1. August 1988
Ich trat wie verrückt in die Pedale meines kaputten, kleinen Fahrrads. Ich war spät dran. Es war Sommer, ich hatte Ferien und kam von einem illegalen Ausflug zu einem nahe gelegenen Weiher. Illegal deshalb, weil meine Mutter es nicht mochte, wenn ich ohne Aufsicht im Bikini herumtollte. Natürlich würde sie merken wo ich gewesen war, wenn sie vor mir zu Hause wäre, aber in mir rumorte noch etwas Anderes. Ich hatte es plötzlich furchtbar eilig Heim zu kommen und wusste nicht genau wieso. Am nächsten Tag war ein zweiwöchiger Urlaub geplant, auf den ich mich schon wahnsinnig freute und bald darauf war schon mein dreizehnter Geburtstag. Ich verstand meine innere Unruhe nicht. In meiner Strasse angekommen, pfefferte ich das Fahrrad vor die Haustürtreppe, eigentlich streng verboten, mir in dem Moment aber völlig egal. Dann drängelte ich mich durch das Gebüsch an der Treppe und lief durch den Garten um das Haus herum.
Als erstes fiel mein Blick wie immer auf den kleinen Teich im Garten, den ich sehr liebte. Mein zweiter Blick fiel auf einen Engel des Schreckens. Es verging sicher eine Minute, bis ich begriff was ich da sah. Die Qual in ihren Augen, das leise Wimmern, die schönen Haare, die nicht mehr waren. Meine Mutter stand mitten im Garten. Auch sie hatte nur einen Bikini an, aber es war nicht mehr viel davon übrig. Breitbeinig und mit weit von sich gestreckten Armen, stand sie da, die Haut hing ihr in langen Bahnen herunter, es sah aus als wären ihr Flügel gewachsen. Ich stand immer noch wie erstarrt da und mir brach das Herz bei ihrem Anblick. Langsam streckte sie eine Hand in meine Richtung und hauchte meine Namen, was mich endlich in Bewegung setzte. Ich lief zum Gartentor und schrie dem Nachbarn irgendetwas zu, er ließ sofort alles fallen und rannte los. Irgendwie schaffte ich es zum Telefon und rief den Notruf, dann war ich wieder draußen bei meiner Mutter. Sie schrie jetzt vor Schmerzen, mein Nachbar hatte den Gartenschlauch gepackt und fing an sie mit Wasser zu bespritzen. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und rannte weiter zum Hof, wo der Gestank herkam. Meine Oma saß dort ganz still auf einem Gartenstuhl, hielt sich ihre Hand und starrte geistesabwesend auf den Steinboden. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich weinte und mir die Tränen über die Wangen liefen. Erst als ich versuchte zu sprechen und ich nichts herausbekam, riss ich mich zusammen. Doch auf meine Fragen antwortete sie nicht. Der Raum hinter der Garage war schwarz, heiß und es stank so sehr, dass ich dachte mir schwinden die Sinne. Jemand riss mich herum, ein Fremder, er schrie mich an ich soll da nicht noch einmal hingehen. Ich stolperte zurück auf das Gras, zu meiner Mutter. Der Gartenschlauch wurde mir in die Hand gedrückt. Ich solle auf sie draufhalten, vorsichtig. Wieder sah ich ihr in die Augen, noch nie hatte ich so eine Qual darin gesehen. Der Wasserstrahl traf kaum sein Ziel, ich zitterte zu sehr. Ich weinte jetzt hemmungslos, fragte sie was ich tun soll, wie ich ihr helfen kann. Aber sie schüttelte nur mit dem Kopf. Ihre Haare waren einfach weg, auch ihre Augenbrauen, sie sah so fremd aus. Endlich nahm mir jemand den Gartenschlauch ab. Von überall her hörte ich Sirenen, Krankenwagen, Feuerwehr, der Garten war plötzlich voll. Ohne Ziel lief ich zwischen all den vielen großen Menschen herum. Ein Polizist hielt mich schließlich an, fragte wer ich sei und was hier passiert ist. Ein Anderer kam dazu, die Friteuse mit heißem Wachs hätte sich entzündet, sagte er. Dann fiel es mir wieder ein. Wir wollte noch die ganze Heimarbeit fertig machen, bevor es in den Urlaub ging. Deshalb sollte ich nicht schwimmen gehen, deshalb sollte ich rechtzeitig zu Hause sein. Jemand sprach von einem Rettungshubschrauber und lenkte mich von meinen kindlichen Schuldgefühlen ab. Dann ging alles ganz schnell. Sie schnallten meine Mutter gerade auf eine Trage, als mein Vater von der Arbeit kam. In seinem Gesicht stand der blanke Horror. Er lief zu ihr, beugte sich über die Trage, redete sinnlose Sachen. Jemand sprach in ein Funkgerät. Verbrennungen dritten Grades, sie kommt nach München, Bogenhausen, sagte er. Dann war sie weg, ein Krankenwagen brachte sie zur unteren Wiese, der einzige Platz für den Hubschrauber. Meine Oma wurde an mir vorbei geführt, noch immer blickte sie zu Boden. Ich wollte sie ansprechen, umarmen, aber sie sagten nein, sie stünde unter Schock. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich sie sah. Wie in Trance ging ich um das Haus herum, hob mein Fahrrad auf und schob es in die Garage. In Gedanken betete ich, schwor nie wieder mein Fahrrad liegen zu lassen, nie wieder ungehorsam zu sein, nie wieder zu spät zu kommen, wenn ich nur meine Mama zurück bekommen würde. Meine Gebete wurden erhört.
Texte: Alle Rechte bei mir
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Oma