1981, Schillingsfürst
Marie saß am Fenster ihres Zimmers und verfolgte argwöhnisch die Vorgänge im Garten des Nachbarhauses. Seit dem schrecklichen Unfall vor über einem Jahr, stand das Haus leer. Es schien, als starre es Marie aus traurigen Fensteraugen an und Marie starrte zurück. Sie vermisste ihre beste Freundin Jessy. Seit sie denken konnte, waren sie zusammen gewesen, hatten Abenteuer erlebt, Streiche gespielt, sich Geheimnisse erzählt und Kämpfe mit den Jungs aus der Ortschaft ausgetragen. Doch das letzte Abenteuer hatten sie nicht gemeinsam durchgestanden, nur Marie schaffte es aus dem eingebrochenen Eis des kleinen Weihers. Nach einer schweren Lungenentzündung hatte Marie ihr Zimmer nur noch unter Zwang verlassen. Auch heute war ihre Mutter, bei dem Versuch sie aus dem Haus zu locken, gescheitert. Mit ihren sieben Jahren Lebenserfahrung hatte Marie bereits genug von der Welt. Doch seit wenigen Tagen wurde Maries stiller Blickwechsel mit dem Haus durch rege Aktivität gestört. Unter ihrer missmutigen Beobachtung war eine neue Familie in Jennys ehemaliges Haus gezogen. Ein Junge in ihrem Alter trieb sich ständig unter der alten Ulme herum. Ihrer Ulme. Er war stets allein und schleppte einen riesigen, alten Koffer mit sich. Nachdem sich Marie zwei Tage lang um Desinteresse bemüht hatte, gab sie sich nun geschlagen und verfolgte jede seiner Bewegungen aufmerksam. Mit dem Rücken an den Stamm des alten Baumes gelehnt, öffnete er seinen Koffer und hantierte vorsichtig darin herum. Immer wieder zog er einen Gegenstand daraus hervor, schien mit ihm zu reden und ihn genauestens zu betrachten. Doch Marie war zu weit entfernt um den mysteriösen Inhalt des Gepäckstücks erkennen zu können.
Nach einigen heftigen inneren Streitgesprächen mit ihrer Neugier, war Marie es plötzlich Leid immer zu gewinnen. >> Der Klüger gibt nach<< hatte Jenny ihr stets gesagt, wenn sie Maries aufbrausendem Temperament den Vortritt ließ.
Mit trotzigem Elan schwang sich Marie von der Fensterbank, betrachtete sich kurz im Spiegel, zog dann ihre Kampfausrüstung, bestehend aus einer durchlöcherten Jeans und einem zerfledderten Sweatshirt, an und flocht sich strenge Guerillazöpfe. So ausgestattet trabte sie an ihrer völlig überraschten Mutter in der Küche vorbei, warf ihr ein >> ich bin mal draußen << zu und schloss energisch die Tür hinter sich. Die kurze Unsicherheit, die sie befiel, kämpfte sie sofort nieder, setzte eine böse Miene auf und stapfte Richtung Nachbarsgarten. Dieser Junge hatte kein Recht es sich unter ihrer Ulme bequem zu machen, schon gar nicht auf diese geheimnisvolle Art und Weise!
Derart in Rage versetzt zielte sie geräuschvoll auf den Störenfried zu, der sie keines Blickes würdigte. Selbst als sie mit verschränkten Armen direkt vor ihm stehen blieb, sah er nicht einmal auf. Maries gereiztes Gemüt klirrte innerlich vor Empörung, ob dieser Schmähung.
>> Was zum Geier treibst du da eigentlich? <<, pöbelte sie ihn hilflos an.
>> Ich fahre durch Indien, mit dem Orientexpress. <<, erwiderte er ohne auch nur andeutungsweise den Kopf zu heben.
Marie starrte den Jungen mit offnem Mund an. Was hatte sie eigentlich erwartet? War ja klar das ein Irrer ihren Baum besetzt hatte!
>> Was?? <<
>> Siehst du, da sitze ich, wenn du magst, kannst du den Platz neben mir haben. <<, antwortete er lakonisch und deutete auf irgendwas hinter dem Deckel seines suspekten Koffers.
Marie riss sich zusammen, schielte darüber hinweg und erkannte stirnrunzelnd eine winzige Lokomotive.
>> Eine dämliche Spielzeugbahn? <<, motzte sie abfällig.
Jetzt endlich hob er den Kopf und sah sie an. Einen Moment lang dachte sie, er würde aufspringen und sie schubsen oder an den Zöpfen ziehen. Aber er lächelte sie einfach nur strahlend aus himmelblauen Augen an und brachte sie damit schlagartig aus dem Mädchen-ärgert-Jungen Konzept.
>> Es ist eine detailgetreue CIWL aus dem Jahr 1890, das ist echt alt, weißt du? <<
Unschlüssig starrte Marie auf den blonden Schopf hinunter. Sie könnte einfach weggehen. Ihre Fensterbank würde sie freudig empfangen und sie hätte wieder ihre Ruhe, nachdem sie nun wusste, was in diesem blöden Koffer war, oder?
Aufseufzend plumpste sie ins Gras neben dem Jungen.
>> Also gut, ich bin Marie. Was ist ein CIWL und wie heißt du überhaupt? <<
>> Mein Name ist Gregor Denzl, aber du kannst mich Greg nennen. <<
Er lächelte verschmitzt und Marie konnte nicht anders, sie lächelte zurück.
2002, Rötz
Marie hastete durch den grauen Regenschleier an dem akurat angelegten Golfplatz vorbei. Ein verlassenes Golfcart stand weit draußen und sie fragte sich, ob der regenresistente Golfspieler sich so einsam fühlte wie sie. Kopfschüttelnd folgte sie dem Kiesweg, sie durfte jetzt nicht schwach werden. Sie brauchte ihre Kräfte noch um ihr Ziel zu erreichen.
