Cover



1.

„Hey ihr zwei, heute Morgen ist Post für euch gekommen!“, rief Mary, unsere Reitlehrerin, durch die Stallgasse. Jodie und ich steckten die Köpfe aus den Boxen unserer Pferde, während Mary auf uns zukam, um uns jeweils einen Umschlag zu überreichen. Gespannt stellten Jodie und ich uns gegenüber auf.
'From: Horse Academy of California'
Mit geweiteten Augen starrten wir uns gegenseitig an, bevor wir wieder ungläubig die Briefe taxierten. Nach einer halben Ewigkeit atmete ich geräuschvoll aus und sagte: „ Ich deinen, du meinen.“ Aufgeregt öffneten wir den Brief der jeweils anderen und falteten ihn hektisch auseinander.
„AAHH!“, kreischten wir beide gleichzeitig begeistert auf. Wir tauschten die Schriftstücke wieder, um noch einmal still für uns zu lesen:
' Liebe Izzie Porter,

Herzlichen Glückwunsch!
Ihr Bewerbungsvideo hat uns überzeugt, hiermit sind Sie offiziell an der 'Horse Academy of California' aufgenommen!
Auf der beiliegenden Liste finden Sie alles was Sie brauchen. Ebenfalls wichtige Informationen sind auf dem Anmeldeformular zu finden. Alles weitere werden Sie noch von uns erfahren.

Mit freundlichen Grüßen,
das Academy-Team '


„Oh. Mein. Gott.! Izzie, wir haben es geschafft! Wir haben es wirklich geschafft! Habe ich es dir nicht gleich gesagt?!“, rief meine beste Freundin gut gelaunt. Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten. Die waren auch eine der wenigen äußerlichen Gemeinsamkeiten zwischen uns beiden, die dunklen Augen, und unsere, in der Tat ganz ansehnliche, Figur.
Noch immer las ich den Brief, immer und immer wieder. Das war ja nicht zu fassen! Wir hatten tatsächlich eine Zusage von der mit Abstand besten Reit-Akademie weit und breit bekommen!
Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie Jodie aus Spaß vorgeschlagen hatte, uns dort zu bewerben, wir würden ja doch nicht aufgenommen werden. Anfangs war ich skeptisch , doch sie überzeugte mich schließlich doch noch. So kam es, dass wir uns gegenseitig beim 'Vorreiten' gefilmt, und die Videos dann abgeschickt hatten.
Und nun hielten wir die Zusage in den Händen.


2.

„Haben Jodie und du heute nicht Training?“, rief meine Mutter nach oben. „Nein“, schrie ich zurück, „wir wollen heute ins Gelände!“ Ich blickte zu Jodie, die auf meinem Bett saß, und verdrehte genervt die Augen, während sie leise kicherte. „Dann solltet ihr jetzt aber so langsam los, ich will, dass du zurück bist, bevor es dunkel wird!“ „Ja Mom!“ Ich warf meine langen, dunkelbraunen Haare über die Schulter und suchte meine Reitklamotten. „Oh mann! Nie find' ich was!“, zischte ich genervt, steckte den Kopf aus der Tür und schrie: „ MOM! Wo hast du meine Reithosen schon wieder hingelegt?!“ „In dein Zimmer!“
„Nein, da schau ich doch die ganze Zeit!“ „Dann guck doch im Bad nach.“ Mit einem lauten Seufzen setzte ich mich schlurfend in Bewegung. Über der Badewanne hing die Hose, die ich mir schnappte. Fertig angezogen lief ich zurück zu Jodie, die gespielt genervt aufstöhnte: „Na endlich!“ Ich streckte ihr die Zunge entgegen und gemeinsam hasteten wir die Treppe hinunter in den Flur. „Fahrt vorsich-..!“, rief meine Mutter uns zu, doch wir hörten sie schon gar nicht mehr. Wir schwangen uns auf die Räder und Jodie rief, gut gelaunt wie immer: „Wer als Erste da ist, darf die Route bestimmen!“ Und schon sauste sie davon. Kopfschüttelnd und mit einem breiten Grinsen im Gesicht, versuchte ich, sie einzuholen. Doch ich hatte keine Chance. Als ich schwer atmend vor der Scheune zum Stehen kam, empfing Jodie mich auch schon: „Na, auch schon da?! Ich hatte gar nicht mehr mit dir gerechnet!“ „Halt bloß den Mund, du warst nur Sekunden schneller!“ Lachend liefen wir durch die Stallgasse und steuerten auf die hintersten Boxen zu. Leise pfiff ich, und schon kam der Kopf meines wunderschönen, 9-jährigen Friesenhengstes 'Majestic' aus der Öffnung geschossen. Wie immer wieherte er zur Begrüßung und streckte mir seine Nüstern entgegen. Ich drückte ihm einen Kuss darauf und öffnete die Tür. „Hallo Großer, wie geht`s?!“ Leise schnaubte er und knabberte an meiner Westentasche. „Jaja, hier hast du deinen Apfel!“. Lachend streckte ich ihm sein Lieblingsleckerli entgegen, das er genüsslich fraß. Ich nahm ihn am Halfter, um ihn in die Gasse zu bringen und dort anzubinden. Auch Jodie stand schon dort, mit ihrem silbergrauen Araberwallach 'Diabolo'. Sie war schon dabei, ihn zu striegeln, also machte ich mich schnell an die Arbeit. Als Majestic's rabenschwarzes Fell seidig glänzte und Mähne und Schweif in langen Wellen an ihm herabflossen, kratzte ich seine Hufe aus und holte Sattel und Trense. Mit der roten Schabracke sah er einfach traumhaft aus. „Izzie, wird’s bald?!“, fragte Jodie ungeduldig und band ihre dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz. „Sofort!“ Ich setzte meinen Helm auf und führte mein Pferd aus dem Stall, direkt hinter Jodie und Diabolo. „Heb Diabolo bitte und guck dann noch mal nach Sattelgurt und Steigbügel“, bat sie mich, während sie aufstieg. Die Zügel meines eigenen Pferdes in meinen Armen verhakt, machte ich mich am Sattel des unruhig tänzelnden Arabers zu schaffen. „Jetzt steh doch einfach mal hin!“, maulte Jodie genervt. Dann wandte sie sich mir zu: „Danke. So, gib mir Majestic's Zügel und steig auf.“ Ich tat wie mir geheißen und schwang mich auf den Rücken meines Pferdes. Noch als meine Freundin sich zu mir beugte, um mir die Zügel auszuhändigen, lief Diabolo plötzlich los. Fluchend versuchte sie ihn zum Stehen zu bringen, doch er wehrte sich dagegen und schüttelte unwillig seinen feinen Kopf. Da sie noch immer meine Zügel bei sich hatte setzte sich nun auch Majestic in Bewegung, gerade als ich meinen Fuß aus dem linken Steigbügel nahm, um ihn richtig einzustellen. Das sah bestimmt schrecklich lächerlich aus. Jodie hatte mir inzwischen meine Zügel zugeworfen, so dass ich nun endlich wieder stand und in Ruhe alles ordnete. Diabolo stand dicht neben uns, er konnte es nicht leiden, ohne seinen schwarzen Freund zu sein, dann wurde er richtig nervös.
„Also, welche Route nehmen wir?“, fragte ich. „Hmm... Wir haben nicht mehr so viel Zeit, also bestimme ich beim nächsten Mal. Ich glaube, die Feldwege links sind am kürzesten“, antwortete sie bestimmt und ritt voran. Oder sie versuchte es zumindest, denn nach drei Metern blieb ihr Pferd wie angewurzelt stehen. „Oh Mann, ich glaub's nicht!“, zischte sie, „Komm neben mich, sonst läuft mein Angsthase hier nicht.“ Grinsend trieb ich meinen vierbeinigen Freund an, und siehe da, sobald wir die beiden erreicht hatten, entspannte sich der temperamentvolle Wallach und lief brav an unserer Seite.

