand. Berührst du ihn mit deinen Fingern?

Nein! Aber mit deinem Sehnen, deiner Seele. So gehst du ein in das lautlose Singen der Pflanzen. Und deine menschlichen Umrisse verschwimmen. Träumend schwebst du an der Häuserwand.

Zeit vergeht.

Sonn versinkt am Horizont, den du nun nicht mehr siehst mit Menschenaugen. Doch du spürst die schwindende Wärme, fühlst einen sanften Hauch. Luft bewegt sich unter den Flügeln der Fledermaus, die flattert vorbei.

Also wachst du nun doch noch auf aus grünen Träumen, also wandelst auch du dich in ein fliegendes Wesen der Nacht und flatterst hinter ihr her, die dich lockte.

 

Attacke

Da, plötzlich war da ein Gedanke, eine Idee: »Lauf, lauf, lauf!«, rief es in ihm.

Er sah sich um. Nirgends was zu sehen. Keine Gefahr!

Also ging er weiter auf dem Bürgersteig, weiter auf seinem Weg von der Arbeit nachhause und näherte sich dem Kolpingplatz in Kaiserslautern. Links über der Schulter trug er seine Umhängetasche und in beiden Händen Beutel und Tasche mit jeweils 20 Exemplaren seines zweiten, im eigenen Verlag erschienenen Buches: DAS ENDE DES TUNNELS. Die transportierte er gerade von der Buchhandlung in WINNWEILER, wo er arbeitete und wohin er die ganze Auflage von 500 Exemplaren hatte schicken lassen, denn tagsüber war er ja nicht zuhause und sonst wohl auch niemand da, zu Fuß, mit der Bahn und wieder zu Fuß nachhause.

»Lauf!«, rief es wieder in ihm, »lauf!«

Jetzt rannte er los, ließ alle Taschen fallen, schrie laut, während er rannte: »Aaaah!«

Rannte schneller, immer schneller, raste mit einer Geschwindigkeit, die er nicht für möglich gehalten hätte, die er nie zuvor erreicht hatte, die er nie wieder erreichen würde, den Platanen entgegen.

Attacke!, dachte er, während er rannte. »Attacke!«, schrie es in ihm. So verwandelte er sich in einen wütenden Stier, senkte seinen Kopf ohne Hörner und rammte ihn gegen den ersten aus dem magischen Kreis der Bäume. Da war ein KRACHEN, als ob die Welt zerbirst.

Irgendetwas ist zerplatzt, zerbrochen, kaputt, dachte er noch benommen, während er schon taumelnd stürzte, und wusste nicht, was, wusste nichts mehr von seinem rasenden Lauf. Denn er fiel den endlosen Fall dem schwarzen Nichts entgegen ...

 

Auf einen Streich

Ein Schwimmbad in Kaiserslautern im Sommer, noch ungeheizt und von Bachwasser gespeist. Es ist Juli und heiß. Nicht nur der Rasen, erstaunlich!, auch das »eiskalte« Wasser ist voller Menschen. Einige schwimmen, viele stehen und spielen Wasserball.

Blitz aus Sonn, summender Ton fällt nieder aus wahrhaft heiterem Himmel, schlägt ein so unverhofft ins Becken der Schwimmer. Licht steigt auf. Auch das Wasser strahlt.

Die den Blitz sahen, sehen nie mehr. Blind tasten sie schreiend umher.

Die im Wasser waren, leben nicht mehr.

All die anderen aber starren stumm vor Entsetzen auf das glitzernde Becken, in dem still nun schwarze Körper treiben.

Volltreffer, was immer es auch war, Volltreffer!, dachte der, der alles in sich sah. Besser als einst ein Schneiderlein es schaffte, aber das waren ja Fliegen!

Aber du, sag selbst: Gibt es da Unterschiede zwischen Fliegen und Menschen?

Wie auch immer, was unbestritten ist, ist das: Es sind weit mehr als sieben, 77 Tote auf einen Streich.

