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Wie fast immer in den letzten vierzehn Tagen wird vorgeschlagen einen Lackman zu essen. Als ich frage, ob es nicht auch etwas anderes als diese scharfe Mischung aus Nudeln, viel Gemüse und wenig fetten Fleisches gibt, wird eine Nudelsuppe gebracht. Sie ist wenigstens nicht scharf. Doch Keram und seine Schwester, die uns gegenüber sitzen, haben beide auf Lackmann nicht verzichtet.
Vier Jahre hat Keram seine Schwester nicht mehr gesehen, sie hat sich sicherlich verändert.
Jetzt ist sie eine recht kleine mongolisch aussehende neunzähnjährige Frau, die
in einem Jahr hier in Urumci Wirtschaft studieren wird. Vorerst ist sie in einem Vorbereitungsjahr für Minderheiten, in dem sie ihr Chinesisch aufbessern soll. Obwohl sie auch Englisch lernt, ist die Verständigung mit ihr nur über Kerams Übersetzung möglich. Nicht nur ist Englisch für sie eine äußerst schwere Sprache, sie sind 70 Studenten in einem Kurs. Diese Feststellung bedarf keines Kommentars.
„Wir sind zu siebt auf dem Zimmer“, antwortet sie auf meine Frage und ich frage weiter:
„Kannten Sie ein der Mädchen vorher?“
Sie verneint und ich frage weiter: „Hat jedes Zimmer ein eigenes Bad?“
Sie lacht als ihr Keram die Frage übersetzt und erklärt: “Es gibt Waschbecken und Toiletten auf jedem Stockwerk. Badewannen gibt es nur zu den teueren Zimmern.“
Ich denke an meine Zeit in der Krankenschwesterschule und frage wie es mit der nächtlichen Anwesenheit sei.
„Um 10 Uhr müssen alle Mädchen im Bett sein. Meine Schwester ist zu Sprecherin gewählt worden, sie überprüft dann im ganzen Haus, ob alle Mädchen im Bett sind“, übersetzt uns Keram.
Klar ist sie zur Sprecherin gewählt worden, schließlich ist sie Mitglied der chinesischen kommunistischen Partei, sage ich mir und weiß noch nicht, dass ich an diese Aussage werde heute denken müssen.

*
Der große kräftige Mann auf dem Podium singt: “Jestli znali Vy kak mne dorogy Podmovskowskie vecera“ und ich summe es während des Tanzens mit. Es ist ein Lied, das jeder, der im Sozialismus groß geworden ist irgendwann mal auswendig gelernt hat.
Jetzt mehr als 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems
wird es immer noch gesungen. Im Gegensatz zu der sozialistischen Doktrin haben die Melodie und der Text an Attraktivität und Aktualität nichts verloren. „Wissen Sie wie ich die Moskauer Nächte liebe,“ wird in dem Lied gefragt und dann geht der Text weiter, in dem in ihm beschrieben wird, was man durch die Moskauer Fenster und hinter ihnen sehen kann. Für die meisten Menschen von uns spannend und nicht nur in Moskau.
Werner rückt noch näher zu mir und meint: „Er singt doch falsch, oder?“
„Ja, aber es macht nicht, Hauptsache, es macht ihm Spaß.“
Mit seiner kräftigen Bassstimme setzt der Mann den Text fort und ich frage mich, wie viele Menschen dieses überfüllten Saales und Tanzfläche den russischen Text wohl verstehen können. Wahrscheinlich wenige, schließlich sind wir nicht in Russland und auch nicht in der Ukraine oder Weißrussland, wo die Amtssprachen dem Russischen sehr ähneln und nicht einmal in einer der Republiken der früheren Sowjetunion. Doch auch der Sänger ist kein Russe, obwohl er –wie vor seinem Gesang angekündigt worden ist- zu Besuch aus Moskau kam. Sein Gesicht ist nicht das eines Russen oder des eines Europäers. Er könnte Tatar, Mongole oder Ugure sein. Wahrscheinlich trifft das letzte zu, schließlich sind wir in Urumci, der Hauptstand der autonomen Provinz im westen Chinas, die offiziell Xijang heißt.


Es ist Freitagabend, der ersten Abend nach dem Ramadan. Auch hier feiert man das Ende der Festenzeit der Muslime auf der ganzen Welt. Nur die Gesichter der Anwesenden verraten, dass man nicht in Europa ist, ansonsten unterscheidet sich dieser Tanzveranstaltung nicht von einer in Berlin, Prag oder London.

Hier in dieser autonomen Region haben wir während der beiden letzten Wochen nicht viel vom Fasten gesehen. Das hat natürlich vor allem damit zu tun, dass die Einhaltung dieser Sitte seitens der Regierung als ein Ausdruck des religiösen Bekenntnisses zum Islam betrachtet wird und deswegen –zwar nicht mehr offiziell verboten, aber nach wie vor ungern gesehen. Islam, wurde und wird noch mehr gefürchtet, als alle anderen Religionen in dem Arbeiter und Bauernstaat, in dem nur die eine einzige Religion anerkannt wurde, die der kommunistischen Partei. Vor allem hier in dieser autonomen Provinz ist die Angst vor dem islamischen Terror Groß. Das chinesische Militär ist überall sichtbar präsent, schließlich hat dieser Provinz nicht nur eine Grenze mit Pakistan und Afghanistan. Angeblich wurde auch zahlreiche Uguren von den Bin Laden Leuten ausgebildet.
„Die Regierung hier bekam eine Warnung aus München, dass sie wird die 5o Jahrfeier der Autonomie nicht ruhig feiern können“, erklärte uns Keram während zahllose Militärfahrzeuge an uns in Richtung Kashgar fuhren.“

Für mich steht die Nachricht aus München im Widerspruch zu Alkaida und den Talibanen, aber im globalen Zeitalter ist das kein Widerspruch, sage ich mir und überlege, dass wir wohl einen sehr unpassenden Zeitpunkt für unsere Reise gewählt haben. Oder gerade den richtigen, weil den spannendsten?

Während der Mann auf dem Podium den Refrain singt, stürmen die Tanzfläche mehrere junge Männer, statt einer Partnerin, halten sie liebevoll ein Sakko im Arm.
„So sind die lustigen Pakistani“, stellt Werner lachend fest und ich frage mich, wieso sie so ausgelassen sein können, angesichts des Terrors in ihrem Lande und der gerade vor einigen Wochen stattgefundenen Erdbebenkatastrophe, die fast 3 Millionen Pakistani, die nur 200 km von hier weit entfernt leben obdachlos gemacht hatte. Diese jungen Männer tun so, als wüssten sie gar nichts davon. Sie gehören genauso wie die jungen Frauen, die noch brav in ihren Trachten am Tisch sitzen, zu einer Oberschicht, die die Armut nicht nur nicht kennt, die auch diese wohl nicht interessiert. Dass sie ausgerechnet nach China gefahren sind, um hier das Ende des Ramadans zu feiern, sagt mehr über diese jungen Menschen und die chinesische Außenpolitik als staatliche Kommuniques zu Minderheitenfragen. Die jungen Leute wollen sehen, wie ihre muslimische Nachbarn leben, sie dürfen in ihrer traditionellen Kleidung kommen, ohne dass ihnen die chinesischen Behörden Schwierigkeiten machen würden.

Überhaupt merkt man hier in Xijang nicht viel von China, wenn man als nicht der ugurischen und der chinesischen Sprache mächtiger Ausländer sich hier aufhält. Man muss schon genau hinsehen und am besten jemanden zur Seite haben wie wir Keram, der einem alles währen unserer zweiwöchigen Reise übersetzt.

Woher mag der Conferencier stammen, der jetzt auf Chinesisch, Ugurisch und dann Englisch das nächste Lied ankündigt? Eins ist klar, er ist kein Chinese, aber sonnst kommt für ihn wie für die meisten, die Nichtchinesen sind, jede Nationalität in Frage. Das zeichnet die Uguren vor allem aus. Seit ich hier herumreise frage ich mich, wie sie sich untereinander erkennen, denn sie sehen sehr unterschiedlich aus. Viele Männer würde ich für Türken halten, einige sehen wiederum sehr mongolisch aus, es gibt aber auch welche, die sehen aus als hätten sie eine europäische Großmutter gehabt. Und vielleicht stimmt alles, denn in dieser Region leben offiziell 46 verschiedene Minderheiten und weil die Uguren die stärkste sind, dominieren sie ihrerseits die anderen und wenn man in eine ugurische Familie hineingeheiratet hat, lernt und spricht man dann ihre Sprache. Heute ist es egal wer zu welcher Nation gehört und es freut mich, dass ich die Tanzenden nicht zu einer ganz bestimmten Nation zuordnen kann. Ein gutes Zeichen für den heutigen Abend und möge es ein gutes Zeichen für China überhaupt und uns alle werden. Globalisierung hat ihre positiven Seiten, wenn zum Beispiel die Menschen unabhängig von der Hautfarbe miteinander tanzen so wie jetzt hier. Es wird getanzt unabhängig auch von Geschlecht, die Frauen tanzen mit Frauen und die Männer mit Männern.

Ich tanze mit einer von beiden Kerams Tanten. Die große kräftige Frau, die sich entsprechend ihrem Gewicht zu dem orientalischen Rhythmus nur schwerfällig bewegt, ist Lehrerin. Sie ist es, die uns für diesen Abend eingeladen und organisiert hat, dass auch die junge Frau kommt, die Keram auf Empfehlung beider Elternteile heiraten soll. Wir bilden quasi die Staffage für das erste offizielle Treffen der beiden jungen Leute, die sich bis jetzt ein einziges Mal gesehen haben und das bei Kerams Ankunft auf dem Flughafen in Urumci vor knapp 14 Tagen und das in dem Europa kaum noch bekannte Ritual der Zwangsverheiratung münden soll. Aber wie so oft haben die uns völlig fremde beziehungsweise fremd gewordene Sitten, ihre tiefen Gründe. Standesgemäße Heirat heißt das Zauberwort. Das fünfundzwanzigjährige schlanke und sehr kleine Mädchen ist Ugurin und sie hat Medizin studiert. Für Keram, dessen Eltern ganz einfache Bauern sind, im Gegensatz zu ihren Eltern, die beide studiert haben, ist sie eine gute Partie und für Keram sozialer Aufstieg. Dank seinem Deutschlandstudium, das ihn zu einem Privilegierten unter seinen Gleichen macht, ist er in den Augen der Uguren eine vorzügliche Partie. Dafür müssen Kerams Eltern, in diesem Fall wohl eher er, zahlen. Nach wie vor werden hier die Bräute gekauft oder verkauft, je nach dem. Eine studierte Frau kostet verständlicher Weise viel mehr, 5 000 ¤, eine mit Grundschulausbildung bekommt der Mann schon für ein Zehntel. Anders als in Europa, sind es die Männer, die sich ihre Braut kaufen müssen. Die Frage, ob Jungfrauen teuerer sind, wage ich nicht zu stellen. Nicht in diesem Land, obwohl so fromm wie es nach außen zu sein scheint. nicht alles ist. Die an den Hotels stehenden Prostituierten verteilen nicht nur ihre Prospekte, sie rufen auch ungehemmt in den einzelnen- auch mit Ehepaaren wie es sind belegten- Hotelzimmern an und fragen “Massage now?“

Keram muss heiraten. Er ist der älteste der vier Brüder und bevor er nicht eine Braut gekauft hat, dürfen auch die anderen Brüder nicht heiraten. Diese Regelung bezieht sich nicht auf die Töchter, da sie „gekauft werden“ bilden sie keine finanzielle Belastung des familiären Haushaltes. Nicht nur dies ist anders als in Europa. Auch die Erbfolge ist eine andere. Es erbt der jüngste. Das bedeutet, dass vor allem die älteren Geschwister eine gute Ausbildung bekommen. Auch in Kerams Familie ist es der Fall, wobei der Vater bestimmte, wer was zu studieren bzw. lernen habe. Dass der Vater entschied, Keram soll nach seinem Hochschulabschluss in Urumci, zum Weiterstudium ins Ausland gehen, spricht für seinen Weitblick.

Hatte er ihn als er seiner achtzehnjährigen Tochter nicht davon abhielt in die kommunistische Partei einzutreten? Ich weiß es nicht. Jetzt sitzt sie hier zwischen den beiden Tanten-Schwestern und macht einen verlorenen Eindruck. Wahrscheinlich hat sie so ein üppiges, ja beinahe protziges und gleichzeitig fröhliches Fest noch nie erlebt. Was denk sich so eine Jungkommunistin? Wie kann man nach Mao, der Kulturrevolution und der noch bestehenden Unterdrückung der eigenen Minderheit in die Partei der herrschenden Nation eintreten? Hat sie mit dem Beitritt sich und ihrer Familie Vorteile oder wenigstens Ruhe verschafft? Ist es gar der Preis dafür, dass Keram in Deutschland, in diesem kapitalistischen Land weiter studieren darf? Ich würde es gerne wissen und weiß, dass ich diese Fragen nie werde stellen. Ich sehe ihr trauriges Gesicht und irgendwie freut es mich, dass diese Jungkommunistin mit dieser Atmosphäre in Berührung gekommen ist, einer, die mit Sicherheit völlig konträr zu der, die ihr während der Kaderseminare herrscht. Ob sie standhaft bleibt oder sich von diesem wilden Treiben hinreißen lässt? Ich hoffe ja, schließlich ist nicht nur ihr Bruder da, sondern auch die beiden Tanten und einer der Onkel und alle scheinen sich hier sehr gut zu amüsieren. Man merkt, es ist ihr Metier und die Tanten haben den Abend fest im Griff. Die Lehrerin tanzt schon mal mit ihrer Schwester. Die kleine runde Internistin, ist perfekt geschminkt. Das Gold, das sie um den Hals, die Handgelenke gewickelt hatte und die Ohrringe, zeigen mir, dass im Orient Gold bei Frauen immer noch ein Ausdruck des Reichtums ist.
Ihr Mann, um mindestens zwei Köpfe größer, sieht aus als wäre er ein europäischer Professor. Er ist auch einer, aber ein Ugurischer und zwar für Pharmazie.

Dieser Abend ist in mehrfacher Hinsicht eine Prämiere, Keram trifft nicht nur zum ersten Mal offiziell seine Verlobte, auch diese Tanten sieht er und seine Schwester zum ersten Mal. Dass er sie nicht kennt, habe ich bereits vor einigen Tagen erfahren. Auf unserer Reise durch die Provinz wollten wir in Aksu übernachten. Kurz nachdem wir dort ankamen, erschien ein schlanker junger Mann, den uns Keram als seinen Vetter, der dort als Zahnarzt tätig sei, vorgestellt hat. Während es Abendessens, zu dem uns der Vetter einlud, fragte ich: „Haben sich gefreut, sich wieder zu sehen?“
„Wir sehen uns überhaupt zum ersten Mal“, klärte mich Keram auf.
Ich fragte nicht nach, wie dies möglich sei, machte mir aber meinen Reim darauf, als ich an diesem Freitagabend die Mutter, die die Tante Lehrerin war, treffe. Man wollte wohl früher mit diesem armen Zweig der Familie nichts zu tun haben, eine Eigenschaft, die mir auch aus Europa bekannt ist. Nachdem der Vetter nach Hause ein positives Signal geschickt hatte und auch meldete, dass wir sehr gut gepflegte Zähne haben, entschloss sich die Tante diesen Festabend zu veranstalten. Schmunzelnd betrachte ich die Gesichter und denke, dass es doch ganz gut ist, zu erleben, dass es auch hier ähnliche Verhaltensmuster gibt.