3.

„Also, dann bis heut Abend, ja?!“, flüsterte Jodie mir zu, drehte sich um und verschwand nach Hause. Sie wollte ihren 'Gewinn' einlösen. Heute Abend beim Ausreiten würde sie bestimmen, wo's langgeht. Ganz wohl war mir allerdings nicht dabei, denn dazu müssten wir uns heimlich im Dunkeln aus unseren Häusern schleichen. Welche Eltern würden ihre Töchter auch nachts um 22 Uhr noch ausreiten lassen, noch dazu ohne einen Erwachsenen?!
Also eben heimlich.
Meine Mutter hatte die letzten zehn Stunden gearbeitet, sie würde also schon schlafen. So kam es, dass ich mich um 21 Uhr, in Reitklamotten die Treppe hinunter schlich. Die Zimmertür meiner Mutter stand einen Spalt weit offen, weshalb ich kein Licht machen konnte. Und genau das wurde mir zum Verhängnis: Mitten auf der Treppe verschätzte ich mich und rutschte an der Kante einer Stufe aus. Gerade noch so konnte ich mich am Geländer festhalten. „Oh verdammt!“, fluchte ich leise und sah über die Schulter nach oben. Nichts. Erleichtert atmete ich aus und nahm die nächsten Stufen in Angriff, dieses Mal vorsichtiger. Es war unheimlich still, ich hatte Angst man würde mein Herz im ganzen Haus flattern hören. Plötzlich ertönte ein so lautes Schnarchen am Fuße der Treppe, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Ein eisblaues und ein dunkelbraunes Auge blinzelten mich verschlafen an. „Mann Ace, erschreck mich mich doch nicht so! Und wehe du verrätst mich!“ Unser schwarz-weißer Husky-Rüde spitzte die Ohren, hob den Kopf und verfolgte jede meiner Bewegungen. Mist! Er war wieder hellwach und würde mich nicht so ohne weiteres verschwinden lassen. Als ich versuchte an ihm vorbeizukommen, sprang er auf und lief schwanzwedelnd neben mir her. „Nein! Geh!“, zischte ich. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Jodie schon auf dem Weg hier her sein müsste, mir blieb nicht mehr viel Zeit. Leise seufzend begab ich mich in die Küche, Ace blieb mir auf den Fersen. Als er merkte, dass ich ihn nicht beachtete, schob er sich zwischen meinen Beinen hindurch, sodass ich ins Schwanken kam. Dann setzte er sich so abrupt direkt vor meine Füße, dass ich über ihn stolperte und unsanft auf die Fliesen klatschte. Ace hatte aufgejault, ich hielt ihm die Schnauze zu. „SCH!“, machte ich, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Dann lauschte ich. Meine Befürchtungen bestätigten sich. Sie hatte es gehört. Natürlich hatte sie das.
„Izzie? Bist du das?“, rief meine Mom. „Ja, ich bin in der Küche, ich hatte Durst!“, rief ich zurück, betend, dass ich überzeugend klang. „Wieso machst du kein Licht?“ Was jetzt?! „ Ähm..ich wollte dich nicht wecken!“ „Wenn du meinst, aber geh dann wieder ins Bett!“ Damit verschwand sie wieder. „Du Trottel! Wegen dir wäre ich fast aufgeflogen!“ Ich rappelte mich auf und sah den Hund finster an. Mit seinem treuen Blick blickte er erwartungsvoll zu mir auf. Seufzend drehte ich mich zum Schrank und füllte etwas Futter in seinen Napf. Noch bevor ich den Napf ganz abgestellt hatte, schob er den Kopf hinein und begann hastig zu fressen. „ So, und jetzt bist du schön still, ja?!“ Leise schlich ich mich in den Flur um meine Stiefel und eine Weste anzuziehen. Als ich den Schlüssel so langsam und so leise wie möglich umdrehte und schließlich die Tür aufzog, erwartete mich meine Freundin mit verschränkten Armen. „Wieso hat das denn so lang gedauert? Hat sie dich erwischt?