Durch kurzzeitige Unzurechnungsfähigkeit, vermutlich ausgelöst durch mangelnde Beschäftigung, beschloss ich eines schönen Oktobermorgens Pilze sammeln zu gehen. Wälder gab es im Umkreis schließlich genug und aus sicherer Quelle – dem Fernsehen – wusste ich, dass Pilze sich dort größtenteils zu Hause fühlen. Mir schwebte eine Art kulinarischer Wellness - Spaziergang durch den Wald, mit seinen schönen Farben vor. Der Himmel war quietschblau, versprach einen wunderschönen Herbsttag und schien gerade zu “Relax“ zu schreien. Voller Enthusiasmus und heimlicher Vorfreude auf das bevorstehende Mahl, dass sich daraus ergeben sollte, teilte ich dies meiner Mutter mit. Nach einem undefinierbaren Hüsteln, dass ich geflissentlich überhörte, kam auch schon ihre wenig ermunternde Reaktion.
>> Mädchen, was weißt du überhaupt über Pilze? Welche Pilze möchtest du denn gerne sammeln und wo bitteschön, wenn ich fragen darf? <<
Nachdem ich sie darüber aufgeklärt hatte, dass ich genug über Pilze wisse, um ein paar davon für meine wartende Pfanne zu sammeln - nämlich wie gut sie schmecken, wie schöne Steinpilze aussehen und wo ich gedenke diese zu finden – besorgte ich mir erst einmal eine stärkende Tasse Kaffee für den Ausflug in die Natur.
Als ich wenig später, waldmännisch gestylt und voller frischem Elan in die Wohnung meiner Mutter zurückkehrte, prallte ich gegen eine Wand aus unterschiedlichsten Dialekten und spürte erste Unsicherheit in Bezug auf meine Pläne. Während ich meinen Koffeinhaushalt ins Gleichgewicht gebracht hatte, war meine Mutter auf Hochtouren gelaufen und hatte ein richtiges Pilz-Event auf die Beine gestellt.
Meine schwäbische Nachbarin Frau Hoffler, unsere bayerische Bekannte Frau Stelz und unsere fränkische Eierlieferantin Frau Vogler tummelten sich im Wohnzimmer meiner Mutter und der vorhaltende Geräuschpegel erinnerte mich dumpf an einen See voller zänkischer Enten.
Nach einer multikulturellen Begrüßung, die meinen Seelenfrieden nur leicht ins wanken brachte, wurde ich fachmännisch über meine Kleidung beraten – ich musste mich komplett umziehen – und bekam eine Pilzausrüstung zugeteilt. Sie bestand aus einem Korb, einem kleinen Messer, ein paar Einweghandschuhen und einer Tröte. Mit leichter Besorgnis beäugte ich meine Ausstattung, sowie die der Anderen und musste feststellen, dass ich nur deswegen eine Tröte bekam, weil ihnen die Trillerpfeifen ausgegangen waren. Leichte Wehmut befiel mich, als ich noch einmal an den ruhigen Spaziergang dachte und die kreischenden Trillerpfeifen, die meinen gemütlichen Herbsttag akustisch in der Luft zerfetzten. Es blieb jedoch keine Zeit mehr für einen strategischen Rückzug. Nach einer kurzen Debatte vom Haus bis zum Auto, war endlich geklärt wer sich wo in meinen kleinen Opel zu quetschen hatte. Dort wurde mir meine fatale Fehlentscheidung für den heutigen Tag erstmals deutlich bewusst, als der Chauffeur – also ich – nach dem Fahrtziel fragte. Die Geräuschkulisse schwoll noch um ein paar Schwäne im See, sowie einen abstürzenden Jumbojet an und ich blendete den größten Teil der folgenden Diskussion aus. Gesprächsfetzen drangen zwar bis zu meinen Synapsen vor, konnten jedoch nicht verarbeitet werden, da sie scheinbar völlig sinnfrei waren.
>> Ha noi, den Batzlwald kansch noa glei laufa lassn, den hau die Russn! <<, warf gerade Frau Hoffler ein.