Wahrscheinlich gibt es trotz der unterschiedlichen Kultur zwischen den Menschen eine Menge Gemeinsamkeiten. Der Tanz verbindet uns, egal woher und wie wir kommen. Der Rhythmus kann einen Menschen fangen und gefangen halten und es ist gut so, dass es da keinen Unterschied gibt zwischen den einzelnen Rassen, Nationen oder wie man es auch nennen mag. Auch das Verhalten der beiden Tanten ist für mich mehr als nachvollziehbar. Jetzt glaube ich zu wissen, worauf sie hinaus wollen. Wir sollen nicht nur eine Staffage sein, wir sind quasi schon eine Garantie dafür, dass diese Ehe zustande kommt und gut wird. Ich weiß, was sie von uns erwarten.
„Keram, Sie sollen mit Ihrer Nachbarin tanzen“, fordert ihn Werner auf.
„Ich will aber jetzt noch nicht heiraten.“
„Dass Sie mit einem Mädchen tanzen, heißt noch lange nicht, mit ihr verheiratet zu sein.“

Ich betrachte Keram. Nie hätte ich gedacht, dass dieser ein wenig kräftige und untersetzte junge Mann, überhaupt tanzen kann und er ist sogar gut. Wahrscheinlich haben die Uguren den Rhythmus und die Harmonie in Blut. Ob es diese Tänze bereits in dem Ugurischen Großreich im 5. Jahrhundert nach Christi gab? Das würde wohl auch nicht einmal ein Ugure beantwortet können, obwohl sie über ihre Geschichte sehr genau Bescheid wissen. Dies umso mehr als die Blüte ihres Reiches gut ein Tausend Jahr zurück liegt. Wie alle Nationen, die mal „groß“ gewesen sind und heutzutage in der Politik keine Rolle mehr spielen. Wie die auch in Europa die Tschechen, Basken oder Serben, klammern sie sich innerlich an ihre großen Männer einer längst vergangenen Zeit um bei ihnen Halt zu bekommen für den inneren Widerstand gegen die Unterdrückung durch andere Nationen, sei sie auch vermeidlich.

Und so gehörte der Besuch der Mausoleen der großen Denker wie es Makmut Kashggaria und des Yusup Hazi Hajup war, zur Pflicht als wir in Kasghar waren. Dass in diesem Jahr, genau gesagt im Oktober in Urumci aus Anlass des Eintausendjährigen Geburtstages von Makmut Kashggaria die erste Tagung über den großen Gelehrten überhaupt stattfand, man nicht nur einen Europäer erstaunen. Doch das hat mehrere Gründe. Seine im Jahr 1076 auf Arabisch erschienene türkische Enzyklopädie galt lange als verschollen. Obwohl im 15 Jahrhundert irgendwo eine Kopie aufgetaut war, wurde sie Makmut Kashggaria erst in den sechziger Jahren des 20 Jahrhundert mit Sicherheit zugeschrieben. Da damals in China die Kulturrevolution und die so genante „Viererbande“ herrschte, musste Makmut Kashggaria noch weitere ca. 40 Jahre warten bis man sich mit ihm und seinem Werk näher zu beschäftigen begann und sogar eine Tagung organisieren dürfte. Man macht sich bewusst, dass die Zeit und die Thematik, mit der sich die Gelehrten irgendwann und irgendwo beschäftigten in der Geschichte ein anderer Faktor ist, sie sind universell.

Mir fiel positiv auf, dass in dem Mausoleum Makmut Kashggaria mehr Chinesen als Uguren waren. Es ist ein Zeichen, dass man sich auf chinesischer Seite durchaus der „Andren“ Kultur und Geschichte bewusst ist und sie achtet. Im Gegensatz zu früher, vor allem der Zeit der Kulturrevolution, als man bewusst alles, was an die Geschichte – vor allem die nicht chinesische erinnerte- niederriss. So auch das Mausoleum des aus dem 11.Jahrhundert stammenden Schriftstellers Yusup Hazi Hajup in Kasghar. Mann riss es einfach ab und auf und baute auf dem Grundstück eine chinesische Grundschule. Jetzt steht es wieder in voller Pracht wieder da. Für die Kinder wurde ein anderes Gebäude freigemacht.

Man stelle sich nur vor, auch wenn die Schule chinesisch war, gingen in sie auch Kinder aus der näheren Umgebung, hin also Uguren. Die kannten ihren Poeten, vor allem sein großes Gedicht: Kenntnis bringt Glück. Man kann davon ausgehen, dass es den Kindern nicht leicht viel, genau an der Stelle zu lernen, wo ihr großes Vorbild seit Jahrhunderten geruht hatte. Vielleicht waren es gerade die Strophen des Gedichtes, welche die chinesische Regierung dazu veranlasst haben, sie haben eingesehen, dass Kenntnis der Geschichte, sei es die des „Anderen“ Glück bringt.

Während dieses Mausoleum wieder aufgebaut wurde, hat man auf die Wiedererrichtung der Moscheen verzichtet. So auf die alte große Moschee in Korla, die noch in der Ausgabe aus dem Jahr 2002 des heutzutage bekannten Reiseführers Lonly Planet als sehenswert bezeichnet wird, obwohl sie – wie uns der Imam erklärt- während der Kulturrevolution abgerissen wurde.
Der Mangel an Gebetshäusern führt jetzt- wo sich wieder die Moslems offener zu ihrer Religion bekennen dürfen, dass am Donnerstag in der Früh, als das Ende des Ramadans verkündet wurde, die Männer auf dem Gehsteig und der Strasse, wo früher die Moschee stand, zum Gebet niederknien. Wir erfahren:
„Die Koranschule in Korla war einer der größten in der Region. Sie wurde geschlossen und nicht wieder eröffnet. Der Imam darf jetzt privat drei Schüler haben. Das wird kontrolliert.“
Mir ist klar, wozu diese Restriktion führen muss: Jeder, der eine Koranschule besuchen will geht nach Pakistan oder Afghanistan. Beides ist nicht weiter als 200 km. Dort lernt man womöglich oder wahrscheinlich das, was sich die chinesische Regierung mit Sicherheit nicht wünscht. Merken die Chinesen nicht, dass es eine kontraproduktive Maßnahme ist?

Der Umgang mit der Geschichte und Tradition ist etwas, was uns allen, unabhängig vom Alter, Hautfarbe, Nationalität, Religion, nur um einige zu nennen, sehr schwer fällt. Vielleicht ist es hier besonders schwierig, weil alle großen Religionen schon hier mal beheimatet waren.
Natürlich der Buddhismus, an den die zahlreichen Klöster erinnern. Eins der bekanntesten Kizil liegt in der Wüste, in einem Niemandsland, in einer Landschaft so gelegen, als wäre die Zeit hier seit 2000 Jahren stehen geblieben. Es ist daher schon fast konsequent, dass es schwer zu finden ist, da es kaum Wegweisschilder gibt. Dass wir es doch finden, ist Werners Dickköpfigkeit zu verdanken. Durch einige wenige der fast 1000 Zellen, die in den Berg hinein gebauten wurden, hat uns eine junge Frau begleitet. Obwohl sie Ugurin ist, erklärt sie alles auf Chinesisch, nur wenn sie merkt, dass Keram ihrem sehr schnellen Wortfluss nicht ganz folgen kann, wechselt sie ins Ugurische. Der Arme stand dann vor der schwierigen Aufgabe, uns das zu übersetzen. Wie oft in den buddhistischen Tempeln und hier in den Zellen der Mönche, wurden irgendwann, als die Moslems hier das Land im 13. Jahrhundert eroberten, die meisten Gesichter, die die Wände verzieren, zerkratzt.

In die Zeit zwischen dem Buddhismus und den Islam, der sich durch die Hinrichtung des buddhistischen Herrschers Idiqut Salendi 1255 hier Macht verschaffte, hat sich das Christentum in dieser Region breit gemacht. Das war im 8. Jahrhundert nach Christi. Das große mächtige Ugurenreich wurde zum Zufluchtsort der christlichen Sogher, die schnell großen Einfluss am Hofe des Bilge Kül und seiner Nachfolger erreichen und die Außenpolitik des Reiches bestimmten. Ihr Ziel war die Zusammenarbeit im mit China zu Gunsten der mit christlichen Staaten einzuschränken. Vor allem im Bereich des Handels sollte zusammengearbeitet werden. Diese Politik passte einem Teil des Adels nicht. In einem Aufstand wurde der Herrscher Tengri Khagan ermordet, sein Vetter Tarkhan übernahm die Macht und wendete den Schwerpunkt der Politik wieder in Richtung China.
Dem ersten großen Verrat folgen weitere und diesen Herrscher fremder Nachbarnationen bis auch das wesentlich kleinere und allerletzte Reich der Uguren in der Gegend der heutigen Stadt Turpan im 14. Jahrhundert zugrunde ging.

Wie überlebt eine Nation, die seit mehr als 700 Jahren keinen eigenen Staat hat? Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran eine Minderheit zu sein. Man lernt damit umzugehen, auch unter den chinesischen Kommunisten zu leben. Als Schicksalsgemeinschaft mit eigener Sprache, Geschichte - Tradition, Bräuchen und Sitten kann man dies, wenn sie nicht beschränkt werden. Die Griechen und die Serben haben auf dieser Art als Nation das Osmanische Reich überlebt. Deswegen legen die Uguren so einen Wert darauf, dass nur untereinander geheiratet wird.

Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist ein weiterer Punkt im Überlebenstraining einer Nation. Ob es den Uguren bewusst ist, ist nebensächlich. Sie praktizieren diese Übung, wo und wie sie auch können. Wenn man durch die zahllosen seit Jahrhunderten versandeten meist verfallenen Sandmauern der Städte wandert, die uns stolz Kerams Vater zeigt, wird einem bewusst, hier spielte sich Geschichte ab. Hier lebten Tausende von Menschen mit ihren Sorgen und Hoffnungen auf eine bessere und gerechtere Welt. So in den Riunen von Gaochang, ca. 40 km östlich von Turpan oder in Jiaohe, ca. 13 km westlich von Turpan. Dass es die Japaner waren, die in den letzten zehn Jahren sich hier als Denkmalpfleger engagiert haben, ist ein weiteres und nicht hoch genug einzuschätzendes Zeichen für die sich öffnende Politik der chinesischen Regierung.

Zur ugurischen Tradition gehört der Weinbau. Turpan ist das größte Trauben Anbaugebiet in China, wie uns Keram erzählt. Für uns ein wenig ungewöhnlich, weil es hier im Winter bis 40 Grad Celsius Minustemperaturen gibt. Anhand von praktischen Beispielen auf dem Grundstück von Kerams Familie werden wir des Besseren belehrt. Es wird uns gezeigt, wie die Rebstöcke über den Winter eingegraben werden, um dann im Frühjahr wieder ausgegraben zu werden. Die Wasserversorgung der Reben und übrigens auch aller Dorfbewohner erfolgt über so genannte Karez. Ein kompliziertes unterirdisches Kanalsystem aus dem Mittelalter, das noch heute praktiziert wird. Das Wasser aus den nahe gelegenen Bergen wird in diese Kanäle und dann weiter geleitet. Obwohl die chinesische Regierung vor einigen Jahren dazu überging, Leitungswasser in die Dorfhaushalte zu verlegen, beharren viele der Dorfbewohner nach wie vor auf der Wasserversorgung aus der Karez.
„Seit Jahrtausenden haben wir es so gemacht und warum sollen wir es jetzt anders machen“, lautet die Argumentation der Bewohner. So haben auch Karams Eltern, beide noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, kein fließendes Wasser zu Hause, also kein Bad und kein WC. Die Mutter kocht draußen auf dem Ofen und wäscht das Geschirr in großen Plastikschüsseln.
Erstaunlicher Weise gilt diese Argumentation nicht für die neuen elektronischen Geräte, ein neuer Fernsehen und ein DVD Player schmücken das kleine Wohnzimmer.

Die Trauben werden verkauft, getrocknet oder es wird aus ihnen Wein oder Likör gemacht.
„Warum dürfen wir die Rosinen nicht in die Eu verkaufen;“ fragt Kerams Vater während er uns eine volle Glasschüssel reicht.
Sie schmecken köstlich, doch ich kenne mich ein wenig mit der Eu aus und erzähle über die zum Teil unsinnigen Vorschriften.

Wie gut der ugurische Likör schmecken kann, haben wir auf unsrer Station in Kuqa erfahren dürfen. Nach einer fast neunstündiger Fahrt sind wird dort bei völliger Dunkelheit angekommen. Ein Bekannter unseres Fahrers hat uns am Stadtrand erwartet, uns ins Hotel gelozt und uns dann zum Abendessen eingeladen. Das Essen bestand aus einer großen Anzahl von verschiedenen Speisen auf Tellern, die in die Mitte des Tisches auf eine sich drehende Platte gestellt wurden. Jeder von uns konnte sich bedienen. Zwischendurch erzählte der Mann, dass er eine Likörfabrik hat und zog von unter dem Tisch einen Karton mit mehreren Flaschen hervor. Er öffnet eine nach der anderen mit dem eigenem Korkenzieher.
Es handelt sich um einen Kräuterlikör, welches nach alten ugurischen Rezepten zusammengesetzt wurde und das er seit vier Jahren in einer Fabrik mit 30 Mitarbeitern herstellt. Bemerkenswert ist, dass alle, auch er, bevor sie in der Fabrik begannen zu arbeiten, arbeitslos waren. Inzwischen produzieren sie an die 30 000 Flaschen im Jahr und verkaufen diese auch in Hongkong. Er würde sich wünschen, sein Produkt auch in Europa verkaufen zu können und weil wir die ersten Europäer sind, die er kennen lernte, hat er uns eingeladen. Auf meine Nachfrage hin, erfahre ich, dass der Verdienst der weiblichen Mitarbeiterinnen 30 ¤ im Monat, der der männlichen 60 ¤ beträgt. Ich wundere mich über diesen Kapitalisten im kommunistischen Staat China und ich weiß noch nicht, dass ich es während unserer Reise werde noch oft tun.

Diese Region empfinde ich als Widersprüche und das hat viele Gründe, die ich hier nicht alle aufzählen kann, weil ich mich über sie all gar nicht im Klaren bin. Es ist die Landschaft, die ich als widersprüchlich empfinde. Egal in welche Richtung man fährt, man sieht fast immer gleichzeitig die Wüste und die Berge. Für jemanden, der wie wir aus Europa kommt und die Alpen kennt, ist es ein Widerspruch. Doch man gewöhnt sich schnell an diesen Blick, der einen nicht aus dem Staunen bringt.

Widersprüchlich ist auch die Gesellschaft. Fest steht, dass wohl kaum irgendwo die Armut und das Reichtum und die Geschichte und das Heute mit seinem Computerzeitalter heftiger aneinander prallen wie hier. Es ist mir vielleicht deswegen so bewusst, weil China offiziell ein kommunistischer Staat ist. In der sozialistischen Schule habe ich gelernt gehabt, dass ein sozialistischer Staat, ein Staat der Werktätigen sie, ein Staat der Bauer und Arbeiter, ein Staat in dem alle gleich sind. In China ist es nicht der Fall, hier regiert die Ungleichheit. Merkt es die kommunistische Partei nicht oder will sie es nicht sehen?

