Nennen wir dieses Wesen ES. Denn hat ES ein Geschlecht wie wir oder zwei oder drei oder mehr oder keins? Nein! ES ist weder männlich noch weiblich, sondern geschlechtlich neutral. ES ist anders, ist männlich und weiblich zugleich. ES ist eins und Viele zugleich. ES ist substanzlos, reine Energie und doch ... ES lebt dort draußen, jenseits aller Menschenwelten und -zeiten, so fern und unerreichbar. ES ist uns nah, ES lebt in uns. Nenne ES Gottheit. GOTT aber ist alles, also ist ES auch nur ein Teil von GOTT, wie wir alle. ES ist Einzahl, ES ist Vielheit. Also nenne ich, der ich all die Formen in meinen Visionen sah, die ich nun beschreibe, sie und Die Alten Wesen von H. P. Lovecraft, die so weit entfernt und jenseits jedes menschlichen Verstehens existieren und in vielfacher Zahl eine Einheit bilden, und auch ES bei Stephen King, ES von T-her in den Pfad-Romanen von Rainar Nitzsche und die kleinen Götter und Monster, die vielerlei Gestalt annehmen, also nenne ich sie alle hier in diesem Buch einfach nur ES.
Ach ja, eigentlich wollte ich die 77 Texte in Kapitel anordnen, die da lauteten: Alles ist ein Traum / ES dort draußen / ES kommt / ES wird geboren / Du siehst ES / ES ist hinter dir her / ES ist in dir / ES bricht hervor aus dir / Du betest ES an / ES geht / ES kehrt zurück / ES und ER dort oben. Doch da ginge ja eine Menge Spannung verloren, wenn man schon weiß, dass da z. B. in allen Texten eines Kapitels Etwas aus einem herausbrechen wird. Zudem sind die Texte meiner ersten beiden Bücher auch alphabetisch angeordnet, also sollte es auch beim dritten Band so sein. Ach ja, »Sonn« und »Mondin« sind keine Schreibfehler, sondern Absicht: männlicher Vater Sonn, weibliche Mondin.
Olaf Olsen, irgendwo im Nirgendwo
»Wo bin ich?«, krächzt du in die endlosen, leuchtenden Gänge.
»Rannte ich nicht eben noch?
Warum?
Wo bin ich? Wie kam ich hierher? Was war vorher? War da was?«
Du erinnerst dich an nichts, doch schleppst du dich auf allen Vieren mühsam weiter.
»Ist es das Alter?«, fragst du dich leise flüsternd selbst.
Doch es ist dein Herz, das schon in Ruhe rast. So jappst du nach Luft, setzt dich hin, ruhst dich keuchend auf dem warmen, glatten Boden aus.
»Vom Rasen zum Rasten!«, du lachst. »Welch ein Fortschritt! Immerhin ein ‘t’ mehr«, kicherst du.
Ruhe, für eine Weile hier unten auf Erden, dann aber in der Erde für alle »Ewigkeit«. So schnell ist alles vorbei.
Was ist aus all deinen Träumen geworden? Wo lief etwas schief? Welch glorreiche Zukunft hattest du dir doch einst in deiner Jugend erträumt! Als Grzimek-Nachfolger im TV. Was sonst bei deiner großen Liebe zu allen Tieren.
Irgendwann hörst du es. Es ist ein Schlagen, diesmal ist es nicht das Schlagen deines Herzens.
Irgendwer schlägt hinter dir gegen die Wand, irgendwer - oder irgendwas!
Es hallt, deine Trommelfelle kreischen auf: »So laut!«
Es wird immer lauter, wächst an zu einem Brüllen. Also kommt es immer näher. Doch wenn die Wand sich nicht bewegt, ...
Zitterst du? Schreist du? Hast du dich vollgepinkelt oder etwa schon die Hosen gestrichen voll?
Nein!
Jetzt, da dein Atem wundersamerweise zur Ruhe gekommen ist, fragst du dich zum ersten Mal flüsternd selbst: »Warum renne ich mein ganzes Leben lang von einem Ort zum andern? Wohin will ich eigentlich gelangen? Was suche ich? Wem will ich entfliehen, dem ich nicht entfliehen kann?
Denn es gibt nur ein Ende - und das ist der Tod!
Oder fliehe ich vor irgendetwas Bestimmtem, vor dem, das sich mir da lärmend immer mehr nähert? Wenn es aber so ist, was mag es dann sein?«
Dann fällt es dir ein: Es ist ES, das Monstrum ohne Geschlecht. ES ist es, das ich mir einst erträumte, immer wieder sah. Jetzt ist ES hier. Jetzt hat ES meine Träume verlassen. Jetzt hat ES mich also doch eingeholt!
Und ES, der schwarze Schatten, der aussieht wie du, flüstert dir in dein linkes Ohr: »Olaf, ich hasse dich! Und du weißt, weshalb: DU BIST ICH, UND ICH BIN DU! Mein Name ist Falo. Schau doch deine krummen Knochen und deine Narben im Spiegel an! Schon deshalb hasse ich dich.«
Dann dringt ES in mich ein.