>> Ja mei, mogst lieba ins Nupfnwäldla? Da kämma Budslküh sammln, aber koa Pilze! <<, bemerkte Frau Vogler. Meine Logikschaltkreise versuchten Kühe/Russen, die man sammeln kann, mit dem Wald zu vereinbaren und schalteten sich frustriert ab. Letztlich sprach meine Mutter ein Machtwort, vermutlich weil sie leichte Zuckungen an meinem Kiefermuskel bemerkte. Gefühlte Stunden, aber nur zehn Minuten Fahrtzeit später, parkte ich frech auf einem Weg, der mitten auf einem Feld endete, schnappte mir meine Ausrüstung, stapfte auf den Wald zu und simulierte dabei völlige Taubheit. Die Verhaltensregeln für den Wald musste ich noch teilweise mitanhören, die Sammelzeit sowie den vorgegebenen Radius und die vorher zu empfehlende Bodenanalyse – von der ich bis heute nicht weiß, wie sie das anstellen – bekam ich jedoch nichts mehr mit. Die hohen, dichten Bäume verschluckten mich freudig und nur wenige Schritte später war kaum noch ein Geräusch zu hören. Hier wurde meine Flucht nach vorne jedoch stark beeinträchtigt, da der Boden so weit man sehen konnte, mit Brombeersträuchern übersät war. Bisher waren mir Brombeeren eher unscheinbar in Erinnerung gewesen. Ein dekoratives Sträuchlein räkelte sich an der Rückseite meiner Garage, blühte hin und wieder niedlich vor sich hin und ein Gartengeist – vermutlich meine Mutter – erntete letztlich die Brombeeren. Diese Brombeersträucher hier waren jedoch von einem anderen Schlag. Niedrige Gespinste mit mickrigen Früchten, aber Dornen so groß wie Haifischzähne. Tapfer pflügte ich mich durch das Meer aus Zähnen und ignorierte das Zerren an meinen Hosenbeinen. Als ich einige Minuten später festen Nadelwaldboden unter meinen Füßen spürte, hatte ich tatsächlich das wage Gefühl, noch einmal mit dem Leben davon gekommen zu sein. Ich blieb stehen, atmete den feucht-modrigen Waldduft ein, genoss das dunkle Walddach, durch das nur hier und da ein wenig Blau blitzte und stellte fest, dass keine zivilisationsähnlichen Geräusche mehr zu hören waren. Weder ein Schnattern, noch das stete Rauschen der Autobahn, noch sonst irgendwas. Ein leichtes Unbehagen wegwischend, besah ich mir den Boden genauer. Braun-grün wabberte er, so weit das Auge reichte und mir wurden die ersten Schwierigkeiten der Pilzsuche bewusst. Ein roter Fliegenpilz lächelte mir unerschrocken entgegen und ich bedauerte zu tiefst, dass man ihn nicht essen konnte. An einen Baumstamm geklammert, fand ich pilzähnliche Gebilde, hatte aber nicht die geringste Ahnung, ob sie genießbar waren. Da ich mich langsam an meine neue Umgebung gewöhnte, sagte ich mir, man könne schließlich nicht in den ersten zehn Minuten mit einem Pilzerfolg rechnen und lief hoffnungsvoll in die, am einfachsten zu beschreitende Richtung.
Ich streunte unter den vielversprechensten Nadelbäumen herum, ich warf tiefe Blicke in zahlreiche Gebüsche und setzte mich auf jeden geeigneten Baumstumpf, um intensiv auf den Boden zu starren. Mittlerweile hatte ich diverse Pilzchen entdeckt, jedoch nicht einen, der sich in meiner Pfanne gut machen würde. Von Steinpilzen, Maronen oder gar Pfifferlingen war weit und breit nichts zu sehen. Meine Umgebung verschmolz langsam zu einer einzigen grün-braunen Masse, in der ich nicht einmal einen trötenden, neonfarbenen Elefanten ausgemacht hätte. Entmutigt schleppte ich mich weiter, fiel über diverse Wurzeln und versuchte einen geeigneten Rückweg zu finden. Während ich mir allerlei Lebensformen, Blätter und Äste aus dem Haar zupfte, die bereits ein Biotop zu formen schienen, bemerkte ich einen Weg. Er war kaum zu erkennen, völlig überwuchert und hatte auch nicht den heutigen Traktorradstil, sondern eher eine durchscheinende Präsenz. Ich gab mir einen letzten Schubs und ging den Weg weiter, immer auf den Boden achtend, da ich ihn sonst aus den Augen verloren hätte. Daher fiel mir der Wechsel der Farben und Pflanzen erst auf, als ich schon mitten drin war. Der Nadelwald war einem Laubwald gewichen und strahlte in den herrlichsten Rot- und Pinktönen, es roch nicht mehr bedrückend modrig, sondern frisch und sonnig. Der Waldboden hatte einen fast flauschigen Blätterteppich und zelebrierte das reinste Farbenfest mit den Efeuranken. Die Sonne hatte hier offiziell die Erlaubnis zu scheinen und tanzte verspielt mit den fallenden Laubblättern. Fast meinte ich, das Jauchzen und das fröhliche Gelächter der Blätter zu hören. Tief einatmend, ging ich ein paar Schritte weiter und staunte über den Anblick der sich mir darbot.