Es ist der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der schon in der Geschichte immer einer war, wohl aber kaum so krass wie hier auffällt. In den Städten wird ca. 80 Prozent des BIP verdient, der Rest auf dem Land. Die Folge ist klar, die Bauern sind sehr arm, leben in primitiven Lehmhütten, ohne Wasser und sanitäre Anlagen. In jedem Dorf gibt es einen Bürgermeister, der gleichzeitig Mitglied der kommunistischen Partei ist. Natürlich und logisch ist, dass wir gleich bei unserer Ankunft in dem Dorf, in dem Kerams Eltern leben, mit dem Vater hingehen, um uns vorzustellen. Als wäre die Mitgliedschaft Kerams Schwester in der Partei ausreichende Garantie für unser Integrität. Aber Keram will sich auf allen Seiten absichern. Das verstehen wir, aber nur bedingt.

Die Begegnung mit der Partei fand gleich nach unserer Ankunft in Urumci statt. Keram hat uns in einem Hotel untergebracht, in dem sein Freund als Elektriker tätig ist und daher Vorzugspreis für die Übernachtung bekommt. Wir zahlten umgerechtet 14 ¤. Dass wir in einem Hotel der Partei übernachtet haben, merkten wir erst im Laufe des Aufenthaltes bzw. noch wesentlich später, während unserer Reise durch die Provinz. Das Parteihotel war das einzige, das bereits Ende Oktober geheizt worden war, in den Zimmern war es fast schon heiß und auf den Betten lagen noch zusätzliche Decken. Die Kommunisten sollen es gemütlich haben. Dass es ein parteieigenen Hotel war, in dem wir übernachtet haben, dessen Zentrale liegt direkt gegenüber lag, das sagte uns Keram nachdem ich ihm die folgende Begegnung geschildert habe:

Gegen 6 Uhr in der Früh, bin ich durch lautes Sprechen auf dem Gang aufgewacht. Ärgerlich trat ich vor unsrer Zimmer. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich einen jungen Chinesen in der mir aus den 60 ger Jahren bekannten Mao Kleidung mit einem Koffer in der Hand sah. Die Überraschung war gegenseitig. Er sagte „sorry“ und verschwand. Dann herrschte Ruhe in der ich über diese Begegnung nachdachte, denn für mich war es unvorstellbar, dass jemand heutzutage noch in dem im Westen unter dem Begriff Maolook bekannte Kleidung tatsächlich trägt. Nach dem Vorbild des Vorsitzenden Mao ze thung, den man auf allen Bildern in dieser grünen Uniform, das Sakko mit einem Stehkragen, begannen sich alle Chinesen so zu kleiden, ohne Unterschied des Geschlechtes, Männer wie Frauen. Im Sinne der durch die kommunistische Partei propagierten Einheit. Im Westen wurde der Stehkragen Mode und gerade diejenigen, die die sich von der Masse unterscheiden wollten, trugen in den Sechzigern diesen Maolook.

Obwohl nicht nur der Gründer dieses Staates längst tot ist und seine Politik als Persönlichkeitskult verurteilt worden ist, wird dieser Maolook von den chinesischen kommunistischen Funktionären weiter getragen. Warum, verstehe ich nicht und werde wohl auch nicht verstehen, es ist der Widerspruch, dem man hier täglich in allen Lebenssituationen begegnet. So wird zwar der Maoismus verurteilt, aber im Gegensatz zu der Sowjetunion, in der Stalin für die übertriebene Pflege seiner Person, die als Personenkult und oder Stalinismus in die Geschichte inzwischen eingegangen ist, mit der Beseitigung von allem, was an ihn erinnern konnte, bestrafte, blieben in dieser Provinz in den meisten Städte die überdimensionalen Mao Büsten stehen. Sie werden auch noch Tag und Nacht bewacht. Zu diesem Zwecke wurden in einem nicht zu großen Abstand kleine Wachhäuschen neben den Denkmalen aufgestellt, die stets besetzt sind. Dass es manchenorts die identischen Motive sind, durch die Mao überdimensional verewigt wurde, hat vielleicht keine tiefere Bedeutung außer? Es gab nicht genügend passende Motive. Eins ist jedoch erhalten geblieben und mit ihm seine Geschichte. Das Denkmal Mao mit dem Bauer, nirgendwo steht es so unpassend wie in der Stadt Hotan. Mittel auf einem Platz steht Mao mit dem Bauer, der ihm dankend die Hand reicht. Auf einem Platz, der eine breite Einkaufsstrasse in zwei Teile teilt. Der Platz ist eine Oase, eine Erinnerung an die Geschichte, an eine längst vergangene Zeit. Man muss kurz den Atem anhalten um sich zu vergegenwärtigen, wo man ist. Mitten zwischen mit Hochhäusern, der sich links und rechts von ihm ausbreiten und in denen fast alle westlichen und daher kapitalistischen Firmen und Geschäfte untergebracht sind, so das traditionelle Schuhhaus Bally, die Kosmetikfirmen Dior und Hermes aber auch Avon und die Bekleidungsfirma Boss.
Vielleicht hat man das Denkmal stehen gelassen, weil es nicht nur ein gewöhnliches Denkmal ist, es hat seine eigene Geschichte und die lautet so:

Es gab mal einen Bauer in der Nähe des Stadt Hotan, der wollte unbedingt Mao kennen lernen und ihm über das armselige Leben der Bauern in China berichten. Um seinen Wunsch umzusetzen, wandte er sich zuerst an den Bürgermeister, der gleichzeitig Vorsitzender der Partei war. Dieser vertröstete ihn und sagte:
„Es geht nicht, stelle dir vor, alle würden den großen Führer kennen lernen wollen.“
Der Bauer ging nach Hause, kam aber wieder. Als er merkte, dass ihn der Bürgermeister stets abwimmelte und er bei ihm nichts erreichte, setzte er sich auf seinen Esel und ritt nach Hotan. Dort fragte er sich durch und stand dann irgendwann vor dem Gebäude der Partei. Da ihn, verständlicher Weise der Pförtner nicht hineinließ, entschloss sich der Bauer, vor dem Gebäude zu warten bis er hineinkommt. Natürlich verscheute man ihn immer wieder, doch er kam auch immer wieder zurück. Irgendwann hat er das Warten aufgegeben und beschloss mit seinem Esel direkt nach Peking zu reiten. Nach drei Monaten hat er sein Ziel erreicht. Das Denkmal ist der Beweis dafür. Für die Bauern wäre es natürlich besser gewesen, sich nicht in einem Denkmal verewigt zu sehen, sondern mehr in den Magen zu bekommen. Dass keiner weiß wie dieser Bauer hieß und keiner weiß, ob und wann er zurückgekommen war, spielt für diese Geschichte keine Rolle. Zu den Lebzeiten des großen Parteiführers Mao ze thung war das Denkmal ein Beweis für seine Verbundenheit mit den Bauern.
Und heute? Die beiden Männer stehen da und wundern sich über die Veränderungen in Hotans Strassen. Veränderungen, die nicht nur ihnen beiden und nicht der gesellschaftlichen Klasse, die der Bauern und Arbeiter nichts gebracht haben. Nur eben den kommunistischen Parteifunktionären, diese fahren meist die dicken westlichen Autos und gehören nach wie vor Elite an. Seit ein paar Jahren hat sie das Privateigentum erlaubt, das so groß sein darf, dass man als Einzelperson eine Fabrik besitzen darf. Wer hat aber schon die Mittel dazu? Die Kommunisten und so bleibt auch das Privatkapital in ihrer Hand. Es muss betont werden, dass es sich hier und jetzt immer noch um eine kommunistische Elite handelt. Sie ist es, die die proletarische Internationale sing und dazu französischen Champagna trinkt. Welch eine Verdrehung der kommunistischen Ideale von Gleichheit!

Die Versuche sich selbständig zu machen, sind sehr zaghaft, aber bemüht. So hat sich ein ganzes Dorf Jiya, in der Nähe von Hotan, zusammengeschlossen und eine eigene Manufaktur für Seidenverarbeitung aufgebaut. Man kann nicht nur der Herstellung zusehen, sondern im anliegenden Geschäft täglich die Produkte - Stoffe, Schalls, Krawatten, Hüte und Kleider- kaufen. Bei unserer Besichtigung treffen wir in der Weberei eine ganze Schulklasse, die hier jetzt ihr Praktikum absolviert. Die besten dürfen im kommenden Jahr hier die Lehre beginnen.


Dass die anderen Betriebe staatlich sind, merkt man unmittelbar nach dem Betreten der Tore. Es wird weniger oder gar nicht gearbeitet, so in der Teppichknüpferei. Zahllose junge Frauen sitzen in der Sonne, als Keram sie fragt, ob sie jetzt Pause haben, es ist kurz nach 10. 00 Uhr in der Früh, bekommen wir die Antwort:
„Wir bereiten uns auf das Ende des Ramadans vor.“
Mir fällt auf, dass heute Dienstag ist und das Ende des Fastenmonats am Donnerstag sein wird.

Die Seidenfabrik in Hotan mit 4000 Beschäftigten dürfen wird überhaupt nicht besuchen. „Man erwartet das örtliche Parteikomitee“, lautet die nur einem Sozialismus erfahrenem Menschen einleuchtende Antwort. Wir dürfen aber in das Geschäft gehen. Auf dem kurzen Weg dorthin sehen wir sie aufgereiht, fünf Männern und zwei Frauen stehen vor dem Haupthaus. Das Geschäft der Fabrik ist so, wie man es aus dem Sozialismus gewöhnt ist. Kaum Ware, wenn dann verstaubt. Die Verkäuferin kaut an Bonbons und lässt sich nicht einmal durch Fragen nach dem Preis in ihrem Kauvorgang stören. Welch ein Unterschied zu der Verkaufstätte in dem Dorf Jiyi.

Vielleicht hatte sich dieser Bauer auf dem Denkmal gefragt, wie lange diese staatliche Lenkung gut gehen kann und dies mit Mao bereden wollen. Ein Jahr, zehn oder noch ein halbes Jahrhundert?

Immerhin haben die Chinesen erkannt, dass sie langfristig diesen Vielvölkerstaat nur retten können, wenn sie in die Partei, die Polizei und das in das Militär auch Nichtchinesen aufnehmen. Mit der Aufnahme in die Partei ist es in China wie in allen kommunistischen Staaten, die Partei fordert einen auf. Eigeninitiative unerwünscht. Das gleiche gilt hier aber auch für die Polizei und das Militär. Pünktlich am 18. Geburtstag werden einige junge Männer aufgefordert seinen Wehrdienst zu absolvieren. Es wird als eine Auszeichnung, die praktisch niemand ablehnt. Wehrdienst absolviert zu haben bedeutet, dass man sich künftig keine Sorgen um die Karriere zu machen braucht. In Kerams Familie und bekannten Kreis hat noch niemand jemals Wehrdienst absolviert. Minderheiten, insbesondere Uguren werden nur selten bis nie Soldaten. Sie gelten als politisch unzuverlässig. Aber gerade mit dem Wehrdienst könnte man sie für den gemeinsamen Staat gewinnen. Auch Keram wäre zur Armee gegangen, wenn ihn die Chinesen gewollt hätten. Gerade weil es so ist,
freue ich mich als wir in Shache einen Uguren kennen lernen, der gerade seinen Militärdienst absolviert hat.

Diese Stadt am Rande der Wüste ist - wie sie in China fast inzwischen alle- und was man unter dem Oberbegriff „Modern“ zusammenfassen kann und widerspiegelt den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung Chinas im Zeitalter der Globalisierung. Wenn man durch die Strassen geht versteht man den Inhalt dieses Wortes, sie sind gesichtslos, sie gleichen aneinander und wenn es die chinesischen Überschriften an den Geschäften nicht gebe, könnte man glauben, man sei in New York oder in einem Warschauer Viertel, dessen Strassen der kommunistischen Militärparaden wegen bereits in den 50 ger Jahren so breit ausgebaut worden sind. Doch im Gegensatz zu diesen sind diese Städte so voll Smog, dass man nur einige Stunden am Tag klar sehen kann. Jetzt erst verstehe ich die Fernsehbilder aus China, die Menschen mit Atemmaske zeigen. Auch wir kauften uns für den Preis von 0,10 ¤ entsprechende, merkten aber, dass sie für Brillenträger ungeeignet sind.

Spätestens gegen 17 Uhr hüllen sie sich die Häuser in eine dichte Wolke, wie eine Frau, die nicht möchte, dass man ihre Hässlichkeit noch länger ertragen muss. Die Straßenlaternen werden erst eine Stunde später angezündet und nur dort, wo es die Regierung für notwendig hält. Die alten Teilte der Stadt, die traditionell von den Uguren bewohnt werden, bleiben dann die Nacht über im Dunkeln.

Nur weil wir darauf beharren, dass es hier eine Altstadt gibt, führt uns der Kommilitone unseres Fahrers hin. Der studierte Textilingenieur leitet hier das Stromwerk, mich Grund genug ihn zu fragen, warum die Altstadt gestern Abend unbeleuchtet bleib.
„Kein Geld.“
Ich frage nicht weiter. Ich weiß, dass es damit zu tun hat, dass hier die Uguren leben. Dass er, der selbst ein Ugure ist, mir eine so profane Antwort gibt, sagt alles über diesen Mann, er ist regierungskonform. Meine Vermutung bestätigt sich als er uns Mittag in ein Restaurant führt, hier sitzen fast ausschließlich Polizisten und er scheint sie alle zu kennen.

Seinen Unwillen uns den alten Teil der Stadt zu zeigen, lege mich mir so aus. Er ist froh, aus dieser Armut, dem Dreck draußen zu sein. So fährt er zwar mit uns hin, steigt aber nicht einmal aus und sagt Karem, dass er auf uns aufpassen muss, weil es gefährlich sei. Es ist später Vormittag. Aus den, mit Straßenläden mit Brot, Ost und Gemüse überfüllten Hauptstrassen, verschwinden wir immer tiefer in die Seitengassen. Überall treffen wir auf Menschen, die uns neugierig, aber sehr freundlich betrachten. Plötzlich sind wir an einem Haus ankommen, an dem gerade gearbeitet wird. Die Handwerker bitten uns hinein. Wir staunen über die Mühe und Eifer mit dem das alte Gemäuer wieder rekonstruiert und mit bunten Mustern neu gestrichen wird.
„Das ist Ihre Geschichte Keram und sehen Sie wie schön es doch ist.“
Irgendwann kommt eine alte Frau auf uns zu und erklärt Keram, dass dies eigentlich nicht die alte Stadt sei, es gibt noch einen viel älteren Teil und gar eine Burg.

Als wir die Stadt am Nachmittag verlassen, haben wir mehr gesehen und über die rumreiche Geschichte dieser Stadt und der Region gelernt, als wir erwartet haben und vielleicht mehr als während der ganzen Reise bisher. Wir haben uns in die Zeit hineinversetzt als Shache noch Yarkand hieß die Regierung noch nicht bewusst Chinesen hierher eingesiedelt hatte.
Das war als die Seidenstrasse ein der bedeutendsten Handelswege in der Welt war und die Städte wie Yarkand durch den Reichtum der ihnen der Handel in ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Blüte. Hier ist das Grab der Königin von Yarkard Aman Isa Khan, die im 16. Jahrhundert, die mit ihren Kompositionen und ihrer Dichtung bis heute zu den bedeutendsten Künstlern der muslimischen Welt gehört. Ein Beweis, dass der Islam die Frauenrechte damals mehr achtete als heute? Jedenfalls könnte man sie als ein positives Beispiel für die heutige Diskussion um Frauenrechte nennen.
Während ich das große Tor vor der Moschee betrachte stelle ich fest: “ Man müsste darüber einen Film drehen, einen Abenteuerfilm.“
„Ist schon gemacht worden, da hat man dieses Tor gebaut, das ist nämlich erst ein paar Jahre alt.“
„Na und?“
„Es war ein ugurischer Film, er wurde nicht einmal ins Chinesische übersetzt.“
Es überrascht mich, weil es die chinesische Regierung war, die erst vor einigen Jahren den Friedhof der Könige von Yarkand und die Moschee renovieren ließ. Mir wird klar, dass es etwas anderes ist, Vorort einen Friedhof und eine Moschee zu renovieren als einen Film im staatlichen Fernsehen auszustrahlen. Trotz zahlenmäßig großen Bevölkerungsanteil an Chinesen in dieser Stadt, weiß die chinesische Bevölkerung wohl nicht viel von Shache, die Stadt ist weit weg und warum sollte man die Chinesen über die ugurischen Könige von Yarkand informieren? Man müsste sich dann unangenehmen Fragen stellen und auch begründen, warum chinesische Soldaten dort Kasernen haben. Keine staatstragede Nation der Welt würde einen Film über die glorreiche Vergangenheit einer von ihr - in welcher Weise auch immer - unterdrückten Minderheit im staatlichen Fernsehen ausstrahlen.