“, drängte sie ungeduldig. „Naja, nicht direkt...Aber Ace...“ Sie verdrehte die Augen: „Natürlich, euer hyperaktiver Hund schon wieder!“ Mit einem fetten Grinsen im Gesicht, das fast bis zu ihren Augen reichte, schaute sie mich an. Das sah so schräg aus, dass ich losprustete : „Muffin-Gesicht!“ Schnell zückte ich mein Handy und knipste drauf los. „Psst, sei leise, sonst merkt noch jemand was!“, ermahnte Jodie mich, doch als ich ihr das Foto zeigte, konnte auch sie nicht mehr an sich halten. „Jetzt aber los, wir müssen zu Hause sein, bevor unsere Eltern aufwachen!“, keuchte ich atemlos.
Am Stall angekommen, sahen wir uns um, doch im Haupthaus war alles dunkel. Blöderweise war die große Tür zu und wir hatten Mühe, sie lautlos zu öffnen. Doch auch diese Hürde nahmen wir. Verdutzt blickten uns die Pferde entgegen, als wir mit Taschenlampen auf die hintersten Boxen zugingen. Ich leuchtete zu Majestic, der seinen Hals in meine Richtung reckte und die Nüstern blähte. Oh oh...Gleich würde er wiehern.. „Scht, schön leise sein, wir wollen doch nicht erwischt werden!“, raunte ich ihm zu. Gerade noch rechtzeitig konnte ich ihm das Maul mit einem Stück Apfel stopfen. Zufrieden kaute er darauf herum und ließ sich von mir striegeln.
„Bist du so weit?“, hörte ich Jodie leise aus der Box gegenüber fragen. „Sofort..“ Nachdem ich nachgegurtet hatte, trat ich auf die Stallgasse und lugte zu Jodie und Diabolo, die bereits warteten. „Vorne raus können wir nicht, die Hufe wären auf dem Steinboden viel zu laut“, gab ich zu bedenken. Gleichzeitig fuhren unsere Köpfe herum. Die Hintertür wurde eigentlich nie geöffnet, aber wir würden keine Wahl haben, da sie direkt nach unseren beiden Boxen kam. Gemeinsam ächzten wir, bei dem Versuch, die Tür ohne großen Lärm zu öffnen. Nachdem wie es schließlich geschafft hatten, schoben wir die Boxentüren zur Seite und führten Majestic und Diabolo langsam aus dem Stall. Draußen angekommen, blieben wir kurz auf dem Stück Rasen stehen, um zum Hauptgebäude zu schauen. Sehr gut, anscheinend hatten wir niemanden geweckt. „Heb Diabolo bitte wieder!“ Als Jodie fest im Sattel saß, stieg auch ich auf und gurtete als erstes nach, zur Sicherheit. Ungeduldig stöhnte meine abenteuerlustige Freundin auf: „Jetzt beeil dich doch mal, wir haben nicht die GANZE Nacht Zeit!“ „Willst du nicht auch noch mal nachgurten?“, entgegnete ich, ihre schnippische Bemerkung überging ich einfach. „Nicht nötig.“ Verunsichert sah ich in den schwarzen Wald, der sich wenige hundert Meter vor uns erstreckte. „Also, ich darf ja die Strecke aussuchen“, begann Jodie, „ und ich hab auf einer Karte gesehen, dass es an einem Ende des Waldes einen Steinbruch gibt. Da reiten wir hin!“ Ihre Stimme wurde immer aufgedrehter. „Jodie...meinst du wirklich, dass das so eine gute Idee ist ? Wir können da ja mal tagsüber hingehen, aber doch nicht nachts und schon gar nicht alleine! Der Boden ist ganz nass und rutschig...“, widersprach ich. „Jetzt sei mal keine Spielverderberin! Das wird lustig, endlich mal wieder ein Abenteuer!“ Prüfend starrten wir uns gegenseitig in die Augen. „Ich habe das Rennen gewonnen, ich darf die Route bestimmen. Das war die Abmachung!“, durchbrach sie die Stille. Nach wenigen Sekunden atmete ich scharf aus und gab mich geschlagen.

4.