Alles wird dunkel, Abend wird es, Nacht, wo eben noch strahlender Sommermittag war.
Kein Zimmer, keine Wohnung, kein Haus, keine Stadt.
Schwarz ist die Welt geworden, rabenschwarz wie die Erdennacht, wenn dunkle Wolken Mondin und Sterne verdecken.
Wir fallen, fallen und fallen ...
Wie kann das sein?, denkt ein Teil in uns - mein/dein/SEIN altes Ich?
Wie kann ich auf dem Boden sitzend noch fallen?
Zur Seite kippen? Ja.
Doch fallen, wohin?
Doch so ist es ja: Wir fallen gemeinsam.
Dann wird auch innen alles schwarz.
BLACKOUT!
Du öffnest deine Augen:
Warm ist es ringsum und - schwarz wie die Nacht.
Nein, schwärzer noch! Nirgendwo leuchten da Feuer, Menschenlichter oder Sterne am Himmel über dir. Nirgendwo. Und niemals mehr?
Kein Wind weht, kein Laut erklingt.
Wo bin ich?
Du tastest nach deinen Augen.
Sie sind noch da.
Du schließt die Augen wieder, die hier gänzlich nutzlos sind. Denn so bist du es gewohnt, so tust du es immer, um dich zu konzentrieren.
Licht ist nur noch ein Erinnerungsschimmer, flackert noch einmal kurz auf.
Waren da Räume, waren es Träume?
Lebensräume, kleine Inseln im Strom der Zeit?
Du siehst dich in einem kleinen Zimmer unter dem Dach. Doch vorher waren auch noch andere Räume, eine kleine Wohnung vielleicht, für kurze Zeit für dich und deine Freundin, ein möbliertes Zimmer in einem Wohnheim und ein anderes in einem Studentenwohnheim, ein Zimmer für dich und deinen Bruder und ... und ... Und größere Räume für viele. Dich als jungen Mann auf einer Bank im Park siehst du und dann wieder in tiefsten Wäldern voller Magie als Mensch, als Baum, als ...
Magische Zeit, Kindheit. Du hast Angst auf dem Heimweg von der Schule, noch bist du klein und schwach und so allein. »Welchen Weg soll ich gehen?«, fragst du zitternd. »Sie werden mich kriegen!«
Weinst du? Nein. Doch du hast Angst, die deine Füße vorwärtstreibt. Denn du bist nur zu Fuß, weil dein Vater dir das Fahrradfahren noch nicht erlaubt, die anderen aber - waren es zwei oder drei? - haben Räder. Und du bist anders als sie, denn du bist körperlich nicht so fit: Deine Muskeln sind schwach, deine Wirbelsäule ist verkrümmt, dein Brustbein steht vor und der alles entscheidende Punkt: Du wehrst dich nicht. Also werden sie dich erwischen, also werden sie dich verprügeln, also ... Und so geschieht es.
Du bist auf dem Weg vom Studentenwohnheim, am Morgen, unterwegs zu einer Vorlesung, die du niemals hören wirst. Und das geschieht zu Studienbeginn! Denn du gehst und gehst, läufst am Chemiegebäude vorbei und den Pfaffenberg wieder hinauf, den du gerade hinunterkamst. Denn dein Wille ist eisern: »Ich komme an! Irgendwann komme ich hin!« Doch längst hast du die Orientierung - und deine Aktentasche - verloren. Beim zweiten Versuch dann, nachdem du dich wieder gefangen, nachhause gegangen, im Studentenwohnheim warst, gerade als du in der Cafeteria deinen Kommilitonen von deinen Erlebnissen erzählst, hört alles auf.
Später erst erzählen sie dir, dass du zuckend fielst, mit Schaum vor dem Mund.
Als du erwachst, liegst du in einem Krankenwagen auf dem Weg zum Neurologen. Und dort im Wartezimmer erwischt es dich ein zweites Mal, also geht’s ab ins Krankenhaus, wieder in ein Zimmer.
Ein anderes Zimmer voller kleiner Behälter mit Spinnen. Muss an einer Uni sein. Du bist wohl Biologe oder einer, der es noch werden will?
Und dann ist da wieder ein anderer Raum. Hinter deinem Rücken singen und spielt die Gruppe Marillion, na ja, nicht live, aber live konserviert auf CD. Du sitzt auf einem Küchenstuhl, den die Vermieterin dir überließ, und tippst diese Zeilen hier in einen alten PC.
All dies bin ich?
Ja, das alles könnten Momente meines Lebens sein!
Und erst diese leuchtend, strahlenden Augen, die ich einst vor langer Zeit einmal sah!
Und das Einatmen der Luft in klarer Sommernacht, dort draußen auf der verlassenen Kreuzung. Ich sah empor und versank im Sternenmeer.
Und all die vielen Musikkompositionen und Collagen und Texte, die ich schuf. Hunderte von Seiten mit Tabellen über Tabellen und Grafiken für Diplom und Doktor. »Gigantisch, genial, fleißig, der Mann!«, hättest du so gerne einmal jemanden reden gehört. Aber meist waren da nur gutgemeinte Worte übers Geldverdienen (einen anständigen Beruf) und Arbeit, dem Ernst des Lebens (hör auf zu träumen!) und Kritik und Tadel (»so, jetzt hast du einmal ein Buch publiziert und selbst finanziert, einmal diese Dummheit, das ist genug!«) und Ignoranz ...