Man kann die Bevölkerung unterdrücken, ihr ihre Kultur und damit Identität nehmen, man kann ihnen auch die Landschaft nehmen in dem man sie nicht im ökologischen Sinne pflegt. Die Wüste Takliman hat ein solches Schicksal erfahren. Keiner weiß genau wie lange und wie viele und vor allem wo genau hier die chinesischen Atomversuche durchgeführt werden. Vielleicht ist es besser so, man muss darüber nicht nachdenken, als Fremder hier erfährt man sowieso nichts darüber. Doch auch im fernen Turpan sinkt der Grundwasserspiegel.

Wie verheerend die ökologische Situation sein muss, merken wir während unserer Fahrt auf der längsten Wüsten- Autobahn der Welt. Sie beträgt fast 8oo km von Minfeng bis Luntai. Fast in der Mitte zwischen den beiden Orten stehen plötzlich Strommaste, sie wirken hier unpassend. Kurz darauf sind wir in einer Wüstenortschaft angekommen, die eine hervorragende Kulisse für einen China - Western geben würde, denn hier können wir nur Chinesen sehen. Der Ort besteht aus Wohnwagen, die Armut der hier lebenden Menschen ist sichtbar. Trotzdem sind sie wohl hierher gegangen, weil es anderswo noch schlimmer war als hier. In einem Wohnwagen ist eine Autowerkstatt untergebracht, für Autos wie das unsere, das einen platten Reifen bekommen haben, den die beiden Uguren ein paar Kilometer vorher ausgewechselt haben. Ein junger Chinese misst und ergänzt der Luftdruck, kein reparieren, das folgt später. Kein Geschäft, keine Kneipe. Man muss durchfahren. Dann führen die Strommaste eine Seitenstrasse weiter vor der eine Schranke angebracht ist. Auf der Hauptstrasse hören sie so plötzlich auf, wie sie hier da standen. Der Verkehr besteht fast ausschließlich aus Lastautos, die meist mit Baumwolle voll beladen hin und her fahren. Ich wundere mich, was sonst noch so transportiert wird, Traktoren zum Beispiel.

Zwischendurch erkennt man immer wieder Hausruinen, ohne die leiseste Ahnung wie alt sie sein können. Wie sah die Wüste aus, als Yarkard seine Blütezeit hatte? Wahrscheinlich war sie nicht so mächtig das heißt, wohl kleiner, die Baumreste sind zum Teil so dicht, dass man unschwer erkennt, früher muss hier ein Wald gewesen sein.

Die kleinen kaum 2o Zentimeter Hohen Pflänzchen, sind ein Bepflanzungsprojekt,
dass die chinesische Regierung seit einigen Jahren entlang der Wüsten-Autobahn durchführt. Angesichts der bereist erfolgte Schäden wirken sie mehr als lächerlich und ich frage mich, ob es ihnen angesichts des atomverseuchten Bodens überhaupt jemals gelingt die Höhe der abgestorbenen Bäume zu erreichen

Die Globalisierung lässt sich nicht aufhalten, man merkt den westlichen Einfluss in den Städten, auf ihren Strassen, an den Autos und den Kleidern der Menschen. Das einige, was der Staat fest im Griff hat, sind die Medien. Auf dem Territorium des Staates der Volksrepublik China kann man nur das staatliche Fernsehen empfangen, einmal am Tag zur späten Stunde, werden die offiziellen Nachrichten auf Englisch vorgelesen. Um die Rechte der Minderheiten zu befrieden, wird auch einige Stunden in ihren Sprachen gesendet, natürlich auch in Ugurisch. Die fünfzigjährige Zugehörigkeit zu China ist natürlich auch für das Fernsehen ein guter Anlass, nicht nur die offiziellen Staatsfeiern zu übertragen, sondern an mehreren Tagen hintereinender Extrasendungen über das blühende Leben in dieser Region zu zeigen, das die Bewohner der kommunistischen Staatsführung in Peking verdankt.
Das Glück wird wie im wahren Leben vorgeführt: In Form einer vierköpfigen Familie, die entspannt in einem neuen Jeep auf der Autobahn von Urumci nach Turpan fährt. Dort tanzen und singen die Menschen bei der Weinernte. Überhaupt wird viel gesungen und getanzt. Interessant ist die Modeschau, wie überall in der westlichen Welt sind die Modells schlank, langbeinig und haben lange Haare. Sie tragen lange Seidenkleider mit dem man weder bei den Salzburger noch bei den Bayreuther Festspielen oder gar in der Metropolitenopera durchfallen würde. Im Gegenteil. Während ich die Bilder betrachte verschiebe ich sie in meinen Gedanken auf das Dorf, in dem Keram wohnt. Welch ein Widerspruch! Welche Macht der Propaganda. Sie haben dazu gelernt, die Machthaber in Peking, nicht mehr mit dem Maolook, ganz im Sinne der kapitalistischen Werbung versuchen sie für den kommunistischen Staat zu werben.

Kein historischer Rückblick, aus dem hervorgehen würde, wie 1955 diese Region zu China kam. Vorgegangen, wie eigentlich schon immer in dieser Region - chaotische und mysteriöse Verhältnisse, wie viel Wahrheit man diesem oder jenem Ereignis zumessen kann, lässt sich nur schwer sagen. Denn wie so oft in der Geschichte, für alles und nichts gibt es Beweise.
So dafür, dass in dem Durcheinender, das hier in der Mitte des 20 Jahrhundert herrschte, wurde mit Stalins Unterstützung versucht, einen eigenen islamischen kommunistischen Staat aus Uguren, Kazachen und Mongolen zu gründen. An der Spitze der Bewegung, die man auch Rebellion nennen könnte stand der Kazache Osman. Nach fünf Jahren Kampfe war man am Ziel, der Staat wurde ausgerufen und hieß Turkestanische Republik. Das passte weder Chiang Kaischeck noch Mao se thung. Der erste versprach echte Autonomie, wenn sich die Republik auflöst und ihm als Provinz unterstellt, der andere bat 1949 die prominentsten Vertreter der Republik zu Gesprächen nach Peking. Aus ungeklärten Gründen stürzte das Flugzeug ab. Warum der Kazache Osman nicht mit am Bord war, ist unbekannt, er wurde 1951 hingerichtet. Mit ihm verlor die Region ihre Leitfigur.

Dass Peking noch ganze vier Jahre abgewartet hatte, bis er die strategisch wichtige Region in die Volksrepublik eingliederte, kann nur als ein Zeichen gedeutet werden, wie unsicher man in Peking in Bezug auf die Reaktion aus Moskau sein wird. Warum reagierte 1949 Stalin und auch in den folgenden Jahren nicht? Waren er und seine Leute zu sehr mit den Prozessen gegen ungeliebte Genossen in den neu gewonnenen Staaten wie der Tschechoslowakei beansprucht? Nach seinem Tod 1953 war man in Moskau damit beschäftig seine Regierungszeit aufzuarbeiten, um sie dann 1956 auf dem Parteitag der kommunistischen Partei als den Stalinismus zu verurteilen. Durch das Nichteingreifen verlor das mächtige Bruderland UdSSR einen strategischen Vorposten in Asien. Wäre diese Region eine Republik im Rahmen der UdSSR geworden, wäre es den Uguren wahrscheinlich nicht besser ergangen als unter den Chinesen.
„Wir hätten jetzt unsere Freiheit“, erwidert Keram.
Ich könnte ihn korrigieren und ihm sagen: „Dann gebe es einen uguruschen Staat.“ Aber wie frei wären dann die Anderen? Die Chinesen würden eine Minderheit und wahrscheinlich würden sie sich von den Uguren unterdrückt fühlen, berechtigt oder nicht. Das Gefühlt wäre da, das weiß man aus der Praxis in neu entstandenen Nationalstaaten und sozilogischen Untersuchungen in Europa und warum soll es hier anders sein? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es falsch, aber warum soll ich mit Keram diese hypothetische Frage erörtern?

Und doch wäre es interessant zu sehen, wie sich eine Region verändert, wenn sie eben nicht eine autonome Region sondern ein selbständiger Staat ist. Was die Fläche und die
Bevölkerungszahl betrifft, könnte sie es problemlos. Mit über 40 Millionen Einwohnern würde sie z.B. in Europa zu den großen Staaten wie Polen gehören. Würde sich der Islam auch hier durchsetzten und fundamentalistisch werden, wie zum Beispiel Iran nach dem Abdanken des Schahs? Ich kann es mir gut vorstellen, obwohl Keram immer wieder versichert, ihr Glaube ist nicht radikal. Aber in 50 Jahren der Herrschaft Chinas über dieses Gebiet hat sich genügend Ablehnung ja Aversion gegen alles Chinesische angestaut. Es gibt Kleinigkeiten, die einem zeigen, wie tief die Gräben zwischen den einzelnen Nationen sind. So essen Uguren grundsätzlich in chinesischen Restaurants, bevor sie dies tun, hungern sie lieber. Sie kaufen nur bei Uguren und dass Karems Vater sein neues Haus durch eine chinesische Firma bauen ließ, weil es billiger war, hat ihm Keram sehr übel genommen. Es gibt ernste Anlasse, die die Uguren den Chinesen verübeln und wohl nie werden vergessen können, das bewusste Vernichten von allem, was an die ugurische Geschichte und damit auch zum großen Teil auch an den Islam. Zwar geschah dies vor allem während der Kulturrevolution und mit ihr hat die eigene chinesische Regierung abgerechnet, aber das reicht wohl nicht aus. Eine Wiedergutmachung ist letztlich nicht möglich, zerstört ist zerstört. Dass die Moscheen zum Teil wieder aufgebaut und wieder zugänglich sind, kann als ein positives Zeichen aus Peking gedeutet werden. Dessen sind sich die Chinesen auch bewusst und so stehen vor jeder großen Moschee- wie in Kasghar- große Tafeln auf denen man nachlesen kann, dass diese Moschee zeigt wie friedlich die einzelnen Nationen Chinas zusammen leben. Es fällt auf, dass ausgerechnet dieser Text auch in Englisch vorhanden ist, wo doch sonst nicht einmal die Wegweisschilder auf der Autobahn in lateinischer Schrift existieren.

Vor allem ist es wohl die Lebensweise, in der sch die beiden Nationen unterscheiden, die der Uguren ist natürlich durch den Islam geprägt. Die Frauen sind Menschen zweiter Klasse, keiner spricht es aus, aber man merkt es im täglichen Leben, an Kleinigkeiten. Werner wird zuerst die Hand gegeben, ihm wird die Tür offen gehalten, er bekommt zuerst das Essen.
Wenn wir bei Keram zu Hause sind, tritt die Mutter nur in Erscheinung um das Essen auf den Tisch zu bringen, dann verschwindet sie wieder. Wie in arabischen Ländern üblich, ist sie nicht mit uns, obwohl auch die jüngeren Söhne mit am Tisch sitzen.

Ob die Situation der Frauen aber in einer chinesischen Familie besser ist, kann ich nicht beurteilen. In der Öffentlichkeit geben sich aber chinesische Frauen offener, man könnte ihr Verhalten mit dem der Frauen in Europa vergleichen. Dass es einen gewissen Unterschied zwischen dem Verhalten der ugurischen und der chinesischen Frauen gibt, der wohl religiöse Ursachen hat, könnte aus der Beobachtung hergeleitet werden, dass uns in den Hotels nur chinesische Prostituierte begegnet sind.

Das Hotel in Korla, in dem wir zwei Zimmer mieteten, stand in keinem Reiseführer. Es stand auf einem großen Platz, vor dem Hotel wurde Ost, Gemüse aber auch gekochtes Essen auf Karren verkauft. Das Viersterne Hotel war nicht völlig, aber recht neu. Mir fiel auf, dass man zum ersten Mal während unserer Reise unseren Pass hat nicht sehen und unsere Personalien hat in eine List, die im Internet abrufbar war und aus der man sehen konnte, wo wir bisher waren, eintragen wollen. Ich erinnerte mich an einige Aufregungen in früheren Hotels, die es gab, weil wir dort die ersten europäischen Gäste waren und die Mädchen an der Anmeldung ganz aufgeregt waren, den Namen falsch einzutragen. Dies gelang ihnen durch die regelmäßige Eintragung des Vornamens statt Nachnamens, wodurch wir in der im Computer geführten Liste nicht auffindbar waren.
„Es ist nicht mein Problem“, sagte ich mir, obwohl ich ein wenig Angst bekam, dass wir dann beim Verlassen der Volksrepublik China noch Probleme bekommen können.

Als ich nach einem lang andauerndem Krach in einem der Zimmer und dann auf dem Gang dann, während dieser Reise schon zum zweiten Mal, nachts in meinem langen Nachthemd vor der Tür vor fünf Männern und zwei jungen Frauen im Gang stand, wusste ich was es für ein Hotel ist, in dem wir übernachteten. Die Männer sahen wie Zuhälter aus, die beiden sehr jungen Frauen wie Nutten, alle waren Chinesen. Als sie mich sahen, verschwanden sie alle in einem Zimmer.
“Wahrscheinlich können sie sich ein zweites Zimmer nicht leisten“, meinte ironisch Werner.
„Hast du das auch das Weinen gehört?“
„Ja, es klang wie das eines kleinen Kindes.“
„Das dachte ich auch, es wurde immer lauter, es war aber ein Mädchen. Jedenfalls hat sie erbärmlich geweint.“ Wenn ich in Europa wäre, würde ich jetzt die Polizei rufen, aber hier? Ich kann nur darüber nachdenken, was man mit ihr gemacht hat und hoffen, dass sie irgendwie von diesen Männern wegkommt. Als wir zum Frühstück kommen, ist niemand von den Betroffenen zu sehen.

In dieser Männerwelt haben auch studierte Frauen nichts zu sagen und da Keram nicht so schnell heiraten will, wird für die junge Ärztin womöglich ein anderer Bräutigam gesucht.
Jetzt tanzen sie ausgelassen und fröhlich zusammen und es ist schön sie anzusehen. Auf der Bühne steht eine Ugurin, die uns auf Deutsch begrüßt, dann singt sie ein Lied in Ugurisch.
Ich schaue auf die Uhr, es ist kurz vor Mitternacht. Der Freitagabend, der Abend nach Ramadan Ende geht zu Ende. Ich sehe zur Kerams Schwester, bereits vor zwei Stunden hätte sie in ihrem Internat sein müssen und kontrollieren, ob alle Mädchen in ihren Betten sind. Sie ist aber hier geblieben, weil es die Familie so wollte. Sie ist also stärker als die Partei, das gibt mir Hoffnung für dieses Mädchen und diese Region.

Nachtrag : Natürlich konnte sie nicht so spät in ihr Heim zurück, sie hat bei der Tante, die Lehrerin ist, übernachtet.