„Jodie, bist du sicher, dass wir hier noch richtig sind?“, fragte ich verunsichert. Schon längst hatten wir die Reitwege verlassen und irrten quer durch den Wald. „Naja, ich habe keine bestimmte Route, aber ich weiß, in welche Richtung wir müssen“, antwortete sie, wie immer guter Dinge. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich auf sie zu verlassen. „Siehst du, ganz da hinten wird es etwas heller, da endet der Wald. Da ist der Steinbruch. Na komm, ich brauch ein bisschen Action!“, rief Jodie. Sogleich galoppierte sie an, ich hinterher. „Verdammt Jodie, mach langsam, der Boden ist feucht, die Pferde rutschen noch aus!“
Doch meine Freundin lachte nur und beschleunigte immer weiter. Ich hatte sie schon fast eingeholt, als es direkt neben uns im Gebüsch raschelte und uns etwas kleines in den Weg sprang. Majestic stemmte die Hufe in den Boden und schnaubte verängstigt, während Diabolo zur Seite scheute und sich aufbäumte. Da kam mir in den Sinn, was Mary uns immer gepredigt hatte: Wenn das Pferd in Panik ausbricht, auf gar keinen Fall schreien, das versetzt das Tier nur noch mehr in Panik. Allerdings war das leichter gesagt als getan.
„Ahhh!“, schrie Jodie auch schon. Sie klammerte sich an den Hals ihres Pferdes und schrie wild umher. „Mach dein Pferd nicht noch verrückter!“, rief ich ihr zu, zu spät. Denn in diesem Moment hatte Diabolo die Flucht ergriffen und stürmte mit Bocksprüngen geradeaus, direkt auf den Steinbruch zu. Noch immer schrie Jodie, als ich endlich aus meiner Starre erwachte und den beiden hinterher jagte. Mein Pferd unter mir schnaufte angestrengt. Wir holten immer weiter auf. Das Adrenalin schoss durch meine Venen. Doch plötzlich verlor Majestic den Boden unter den Füßen und stürzte. Er wieherte erschrocken auf und auch ich begann nun zu schreien. Meine linke Seite wurde unter Majestic begraben und ich hörte Knochen zerbersten. Schnell kam das Pferd wieder auf die Beine und blieb am ganzen Leib zitternd stehen. Unter höllischen Schmerzen stützte ich mich auf meinen rechten Arm und sah gerade noch, wie Diabolo direkt vor dem steilen Abhang eine Vollbremsung hinlegte und Jodie über den Hals warf, direkt in die Tiefe. „NEIIN!“, schrie ich und merkte, wie heiße Tränen sich den Weg über meine Wangen bahnten. Kurz war alles totenstill, nur mein verschnellter Herzschlag war zu hören. Bis ein markerschütternder Schrei mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wie elektrisiert rappelte ich mich mühevoll auf, die Schmerzen versuchte ich auszublenden. Am Rande des Abgrundes blieb ich stehen und stierte in die Tiefe. Dort, auf einem Felsvorsprung ungefähr fünf Meter unter mir, wand sich Jodie vor Schmerzen. Für einen Moment war ich wie gelähmt. Das war alles bloß ein Albtraum, ich musste nur aufwachen! Doch egal wie sehr ich versuchte, mir das einzureden, es gelang mir nicht. Das hier war die harte Realität. Unsere Leichtsinnigkeit.
„Verdammt!“, riss meine Freundin mich aus meinen Gedanken. Sie keuchte auf und mir wurde klar, dass ich handeln musste. Hilfe holen?! Nein, ich konnte sie nicht so lange hier draußen alleine lassen. Mein Handy! Hektisch wühlte ich in meiner Hosentasche und zog das rechteckige Ding heraus. „OH VERDAMMT! JETZT KLAPPT JA WIRKLICH GAR NICHTS MEHR!“, schrie ich aufgebracht und warf das dämliche Ding achtlos in den Dreck. Hier hatte ich nämlich keinen Empfang. Wieder stöhnte Jodie auf und krümmte sich. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu ihr herunter zu klettern. „Keine Angst, ich komme!“, rief ich zu ihr herab. Vorsichtig drehte ich mich um, krallte meine Hände ins hohe Gras und tastete mit den Füßen nach Halt. So ließ ich mich Zentimeter für Zentimeter hinab, bis ich mit dem rechten Fuß abrutschte und Stein bröckeln hörte. Der Schweiß trat mir auf die Stirn, doch ich gab nicht auf. Der Schmerz in meiner linken Seite ließ mich aufstöhnen. Nur noch einen Meter, dann hätte ich den Felsvorsprung erreicht. Also sprang ich den Rest. Allerdings war ich im Schätzen noch nie sonderlich gut gewesen. So war es eben doch noch etwas tiefer und ich sackte neben Jodie zusammen. Doch als ich sie kläglich wimmern hörte, war mein eigener Schmerz wie weggeblasen. Zumindest beinahe.
„Izzie?!“, hauchte sie. „Ich bin hier, Jodie, ich bin hier!“, entgegnete ich zaghaft. Ich wollte sie in die stabile Seitenlage drehen, doch sie schrie auf, das Gesicht schmerzverzerrt. Dieser Laut trieb mir erneut die Tränen in die Augen, sie verschleierten meine Sicht.
„Lass es einfach!“, sagte sie. „Nein! Ich muss doch was machen, sonst...“ „Izzie hör auf, lass es einfach, es geht nicht!“ „NEIN!“, schrie ich verzweifelt und startete einen neuen Versuch. „AAHH!! Hör auf, bitte! Du tust mir weh, lass es doch sein, hörst du?!“
Ich ließ den Kopf hängen, sank neben ihr auf die Knie und strich ihr mit zittrigen Fingern die Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen drehten sich unnatürlich nach oben und wieder zurück.
