Als unser Wecker heute um 6 Uhr klingelt – genauer gesagt, mein iPhone „bellt“ -,beginnt draußen ganz sanft der Tag sich die Augen zu reiben, bevor er sein Licht anzündet.
Ich mag den warmen Schein meiner Nachttischlampe, der das volle silbergraue Haar von Manfred jetzt hell aufleuchten lässt. Er dreht sich genüsslich noch einmal um in seinem Bett und strahlt mich an: „Heute hab ich keinerlei Termine – mein Urologe hat Urlaub, der Seniorenbeirat trifft sich diesmal erst am 20sten, und die Apotheke schickt mir meine Pillen zu.“ „Und deine Seniorensportgruppe?“, frage ich ungläubig nach. „Die wollen mich nicht mehr haben, weil ich denen zu gesund bin.- Und der Zahnarzt soll mal mit seinem Enkel Schach spielen statt mit mir, sonst versucht er mir bloß wieder diese „einmalig schönen Dritten“ aufzuschwatzen, die nicht mal unser Bello „zum Fressen gern haben“ könnte. Meine Beißerchen sind noch gesund, und unser Bankkonto soll auch nicht die Schwindsucht kriegen.“
Mit diesem Mann bin ich nun tatsächlich fast ein halbes Jahrhundert verheiratet, und da freue ich mich auf ein gemütliches Frühstück mit ihm und muss immer noch überlegen, wie ich ihn bei solchem Wetter – dicke Regentropfen peitscht der Wind gerade an die Fensterscheiben – zum Brötchen-Holen überreden kann. Vorsichtig pirsche ich mich an das Thema heran: „Du isst doch auch gerne diesen Mohnzopf, und heute kommt die junge rothaarige Verkäuferin vom Stadtbäcker aus dem Urlaub – du weißt schon, die sich für dich immer nach den knusprigsten Mehrkornbrötchen bis zum untersten Blech bückt.“ Gleich setzt Manfred den linken Fuß aus dem Bett, und als der rechte suchend nach dem Hausschuh tastet, fragt er, hellhörig geworden, mich lässig, ob ich heute Appetit auf Schusterjungen oder eher auf Rosenbrötchen habe. „Das mit dem Schusterjungen hebe ich mir für Samstag auf, da machst du ja wieder deine Radtour - aber kannst mich im Vorbeigehen schon mal für Freitag bei meinem Friseur anmelden, zur Föhnwelle mit lila Strähnchen, die mag der smarte Bengel vom Meister Stiefelknecht.“ – Laut auflachend geht Manfred ins Bad, um später perfekt gestylt doch tatsächlich auf sein Fahrrad zu steigen. Imponiergehabe!, denke ich mir schmunzelnd, er hätte bei dem Wetter ja auch das Auto nehmen können. Als pudelnasser Strahlemann schaut er nach einer halben Stunde wieder in die Küche und schwärmt begeistert: „Das glaubst du nicht – das Geschäft gegenüber, du weißt schon, das „Strandgeflüster“, heißt ab heute „Pfützenpatscher“, und das Schaufenster ist natürlich voll mit Regenschirmen, Pelerinen, Mützen, Schals und Tempo-Päckchen, Wärmflaschen mit und ohne hochprozentigen Inhalt, Heizdecken und Teesorten en gros, aber neben den knallbunten Gummistiefeln für Kinder und Erwachsene bietet Frau Wetterfühlig jetzt etwas ganz Tolles an: ab einem Einkaufswert von 50 Euro kriegt jeder Kunde bei ihr ein 15-minütiges warmes Fußbad mit Massage, dazu eine Tasse Tee nach eigener Wahl, und dabei sitzt er oder sie im Schaufenster im beheizten Strandkorb und schaut sich gemütlich das Sch…muddelwetter an. Das gönn‘ ich mir Samstag nach der Radtour mit Michi – du brauchst doch sowieso ein neues Rainbow-Outfit, oder wie der Franzose sagt, wenn er Englisch kann, und eine große Buddel Rum für unseren Grog bring‘ ich auch gleich mit.“
„Hast du die Post aus dem Kasten genommen?“, unterbreche ich, um Ablenkung bemüht, seine euphorischen Loblieder auf die Fantasie der Ladeninhaberin und denke mir noch, mein Charmeur ließe sich ja dann vielleicht am liebsten nicht nur die Füße massieren. - „Heute müsste doch das Sonderangebot vom „Brille gut – alles gut“- Laden da sein, und mein altes Nasenfahrrad hat gestern ziemlich gelitten, als unser Tanzlehrer mir immer so anziehend nahe kam beim Tango.“ Bei duftendem Kaffee, Rosenbrötchen und Mohnzopf genießen wir dann gutgelaunt den Start in diesen Mittwoch und stellen wieder einmal fest, dass die „Reife Seite“ in unserem seit über 40 Jahren abonnierten Leib- und Magenblatt lustiger zu lesen ist als das langweilige „WOW!“-Blättchen für die Generation unserer Enkel - vielleicht ja als Folge davon, dass dessen Redaktionsmitglieder seit 10 Jahren ihre Schreibwut dort austoben, während die Namen der Macher unserer Seite eben ungefähr alle 3 Jahre peu à peu in den Anzeigen mit den schwarzen Rändern zu finden sind und sich das Team damit zwangsläufig immer wieder mal verjüngt, was frischen Wind in seine Ideen zu bringen scheint.