Wie fast immer in den letzten vierzehn Tagen wird vorgeschlagen einen Lackman zu essen. Als ich frage, ob es nicht auch etwas anderes als diese scharfe Mischung aus Nudeln, viel Gemüse und wenig fetten Fleisches gibt, wird eine Nudelsuppe gebracht. Sie ist wenigstens nicht scharf. Doch Keram und seine Schwester, die uns gegenüber sitzen, haben beide auf Lackmann nicht verzichtet.
Vier Jahre hat Keram seine Schwester nicht mehr gesehen, sie hat sich sicherlich verändert.
Jetzt ist sie eine recht kleine mongolisch aussehende neunzähnjährige Frau, die
in einem Jahr hier in Urumci Wirtschaft studieren wird. Vorerst ist sie in einem Vorbereitungsjahr für Minderheiten, in dem sie ihr Chinesisch aufbessern soll. Obwohl sie auch Englisch lernt, ist die Verständigung mit ihr nur über Kerams Übersetzung möglich. Nicht nur ist Englisch für sie eine äußerst schwere Sprache, sie sind 70 Studenten in einem Kurs. Diese Feststellung bedarf keines Kommentars.
„Wir sind zu siebt auf dem Zimmer“, antwortet sie auf meine Frage und ich frage weiter:
„Kannten Sie ein der Mädchen vorher?“
Sie verneint und ich frage weiter: „Hat jedes Zimmer ein eigenes Bad?“
Sie lacht als ihr Keram die Frage übersetzt und erklärt: “Es gibt Waschbecken und Toiletten auf jedem Stockwerk. Badewannen gibt es nur zu den teueren Zimmern.“
Ich denke an meine Zeit in der Krankenschwesterschule und frage wie es mit der nächtlichen Anwesenheit sei.
„Um 10 Uhr müssen alle Mädchen im Bett sein. Meine Schwester ist zu Sprecherin gewählt worden, sie überprüft dann im ganzen Haus, ob alle Mädchen im Bett sind“, übersetzt uns Keram.
Klar ist sie zur Sprecherin gewählt worden, schließlich ist sie Mitglied der chinesischen kommunistischen Partei, sage ich mir und weiß noch nicht, dass ich an diese Aussage werde heute denken müssen.

*
Der große kräftige Mann auf dem Podium singt: “Jestli znali Vy kak mne dorogy Podmovskowskie vecera“ und ich summe es während des Tanzens mit. Es ist ein Lied, das jeder, der im Sozialismus groß geworden ist irgendwann mal auswendig gelernt hat.
Jetzt mehr als 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems
wird es immer noch gesungen. Im Gegensatz zu der sozialistischen Doktrin haben die Melodie und der Text an Attraktivität und Aktualität nichts verloren. „Wissen Sie wie ich die Moskauer Nächte liebe,“ wird in dem Lied gefragt und dann geht der Text weiter, in dem in ihm beschrieben wird, was man durch die Moskauer Fenster und hinter ihnen sehen kann. Für die meisten Menschen von uns spannend und nicht nur in Moskau.
Werner rückt noch näher zu mir und meint: „Er singt doch falsch, oder?“
„Ja, aber es macht nicht, Hauptsache, es macht ihm Spaß.“
Mit seiner kräftigen Bassstimme setzt der Mann den Text fort und ich frage mich, wie viele Menschen dieses überfüllten Saales und Tanzfläche den russischen Text wohl verstehen können. Wahrscheinlich wenige, schließlich sind wir nicht in Russland und auch nicht in der Ukraine oder Weißrussland, wo die Amtssprachen dem Russischen sehr ähneln und nicht einmal in einer der Republiken der früheren Sowjetunion. Doch auch der Sänger ist kein Russe, obwohl er –wie vor seinem Gesang angekündigt worden ist- zu Besuch aus Moskau kam. Sein Gesicht ist nicht das eines Russen oder des eines Europäers. Er könnte Tatar, Mongole oder Ugure sein. Wahrscheinlich trifft das letzte zu, schließlich sind wir in Urumci, der Hauptstand der autonomen Provinz im westen Chinas, die offiziell Xijang heißt.


Es ist Freitagabend, der ersten Abend nach dem Ramadan. Auch hier feiert man das Ende der Festenzeit der Muslime auf der ganzen Welt. Nur die Gesichter der Anwesenden verraten, dass man nicht in Europa ist, ansonsten unterscheidet sich dieser Tanzveranstaltung nicht von einer in Berlin, Prag oder London.

Hier in dieser autonomen Region haben wir während der beiden letzten Wochen nicht viel vom Fasten gesehen. Das hat natürlich vor allem damit zu tun, dass die Einhaltung dieser Sitte seitens der Regierung als ein Ausdruck des religiösen Bekenntnisses zum Islam betrachtet wird und deswegen –zwar nicht mehr offiziell verboten, aber nach wie vor ungern gesehen. Islam, wurde und wird noch mehr gefürchtet, als alle anderen Religionen in dem Arbeiter und Bauernstaat, in dem nur die eine einzige Religion anerkannt wurde, die der kommunistischen Partei. Vor allem hier in dieser autonomen Provinz ist die Angst vor dem islamischen Terror Groß. Das chinesische Militär ist überall sichtbar präsent, schließlich hat dieser Provinz nicht nur eine Grenze mit Pakistan und Afghanistan. Angeblich wurde auch zahlreiche Uguren von den Bin Laden Leuten ausgebildet.
„Die Regierung hier bekam eine Warnung aus München, dass sie wird die 5o Jahrfeier der Autonomie nicht ruhig feiern können“, erklärte uns Keram während zahllose Militärfahrzeuge an uns in Richtung Kashgar fuhren.“

Für mich steht die Nachricht aus München im Widerspruch zu Alkaida und den Talibanen, aber im globalen Zeitalter ist das kein Widerspruch, sage ich mir und überlege, dass wir wohl einen sehr unpassenden Zeitpunkt für unsere Reise gewählt haben. Oder gerade den richtigen, weil den spannendsten?

Während der Mann auf dem Podium den Refrain singt, stürmen die Tanzfläche mehrere junge Männer, statt einer Partnerin, halten sie liebevoll ein Sakko im Arm.
„So sind die lustigen Pakistani“, stellt Werner lachend fest und ich frage mich, wieso sie so ausgelassen sein können, angesichts des Terrors in ihrem Lande und der gerade vor einigen Wochen stattgefundenen Erdbebenkatastrophe, die fast 3 Millionen Pakistani, die nur 200 km von hier weit entfernt leben obdachlos gemacht hatte. Diese jungen Männer tun so, als wüssten sie gar nichts davon. Sie gehören genauso wie die jungen Frauen, die noch brav in ihren Trachten am Tisch sitzen, zu einer Oberschicht, die die Armut nicht nur nicht kennt, die auch diese wohl nicht interessiert. Dass sie ausgerechnet nach China gefahren sind, um hier das Ende des Ramadans zu feiern, sagt mehr über diese jungen Menschen und die chinesische Außenpolitik als staatliche Kommuniques zu Minderheitenfragen. Die jungen Leute wollen sehen, wie ihre muslimische Nachbarn leben, sie dürfen in ihrer traditionellen Kleidung kommen, ohne dass ihnen die chinesischen Behörden Schwierigkeiten machen würden.

Überhaupt merkt man hier in Xijang nicht viel von China, wenn man als nicht der ugurischen und der chinesischen Sprache mächtiger Ausländer sich hier aufhält. Man muss schon genau hinsehen und am besten jemanden zur Seite haben wie wir Keram, der einem alles währen unserer zweiwöchigen Reise übersetzt.

Woher mag der Conferencier stammen, der jetzt auf Chinesisch, Ugurisch und dann Englisch das nächste Lied ankündigt? Eins ist klar, er ist kein Chinese, aber sonnst kommt für ihn wie für die meisten, die Nichtchinesen sind, jede Nationalität in Frage. Das zeichnet die Uguren vor allem aus. Seit ich hier herumreise frage ich mich, wie sie sich untereinander erkennen, denn sie sehen sehr unterschiedlich aus. Viele Männer würde ich für Türken halten, einige sehen wiederum sehr mongolisch aus, es gibt aber auch welche, die sehen aus als hätten sie eine europäische Großmutter gehabt. Und vielleicht stimmt alles, denn in dieser Region leben offiziell 46 verschiedene Minderheiten und weil die Uguren die stärkste sind, dominieren sie ihrerseits die anderen und wenn man in eine ugurische Familie hineingeheiratet hat, lernt und spricht man dann ihre Sprache. Heute ist es egal wer zu welcher Nation gehört und es freut mich, dass ich die Tanzenden nicht zu einer ganz bestimmten Nation zuordnen kann. Ein gutes Zeichen für den heutigen Abend und möge es ein gutes Zeichen für China überhaupt und uns alle werden. Globalisierung hat ihre positiven Seiten, wenn zum Beispiel die Menschen unabhängig von der Hautfarbe miteinander tanzen so wie jetzt hier. Es wird getanzt unabhängig auch von Geschlecht, die Frauen tanzen mit Frauen und die Männer mit Männern.

Ich tanze mit einer von beiden Kerams Tanten. Die große kräftige Frau, die sich entsprechend ihrem Gewicht zu dem orientalischen Rhythmus nur schwerfällig bewegt, ist Lehrerin. Sie ist es, die uns für diesen Abend eingeladen und organisiert hat, dass auch die junge Frau kommt, die Keram auf Empfehlung beider Elternteile heiraten soll. Wir bilden quasi die Staffage für das erste offizielle Treffen der beiden jungen Leute, die sich bis jetzt ein einziges Mal gesehen haben und das bei Kerams Ankunft auf dem Flughafen in Urumci vor knapp 14 Tagen und das in dem Europa kaum noch bekannte Ritual der Zwangsverheiratung münden soll. Aber wie so oft haben die uns völlig fremde beziehungsweise fremd gewordene Sitten, ihre tiefen Gründe. Standesgemäße Heirat heißt das Zauberwort. Das fünfundzwanzigjährige schlanke und sehr kleine Mädchen ist Ugurin und sie hat Medizin studiert. Für Keram, dessen Eltern ganz einfache Bauern sind, im Gegensatz zu ihren Eltern, die beide studiert haben, ist sie eine gute Partie und für Keram sozialer Aufstieg. Dank seinem Deutschlandstudium, das ihn zu einem Privilegierten unter seinen Gleichen macht, ist er in den Augen der Uguren eine vorzügliche Partie. Dafür müssen Kerams Eltern, in diesem Fall wohl eher er, zahlen. Nach wie vor werden hier die Bräute gekauft oder verkauft, je nach dem. Eine studierte Frau kostet verständlicher Weise viel mehr, 5 000 ¤, eine mit Grundschulausbildung bekommt der Mann schon für ein Zehntel. Anders als in Europa, sind es die Männer, die sich ihre Braut kaufen müssen. Die Frage, ob Jungfrauen teuerer sind, wage ich nicht zu stellen. Nicht in diesem Land, obwohl so fromm wie es nach außen zu sein scheint. nicht alles ist. Die an den Hotels stehenden Prostituierten verteilen nicht nur ihre Prospekte, sie rufen auch ungehemmt in den einzelnen- auch mit Ehepaaren wie es sind belegten- Hotelzimmern an und fragen “Massage now?“

Keram muss heiraten. Er ist der älteste der vier Brüder und bevor er nicht eine Braut gekauft hat, dürfen auch die anderen Brüder nicht heiraten. Diese Regelung bezieht sich nicht auf die Töchter, da sie „gekauft werden“ bilden sie keine finanzielle Belastung des familiären Haushaltes. Nicht nur dies ist anders als in Europa. Auch die Erbfolge ist eine andere. Es erbt der jüngste. Das bedeutet, dass vor allem die älteren Geschwister eine gute Ausbildung bekommen. Auch in Kerams Familie ist es der Fall, wobei der Vater bestimmte, wer was zu studieren bzw. lernen habe. Dass der Vater entschied, Keram soll nach seinem Hochschulabschluss in Urumci, zum Weiterstudium ins Ausland gehen, spricht für seinen Weitblick.

Hatte er ihn als er seiner achtzehnjährigen Tochter nicht davon abhielt in die kommunistische Partei einzutreten? Ich weiß es nicht. Jetzt sitzt sie hier zwischen den beiden Tanten-Schwestern und macht einen verlorenen Eindruck. Wahrscheinlich hat sie so ein üppiges, ja beinahe protziges und gleichzeitig fröhliches Fest noch nie erlebt. Was denk sich so eine Jungkommunistin? Wie kann man nach Mao, der Kulturrevolution und der noch bestehenden Unterdrückung der eigenen Minderheit in die Partei der herrschenden Nation eintreten? Hat sie mit dem Beitritt sich und ihrer Familie Vorteile oder wenigstens Ruhe verschafft? Ist es gar der Preis dafür, dass Keram in Deutschland, in diesem kapitalistischen Land weiter studieren darf? Ich würde es gerne wissen und weiß, dass ich diese Fragen nie werde stellen. Ich sehe ihr trauriges Gesicht und irgendwie freut es mich, dass diese Jungkommunistin mit dieser Atmosphäre in Berührung gekommen ist, einer, die mit Sicherheit völlig konträr zu der, die ihr während der Kaderseminare herrscht. Ob sie standhaft bleibt oder sich von diesem wilden Treiben hinreißen lässt? Ich hoffe ja, schließlich ist nicht nur ihr Bruder da, sondern auch die beiden Tanten und einer der Onkel und alle scheinen sich hier sehr gut zu amüsieren. Man merkt, es ist ihr Metier und die Tanten haben den Abend fest im Griff. Die Lehrerin tanzt schon mal mit ihrer Schwester. Die kleine runde Internistin, ist perfekt geschminkt. Das Gold, das sie um den Hals, die Handgelenke gewickelt hatte und die Ohrringe, zeigen mir, dass im Orient Gold bei Frauen immer noch ein Ausdruck des Reichtums ist.
Ihr Mann, um mindestens zwei Köpfe größer, sieht aus als wäre er ein europäischer Professor. Er ist auch einer, aber ein Ugurischer und zwar für Pharmazie.

Dieser Abend ist in mehrfacher Hinsicht eine Prämiere, Keram trifft nicht nur zum ersten Mal offiziell seine Verlobte, auch diese Tanten sieht er und seine Schwester zum ersten Mal. Dass er sie nicht kennt, habe ich bereits vor einigen Tagen erfahren. Auf unserer Reise durch die Provinz wollten wir in Aksu übernachten. Kurz nachdem wir dort ankamen, erschien ein schlanker junger Mann, den uns Keram als seinen Vetter, der dort als Zahnarzt tätig sei, vorgestellt hat. Während es Abendessens, zu dem uns der Vetter einlud, fragte ich: „Haben sich gefreut, sich wieder zu sehen?“
„Wir sehen uns überhaupt zum ersten Mal“, klärte mich Keram auf.
Ich fragte nicht nach, wie dies möglich sei, machte mir aber meinen Reim darauf, als ich an diesem Freitagabend die Mutter, die die Tante Lehrerin war, treffe. Man wollte wohl früher mit diesem armen Zweig der Familie nichts zu tun haben, eine Eigenschaft, die mir auch aus Europa bekannt ist. Nachdem der Vetter nach Hause ein positives Signal geschickt hatte und auch meldete, dass wir sehr gut gepflegte Zähne haben, entschloss sich die Tante diesen Festabend zu veranstalten. Schmunzelnd betrachte ich die Gesichter und denke, dass es doch ganz gut ist, zu erleben, dass es auch hier ähnliche Verhaltensmuster gibt.