„Das kannst du doch nicht machen! Du kannst mich jetzt nicht einfach allein lassen, verstanden!“, schluchzte ich, mit den Nerven am Ende. Immer wieder erstickten die Schluchzer meine Worte. „Ich hätte nicht zulassen sollen,..“ Jodie unterbrach mich: „Nein, das stimmt nicht. Es war meine Idee, ich habe dich dazu überredet. So war es doch schon immer, ich bin die Abenteuerlustige und Leichtsinnige und du die Verantwortungsbewusste, Vernünftige.“ Das stimmte allerdings. Ihre Hand suchte meine und ich nahm sie. Jodie drückte sie und nach Sekunden des Schweigens sagte ich kleinlaut: „Aber ich habe mich überreden lassen! So wie immer.“ „Izzie, jetzt mal ehrlich“, begann nun Jodie, „ du kennst mich doch. Wahrscheinlich wäre ich trotzdem geritten, auch ohne dich.“ „Aber dieses Mal hätte ICH DICH überzeugen müssen!“, erwiderte ich niedergeschlagen. „Das hättest du nie geschafft und das weißt du auch. Außerdem war mir klar, dass du mich nicht alleine gehen lassen würdest“, meinte sie traurig und legte mir ihre freie Hand leicht an die Wange. Sie war ganz nass. Erschrocken zog ich ihre Hand dort hin, wo ich sie genauer betrachten konnte. „Jodie....“ Die Hand war voller Blut. Nun ließ ich meine Augen über ihren ganzen Körper schweifen. Mir stockte der Atem. Alles war von ihrem dunklen Blut bedeckt, ihre Beine waren unnatürlich zur Seite gestreckt. Schwer schluckend sah ich auf meine Hände und musste feststellen, dass auch die mit der warmen, tiefroten Flüssigkeit überzogen waren. Wieder schaute ich Jodie ins Gesicht und bemerkte, dass auch sie mich ansah. Als sie meinen Blick auffing, versuchte sie zu lächeln. Es sah falsch aus, als würde sie nur ihre eigene Angst damit wegwischen und verbannen wollen. Sich davon überzeugen wollen, dass alles wieder gut wird, so wie früher. Doch das würde es nicht, nie wieder. Jedenfalls nicht genau so wie früher. Dieser Unfall hatte uns gezeichnet. Vor allem meine beste Freundin würde es schwer haben, vielleicht wäre sie für immer an einen Rollstuhl gefesselt, oder so traumatisiert, dass sie sich nie wieder einem Pferd nähern könnte.
Anscheinend hatte ich bei diesen Gedanken sehr traurig geschaut, denn Jodie sagte: „So etwas darfst du nicht denken, okay?!“ Wieder hob sie ihre Hand und wischte mir die Tränen von den Wangen. Doch sobald sie weg waren, traten auch schon neue hervor und liefen über. Schließlich gab sie es auf.
„Wieso darf ich das nicht denken?! Weil 'alles wieder gut wird' ?! Ist das dein Ernst?!“, warf ich ein. „ Nein, natürlich nicht, so naiv bin selbst ich nicht. Ich weiß, dass nichts wieder gut wird. Zumindest nicht für mich. Aber ich will nicht gehen, in dem Wissen, dass du dir die Schuld aufbürdest und dir solche Vorwürfe deswegen machst.“ „Gehen?! Spinnst du, du wirst nicht gehen! Das lasse ich nicht zu!“, rief ich fassungslos. Wieder versuchte sie leicht zu lächeln, erbärmlich : „ Siehst du?! Und genau das sollte nicht so sein. Ich will mit allem im Reinen sein, bevor ich gehe. Ich will mich guten Gewissens verabschieden können.“
„Ich, ich, ich! Sag mal hörst du dir selbst eigentlich zu?! Was ist mit mir?! Was soll aus mir werden, wenn du nicht mehr da bist?!“, schluchzte ich verzweifelt.
„Du wirst darüber hinwegkommen“, entgegnete sie ruhig.
„Woher zum Teufel willst du das wissen?! Du bist auch nicht allwissend, weißt du?!“ Ich war am Ende meiner Kräfte. Da kam etwas auf mich zu, was ich nicht verhindern, aber auch nicht begreifen konnte. Und ich wollte das auch gar nicht. Verdammt, ich war hilflos und konnte nichts dagegen tun! Dieses Wissen war mit das Schlimmste.
„Du musst doch noch mit mir auf die Academy! Das war deine Idee!“, versuchte ich erneut, das Unaufhaltsame zu leugnen.
„Das wirst du wohl ohne mich tun müssen.“ „Ich will es aber nicht ohne dich tun!“
„Izzie“, sagte sie ruhig, „wir haben keine Wahl!“ Diese Erkenntnis bohrte sich in mein Herz, mein Hirn hinein. Sie hatte es ausgesprochen, das machte das ganze noch endgültiger. Zwar hatte ich es tief in meinem Innern schon begriffen, doch die Worte aus ihrem Mund zu hören, traf mich wie ein Schlag. Wir hatten keine Wahl. Nur hier bleiben und warten, bis es zu Ende ist, mehr konnten wir nicht tun. Vorhin hatte ich noch die Wahl. Ich hätte alles tun sollen, um sie von ihrem riskanten Vorhaben abzubringen, auch wenn ich uns dann verraten müsste. Doch ich hatte es nicht getan. Ich war ihr gefolgt, so wie es schon immer gewesen war. Und wie ich es auch weiterhin immer getan hätte. Nie wieder würde ich ihr in irgendetwas nachgeben können. Diese Tatsache ließ mich erneut laut aufschluchzen.
„Ich will nicht dass du weinst!“, warf meine verletzte Freundin ein. „Ich aber!“, gab ich weinerlich zurück.
„Izzie, du musst mir etwas versprechen“, begann sie plötzlich leise und ich konnte sehen, wie nun auch ihr die Tränen über das Gesicht kullerten. „Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Und auf Diabolo, du darfst nicht zulassen, dass ihm etwas passiert! Und du musst auf die Academy.“ „Nein!“ „Doch Izzie, ich bitte dich, schmeiß diese Chance nicht einfach so weg!“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Sag meiner Familie bitte, dass ich sie lieb habe. Vielleicht werden sie dir nicht sofort glauben, ich war in letzter Zeit sehr.. kratzbürstig und ungerecht. Aber tu bitte alles, um ihnen das nahezulegen, bitte!“
Am Ende wurde ihre Stimme immer leiser und brüchiger. Ich schlang meinen rechten Arm um sie und sank über ihrem Körper zusammen, die Tränen rannen wie ein Wasserfall über mein Gesicht. „Ich..Ich hab dich lieb, Jodie!“, brachte ich mühsam über die Lippen und sah ihr in die feuchten Augen. „Ich dich auch, Izzie. Mehr als du vielleicht ahnst. Aber du musst loslassen..“ Sie verstummte und sah mich aus trägen Augen an. Dann schlossen sie sich. Für immer.