 

Das Auto

Es geschah eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit.

Er war zu Fuß unterwegs.

Wohin er ging, fragst du?

Nun, da war nichts Außergewöhnliches, nicht Besonderes. Er ging an diesem Morgen, wie fast täglich, montags bis samstags, Richtung Hauptbahnhof durch die Stadt. Denn dort stand wartend auf Gleis 102 die Regionalschnellbahn, sein Zug, der ihn auch heute sicher zum Ort seiner Arbeit bringen sollte.

Ja, in der Eisenbahnstraße, kurz vor dem Bahnhofseingang, nein, dort drüben, auf der gegenüberliegenden Straßenseite geschah es. Und alles ging ungeheuer rasch, so rasch, wie es nie erzählt werden kann. Und dennoch will ich es versuchen.

Er sah das von links heranrasende Auto. Eigentlich sah er es gar nicht, was er lediglich sah, waren nur die rasch wachsenden Lichter der Scheinwerfer. Denn es war noch dunkel jetzt im Januar zu Beginn dieses für Mitteleuropa so entscheidenden Jahrzehnts.

Dunkel, schlechte Sicht, dachte er, um so besser, um so besser!

Dann geschah es. Das Auto über ... Oh nein, nicht was du denkst. Noch befand er sich auf dem Bürgersteig, noch schickte er sich an, die Straße zu überqueren, noch hatte er sie nicht betreten, noch ..., als der Gedanke aufblitzte.

So einfach, dachte er, so einfach! Und er wird nichts dagegen machen können. Nichts, was mich retten könnte. All seine Aktionen werden zu spät kommen, viel zu spät. Pech für ihn am Steuer! Kenne ihn (oder sie) ja nicht. Ist also nicht persönlich. Jetzt aber ruhig! Warten. Rankommen lassen! Nichts überstürzen, rasten seine Gedanken und hielten seine Beine auf dem Bürgersteig zurück, noch für einen Augenblick.

Jetzt!

Kaum gedacht, sprang er auch schon auf die Straße, warf sich vor den heranrasenden Wagen, prallte, knallte dagegen.

Sekundenschnell passierte es für den Zuschauer, sekundenschnell für den Fahrer - der hatte wirklich nicht die geringste Chance.

Für ihn aber dauerte alles Ewigkeiten. Er stürzte und stürzte, stürzte auf die Straße, dem dunklen Asphalt entgegen, dann der Aufprall auf das Blech von Stoßstange und Karosserie, der Aufprall ... Prall, Schall, Hall, Hall, Hall ...

So einfach!, dachte er in seinen Träumen, als das Auto an ihm vorbeiraste und er die nun leere Straße überquerte, auf seinem Weg zum Zug zum Arbeitsort zur Buchhandlung in WINNWEILER

 

Beben

Und dann ein Beben. Der Boden unter deinen Füßen und die Wände deines Zimmers. Alles schwankt und schwingt und zittert.

Oder in meinen Ohren? Oder ...

Deine Seele bebt!

Schreist du?

Dein Mund steht offen, deine Ohren hören nichts, doch dein Kehlkopf vibriert. Also schreist du. Aber du weißt es nicht, hörst es nicht. Denn deine Seele bebt und der Boden unter deinen Füßen und die Wände deines Zimmers und das ganze Haus, die Stadt, das Land, die Erde, das Sonnensystem, die Galaxie, das Universum, ...

Stille.

Du öffnest die Augen. Sonn streichelt warm dir übers Gesicht. »Wo bin ich?«, flüsterst du leise dir zu. So endet Stille auch schon.

Doch niemand antwortet dir.

Ein Schmetterling, so groß, so bunt, wie du nie einen sahst zuvor, flattert und schwebt und gaukelt heran. Er setzt sich auf deine ausgestreckte Hand und saugt das Salz deiner Haut mit seinem langen Rüssel auf.