Wahrscheinlich gibt es trotz der unterschiedlichen Kultur zwischen den Menschen eine Menge Gemeinsamkeiten. Der Tanz verbindet uns, egal woher und wie wir kommen. Der Rhythmus kann einen Menschen fangen und gefangen halten und es ist gut so, dass es da keinen Unterschied gibt zwischen den einzelnen Rassen, Nationen oder wie man es auch nennen mag. Auch das Verhalten der beiden Tanten ist für mich mehr als nachvollziehbar. Jetzt glaube ich zu wissen, worauf sie hinaus wollen. Wir sollen nicht nur eine Staffage sein, wir sind quasi schon eine Garantie dafür, dass diese Ehe zustande kommt und gut wird. Ich weiß, was sie von uns erwarten.
„Keram, Sie sollen mit Ihrer Nachbarin tanzen“, fordert ihn Werner auf.
„Ich will aber jetzt noch nicht heiraten.“
„Dass Sie mit einem Mädchen tanzen, heißt noch lange nicht, mit ihr verheiratet zu sein.“

Ich betrachte Keram. Nie hätte ich gedacht, dass dieser ein wenig kräftige und untersetzte junge Mann, überhaupt tanzen kann und er ist sogar gut. Wahrscheinlich haben die Uguren den Rhythmus und die Harmonie in Blut. Ob es diese Tänze bereits in dem Ugurischen Großreich im 5. Jahrhundert nach Christi gab? Das würde wohl auch nicht einmal ein Ugure beantwortet können, obwohl sie über ihre Geschichte sehr genau Bescheid wissen. Dies umso mehr als die Blüte ihres Reiches gut ein Tausend Jahr zurück liegt. Wie alle Nationen, die mal „groß“ gewesen sind und heutzutage in der Politik keine Rolle mehr spielen. Wie die auch in Europa die Tschechen, Basken oder Serben, klammern sie sich innerlich an ihre großen Männer einer längst vergangenen Zeit um bei ihnen Halt zu bekommen für den inneren Widerstand gegen die Unterdrückung durch andere Nationen, sei sie auch vermeidlich.

Und so gehörte der Besuch der Mausoleen der großen Denker wie es Makmut Kashggaria und des Yusup Hazi Hajup war, zur Pflicht als wir in Kasghar waren. Dass in diesem Jahr, genau gesagt im Oktober in Urumci aus Anlass des Eintausendjährigen Geburtstages von Makmut Kashggaria die erste Tagung über den großen Gelehrten überhaupt stattfand, man nicht nur einen Europäer erstaunen. Doch das hat mehrere Gründe. Seine im Jahr 1076 auf Arabisch erschienene türkische Enzyklopädie galt lange als verschollen. Obwohl im 15 Jahrhundert irgendwo eine Kopie aufgetaut war, wurde sie Makmut Kashggaria erst in den sechziger Jahren des 20 Jahrhundert mit Sicherheit zugeschrieben. Da damals in China die Kulturrevolution und die so genante „Viererbande“ herrschte, musste Makmut Kashggaria noch weitere ca. 40 Jahre warten bis man sich mit ihm und seinem Werk näher zu beschäftigen begann und sogar eine Tagung organisieren dürfte. Man macht sich bewusst, dass die Zeit und die Thematik, mit der sich die Gelehrten irgendwann und irgendwo beschäftigten in der Geschichte ein anderer Faktor ist, sie sind universell.

Mir fiel positiv auf, dass in dem Mausoleum Makmut Kashggaria mehr Chinesen als Uguren waren. Es ist ein Zeichen, dass man sich auf chinesischer Seite durchaus der „Andren“ Kultur und Geschichte bewusst ist und sie achtet. Im Gegensatz zu früher, vor allem der Zeit der Kulturrevolution, als man bewusst alles, was an die Geschichte – vor allem die nicht chinesische erinnerte- niederriss. So auch das Mausoleum des aus dem 11.Jahrhundert stammenden Schriftstellers Yusup Hazi Hajup in Kasghar. Mann riss es einfach ab und auf und baute auf dem Grundstück eine chinesische Grundschule. Jetzt steht es wieder in voller Pracht wieder da. Für die Kinder wurde ein anderes Gebäude freigemacht.

Man stelle sich nur vor, auch wenn die Schule chinesisch war, gingen in sie auch Kinder aus der näheren Umgebung, hin also Uguren. Die kannten ihren Poeten, vor allem sein großes Gedicht: Kenntnis bringt Glück. Man kann davon ausgehen, dass es den Kindern nicht leicht viel, genau an der Stelle zu lernen, wo ihr großes Vorbild seit Jahrhunderten geruht hatte. Vielleicht waren es gerade die Strophen des Gedichtes, welche die chinesische Regierung dazu veranlasst haben, sie haben eingesehen, dass Kenntnis der Geschichte, sei es die des „Anderen“ Glück bringt.

Während dieses Mausoleum wieder aufgebaut wurde, hat man auf die Wiedererrichtung der Moscheen verzichtet. So auf die alte große Moschee in Korla, die noch in der Ausgabe aus dem Jahr 2002 des heutzutage bekannten Reiseführers Lonly Planet als sehenswert bezeichnet wird, obwohl sie – wie uns der Imam erklärt- während der Kulturrevolution abgerissen wurde.
Der Mangel an Gebetshäusern führt jetzt- wo sich wieder die Moslems offener zu ihrer Religion bekennen dürfen, dass am Donnerstag in der Früh, als das Ende des Ramadans verkündet wurde, die Männer auf dem Gehsteig und der Strasse, wo früher die Moschee stand, zum Gebet niederknien. Wir erfahren:
„Die Koranschule in Korla war einer der größten in der Region. Sie wurde geschlossen und nicht wieder eröffnet. Der Imam darf jetzt privat drei Schüler haben. Das wird kontrolliert.“
Mir ist klar, wozu diese Restriktion führen muss: Jeder, der eine Koranschule besuchen will geht nach Pakistan oder Afghanistan. Beides ist nicht weiter als 200 km. Dort lernt man womöglich oder wahrscheinlich das, was sich die chinesische Regierung mit Sicherheit nicht wünscht. Merken die Chinesen nicht, dass es eine kontraproduktive Maßnahme ist?

Der Umgang mit der Geschichte und Tradition ist etwas, was uns allen, unabhängig vom Alter, Hautfarbe, Nationalität, Religion, nur um einige zu nennen, sehr schwer fällt. Vielleicht ist es hier besonders schwierig, weil alle großen Religionen schon hier mal beheimatet waren.
Natürlich der Buddhismus, an den die zahlreichen Klöster erinnern. Eins der bekanntesten Kizil liegt in der Wüste, in einem Niemandsland, in einer Landschaft so gelegen, als wäre die Zeit hier seit 2000 Jahren stehen geblieben. Es ist daher schon fast konsequent, dass es schwer zu finden ist, da es kaum Wegweisschilder gibt. Dass wir es doch finden, ist Werners Dickköpfigkeit zu verdanken. Durch einige wenige der fast 1000 Zellen, die in den Berg hinein gebauten wurden, hat uns eine junge Frau begleitet. Obwohl sie Ugurin ist, erklärt sie alles auf Chinesisch, nur wenn sie merkt, dass Keram ihrem sehr schnellen Wortfluss nicht ganz folgen kann, wechselt sie ins Ugurische. Der Arme stand dann vor der schwierigen Aufgabe, uns das zu übersetzen. Wie oft in den buddhistischen Tempeln und hier in den Zellen der Mönche, wurden irgendwann, als die Moslems hier das Land im 13. Jahrhundert eroberten, die meisten Gesichter, die die Wände verzieren, zerkratzt.

In die Zeit zwischen dem Buddhismus und den Islam, der sich durch die Hinrichtung des buddhistischen Herrschers Idiqut Salendi 1255 hier Macht verschaffte, hat sich das Christentum in dieser Region breit gemacht. Das war im 8. Jahrhundert nach Christi. Das große mächtige Ugurenreich wurde zum Zufluchtsort der christlichen Sogher, die schnell großen Einfluss am Hofe des Bilge Kül und seiner Nachfolger erreichen und die Außenpolitik des Reiches bestimmten. Ihr Ziel war die Zusammenarbeit im mit China zu Gunsten der mit christlichen Staaten einzuschränken. Vor allem im Bereich des Handels sollte zusammengearbeitet werden. Diese Politik passte einem Teil des Adels nicht. In einem Aufstand wurde der Herrscher Tengri Khagan ermordet, sein Vetter Tarkhan übernahm die Macht und wendete den Schwerpunkt der Politik wieder in Richtung China.
Dem ersten großen Verrat folgen weitere und diesen Herrscher fremder Nachbarnationen bis auch das wesentlich kleinere und allerletzte Reich der Uguren in der Gegend der heutigen Stadt Turpan im 14. Jahrhundert zugrunde ging.

Wie überlebt eine Nation, die seit mehr als 700 Jahren keinen eigenen Staat hat? Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran eine Minderheit zu sein. Man lernt damit umzugehen, auch unter den chinesischen Kommunisten zu leben. Als Schicksalsgemeinschaft mit eigener Sprache, Geschichte - Tradition, Bräuchen und Sitten kann man dies, wenn sie nicht beschränkt werden. Die Griechen und die Serben haben auf dieser Art als Nation das Osmanische Reich überlebt. Deswegen legen die Uguren so einen Wert darauf, dass nur untereinander geheiratet wird.

Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist ein weiterer Punkt im Überlebenstraining einer Nation. Ob es den Uguren bewusst ist, ist nebensächlich. Sie praktizieren diese Übung, wo und wie sie auch können. Wenn man durch die zahllosen seit Jahrhunderten versandeten meist verfallenen Sandmauern der Städte wandert, die uns stolz Kerams Vater zeigt, wird einem bewusst, hier spielte sich Geschichte ab. Hier lebten Tausende von Menschen mit ihren Sorgen und Hoffnungen auf eine bessere und gerechtere Welt. So in den Riunen von Gaochang, ca. 40 km östlich von Turpan oder in Jiaohe, ca. 13 km westlich von Turpan. Dass es die Japaner waren, die in den letzten zehn Jahren sich hier als Denkmalpfleger engagiert haben, ist ein weiteres und nicht hoch genug einzuschätzendes Zeichen für die sich öffnende Politik der chinesischen Regierung.

Zur ugurischen Tradition gehört der Weinbau. Turpan ist das größte Trauben Anbaugebiet in China, wie uns Keram erzählt. Für uns ein wenig ungewöhnlich, weil es hier im Winter bis 40 Grad Celsius Minustemperaturen gibt. Anhand von praktischen Beispielen auf dem Grundstück von Kerams Familie werden wir des Besseren belehrt. Es wird uns gezeigt, wie die Rebstöcke über den Winter eingegraben werden, um dann im Frühjahr wieder ausgegraben zu werden. Die Wasserversorgung der Reben und übrigens auch aller Dorfbewohner erfolgt über so genannte Karez. Ein kompliziertes unterirdisches Kanalsystem aus dem Mittelalter, das noch heute praktiziert wird. Das Wasser aus den nahe gelegenen Bergen wird in diese Kanäle und dann weiter geleitet. Obwohl die chinesische Regierung vor einigen Jahren dazu überging, Leitungswasser in die Dorfhaushalte zu verlegen, beharren viele der Dorfbewohner nach wie vor auf der Wasserversorgung aus der Karez.
„Seit Jahrtausenden haben wir es so gemacht und warum sollen wir es jetzt anders machen“, lautet die Argumentation der Bewohner. So haben auch Karams Eltern, beide noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, kein fließendes Wasser zu Hause, also kein Bad und kein WC. Die Mutter kocht draußen auf dem Ofen und wäscht das Geschirr in großen Plastikschüsseln.
Erstaunlicher Weise gilt diese Argumentation nicht für die neuen elektronischen Geräte, ein neuer Fernsehen und ein DVD Player schmücken das kleine Wohnzimmer.

Die Trauben werden verkauft, getrocknet oder es wird aus ihnen Wein oder Likör gemacht.
„Warum dürfen wir die Rosinen nicht in die Eu verkaufen;“ fragt Kerams Vater während er uns eine volle Glasschüssel reicht.
Sie schmecken köstlich, doch ich kenne mich ein wenig mit der Eu aus und erzähle über die zum Teil unsinnigen Vorschriften.

Wie gut der ugurische Likör schmecken kann, haben wir auf unsrer Station in Kuqa erfahren dürfen. Nach einer fast neunstündiger Fahrt sind wird dort bei völliger Dunkelheit angekommen. Ein Bekannter unseres Fahrers hat uns am Stadtrand erwartet, uns ins Hotel gelozt und uns dann zum Abendessen eingeladen. Das Essen bestand aus einer großen Anzahl von verschiedenen Speisen auf Tellern, die in die Mitte des Tisches auf eine sich drehende Platte gestellt wurden. Jeder von uns konnte sich bedienen. Zwischendurch erzählte der Mann, dass er eine Likörfabrik hat und zog von unter dem Tisch einen Karton mit mehreren Flaschen hervor. Er öffnet eine nach der anderen mit dem eigenem Korkenzieher.
Es handelt sich um einen Kräuterlikör, welches nach alten ugurischen Rezepten zusammengesetzt wurde und das er seit vier Jahren in einer Fabrik mit 30 Mitarbeitern herstellt. Bemerkenswert ist, dass alle, auch er, bevor sie in der Fabrik begannen zu arbeiten, arbeitslos waren. Inzwischen produzieren sie an die 30 000 Flaschen im Jahr und verkaufen diese auch in Hongkong. Er würde sich wünschen, sein Produkt auch in Europa verkaufen zu können und weil wir die ersten Europäer sind, die er kennen lernte, hat er uns eingeladen. Auf meine Nachfrage hin, erfahre ich, dass der Verdienst der weiblichen Mitarbeiterinnen 30 ¤ im Monat, der der männlichen 60 ¤ beträgt. Ich wundere mich über diesen Kapitalisten im kommunistischen Staat China und ich weiß noch nicht, dass ich es während unserer Reise werde noch oft tun.

Diese Region empfinde ich als Widersprüche und das hat viele Gründe, die ich hier nicht alle aufzählen kann, weil ich mich über sie all gar nicht im Klaren bin. Es ist die Landschaft, die ich als widersprüchlich empfinde. Egal in welche Richtung man fährt, man sieht fast immer gleichzeitig die Wüste und die Berge. Für jemanden, der wie wir aus Europa kommt und die Alpen kennt, ist es ein Widerspruch. Doch man gewöhnt sich schnell an diesen Blick, der einen nicht aus dem Staunen bringt.

Widersprüchlich ist auch die Gesellschaft. Fest steht, dass wohl kaum irgendwo die Armut und das Reichtum und die Geschichte und das Heute mit seinem Computerzeitalter heftiger aneinander prallen wie hier. Es ist mir vielleicht deswegen so bewusst, weil China offiziell ein kommunistischer Staat ist. In der sozialistischen Schule habe ich gelernt gehabt, dass ein sozialistischer Staat, ein Staat der Werktätigen sie, ein Staat der Bauer und Arbeiter, ein Staat in dem alle gleich sind. In China ist es nicht der Fall, hier regiert die Ungleichheit. Merkt es die kommunistische Partei nicht oder will sie es nicht sehen?