„Du, schau mal hier, hast du das gesehen? Ist das Foto hier nicht einmalig schön?“ - Manfred sitzt mir stumm gegenüber, ist scheinbar ebenso fasziniert von dem Paar in unserem Alter, das in Halbseitengröße auf dem Marktplatz unterm Regenschirm einen innigen Kuss geradezu zelebriert. Ach nein, kann er ja gar nicht – was ist denn da so Spannendes auf der letzten Seite zu sehen? Klarer Fall: die Herbstmode wird vorgestellt, und irgend so ein unerfahrener Modefuzzi in Neubrandenburg hatte die Idee, seine Models eben ausschließlich mit Mützen, Schals, Handschuhen und buntlackierten Gummistiefeln bekleidet über den Laufsteg zu schicken. Na ja, im Marktplatz-Center hätten sie Eintrittskarten verkaufen können, und der Mann, der da die modischen Kreationen überhaupt wahrnimmt, muss wohl erst geboren werden. Ist ja wohl eher ein Foto für den „Playboy“.
Während wir den Tisch abräumen, lecken die Strahlen der Morgensonne bereits emsig die neuen Granitplatten vor unserem Haus trocken. Der Wind ist sehr frisch geworden und treibt nicht nur die Blätter der Eichen am Parkeingang in wildem Tanz vor sich her. Als wir zum Spaziergang den Gehweg betreten, sehen wir gerade noch, wie ein junger Vater die Beine in die Hand nimmt, um den überdimensional großen, aber unglaublich schön bemalten Drachen einzufangen, dessen Schnur der kleinen Hand seines Sohnes wohl soeben entglitten ist. In diesem Moment sprintet auch mein Mann pfeilschnell nach vorn und nimmt den etwa 5-jährigen Blondschopf auf den Arm, damit er nicht von dem Lieferwagen erfasst wird, der etwas zu schnell aus der nächsten Toreinfahrt kommt. Als er den Jungen wieder mit den Gummistiefeln auf den Boden stellt, bekommt Manfred erst mal einen dicken Schmatz von mir auf die Wange – mir war das Herz fast stehengeblieben aus Angst um den Knirps, und die Reaktionsgeschwindigkeit von meinem Schatz hatte mich schwer beeindruckt. Seelenruhig fragt ihn das kleine Kerlchen:“Bist du auch ein Markentoni?“
Verunsichert sehen wir uns an und fragen wie aus einem Munde zurück, was denn ein Markentoni sei. „Na, mein Papa ist ein Markentoni, der rennt immer mit den Leuten aus seiner Laufgruppe nach der Arbeit, sooo lange, bis die Mama ihn anruft und fragt, ob der Park heute wieder um 3 Bier länger geworden ist - oder ob er den Weg nach Hause vergessen hat.“ – „Ja“, strahlt Manfred ihn jetzt an, „ich bin auch so einer“, und er präsentiert dem Kleinen freudig seine Medaille vom Tokio-Marathon vor zwei Wochen, die er mitgenommen hatte, um sie beim Schachspielen seinem ehemaligen Kollegen zu zeigen. „Hierfür bin ich in Japan fast vier Stunden gerannt.“
Auf dem Weg durch den Park kommt uns der junge Marathonläufer auch schon mit dem riesigen Windspielzeug entgegen, heilfroh, seinen Nachwuchs in unserer Mitte zu sehen. Entschuldigend meint er, er habe 17 Stunden an dem Drachen gebaut, und bedankt sich dann sehr höflich bei uns dafür, dass wir den „Schutzengel-Dienst“ für seinen Jonas übernommen hatten. Und zu diesem gewandt, meint er, das solle aber ein „Geheimnis zwischen Männern“ bleiben, das die Mama nicht erfahren muss. Hand in Hand sehen wir die beiden dann zum „Drachenberg“ ziehen.
