Einsam ging sie, den nur spärlich beleuchteten Fußgängerweg entlang. Noch ein paar hundert Meter, dann endete der Weg und sie musste auf der Strasse weiterlaufen. Langsam zog sie die verkrampften Hände aus ihrer Jackentasche und schüttelte sie. Es war eine warme Nacht, aber sie fror trotz der dicken Jacke, die innere Kälte fraß sich durch ihren Körper. Noch immer war sie fest entschlossen, aber ihre Nervosität stieg mit jedem Schritt, dem sie ihrem Ziel näher kam. Ein See aus ihrer Jugendzeit, als Kind hatte sie darin geplanscht und als Teenager heimlich Partys am Strand gefeiert. Die Größe und die Stille, die ihn trotz lärmender Badegäste umgab, hatte ihr schon immer gefallen. Ärgerlich wendete sie ihren Blick über die Straße zu der hell erleuchteten Raststätte. Vor 15 Jahren hatte man sie hier auf Grund des nahegelegenen Autobahnkreuzes gebaut, direkt neben das idyllische Dorf. Die Raststätte war ihr schon immer ein Dorn im Auge, aber mit dieser Ansicht, wie mit vielen anderen auch, war sie allein. Die Dorfbewohner freuten sich über den Zuwachs, brachte er schließlich Arbeitsplätze und potenzielle Kunden, die sich sonst nie hierher verirrt hätten. Heute störten sie jedoch nur die Lichter und Werbetafeln, sie brauchte die beruhigende Dunkelheit. Am Ende des Weges blieb sie stehen und atmete zittrig ein. Sofort stiegen ihr chemische Gerüche aus dem angrenzenden Industriegebiet, das der Raststätte gefolgt war, in die Nase. Das Leben hatte sich hier sehr verändert, seit sie zum letzten Mal zu Besuch gewesen war. Kein Mensch war mehr unterwegs, nur ein einziges Auto war an ihr vorbei gefahren und zu der Raststätte abgebogen. Sie betrat die Straße und ließ die Lichter hinter sich. Hier gab es keine Straßenlaternen mehr. Die Straße endete im Nichts und scheinbar wollte dort keiner hin, außer sie. Sie beschleunigte ihren Schritt, ein Gefühl des Verlustes stieg in ihr auf und sie wollte nicht das es sich ausbreitete. Wenn sie atemlos ankam war ihr das nur recht. Eine Flut von Gesichtern schoss durch ihren Kopf. Geliebte Gesichter, die sie zurück lassen würde, wie auch sie zurück gelassen wurde. Schuld kroch ihr den Nacken hinauf und sie schüttelte energisch den Kopf. Das hatte sie alles schon hinter sich. Sie würde sich jetzt nicht mehr davon ablenken lassen. Der Wald zu ihrer Rechten war nur ein großer, dunkler Schatten, doch sie roch die würzigen und auch leicht modrigen Düfte. Die Augen leicht zusammenkneifend konzentrierte sie sich wieder auf ihren Weg. Bald musste der unbefestigte Pfad zum See abgehen und es war jetzt so dunkel, dass sie ihn nur würde erahnen können. Ihr Herz klopfte immer schneller, aber tapfer und vorwurfsvoll gegen ihre Brust. Endlich fand sie den Pfad und blieb wieder einen Moment stehen. Der See lag ein paar Meter tiefer und so hatte man von hier einen hervorragenden Blick darauf. Wie ein Traum aus einer anderen Welt lag er da, teilweise verdeckt von einigen alten Bäumen. Nur ganz wage glitzerten einige kleine Wellen auf und ein nebliger Dunstschleier hing über ihnen. Das andere Ufer konnte sie nicht sehen, wollte es auch nicht. Selbst am Tage, bei klarer Sicht war es nur zu erahnen. Sie gab sich einen Ruck und ging die letzten Schritte, wie im Traum auf den See zu. Unter normalen Umständen wäre ihr die ganze Atmosphäre vielleicht unheimlich vorgekommen, doch heute fühlte sie sich selbst am unheimlichsten. Sie blieb erst stehen, als das Wasser des Sees fast ihre Schuhe erreichte. Angst schnürte ihr die Kehle zu, aber die Verzweiflung und der Schmerz waren mächtiger. Hätte sie der Glaube an eine höhere Macht nicht längst verlassen, könnte sie sich nun wenigstens darauf freuen, den geliebten Gesichtern wieder zu begegnen. Aber ihr Glaube, ihre Zuversicht und alles andere war dahin, nur die Leere war geblieben. Sie wollte nur noch dass es endete und sie nichts mehr fühlen musste. Sie würde einfach voll bekleidet los schwimmen, bis sie nicht mehr weiter konnte und sich dann dem kalten Gewässer ergeben. Sie trat einen Schritt vor, eisige Kälte sickerte durch ihre Schuhe. Ihr Herz klopfte wilder denn je und sie zitterte so stark, dass sie kaum noch aufrecht stehen konnte. Tränen traten ihr in die Augen, bei dem Gedanken an die Menschen, die sie zurück ließ. Hatte sie wirklich das Recht dazu? Bald würde es ihr egal sein, ob sie Andere in die Verzweiflung trieb, ob man trauerte oder ob sie ebenfalls eine Leere hinterlassen würde. Konnte sie so selbstsüchtig sein und ihren Wunsch vor alles andere Stellen? Sie hob den Blick und starrte leicht schwankend in den Sternenhimmel. So viele Menschen, so viel Leid und doch...lebten sie weiter, kämpften um das Recht zu leben, glücklich zu sein und gaben nie auf. Konnte sie das auch? Hatte sie noch die Kraft? Sie trat aus dem Wasser und Wärme floss plötzlich durch ihren Körper. Sie musste es versuchen, sie musste ihre Stärke wieder finden. Sie würde auch kämpfen, für den Wunsch zu existieren! Einige Minuten stand sie reglos da und blickte auf den See, lauschte den gurgelnden und plätschernden Geräuschen, dann lief sie los, lief so schnell sie konnte, nach Hause.
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2010
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