Es ist der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der schon in der Geschichte immer einer war, wohl aber kaum so krass wie hier auffällt. In den Städten wird ca. 80 Prozent des BIP verdient, der Rest auf dem Land. Die Folge ist klar, die Bauern sind sehr arm, leben in primitiven Lehmhütten, ohne Wasser und sanitäre Anlagen. In jedem Dorf gibt es einen Bürgermeister, der gleichzeitig Mitglied der kommunistischen Partei ist. Natürlich und logisch ist, dass wir gleich bei unserer Ankunft in dem Dorf, in dem Kerams Eltern leben, mit dem Vater hingehen, um uns vorzustellen. Als wäre die Mitgliedschaft Kerams Schwester in der Partei ausreichende Garantie für unser Integrität. Aber Keram will sich auf allen Seiten absichern. Das verstehen wir, aber nur bedingt.

Die Begegnung mit der Partei fand gleich nach unserer Ankunft in Urumci statt. Keram hat uns in einem Hotel untergebracht, in dem sein Freund als Elektriker tätig ist und daher Vorzugspreis für die Übernachtung bekommt. Wir zahlten umgerechtet 14 ¤. Dass wir in einem Hotel der Partei übernachtet haben, merkten wir erst im Laufe des Aufenthaltes bzw. noch wesentlich später, während unserer Reise durch die Provinz. Das Parteihotel war das einzige, das bereits Ende Oktober geheizt worden war, in den Zimmern war es fast schon heiß und auf den Betten lagen noch zusätzliche Decken. Die Kommunisten sollen es gemütlich haben. Dass es ein parteieigenen Hotel war, in dem wir übernachtet haben, dessen Zentrale liegt direkt gegenüber lag, das sagte uns Keram nachdem ich ihm die folgende Begegnung geschildert habe:

Gegen 6 Uhr in der Früh, bin ich durch lautes Sprechen auf dem Gang aufgewacht. Ärgerlich trat ich vor unsrer Zimmer. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich einen jungen Chinesen in der mir aus den 60 ger Jahren bekannten Mao Kleidung mit einem Koffer in der Hand sah. Die Überraschung war gegenseitig. Er sagte „sorry“ und verschwand. Dann herrschte Ruhe in der ich über diese Begegnung nachdachte, denn für mich war es unvorstellbar, dass jemand heutzutage noch in dem im Westen unter dem Begriff Maolook bekannte Kleidung tatsächlich trägt. Nach dem Vorbild des Vorsitzenden Mao ze thung, den man auf allen Bildern in dieser grünen Uniform, das Sakko mit einem Stehkragen, begannen sich alle Chinesen so zu kleiden, ohne Unterschied des Geschlechtes, Männer wie Frauen. Im Sinne der durch die kommunistische Partei propagierten Einheit. Im Westen wurde der Stehkragen Mode und gerade diejenigen, die die sich von der Masse unterscheiden wollten, trugen in den Sechzigern diesen Maolook.

Obwohl nicht nur der Gründer dieses Staates längst tot ist und seine Politik als Persönlichkeitskult verurteilt worden ist, wird dieser Maolook von den chinesischen kommunistischen Funktionären weiter getragen. Warum, verstehe ich nicht und werde wohl auch nicht verstehen, es ist der Widerspruch, dem man hier täglich in allen Lebenssituationen begegnet. So wird zwar der Maoismus verurteilt, aber im Gegensatz zu der Sowjetunion, in der Stalin für die übertriebene Pflege seiner Person, die als Personenkult und oder Stalinismus in die Geschichte inzwischen eingegangen ist, mit der Beseitigung von allem, was an ihn erinnern konnte, bestrafte, blieben in dieser Provinz in den meisten Städte die überdimensionalen Mao Büsten stehen. Sie werden auch noch Tag und Nacht bewacht. Zu diesem Zwecke wurden in einem nicht zu großen Abstand kleine Wachhäuschen neben den Denkmalen aufgestellt, die stets besetzt sind. Dass es manchenorts die identischen Motive sind, durch die Mao überdimensional verewigt wurde, hat vielleicht keine tiefere Bedeutung außer? Es gab nicht genügend passende Motive. Eins ist jedoch erhalten geblieben und mit ihm seine Geschichte. Das Denkmal Mao mit dem Bauer, nirgendwo steht es so unpassend wie in der Stadt Hotan. Mittel auf einem Platz steht Mao mit dem Bauer, der ihm dankend die Hand reicht. Auf einem Platz, der eine breite Einkaufsstrasse in zwei Teile teilt. Der Platz ist eine Oase, eine Erinnerung an die Geschichte, an eine längst vergangene Zeit. Man muss kurz den Atem anhalten um sich zu vergegenwärtigen, wo man ist. Mitten zwischen mit Hochhäusern, der sich links und rechts von ihm ausbreiten und in denen fast alle westlichen und daher kapitalistischen Firmen und Geschäfte untergebracht sind, so das traditionelle Schuhhaus Bally, die Kosmetikfirmen Dior und Hermes aber auch Avon und die Bekleidungsfirma Boss.
Vielleicht hat man das Denkmal stehen gelassen, weil es nicht nur ein gewöhnliches Denkmal ist, es hat seine eigene Geschichte und die lautet so:

Es gab mal einen Bauer in der Nähe des Stadt Hotan, der wollte unbedingt Mao kennen lernen und ihm über das armselige Leben der Bauern in China berichten. Um seinen Wunsch umzusetzen, wandte er sich zuerst an den Bürgermeister, der gleichzeitig Vorsitzender der Partei war. Dieser vertröstete ihn und sagte:
„Es geht nicht, stelle dir vor, alle würden den großen Führer kennen lernen wollen.“
Der Bauer ging nach Hause, kam aber wieder. Als er merkte, dass ihn der Bürgermeister stets abwimmelte und er bei ihm nichts erreichte, setzte er sich auf seinen Esel und ritt nach Hotan. Dort fragte er sich durch und stand dann irgendwann vor dem Gebäude der Partei. Da ihn, verständlicher Weise der Pförtner nicht hineinließ, entschloss sich der Bauer, vor dem Gebäude zu warten bis er hineinkommt. Natürlich verscheute man ihn immer wieder, doch er kam auch immer wieder zurück. Irgendwann hat er das Warten aufgegeben und beschloss mit seinem Esel direkt nach Peking zu reiten. Nach drei Monaten hat er sein Ziel erreicht. Das Denkmal ist der Beweis dafür. Für die Bauern wäre es natürlich besser gewesen, sich nicht in einem Denkmal verewigt zu sehen, sondern mehr in den Magen zu bekommen. Dass keiner weiß wie dieser Bauer hieß und keiner weiß, ob und wann er zurückgekommen war, spielt für diese Geschichte keine Rolle. Zu den Lebzeiten des großen Parteiführers Mao ze thung war das Denkmal ein Beweis für seine Verbundenheit mit den Bauern.
Und heute? Die beiden Männer stehen da und wundern sich über die Veränderungen in Hotans Strassen. Veränderungen, die nicht nur ihnen beiden und nicht der gesellschaftlichen Klasse, die der Bauern und Arbeiter nichts gebracht haben. Nur eben den kommunistischen Parteifunktionären, diese fahren meist die dicken westlichen Autos und gehören nach wie vor Elite an. Seit ein paar Jahren hat sie das Privateigentum erlaubt, das so groß sein darf, dass man als Einzelperson eine Fabrik besitzen darf. Wer hat aber schon die Mittel dazu? Die Kommunisten und so bleibt auch das Privatkapital in ihrer Hand. Es muss betont werden, dass es sich hier und jetzt immer noch um eine kommunistische Elite handelt. Sie ist es, die die proletarische Internationale sing und dazu französischen Champagna trinkt. Welch eine Verdrehung der kommunistischen Ideale von Gleichheit!

Die Versuche sich selbständig zu machen, sind sehr zaghaft, aber bemüht. So hat sich ein ganzes Dorf Jiya, in der Nähe von Hotan, zusammengeschlossen und eine eigene Manufaktur für Seidenverarbeitung aufgebaut. Man kann nicht nur der Herstellung zusehen, sondern im anliegenden Geschäft täglich die Produkte - Stoffe, Schalls, Krawatten, Hüte und Kleider- kaufen. Bei unserer Besichtigung treffen wir in der Weberei eine ganze Schulklasse, die hier jetzt ihr Praktikum absolviert. Die besten dürfen im kommenden Jahr hier die Lehre beginnen.


Dass die anderen Betriebe staatlich sind, merkt man unmittelbar nach dem Betreten der Tore. Es wird weniger oder gar nicht gearbeitet, so in der Teppichknüpferei. Zahllose junge Frauen sitzen in der Sonne, als Keram sie fragt, ob sie jetzt Pause haben, es ist kurz nach 10. 00 Uhr in der Früh, bekommen wir die Antwort:
„Wir bereiten uns auf das Ende des Ramadans vor.“
Mir fällt auf, dass heute Dienstag ist und das Ende des Fastenmonats am Donnerstag sein wird.

Die Seidenfabrik in Hotan mit 4000 Beschäftigten dürfen wird überhaupt nicht besuchen. „Man erwartet das örtliche Parteikomitee“, lautet die nur einem Sozialismus erfahrenem Menschen einleuchtende Antwort. Wir dürfen aber in das Geschäft gehen. Auf dem kurzen Weg dorthin sehen wir sie aufgereiht, fünf Männern und zwei Frauen stehen vor dem Haupthaus. Das Geschäft der Fabrik ist so, wie man es aus dem Sozialismus gewöhnt ist. Kaum Ware, wenn dann verstaubt. Die Verkäuferin kaut an Bonbons und lässt sich nicht einmal durch Fragen nach dem Preis in ihrem Kauvorgang stören. Welch ein Unterschied zu der Verkaufstätte in dem Dorf Jiyi.

Vielleicht hatte sich dieser Bauer auf dem Denkmal gefragt, wie lange diese staatliche Lenkung gut gehen kann und dies mit Mao bereden wollen. Ein Jahr, zehn oder noch ein halbes Jahrhundert?

Immerhin haben die Chinesen erkannt, dass sie langfristig diesen Vielvölkerstaat nur retten können, wenn sie in die Partei, die Polizei und das in das Militär auch Nichtchinesen aufnehmen. Mit der Aufnahme in die Partei ist es in China wie in allen kommunistischen Staaten, die Partei fordert einen auf. Eigeninitiative unerwünscht. Das gleiche gilt hier aber auch für die Polizei und das Militär. Pünktlich am 18. Geburtstag werden einige junge Männer aufgefordert seinen Wehrdienst zu absolvieren. Es wird als eine Auszeichnung, die praktisch niemand ablehnt. Wehrdienst absolviert zu haben bedeutet, dass man sich künftig keine Sorgen um die Karriere zu machen braucht. In Kerams Familie und bekannten Kreis hat noch niemand jemals Wehrdienst absolviert. Minderheiten, insbesondere Uguren werden nur selten bis nie Soldaten. Sie gelten als politisch unzuverlässig. Aber gerade mit dem Wehrdienst könnte man sie für den gemeinsamen Staat gewinnen. Auch Keram wäre zur Armee gegangen, wenn ihn die Chinesen gewollt hätten. Gerade weil es so ist,
freue ich mich als wir in Shache einen Uguren kennen lernen, der gerade seinen Militärdienst absolviert hat.

Diese Stadt am Rande der Wüste ist - wie sie in China fast inzwischen alle- und was man unter dem Oberbegriff „Modern“ zusammenfassen kann und widerspiegelt den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung Chinas im Zeitalter der Globalisierung. Wenn man durch die Strassen geht versteht man den Inhalt dieses Wortes, sie sind gesichtslos, sie gleichen aneinander und wenn es die chinesischen Überschriften an den Geschäften nicht gebe, könnte man glauben, man sei in New York oder in einem Warschauer Viertel, dessen Strassen der kommunistischen Militärparaden wegen bereits in den 50 ger Jahren so breit ausgebaut worden sind. Doch im Gegensatz zu diesen sind diese Städte so voll Smog, dass man nur einige Stunden am Tag klar sehen kann. Jetzt erst verstehe ich die Fernsehbilder aus China, die Menschen mit Atemmaske zeigen. Auch wir kauften uns für den Preis von 0,10 ¤ entsprechende, merkten aber, dass sie für Brillenträger ungeeignet sind.

Spätestens gegen 17 Uhr hüllen sie sich die Häuser in eine dichte Wolke, wie eine Frau, die nicht möchte, dass man ihre Hässlichkeit noch länger ertragen muss. Die Straßenlaternen werden erst eine Stunde später angezündet und nur dort, wo es die Regierung für notwendig hält. Die alten Teilte der Stadt, die traditionell von den Uguren bewohnt werden, bleiben dann die Nacht über im Dunkeln.

Nur weil wir darauf beharren, dass es hier eine Altstadt gibt, führt uns der Kommilitone unseres Fahrers hin. Der studierte Textilingenieur leitet hier das Stromwerk, mich Grund genug ihn zu fragen, warum die Altstadt gestern Abend unbeleuchtet bleib.
„Kein Geld.“
Ich frage nicht weiter. Ich weiß, dass es damit zu tun hat, dass hier die Uguren leben. Dass er, der selbst ein Ugure ist, mir eine so profane Antwort gibt, sagt alles über diesen Mann, er ist regierungskonform. Meine Vermutung bestätigt sich als er uns Mittag in ein Restaurant führt, hier sitzen fast ausschließlich Polizisten und er scheint sie alle zu kennen.

Seinen Unwillen uns den alten Teil der Stadt zu zeigen, lege mich mir so aus. Er ist froh, aus dieser Armut, dem Dreck draußen zu sein. So fährt er zwar mit uns hin, steigt aber nicht einmal aus und sagt Karem, dass er auf uns aufpassen muss, weil es gefährlich sei. Es ist später Vormittag. Aus den, mit Straßenläden mit Brot, Ost und Gemüse überfüllten Hauptstrassen, verschwinden wir immer tiefer in die Seitengassen. Überall treffen wir auf Menschen, die uns neugierig, aber sehr freundlich betrachten. Plötzlich sind wir an einem Haus ankommen, an dem gerade gearbeitet wird. Die Handwerker bitten uns hinein. Wir staunen über die Mühe und Eifer mit dem das alte Gemäuer wieder rekonstruiert und mit bunten Mustern neu gestrichen wird.
„Das ist Ihre Geschichte Keram und sehen Sie wie schön es doch ist.“
Irgendwann kommt eine alte Frau auf uns zu und erklärt Keram, dass dies eigentlich nicht die alte Stadt sei, es gibt noch einen viel älteren Teil und gar eine Burg.

Als wir die Stadt am Nachmittag verlassen, haben wir mehr gesehen und über die rumreiche Geschichte dieser Stadt und der Region gelernt, als wir erwartet haben und vielleicht mehr als während der ganzen Reise bisher. Wir haben uns in die Zeit hineinversetzt als Shache noch Yarkand hieß die Regierung noch nicht bewusst Chinesen hierher eingesiedelt hatte.
Das war als die Seidenstrasse ein der bedeutendsten Handelswege in der Welt war und die Städte wie Yarkand durch den Reichtum der ihnen der Handel in ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Blüte. Hier ist das Grab der Königin von Yarkard Aman Isa Khan, die im 16. Jahrhundert, die mit ihren Kompositionen und ihrer Dichtung bis heute zu den bedeutendsten Künstlern der muslimischen Welt gehört. Ein Beweis, dass der Islam die Frauenrechte damals mehr achtete als heute? Jedenfalls könnte man sie als ein positives Beispiel für die heutige Diskussion um Frauenrechte nennen.
Während ich das große Tor vor der Moschee betrachte stelle ich fest: “ Man müsste darüber einen Film drehen, einen Abenteuerfilm.“
„Ist schon gemacht worden, da hat man dieses Tor gebaut, das ist nämlich erst ein paar Jahre alt.“
„Na und?“
„Es war ein ugurischer Film, er wurde nicht einmal ins Chinesische übersetzt.“
Es überrascht mich, weil es die chinesische Regierung war, die erst vor einigen Jahren den Friedhof der Könige von Yarkand und die Moschee renovieren ließ. Mir wird klar, dass es etwas anderes ist, Vorort einen Friedhof und eine Moschee zu renovieren als einen Film im staatlichen Fernsehen auszustrahlen. Trotz zahlenmäßig großen Bevölkerungsanteil an Chinesen in dieser Stadt, weiß die chinesische Bevölkerung wohl nicht viel von Shache, die Stadt ist weit weg und warum sollte man die Chinesen über die ugurischen Könige von Yarkand informieren? Man müsste sich dann unangenehmen Fragen stellen und auch begründen, warum chinesische Soldaten dort Kasernen haben. Keine staatstragede Nation der Welt würde einen Film über die glorreiche Vergangenheit einer von ihr - in welcher Weise auch immer - unterdrückten Minderheit im staatlichen Fernsehen ausstrahlen.