Du!, denkst du ihm zu, Hallo, du!

Er antwortet dir nicht - wie sollte er auch?! -, fliegt wieder davon.

Dich aber lässt er mit einem Lächeln zurück, so glücklich! Ich und du! WIR. Du begreifst, du lachst, du weinst. »Ich bin!«, rufst du laut hinaus in den Tag. »Ich bin!«

Dann stehst du auf, drehst dich im Kreis.

Und Wald wächst dort, wohin du schaust, Wald wächst um dich herum.

Du drehst dich zurück.

Und wieder ist da Wiese und Steppe und Weite und Sonn.

Aha, bin ich also Manfred der Magier! Oder aber der kleine Gott ist erwacht, der ich schon immer war, denkst du und lachst. Dann schaust und hörst und fühlst du dich weiter um in deiner Welt. Endlich aber gehst du hinaus in die Weite.

 

Besucherin

Am Morgen, beim Frühstück am Bett kommt sie zu dir.

Da bist du ja! Summend, brummend und auf Süßes aus?, denkst du ihr zu, die da sitzt auf einem Finger deiner linken Hand. Der Marmeladentoast aber verschwindet in deinem Mund. Keine Angst, aber Vorsicht beim Essen, und dann ...

Du öffnest dich ganz. Die Wespe kommt summend näher. Das Summen schwillt an in deinen Ohren, in deinem Hirn, in dir, das SUMMEN.

Du öffnest deinen Mund in lautlosem Schrei oder Verzücken?

Sie rast heran und verschwindet ... nicht in deinem offenen Mund, fliegt summend weiter durch die Luft.

Jetzt kommen auch all die anderen durchs offene Fenster. Sie umschwirren deinen Kopf.

Doch die neue Königin, die ihr sterbendes Volk überleben wird, schwebt noch immer summend im Zentrum deiner Stirn.

AJNA CHAKRA, singen letzte Menschengedanken in dir.

 

Bild im Zug

Ein glühender Streifen aus Licht, dort oben an den Rändern der dunkelgrauen Wolkendecke. Die aber zieht sich, so weit dein Auge reicht. Darüber hellblau im Grau der Himmel - wolkenlos.

Und das leuchtende Licht des Sonn in einem Wolkenloch.

Dann aber bricht er strahlend hervor.

»Vater!«, rufst du stumm und schließt geblendet deine Augen.

 

Blick nach links, Blick nach rechts

Du bist am Morgen auf dem Weg zur Arbeit.

Die Bahn brachte dich hierher. Auto hast du keins, dafür aber einen Verlag. Vorteil: du kannst so einiges lesen und schreiben unterwegs, während sie dich sicher fährt. Die Straßen sind leer. Scheint Samstag zu sein, tatsächlich, denkst du. Niemand begegnet dir auf deinem Weg vom Bahnhof zur Buchhandlung in WINNWEILER, wo du arbeitest.

Zunächst der schmale Feldweg, geteert, durch feuchte, sumpfige Wiese, hinter dem Brückchen über den Bach, der so manches Mal die Wiese überflutet. Schon bist du im verkehrsberuhigten Bereich mit Poldern am Straßenrand.

Da siehst du sie. Blick nach links. Dir gegenüber, auf der anderen Seite, ja dort vor der Drogerie, eine Frau in engen Hosen, kurzärmeliger Bluse, quellendes Fleisch an Armen und im Gesicht. Du hast sie nie zuvor gesehen. Sieht aus wie ein Schwein, denkst du. Und dann: Kann ja vielleicht nichts dafür.

Blick nach rechts, in die Auslagen eines Schaufensters. Du siehst die Kettensäge dicht vor deinen Augen. Du grinst. SCHLACHTFEST!