Wer nichts hat, ist nichts! Und wer nichts verdient und von der Stütze lebt, ist ein Nichtsnutz, ein Versager, ein gesellschaftlicher Schmarotzer.
Und nun, kurz vor deinem Ende, wo dein Herz rast und flimmert, wo deine Seele sich anschickt, deinen Körper zu verlassen, wo du zusammen mit deinem zweiten Ich, wo wir, die wir uns wirklich hassen und lieben, von Anbeginn bis in alle »Ewigkeit«, nun endlich staunend dies alles erkennen, singen, rufen und schreien wir es aus uns heraus:
»DIES ALLES SIND WIR!«
Ja, so ist es!
Und doch ist es nicht nur so.
Denn dies ist nur ein kleiner Teil eines unserer zahlreichen Leben als Mensch auf einem Planeten namens Erde.
Wo und wann und wie wohl all die anderen waren/sind/sein werden?
Jetzt sind wir alle zum Abstieg in der Höhle bereit, deren Gänge sich endlos in die Tiefen der Erde zu schlängeln scheinen.
Wir steigen hinab.
Wann und wo, willst du wissen?
Das verrate ich dir nicht. Denn unsere Geheimnisse teilen wir nicht - noch nicht.
Wissen wir es?
Wir ahnen es, irgendwie wussten wir es schon immer: Irgendetwas wird dort unten auf uns warten.
Doch auch andere Gedanken treiben durch unsere träumenden Seelen, und es ist nicht gut, beim Abstieg einzuschlafen, gar nicht gut: Gedanken schaffen Wirklichkeit!
Also lauert dort unten etwas.
Und ist es nicht so, gebären dann unsere Ängste die Monster?
Nun ja, sicher nicht alle existierenden Monster, das ist gewiss, vielleicht nur eins von allen ohne Namen, nennen wir es ES, eins von Vielen, das dort unten schweigend auf uns alle wartet, die wir nach unten steigen, in eine Welt ohne Licht, eine Welt, die von Wesen bewohnt ist, die nur die vollkommene Schwärze der Nacht kennen. Wie werden sie auf die Scheinwerfer reagieren?, fragen wir uns. Dann fällt uns ein, dass wohl die meisten oder auch alle dort unten augenlos sind. Doch ihre und unsere Wärme könnten sie spüren. Und uns riechen und ertasten könnten sie auch - all die Kleinen dort, wenn es denn in diesen von Menschen erstmals betretenen Tiefen der Erde überhaupt Leben geben sollte, diese alle, die uns gar nicht gefährlich werden können, es sei denn durch ihre Zahl, doch auch die größeren unter ihnen und das eine namenlose ES.
Wir steigen hinab und lassen diese Aufzeichnungen an einem Ballon nach oben, denn dieser Schacht hier fällt senkrecht ab, warme Luft aus den Tiefen steigt auf. So werden gleich auch diese eingebrannten Worte nach oben entschweben, so wollen wir es von Zeit zu Zeit wiederholen.
Und kommt nichts mehr oben an, so ist etwas geschehen - entweder mit der Nachricht unterwegs oder aber hier unten mit uns. Dann könnten wir ES oder ES könnte uns gefunden haben, das hier leben soll seit Äonen, ein Wesen, geheimnisvoller als selbst die Drachen, die wir nie gesehen, doch deren Namen wir kennen, von denen wir so manches wissen, die aber niemals SEIN Alter erreichen. Sollte ES uns begegnen - und das ist es ja gerade, was unser Entdeckerstolz will -, dann gnade uns Gott. Wie irr das ganze Unternehmen doch ist: Wir steigen hinab, um ES zu finden und hoffen in einem Atemzug, dass es niemals passiert, zumindest, dass ES nicht so ist, wie es sich einige von uns in ihren schlimmsten Albträumen vorstellen. Geschieht also das, was wir erhoffen und zugleich nicht erhoffen, dann werden wir sterben, GOTT steh uns dann bei und bewahre uns vor der Folter. Schnell möge es gehen und schmerzlos, so, wie es sein soll, wenn ein Räuber seine Beute ergreift. Starr wollen wir staunend und sanft hinübergleiten. Wenn ES uns aber in tiefere Tiefen oder verborgene Seitengänge des Labyrinths verschleppt und dort über heißen Lavafeuern brät, damit ES uns schön knusprig und weich genießen kann, dann war all unser Tun der reinste Wahnsinn und unser Weg wahrlich ein Abstieg in die Hölle.
*: Dieses Dokument wurde am 13.01.2006, einem Freitag, wen wundert’s, entdeckt. Von
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Rainar Nitzsche Verlag (Original 2006), Dr. Rainar Nitzsche
Bildmaterialien: Rainar Nitzsche
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0208-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen Göttern, die uns einst fanden, die wir erfanden, und den Wesen, die so anders sind als wir