Man kann die Bevölkerung unterdrücken, ihr ihre Kultur und damit Identität nehmen, man kann ihnen auch die Landschaft nehmen in dem man sie nicht im ökologischen Sinne pflegt. Die Wüste Takliman hat ein solches Schicksal erfahren. Keiner weiß genau wie lange und wie viele und vor allem wo genau hier die chinesischen Atomversuche durchgeführt werden. Vielleicht ist es besser so, man muss darüber nicht nachdenken, als Fremder hier erfährt man sowieso nichts darüber. Doch auch im fernen Turpan sinkt der Grundwasserspiegel.

Wie verheerend die ökologische Situation sein muss, merken wir während unserer Fahrt auf der längsten Wüsten- Autobahn der Welt. Sie beträgt fast 8oo km von Minfeng bis Luntai. Fast in der Mitte zwischen den beiden Orten stehen plötzlich Strommaste, sie wirken hier unpassend. Kurz darauf sind wir in einer Wüstenortschaft angekommen, die eine hervorragende Kulisse für einen China - Western geben würde, denn hier können wir nur Chinesen sehen. Der Ort besteht aus Wohnwagen, die Armut der hier lebenden Menschen ist sichtbar. Trotzdem sind sie wohl hierher gegangen, weil es anderswo noch schlimmer war als hier. In einem Wohnwagen ist eine Autowerkstatt untergebracht, für Autos wie das unsere, das einen platten Reifen bekommen haben, den die beiden Uguren ein paar Kilometer vorher ausgewechselt haben. Ein junger Chinese misst und ergänzt der Luftdruck, kein reparieren, das folgt später. Kein Geschäft, keine Kneipe. Man muss durchfahren. Dann führen die Strommaste eine Seitenstrasse weiter vor der eine Schranke angebracht ist. Auf der Hauptstrasse hören sie so plötzlich auf, wie sie hier da standen. Der Verkehr besteht fast ausschließlich aus Lastautos, die meist mit Baumwolle voll beladen hin und her fahren. Ich wundere mich, was sonst noch so transportiert wird, Traktoren zum Beispiel.

Zwischendurch erkennt man immer wieder Hausruinen, ohne die leiseste Ahnung wie alt sie sein können. Wie sah die Wüste aus, als Yarkard seine Blütezeit hatte? Wahrscheinlich war sie nicht so mächtig das heißt, wohl kleiner, die Baumreste sind zum Teil so dicht, dass man unschwer erkennt, früher muss hier ein Wald gewesen sein.

Die kleinen kaum 2o Zentimeter Hohen Pflänzchen, sind ein Bepflanzungsprojekt,
dass die chinesische Regierung seit einigen Jahren entlang der Wüsten-Autobahn durchführt. Angesichts der bereist erfolgte Schäden wirken sie mehr als lächerlich und ich frage mich, ob es ihnen angesichts des atomverseuchten Bodens überhaupt jemals gelingt die Höhe der abgestorbenen Bäume zu erreichen

Die Globalisierung lässt sich nicht aufhalten, man merkt den westlichen Einfluss in den Städten, auf ihren Strassen, an den Autos und den Kleidern der Menschen. Das einige, was der Staat fest im Griff hat, sind die Medien. Auf dem Territorium des Staates der Volksrepublik China kann man nur das staatliche Fernsehen empfangen, einmal am Tag zur späten Stunde, werden die offiziellen Nachrichten auf Englisch vorgelesen. Um die Rechte der Minderheiten zu befrieden, wird auch einige Stunden in ihren Sprachen gesendet, natürlich auch in Ugurisch. Die fünfzigjährige Zugehörigkeit zu China ist natürlich auch für das Fernsehen ein guter Anlass, nicht nur die offiziellen Staatsfeiern zu übertragen, sondern an mehreren Tagen hintereinender Extrasendungen über das blühende Leben in dieser Region zu zeigen, das die Bewohner der kommunistischen Staatsführung in Peking verdankt.
Das Glück wird wie im wahren Leben vorgeführt: In Form einer vierköpfigen Familie, die entspannt in einem neuen Jeep auf der Autobahn von Urumci nach Turpan fährt. Dort tanzen und singen die Menschen bei der Weinernte. Überhaupt wird viel gesungen und getanzt. Interessant ist die Modeschau, wie überall in der westlichen Welt sind die Modells schlank, langbeinig und haben lange Haare. Sie tragen lange Seidenkleider mit dem man weder bei den Salzburger noch bei den Bayreuther Festspielen oder gar in der Metropolitenopera durchfallen würde. Im Gegenteil. Während ich die Bilder betrachte verschiebe ich sie in meinen Gedanken auf das Dorf, in dem Keram wohnt. Welch ein Widerspruch! Welche Macht der Propaganda. Sie haben dazu gelernt, die Machthaber in Peking, nicht mehr mit dem Maolook, ganz im Sinne der kapitalistischen Werbung versuchen sie für den kommunistischen Staat zu werben.

Kein historischer Rückblick, aus dem hervorgehen würde, wie 1955 diese Region zu China kam. Vorgegangen, wie eigentlich schon immer in dieser Region - chaotische und mysteriöse Verhältnisse, wie viel Wahrheit man diesem oder jenem Ereignis zumessen kann, lässt sich nur schwer sagen. Denn wie so oft in der Geschichte, für alles und nichts gibt es Beweise.
So dafür, dass in dem Durcheinender, das hier in der Mitte des 20 Jahrhundert herrschte, wurde mit Stalins Unterstützung versucht, einen eigenen islamischen kommunistischen Staat aus Uguren, Kazachen und Mongolen zu gründen. An der Spitze der Bewegung, die man auch Rebellion nennen könnte stand der Kazache Osman. Nach fünf Jahren Kampfe war man am Ziel, der Staat wurde ausgerufen und hieß Turkestanische Republik. Das passte weder Chiang Kaischeck noch Mao se thung. Der erste versprach echte Autonomie, wenn sich die Republik auflöst und ihm als Provinz unterstellt, der andere bat 1949 die prominentsten Vertreter der Republik zu Gesprächen nach Peking. Aus ungeklärten Gründen stürzte das Flugzeug ab. Warum der Kazache Osman nicht mit am Bord war, ist unbekannt, er wurde 1951 hingerichtet. Mit ihm verlor die Region ihre Leitfigur.

Dass Peking noch ganze vier Jahre abgewartet hatte, bis er die strategisch wichtige Region in die Volksrepublik eingliederte, kann nur als ein Zeichen gedeutet werden, wie unsicher man in Peking in Bezug auf die Reaktion aus Moskau sein wird. Warum reagierte 1949 Stalin und auch in den folgenden Jahren nicht? Waren er und seine Leute zu sehr mit den Prozessen gegen ungeliebte Genossen in den neu gewonnenen Staaten wie der Tschechoslowakei beansprucht? Nach seinem Tod 1953 war man in Moskau damit beschäftig seine Regierungszeit aufzuarbeiten, um sie dann 1956 auf dem Parteitag der kommunistischen Partei als den Stalinismus zu verurteilen. Durch das Nichteingreifen verlor das mächtige Bruderland UdSSR einen strategischen Vorposten in Asien. Wäre diese Region eine Republik im Rahmen der UdSSR geworden, wäre es den Uguren wahrscheinlich nicht besser ergangen als unter den Chinesen.
„Wir hätten jetzt unsere Freiheit“, erwidert Keram.
Ich könnte ihn korrigieren und ihm sagen: „Dann gebe es einen uguruschen Staat.“ Aber wie frei wären dann die Anderen? Die Chinesen würden eine Minderheit und wahrscheinlich würden sie sich von den Uguren unterdrückt fühlen, berechtigt oder nicht. Das Gefühlt wäre da, das weiß man aus der Praxis in neu entstandenen Nationalstaaten und sozilogischen Untersuchungen in Europa und warum soll es hier anders sein? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es falsch, aber warum soll ich mit Keram diese hypothetische Frage erörtern?

Und doch wäre es interessant zu sehen, wie sich eine Region verändert, wenn sie eben nicht eine autonome Region sondern ein selbständiger Staat ist. Was die Fläche und die
Bevölkerungszahl betrifft, könnte sie es problemlos. Mit über 40 Millionen Einwohnern würde sie z.B. in Europa zu den großen Staaten wie Polen gehören. Würde sich der Islam auch hier durchsetzten und fundamentalistisch werden, wie zum Beispiel Iran nach dem Abdanken des Schahs? Ich kann es mir gut vorstellen, obwohl Keram immer wieder versichert, ihr Glaube ist nicht radikal. Aber in 50 Jahren der Herrschaft Chinas über dieses Gebiet hat sich genügend Ablehnung ja Aversion gegen alles Chinesische angestaut. Es gibt Kleinigkeiten, die einem zeigen, wie tief die Gräben zwischen den einzelnen Nationen sind. So essen Uguren grundsätzlich in chinesischen Restaurants, bevor sie dies tun, hungern sie lieber. Sie kaufen nur bei Uguren und dass Karems Vater sein neues Haus durch eine chinesische Firma bauen ließ, weil es billiger war, hat ihm Keram sehr übel genommen. Es gibt ernste Anlasse, die die Uguren den Chinesen verübeln und wohl nie werden vergessen können, das bewusste Vernichten von allem, was an die ugurische Geschichte und damit auch zum großen Teil auch an den Islam. Zwar geschah dies vor allem während der Kulturrevolution und mit ihr hat die eigene chinesische Regierung abgerechnet, aber das reicht wohl nicht aus. Eine Wiedergutmachung ist letztlich nicht möglich, zerstört ist zerstört. Dass die Moscheen zum Teil wieder aufgebaut und wieder zugänglich sind, kann als ein positives Zeichen aus Peking gedeutet werden. Dessen sind sich die Chinesen auch bewusst und so stehen vor jeder großen Moschee- wie in Kasghar- große Tafeln auf denen man nachlesen kann, dass diese Moschee zeigt wie friedlich die einzelnen Nationen Chinas zusammen leben. Es fällt auf, dass ausgerechnet dieser Text auch in Englisch vorhanden ist, wo doch sonst nicht einmal die Wegweisschilder auf der Autobahn in lateinischer Schrift existieren.

Vor allem ist es wohl die Lebensweise, in der sch die beiden Nationen unterscheiden, die der Uguren ist natürlich durch den Islam geprägt. Die Frauen sind Menschen zweiter Klasse, keiner spricht es aus, aber man merkt es im täglichen Leben, an Kleinigkeiten. Werner wird zuerst die Hand gegeben, ihm wird die Tür offen gehalten, er bekommt zuerst das Essen.
Wenn wir bei Keram zu Hause sind, tritt die Mutter nur in Erscheinung um das Essen auf den Tisch zu bringen, dann verschwindet sie wieder. Wie in arabischen Ländern üblich, ist sie nicht mit uns, obwohl auch die jüngeren Söhne mit am Tisch sitzen.

Ob die Situation der Frauen aber in einer chinesischen Familie besser ist, kann ich nicht beurteilen. In der Öffentlichkeit geben sich aber chinesische Frauen offener, man könnte ihr Verhalten mit dem der Frauen in Europa vergleichen. Dass es einen gewissen Unterschied zwischen dem Verhalten der ugurischen und der chinesischen Frauen gibt, der wohl religiöse Ursachen hat, könnte aus der Beobachtung hergeleitet werden, dass uns in den Hotels nur chinesische Prostituierte begegnet sind.

Das Hotel in Korla, in dem wir zwei Zimmer mieteten, stand in keinem Reiseführer. Es stand auf einem großen Platz, vor dem Hotel wurde Ost, Gemüse aber auch gekochtes Essen auf Karren verkauft. Das Viersterne Hotel war nicht völlig, aber recht neu. Mir fiel auf, dass man zum ersten Mal während unserer Reise unseren Pass hat nicht sehen und unsere Personalien hat in eine List, die im Internet abrufbar war und aus der man sehen konnte, wo wir bisher waren, eintragen wollen. Ich erinnerte mich an einige Aufregungen in früheren Hotels, die es gab, weil wir dort die ersten europäischen Gäste waren und die Mädchen an der Anmeldung ganz aufgeregt waren, den Namen falsch einzutragen. Dies gelang ihnen durch die regelmäßige Eintragung des Vornamens statt Nachnamens, wodurch wir in der im Computer geführten Liste nicht auffindbar waren.
„Es ist nicht mein Problem“, sagte ich mir, obwohl ich ein wenig Angst bekam, dass wir dann beim Verlassen der Volksrepublik China noch Probleme bekommen können.

Als ich nach einem lang andauerndem Krach in einem der Zimmer und dann auf dem Gang dann, während dieser Reise schon zum zweiten Mal, nachts in meinem langen Nachthemd vor der Tür vor fünf Männern und zwei jungen Frauen im Gang stand, wusste ich was es für ein Hotel ist, in dem wir übernachteten. Die Männer sahen wie Zuhälter aus, die beiden sehr jungen Frauen wie Nutten, alle waren Chinesen. Als sie mich sahen, verschwanden sie alle in einem Zimmer.
“Wahrscheinlich können sie sich ein zweites Zimmer nicht leisten“, meinte ironisch Werner.
„Hast du das auch das Weinen gehört?“
„Ja, es klang wie das eines kleinen Kindes.“
„Das dachte ich auch, es wurde immer lauter, es war aber ein Mädchen. Jedenfalls hat sie erbärmlich geweint.“ Wenn ich in Europa wäre, würde ich jetzt die Polizei rufen, aber hier? Ich kann nur darüber nachdenken, was man mit ihr gemacht hat und hoffen, dass sie irgendwie von diesen Männern wegkommt. Als wir zum Frühstück kommen, ist niemand von den Betroffenen zu sehen.

In dieser Männerwelt haben auch studierte Frauen nichts zu sagen und da Keram nicht so schnell heiraten will, wird für die junge Ärztin womöglich ein anderer Bräutigam gesucht.
Jetzt tanzen sie ausgelassen und fröhlich zusammen und es ist schön sie anzusehen. Auf der Bühne steht eine Ugurin, die uns auf Deutsch begrüßt, dann singt sie ein Lied in Ugurisch.
Ich schaue auf die Uhr, es ist kurz vor Mitternacht. Der Freitagabend, der Abend nach Ramadan Ende geht zu Ende. Ich sehe zur Kerams Schwester, bereits vor zwei Stunden hätte sie in ihrem Internat sein müssen und kontrollieren, ob alle Mädchen in ihren Betten sind. Sie ist aber hier geblieben, weil es die Familie so wollte. Sie ist also stärker als die Partei, das gibt mir Hoffnung für dieses Mädchen und diese Region.


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Tag der Veröffentlichung: 13.04.2010

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