Das lebhafte Zwitschern und Singen der verschiedensten Vögel untermalte noch das idyllische Bild. Meine Vorliebe für warme Töne machte einen Hüpfer und freute sich so sehr über diese Farbenpracht, dass ich den blassen Kreis in dem ich stand, fast nicht bemerkt hätte. Er bestand aus perfekt geformten, hellen Waldchampignons. Meine Großmutter hatte mir immer gern und reichlich Geschichten erzählt und so blieb natürlich auch die des Hexenringes nicht aus. Haben böse, warzennasige Hexen in der letzten Vollmondnacht im Wald einen okkulten Tanz veranstaltet, so wuchsen zur Warnung für die Menschen Pilze zu einem Kreis. Ich mochte diese Geschichte noch nie, ganz anders als die des Feenrings. Kleine, leuchtende Wesen, die ihre rauschenden Minifeste feierten, dabei von Pilzkopf zu Pilzkopf sprangen und tanzten. Ja, dass war eine Geschichte nach meinem Geschmack.
Von Wesen, welcher Art auch immer war jedoch nichts zu sehen. Mit gezücktem Messer ging ich in die Hocke und wollte mir den kompletten Ring einverleiben. Kurz bevor ich mein Messer ansetzte, fiel mein Blick jedoch auf den Pilzkopf und ich zögerte. Waren das Fußspuren? Ich beugte mich soweit nach vorne, dass meine Nase fast den Pilz berührte und schüttelte betreten den Kopf. So sieht nun mal ein Pilz aus, dachte ich mir, aber das mulmige Gefühl blieb. Noch einmal besah ich mir den ganzen Ring, sog die Umgebung und die friedliche Stimmung in mich auf und beschloss, den Ring stehen zu lassen. Um mein angeschlagenes Ego zu beruhigen, redete ich mir ein, er sei einfach zu schön, um ihn zu zerstören, drehte mich um und sah zu, dass ich Land gewann.
Ich hastete den Weg zurück, der mich hergeführt hatte, bemerkte diesmal den Übergang zum Nadelwald und empfand ihn wie den Eingang zu einem dunklen Zauberreich. Als der Weg jedoch endgültig im Nichts verlief, stand ich mehr als ratlos mit meinem leeren Korb herum. Ich hatte nicht die geringste Ahnung in welcher Richtung mein Auto stand. Deutlich bemerkte ich den Temperaturabfall und nahm an, dass doch mehr Zeit verstrichen war, als ich gedacht hatte. Prompt meldete sich auch mein Magen mit einem vernehmlichen Knurren und ich warf einen zerknirschten Blick auf die Tröte um meinen Hals. Bisher hatte ich nicht ein Pfeifen ausmachen können und da es nicht nur eine Orientierungshilfe sein sollte, sondern auch der Hinweis auf einen Pilzfund, nahm ich an, dass ich einfach zu weit entfernt war.
Wie groß konnte dieser Wald schon sein? Bisher hatte ich in meiner Umgebung immer nur kleine Wälder gesehen, die man locker in ein bis zwei Stunden durchqueren konnte. Aber was half einem das, wenn man immer nur im Kreis lief? Ich wischte diesen paranoiden Denkansatz beiseite und setzte mich in Bewegung. Kaum war ich ein paar Schritte vorwärts gekommen, als ich ein kurzes Glimmen zwischen den Bäumen rechts von mir bemerkt. Ein weit entfernter Scheinwerfer? Oder nur das Aufblitzen eines Schlüsselbundes? Was es auch war, es schien mir am sinnvollsten dem Glimmen nachzugehen. Einige Minuten später sah ich ein weiteres kurzes Aufglitzern und schlug mich wieder in diese Richtung durch, begleitet von einer Melodie, die so fremdartig und hauchzart erklang,dass ich nicht sicher war, sie überhaupt zu hören.
Nach einem ziemlichen Fußmarsch, wurde mir langsam bewusst, dass ich die Ursache für das Leuchten längst hätte erreichen müssen. Vermutlich sah ich schon Sterne vor lauter Hunger und hatte mich in die Irre führen lassen.
>> Kommst du aus Kambodscha? <<
Die Stimme meiner Mutter direkt hinter mir erschreckte mich dermaßen, dass ich mich im Stillen für meine starke Blase beglückwünschen konnte.
>> Was? <<, brachte ich heraus, während Erleichterung mich durchströmte.
>> Du siehst aus als kämst du von einer dreitägigen Expedition aus dem Dschungel! <<, grinste sie.
>> Lass uns einfach nach Hause fahren! <<, seufzte ich.
Auch von den anderen Damen wurde ich wortreich empfangen, doch der freundliche Spott kam mir gerade recht. Man bot mir an, aus jedem gut gefüllten Korb etwas zu spenden, doch mir war der Appetit auf Waldpilze vergangen. Bevor wir endgültig aufbrachen, drehte ich mich ein letztes Mal um, flüsterte ein
>> Danke << und fuhr nach Hause.
Dort tröstete ich mich hervorragend mit Champignons dritter Wahl aus der Dose und sie schmeckten köstlich!
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2010
Alle Rechte vorbehalten