Mann o Mann, läuft es dir Augenblicke später heiß und eiskalt über den Rücken. Ich habe das gedacht, der ich, ein so netter, liebenswürdiger Mensch (Selbstlob!), der keiner Fliege etwas zu Leide tun kann. Ich habe dies gedacht! O mein Gott, es muss meine schwarze Seite sein, die da kichert und keift: »Morde, metzle, weide dich am Blut deiner Opfer! Wirf die Kettensäge an, zerschneide Menschen in zuckende Fetzen! Dann friss sie auf, roh, gekocht, gebraten!«

Also meldet sich da die dunkle Seite meiner Seele! Oder aber es ist kollektives Erinnern an unser Gestern, als wir noch Menschen aßen. Taten wir das jemals? Bin ich ein Mörder? Steckt der in jedem Mann, in jeder Frau, in jedem Kind, in jedem Menschen?

 

Chaos

Er ging durch die kleine Stadt, und nichts passierte.

Dann aber überquerte Er eine der vielen Straßen kurz vor einem Auto. Auch auf der anderen Seite kam eins herangerast.

Er aber lächelte nur und erreichte noch immer lächelnd die andere Seite. Ohne sich umzudrehen ging Er weiter.

Hinter Ihm prallten beide Wagen frontal aufeinander. Niemand überlebte.

Niemand sah Ihn. Hätte Ihn jemand gesehen, er würde nichts sagen, niemals. Schweigen oder sterben war die Wahl, die sein Unbewusstes traf. Und würde er es doch jemanden erzählen, so änderte dies auch dies nichts. Denn niemand könnte Ihn aufhalten. Aber was soll’s! Es sah Ihn ja niemand. So ging Er lächelnd weiter durch diese kleine Stadt, allein und unbemerkt und unbewaffnet. Die brauchte Er nun wirklich nicht mit sich rumzuschleppen, denn sie fuhren ja vor Seiner Nase spazieren, die Waffen brachten seine Opfer mit.

Und weiter ging Er Seinen Weg, zog sich Seine blutige Bahn durch die Menschenwelt des 20. und 21. Jahrhunderts, unbemerkt und still. Und die Zahl der Autoopfer wuchs und wuchs.

 

Chinarestaurant

Da sitzt du also wieder nach langer Zeit in einem Chinarestaurant beim Mittagsessen.

Kleine Belohnung von mir an mich, denkst du. Es ist geschafft, vollendet, mein Buch, das erste und einzige weltweit über das Brautgeschenk der Spinne. Gut, noch einige Korrekturen, Ergänzungen, Streichungen, zwei Ausdrucke zum Korrekturlesen für Freund und Kollegin ... Aber ich bin durch.

Dann fällt dir etwas anderes auf: diese Ruhe, so friedlich, so paradiesisch in der Mittagshitze - nicht mehr als leise Stimmen, Tellerklappern, mehr nicht!

Nicht mehr?

Zwei Männer in schwarzer Montur kommen die Treppe von den Toiletten hoch. Sie schauen dich nicht an, wenden sich nach rechts, verschwinden um die Ecke.

Schüsse fallen. Schreie, so laut, so kurz.

Du siehst rot - denn jetzt sind sie zurückgekehrt und arbeiten sich methodisch vor. Mann, diese Gründlichkeit! Die lassen wirklich keinen aus! Ein Gast nach dem anderen sinkt nieder in den ewigen Schlaf.

Träum ich?

Du schließt die Augen, reibst sie dir und öffnest sie wieder.

Nichts hat sich verändert.

Doch! Sie tun noch immer ihr Werk und kommen näher.

Die knallen uns alle ab, denkst du endlich. Warum erst jetzt?

Also willst du fliehen - fort!

Erstarrt.

Nun gut, dann eben nicht! Und du wunderst dich nicht über die Ruhe in dir. Jetzt wird sich zeigen, wer ich bin. Sie können mich nicht töten. Jetzt werde ich mich verwandeln in das, was ich immer schon war. Das Schlafende wird erwachen - ein kleiner Gott, auf die Erde verbannt! Und wenn es Satan wäre!

Du verwandelst dich nicht.