Das Laub raschelt unter den Füßen, und links neben unserem Weg bücke ich mich erstaunt nach etwas Dunklem, Glänzendem. Erschrocken ziehe ich meine Hand zurück, die gerade etwas Feuchtkaltes berührt hatte. Aus dem Laubhaufen sieht uns mit lackschwarzen Augen ein kleiner Igel an. Manfred nimmt ihn, eingehüllt in Laub, vorsichtig hoch, und das untergewichtige Tierchen sitzt ganz still in seiner Hand. „Und was machen wir jetzt mit dem kleinen Schnuffelchen?“, fragt er mich – und weiß ganz genau, dass er zum Schach verabredet ist und meine Freundin mich in einer halben Stunde im Modehaus am Ende des Parks erwartet, wo wir gemeinsam mein Kleid für unsere Goldene Hochzeit nächsten Monat aussuchen wollen. Dafür, dass sie diese große Verantwortung übernimmt, musste ich ihr versprechen, sie kurz vor Weihnachten noch 4 Tage auf ihrer per Kreuzworträtsel gewonnenen Wellness-Reise zu begleiten, die ihr Paul als „Weiberkram“ bezeichnet. Dabei kennt sie seit Jahren meine Abneigung gegen Reisen in der Adventszeit, weil ich in diesen wundervollen Wochen einfach am liebsten zu Hause die geschmückten Räume und unsere Abende am Kamin genieße. - Also wohin nun mit dem kleinen Stachel-Mäxchen? Manfred setzt das Leichtgewicht gerade vorsichtig samt Laub in seine Mütze und überreicht es mir mit dem Hinweis, dass die Igelpension, von deren Eröffnung wir vor ein paar Wochen in unserer Tageszeitung gelesen hatten, gleich in der Straße am Ende des Parks sein müsste. Dabei drückt er mir einen Kuss auf die Wange und verabschiedet sich mit Unschuldsmiene und einem „Schnabbelditöh, mein Schatz, bin pünktlich um eins zum Essen zu Hause“.
Jetzt liegt es an mir, die Beine in die Hand zu nehmen in Richtung Igelpension, und dann bin ich froh, das hilflose Bündel in kundige Hände geben zu können. Schön, dass es Menschen gibt, deren Nächstenliebe auch die Tiere einschließt, geht es mir durch den Kopf, als ich dann zum Modehaus spurte. Wieder einmal spüre ich auf diesen wohl noch 300 Metern mit Genugtuung, dass mein Geburtsdatum zwar im Personalausweis steht, ich aber kaum Probleme habe, wenn ich mich mal nicht so ganz „altersgerecht“ benehme. Zehn schöne Wettkampfjahre auf den Laufpisten haben mir als Späteinsteigerin eben zwar jetzt auch Arthrose im Knie, aber in erster Linie viel Bewegungsfreude im Kopf eingebracht. Leute, die hinterm Ofen sitzen und ihre Krankheiten zählen, waren mir schon immer suspekt, und ich hab wenigstens die Chance, meine Post noch in letzter Minute vor der Leerung in den Briefkasten zu versenken, wenn ich mal ein paar Meter renne wie ein Teenie. Maria hält vor dem Eingang vom Modehaus schon Ausschau nach mir und sucht gerade ihr Smartphone in ihrer Handtasche. „Wollte dich eben anrufen, sag mal, hier war doch das phantastische Dunkelblaue im Schaufenster, ob das jetzt schon weg ist?“ – „Ach, lass uns erst mal reingehen, bestimmt haben sie seit letzter Woche noch neue Ware bekommen.“ So schlendern wir durch die Etagen, bis wir in der Damenabteilung die Festmoden finden. Eine freundliche Verkäuferin bemerkt unsere suchenden Blicke. Für die große Jubiläumsfeier empfiehlt sie mir schließlich mit den Worten „für eines der wenigen Feste, die wohl absolut einmalig im Leben sind, muss es ja ein einmalig schönes Kleid sein“ ein Einzelstück für 1289 Euro. Ich bedanke mich für die gute Beratung und stupse Maria in die Seite: „Sehe ich aus wie Rockefellers Tochter?“ Diesen Einkauf hebe ich mir also für meine Fahrt mit Manfred zum Köln-Marathon auf. In den viereinhalb Stunden, die er dort auf der Rennstrecke sein wird, werde ich dann eben ausnahmsweise mal durch die Boutiquen bummeln und die Rosen für meinen Finisher mal im Vorbeigehen am Bahnhof mitnehmen.
Auf dem Weg nach Hause fegen kräftige Windböen die Blätter von den Parkbäumen.