5.

Dort, wo vor wenigen Augenblicken noch mein Herz gepumpt hatte, war nun nur noch ein klaffendes Loch, gähnende Leere. Nichts.
Hier saß ich, zusammengesunken neben meiner besten Freundin, deren Herz tatsächlich nicht mehr schlug. Neben Jodie, die nicht mehr atmete.
Tränen hatte ich schon lange keine mehr.
Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte den hellen Vollmond an.
Vor einer Weile hatte ich die Pferde fliehen hören, doch es war mir egal. So viel konnte passieren, wenn sie mit donnernden Hufen über den feuchten Boden und durch den Wald preschten. Wenigstens wurde alles vom Mondlicht eingetaucht, es war nicht vollkommen stockdunkel. Doch das alles war mir egal. Regen benetzte meine Haut. Ich nahm es kaum wahr.
Noch ein letztes Mal sah ich meine Freundin Jodie an. Dann durchfuhr ein stechender Schmerz meine linke Seite, die Welt drehte sich und mein Universum verdunkelte sich...


'Izzie. Hey, gut zuhören, das ist wichtig!'
'Jodie ?!'
'Natürlich bin ich Jodie, Schlafmütze!'
'Aber..du..du bist doch..tot..?! Ich war dabei, ich habe es gesehen!'
'Wieder korrekt.'
'Aber wie..?! Bin ich auch tot?'
'Nein.'
'Wie kann das dann sein? Was ist dann mit mir passiert?'
'Das wirst du schon früh genug erfahren. Doch jetzt, hör auf mit den Fragen, ich habe dir etwas zu sagen. Ich erinnere dich an deine Versprechen, weißt du noch?! Du hattest mir versprochen, auf Diabolo aufzupassen, dich um ihn zu kümmern. Und das ist jetzt auch dringend nötig. Lass nicht zu, dass ihm etwas zustößt, dass ihm jemand etwas antut! Er braucht deine Hilfe, du musst ihm helfen!'
'Wieso, was stimmt nicht mit ihm?'
'Wie gesagt, das wirst du schon noch früh genug erfahren. Aber du MUSST mir das versprechen, keine Fragen, versprich es einfach!'
'So lange ich nicht weiß, um was es geht..'
'Izzie!'
'Ist ja gut, ich verspreche es dir! Zufrieden?!'
'So gut wie.'
'Und was willst du noch? Mensch Jodie, lass dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen!'
'Du wirst auf die Academy gehen.'
'Nein.'
'Oh doch Fräulein!'
'Nein, verdammt noch mal, ich habe nein gesagt!'
'Izzie Porter, du wirst dir diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen! Das war doch schon immer unser Traum, das kannst du nicht einfach achtlos wegwerfen!'
'Richtig, es war UNSER Traum. Doch es gibt kein UNS mehr!'
'Das weiß ich.'
'Ich werde nicht dorthin gehen!'
'Oh doch, das wirst du, glaub mir... Aber nun musst du erst mal aufwachen...'
'Jodie?! Jodie! Bleib hier! Bleib bei mir, lass mich nicht schon wieder alleine! Das kannst du doch nicht machen! Wir haben das noch nicht geklärt, du kannst nicht immer das letzte Wort haben und deinen Willen bekommen! JODIE!'