Du stirbst.

Du öffnest deine Augen.

Das ist nicht die Erde meines Lebens. Das nicht!

Aber was dann?, denkst du und schaust dich um.

 

Dein Herz *

Dort unten ... Was geschieht da?

Was machen die mit diesem Menschenkörper?

Wer ist das?

Und wer sind sie?

Was geschieht dort unten?

Du schaust hinab ohne Augen. Du hörst ohne Ohren. Schmerzen fühlst du nicht. Du siehst, was sie tun. Du siehst deinen zugedeckten Körper. Mein Gott, sie sägen mir mein Brustbein auf! Und nun die Rippen zur Seite! Ran ans Herz! Reißen sie es heraus? Schenken sie es dem aufgehenden Sonn?

Und anderswo schneidet ein anderer das Herz seines Feindes, noch schlagend, noch zuckend heraus und beißt hinein. Oder aber das Herz des Büffels, den er erlegte.

Irgendetwas tun sie dort. Nähen sie nur? Setzen sie Teile ein?

Du siehst es nicht. Du spürst es nicht. Du verstehst nicht ihre Worte.

 

*: Zwei Herzoperationen »erlebte« ich tatsächlich. Doch ich erinnere mich nicht, etwas gesehen zu haben, war voll betäubt.

 

Dieser Stahl schneidet

Dieser Stahl schneidet!, fiel mir ein beim Frühstück am Morgen, gerade als ich mit einem Messer, ziemlich stumpf, Pflaumenmus auf mein Brot schmierte.

Mein Gott!, dachte ich und sah eine leuchtende Klinge.

Welcher Stahl? Wer? Was, was, was schneidet er?

Ich aß, trank Tee, lauschte CITY von Vangelis.

Diese Hand, die den Stahl hält und ... dieser Arm, dieser Körper, dieser Geist und diese Seele! Alle sind mein! Dieser Stahl aber schneidet dein Fleisch, dich, meine Geliebte!

Du willst schreien, aber aus deiner Kehle sprudelt Blut.

Ich lache. Lachend lasse ich deinen noch lebenden Körper fallen.

 

Dom

Du betrittst den Dom zu Mainz - in deinen Träumen - während dein Körper draußen staunend vorüberschreitet und deine Augen empor in den Himmel blicken ...

Dann hörst du die dröhnende Stimme im Dom, die spricht in dir: »Willkommen, mein Sohn!”

»Vater!”, schreit deine zuckende Seele den lautlosen Schrei in das Dunkel - denn nur wenige Kerzen brennen hier.

Du kniest nieder.

»Zeit, die Händler wieder aus dem Tempel zu jagen? Zeit, wieder Rituale durch Glauben zu ersetzen?«, fragst du flüsternd.

»Das war!”, donnern Worte in dir.

Alle Lichter erlöschen.

Du aber steigst kniend auf und empor bis unter die Kuppel.

»Licht!”

Dieses eine Wort nur glaubst du zu hören.

Du brennst lichterloh.

Draußen geht ein kleiner Rainar, der alles sieht in sich, früh am Sonntagmorgen seinem Vater Sonn entgegen.

 

Drei Kirchturmspitzen

Dort vor deinen Augen ragen sie auf in der Ferne: drei Kirchturmspitzen.

Du gehst auf sie zu, jetzt an diesem Sommerabend, geht’s dem sinkenden Sonn entgegen, dem schwindenden Licht und nicht der Nacht in deinem Rücken.

Das ist alles! So viel, mehr nicht. Kein Monster, keine Tragödie, auch gerade kein Flugzeuglärm über Kaiserslautern Du siehst sie einfach und gehst drauf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rainar Nitzsche, Erstauflage 2001 im Rainar Nitzsche Verlag
Bildmaterialien: Rainar Nitzsche
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2017
ISBN: 978-3-7438-0878-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem Neffen Oliver, allen Männern dieser Erde sowie allen Taggeschöpfen

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