„Guck mal, ist das süß!“ Verzückt bleibt Maria stehen und beobachtet ein dreifarbiges Glückskätzchen, das emsig dabei ist, mit dem Laub Fangen zu spielen. Doch nach einem kurzen Blick auf die Uhr verabschiedet sie sich, um bei ebay noch rechtzeitig den Schaukelstuhl als Geburtstagsgeschenk für ihren Paul ersteigern zu können. „Das hätte ich fast vergessen“, erklärt sie mir hektisch und ist schon um die Ecke verschwunden.
Mich zieht es jetzt in unsere warme Küche, und wenn der Linseneintopf auch schon vorgekocht ist –den Schokopudding mit Sahne-Eierlikör muss ich ja noch machen. Als ich beim Tischdecken bin, dreht sich ein Schlüssel im Schloss unserer Haustür, und wenig später schaut mein Schachspieler etwas unzufrieden zu mir herein. „Wieder bloß ein Remis, heute wollte ich gegen Walter endlich mal gewinnen, aber rausgekommen ist doch nur ein Patt“, mault er, allerdings mit schmunzelndem Gesicht. „Dafür gibt es ja jetzt deinen Lieblingseintopf“, kann ich ihn trösten, „und der Nachtisch ist sicher auch etwas für dich.“ Nach dem Essen und unserem traditionell danach getrunkenen „kleinen Schwarzen“ geht Manfred, wie er gerne sagt, „erst mal in die Waagerechte“. Das bedeutet bei ihm, dass er ein Mittagsschläfchen im Liegesessel macht und die Wohnstube sich in eine Oase absoluter Stille zu verwandeln hat, wo selbst das leiseste Umblättern einer Buchseite für ihn mit einer mittleren Katastrophe gleichzusetzen ist.
Weil ich schon vor Jahrzehnten begriffen habe, dass es besser für mich ist, jegliche Art von Kamelen, ja selbst zweibeinige, von dieser Oase fernzuhalten, nehme ich sowohl mein Glas Wasser als auch den Krimi und meine Bibel mit in die zu dieser Stunde sonnendurchflutete Veranda. Hier mache ich es mir so richtig gemütlich, um endlich zu erfahren, ob der Mörder auch diesmal der Gärtner war und welcher Psalm sich am besten eignen würde, um bei unserer Goldenen Trauung das zu beschreiben, was uns so lange als Ehepaar verbunden hat – trotz oder auch wegen diverser „fliegender Fetzen“ in den ersten 30 und zeitweiliger „Funkstille mit Überlänge“ in den folgenden 20 Jahren.
Den unschuldigen Gärtner bitte ich dann später im Geiste um Vergebung, aber der geeignete Psalm erschließt sich mir leider wirklich noch nicht. Aber vielleicht können wir das ja heute bei unserem traditionellen „Mittwoch-Abend am Kamin“ gemeinsam zu Ende denken.
Jetzt schaut mich erst einmal mein Langschläfer nach fast 3 Stunden Mittagsschlaf strahlend vor lauter Vorfreude an: „Kann ich die Schwarzwälder schon aus dem Kühlschrank holen?“ Ja, Backen macht für den „größten Kuchenesser im ganzen Land“ großen Spaß, und den haben wir auch am Kaffeetisch. Unsere Tochter ruft aus Holland an, um uns zu erzählen, dass sie umziehen in ein Dorf. Das Haus haben sie gerade mit ihren beiden Töchtern besichtigt und für wunderschön befunden, und im Wohnzimmer hat dabei die Sonne einen Regenbogen auf das Gesicht der 9-jährigen Carolin gemalt, weil das Licht sich so herrlich brach – und das alles geschah in der Regenboogstraat!
Also freuen wir zwei uns schon auf die Einzugsfeier, rufen noch ein paar Freunde und Verwandte an und bereiten dann unseren „Kamin-Abend“ vor.
Mit Rotwein und Rummy-Steinen und traumhaften Klassik-CDs werden die Stunden vor dem lodernden Feuer einfach wundervoll. Bis Manfred mich plötzlich fragt, wie eigentlich das Insekt heißt, bei dem das Weibchen sein Männchen nach der Paarung verschlingt. Ich erinnere mich nicht wirklich an den Namen, aber ich beende das Thema ganz einfach mit der beruhigenden Feststellung: „Na, ist auch nicht so wichtig, kannst ganz ruhig sein: bis zum nächsten Mal hättest du ja jetzt doch noch `ne ganze Menge Lebenszeit.“ Wie schön, dass auch bei uns endlich Herbst ist!
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011
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