„Jodie! Geh nicht, bleib! Jodie..“
„Izzie?! Schatz, bist du wach, kannst du mich hören?“ Das war die doch die Stimme meiner Mutter...
„Mom?“, krächzte ich leise. Mein Hals war staubtrocken, egal wie oft ich versuchte zu schlucken.
„Ich bin hier mein Schatz!“
Weinte sie etwa?! Langsam hob ich meine rechte Hand und legte sie an ihre Wange. Da sah ich, dass ich verkabelt war. In meinem Handrücken steckten Nadeln, ich war mit Schläuchen an piepsenden Maschinen angeschlossen. Panik durchfuhr mich, der Monitor zu meiner Linken zeichnete hektische Zick-Zack-Muster auf und begann nun lauter und schneller zu piepsen. Der Grund dafür war meine Erkenntnis. Ich wurde von tiefer Trauer erfüllt. Jodie.
„Wo ist sie?!“, fragte ich aufgewühlt. Die Antwort kannte ich schon. „Wo ist Jodie?“
Nun sah meine Mutter mich mitleidig an. „Liebling...“
„Sag es mir einfach, Mom. Die Wahrheit.“
Sie seufzte ergeben: „Deine Freundin..sie..Izzie, Jodie war schon tot, als man euch gefunden hatte. Für sie war es leider zu spät.“
Spätestens jetzt hatte ich Gewissheit. Ich schluckte schwer und begann still vor mich hin zu weinen. Das salzige Nass rann ununterbrochen an mir herab und durchnässte mein Nachthemd. Zum ersten Mal kamen mir nun die Pferde in den Sinn. Ich wollte mich aufsetzen und meine Mutter danach fragen, doch bei dem Versuch mich zu erheben sank ich stöhnend zurück auf das feuchte Kissen.
„Hast du Schmerzen?“, fragte Mom mich besorgt.
„Nein, es macht mir einfach Spaß, so zu tun als ob..“, stieß ich mit verbissenen Zähnen hervor.
Doch noch bevor ich weiter sarkastisch werden konnte, betraten ein Arzt und zwei Schwestern das helle Einzelzimmer.
„Du bist von selbst aufgewacht, das ist gut. Wie geht es dir denn, Izzie?“, fragte der Arzt routinemäßig.
„Wie soll es mir schon gehen?! Ungefähr so, als wäre ich von einem Laster überrollt worden.“
Die seelischen Qualen die ich durchlitt, brachte ich nicht zur Sprache.
„Izzie!“, ermahnte meine Mutter mich mit strengem Blick.
„Was denn, ist doch wahr...“, gab ich leise brummend von mir. „Aber jetzt will ich endlich wissen, was genau eigentlich passiert ist!“
„Sie hatten einen schweren Reitunfall“, begann der Mann im hässlichen weißen Kittel.
„Ach was, ich dachte schon, ich wäre gegen die Wand gerannt!“ So langsam wurde ich ungeduldig.
„Izzie, jetzt reiß dich gefälligst zusammen!“ Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte sich meine Mutter an den Arzt.
„Wie bitte?! Ich soll mich zus...“, schrie ich beinahe. Doch ich unterbrach mich selbst. So würde ich auch keinen Schritt weiterkommen.
„Nun“, fuhr der Arzt fort, „ als ihr von einer gewissen Mary Walker und ihrem Mann gefunden wurdet, warst du bereits bewusstlos. Deiner Freundin konnten wir bedauerlicher Weise nicht mehr helfen.“
Auf einmal keimte Wut in mir auf. Wut auf diesen Besserwisser. 'Bedauerlicher Weise'..?! Hatte der sie eigentlich noch alle?! Wir redeten hier schließlich von meiner besten Freundin!
Bevor ich meinem Unmut Luft machen konnte, begann er erneut zu sprechen: „Deine ganze linke Seite wurde gequetscht, drei deiner Rippen sind gebrochen. Außerdem hattest du schwere innere Verletzungen, weshalb wir dich auch für die letzten vier Tage ins künstliche Koma versetzen mussten.“
Stop. WAS?! Künstliches Koma?! Ich musste mich verhört haben...


6.