Kurz warf sie einen Blick zurück und erkannte ihr liegengebliebenes Auto nur noch schemenhaft. Noch wenige Kilometer und sie wäre in ihrem neuen Zuhause angekommen, aber das wäre zu einfach gewesen.
Als sie die letzte Biegung des Weges nahm, blieb sie verdutzt stehen. Marie kniff die Augen zusammen und trat langsam an das rot-schwarze Ungetüm heran. Manche würden auch Schönheit sagen oder Bubikopf. Eine alte Dampflokomotive aus der Baureihe 64. Prächtig anzusehen, stand sie hier auf nur wenigen Metern Schienen mitten zwischen Laubbäumen, mit einem verträumten Ausblick auf einen See. Marie hatte sie sofort erkannt. In Kindheitstagen war es ihr Lieblingsspiel gewesen, Loks zu klassifizieren und natürlich auch die Modelle zu sammeln. Mit Gregor. Bis er nach fünf Jahren inniger Freundschaft mit seinen Eltern wegziehen musste. Es hatte ihr damals ihr kleines Kinderherz gebrochen.
Unsicher spähte sie durch den Regen und erkannte ein Stück weiter zwei Gebäude. Das erste war der kleine, ehemalige Bahnhof, umgebaut in ein Museum. Die Tür war verschlossen. Das zweite Gebäude entpuppte sich als ihr Ziel. Ein Gasthof. Hier würde sie hoffentlich eine warme Mahlzeit bekommen und einen Tipp für die nächstgelegene Autowerkstatt. Als sie eintrat, schlug ihr eine Duftmischung aus Petersilie und Bier entgegen. Es fühlte sich gut an. Zögernd nahm sie am größten Fenstertisch platz, sie war der einzige Gast und sie konnte dem Panoramaausblick nicht wiederstehen. Der See war durch den starken Regen nur andeutungsweise zu erkennen, aber sollte es aufklaren, wäre der Blick atemberaubend. Die plötzliche Wärme und ihre Müdigkeit halfen ihr, sich etwas zu entspannen. Eigentlich hatte sie keinen Grund derart verängstigt zu reagieren, es war nur eine simple Autopanne. Aber mit ihren Nerven stand es nach den letzten Ereignissen und der langen Fahrt nicht zum Besten.
Wie gereizt durfte man sein, wenn man auf der Flucht war? Auf der Flucht! Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie weglief. Vor einem Jahr war ihr Leben noch perfekt. Sie arbeitete halbtags als Krankenschwester in der örtlichen Klinik, sie hatte ein liebevoll eingerichtetes Haus, einen gut gepflegten Garten, der ihr viel Freude bereitete und sie hatte einen Verlobten, den sie anbetete und liebte. Doch dann geschah das Undenkbare. Ein einziger brutaler Schlag mit der Faust, beförderte sie eine Treppe hinunter, katapultierte sie ins Krankenhaus und in die Realität. Ihr Angebeteter hatte ihr den Kiefer und zwei Halswirbel gebrochen.
Natürlich überschüttete er sie danach mit Blumen und Entschuldigungen, doch vermutlich las er in ihren Augen, dass sie ihn nicht mehr als weißen Ritter sah, sondern als dunkles Monster vor dem man sich in acht nehmen musste. Denn die Sträuße wichen den Drohungen und weiteren Übergriffen. Als sie endlich genesen war und vor dem Scherbenhaufen ihres ehemaligen Lebens stand, wurde ihr klar, dass sie sich hier nicht wieder sicher fühlen konnte. Sie brauchte einen Ortswechsel.
Die Bedienung kam und gab Marie, nach einigen verständnisvollen Blicken, eine Telefonnummer für eine zuverlässige Werkstatt. Der Mechaniker bescheinigte ihr gute zwei Stunden Wartezeit, bis der Abschleppwagen wieder zur Verfügung stand. Ein hervorragendes Essen und eine Stunde später, konnte sie ihre übliche Unruhe jedoch nicht mehr unterdrücken und verließ den Gasthof Richtung See. Wie erwartet lag er nun idyllisch da und spiegelte malerisch die aufreißende Wolkendecke wider. Die Einsamkeit wurde Marie in solchen Momenten immer besonders bewusst und so zog sie die Schultern hoch und setzte sich in Bewegung. Als sie wieder an dem Museum vorbei schlendern wollte, bemerkte sie die, nun offen stehende, Tür. Sie hatte noch eine Stunde Zeit und sie wollte nicht ins Grübeln verfallen, daher fasste sie sich ein Herz und ging hinein. Die Beleuchtung war eher spärlich, es roch holzig und muffig, aber nicht unangenehm. Kein Mensch war zu sehen und so begab sie sich unschlüssig auf die nächstbeste Vitrine zu. Die Geschichte des alten Bahnhofs wurde dokumentiert, mit Bildern und alten Eisenbahnmodellen. Zerstreut blieb sie vor einer weiteren Vitrine stehen. Der Gegenstand darin kam ihr seltsam deplaziert vor und irgendwie...bekannt. Aus dem Nebenraum waren gedämpfte Schritte zu hören, die langsam näher kamen und Marie versuchte sich wieder auf die Vitrine zu konzentrieren. Ein alter Koffer auf dessen abgewetztem Griff Initialen eingeritzt waren. M. und G.
>> Hallo << ertönte es hinter ihr, während sie sich erschrocken umwand >> Mein Name ist Gregor Denzl, ich führe sie heute durch unser kleines, aber sehr interessantes Museum. <<
Er lächelte sie strahlend an.
Texte: für Gordon
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum 26. BX-Wortspiel
Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.
~ Napoleon ~