Tropf. Tropf. Tropf.
An meinem Fenster liefen die Regentropfen in Strömen herab. Mehr gab es nicht zu sehen. Stunden starrte ich nun schon in den grauen Regen. Das Wetter hatte sich meiner Gefühlslage angepasst: grau. Leere. Gleichgültigkeit. Trauer. Schuld.
„Ich kann dich starren hören“, hauchte ich kaum hörbar, ohne mich umzudrehen.
Langsame Schritte näherten sich meinem Bett.
„Izzie, meinst du nicht, es wird so langsam Zeit, nach den Pferden zu sehen?“, begann meine Mutter vorsichtig, nachdem sie sich zu mir gesetzt hatte.
„Wozu?“
„Izzie..“
Geräuschvoll stieß ich angestaute Luft durch die Zähne. Dass ich sie scheinbar angehalten haben musste, hatte ich nicht bemerkt.
„Ich kann nicht. Es geht einfach nicht.“
Nun seufzte auch mein Gegenüber. „Mary wartet auf deine Entscheidung, das weißt du.“
„Wieso eigentlich? Das ist doch jetzt die Sache von ..ihren Eltern.“ Beinahe eine Woche nach dem Unfall konnte ich ihren Namen noch immer nicht laut aussprechen. Dann wurde mir ihre Abwesenheit jedes Mal schmerzlich bewusst.
„Sie können das nicht tun. Sie sind der Meinung, du wärst besser dafür geeignet. Wenn du dich jedoch nicht bald entscheidest, haben sie keine Wahl. Und ich denke du weißt, was das heißt.“
Und wie ich das wusste.
Noch am selben Tag, an dem ich das Krankenhaus verlassen hatte, quetschte ich meine Mutter aus. Von ihr hatte ich nach einiger Überredung auch erfahren, was ich nicht mitbekommen hatte. Wie ich mir schon gedacht hatte, waren Diabolo und Majestic geflohen. Mary war vom Geräusch der schlagenden Hufe auf dem Asphalt geweckt worden und war aus dem Haus gestürmt. Schlitternd war Majestic einige Meter vor ihr zum Halten gekommen. Diabolo hatte weniger Glück gehabt: Er verfing sich im Zügel, verlor das Gleichgewicht, rutschte dank seiner glatten Hufeisen auf dem Asphalt aus und stürzte. Dabei hatte er sich einen Riss im rechten Vorderbein geholt. Es war zwar nicht gebrochen, aber sehr nahe dran.
Und nun wartete das Pferd in einer gesicherten, gepolsterten Box. Es wartete auf meine Entscheidung.
„Ich kann doch nicht über Leben oder Tod eines Lebewesens entscheiden!“, sagte ich.
Warum machte man es mir nur immer so schwer ? Würde ich noch lange warten, wollten Jodies Eltern Diabolo erschießen lassen. Für sie war das Pferd mit Schuld am Tod ihrer Tochter. Außerdem würde die Behandlung sehr teuer werden und Monate dauern. Es war nicht einmal garantiert, dass er sein Bein nach dieser langwierigen Prozedur so uneingeschränkt benutzen konnte, wie vorher. Kurz gesagt: Für sie war es die ganzen Unannehmlichkeiten, die damit verbunden waren, einfach nicht wert.
Jedoch hatte Diabolo laut Tierarzt, eine Chance. Und ich hatte meiner Freundin etwas versprochen.
„Fahr mich bitte in den Stall“, bat ich meine Mom nach einigen Minuten des Schweigens.
„Natürlich Schatz“, entgegnete sie. Ich meinte, ich hätte den Anflug eines Lächelns aus ihrer Stimme herausgehört.


7.

„Hallo Izzie, schön, dass du vorbeischaust! Wie geht es dir ?“, begrüßte Mary mich, als ich auf den Hof trat. Wie diese Frage mich doch nervte.
„Ganz okay.“ Meine Standardantwort.
„Sollen wir zu ihnen?“
„Deshalb bin ich hier.“
Das Mitleid stand ihr ins Gesicht geschrieben. Das war einer der Gründe, weshalb ich nur ungern jemandem in die Augen sah: Das Mitleid. Ich wollte das nicht sehen, es ließ mich erschauern, denn dann wurde mir bewusst, weshalb man mich so ansah. Bei einer dämlichen, kindischen Aktion, der größten Leichtsinnigkeit überhaupt, hatte ich meine beste Freundin verloren. Ich hatte hilflos mit ansehen müssen, wie ihr Licht erlosch. Ich trug einen großen Teil der Schuld auf meinen Schultern.
„Dann mal los“, riss Mary mich aus meinen Gedanken. Schlurfend trottete ich hinter ihr her, auf den altbekannten Stall zu. War ich wirklich schon bereit, zu sehen, was für Folgen meine Nachgiebigkeit bei den Tieren gehabt hatte? Was ich angerichtet, ihnen angetan hatte? Würde ich jemals bereit dazu sein?
Schweigend blieb Mary in der Mitte der Stallgasse stehen und deutete auf die hinterste Box, auf die ich nun zielstrebig zusteuerte. Leise begann ich zu pfeifen. Da schob sich ein pechschwarzer Kopf in mein Sichtfeld. Majestic hatte die Ohren leicht angelegt.
„Hey, Großer! Geht es dir besser?“
Er legte den Kopf schief, richtete die Ohren aufmerksam nach vorne und streckte mir mit gestrecktem Hals seine Nüstern entgegen. Sanft drückte ich ihm einen Kuss darauf. So wie wir es immer getan hatten. Er würde mir verzeihen. Irgendwann.
Vom Tierarzt hatte ich erfahren, dass mein Pferd noch am besten davongekommen war. Er hatte sich beim Sturz auf die Seite eine Rippe leicht angeknackst. Doch der Schreck saß tief.
Vorsichtig hob ich meine Hand um ihm über den Kopf zu streicheln, doch diesen riss er ruckartig in die Höhe.
„Er ist sehr schreckhaft geworden, du bist die einzige, die er so lange so nah an sich heranlässt. Den Arzt hat er auch nur geduldet, weil er ruhiggestellt wurde“, vernahm ich nun die Stimme meiner Reitlehrerin direkt hinter mir. Ich fuhr herum. Dadurch war mein Blick nun auf die Box gegenüber gerichtet. Es war Diabolos. Langsam ging ich darauf zu, doch sie war leer. Verwundert sah ich wieder zu Mary.
„Er steht momentan in einem Einzelstall. In der Klinik war nicht länger Platz für ihn.“
Stumm verließen wir den Stall und gingen auf eine kleine Scheune zu, weit entfernt vom eigentlichen Stall. Als Mary die große Holztür zur Seite schob, ertönte ein lautes Wiehern.Unbeirrt ging ich auf das Geräusch zu. Kurz bevor ich vor der Boxentür stand, reckte ich meinen Hals, um durch die Gitterstäbe zu spähen. Unruhig lief Diabolo mit hoch erhobenem Kopf im Kreis herum. Langsam kam ich nun direkt vor seiner Box zum Stehen. Als er mich nun ganz sah, verharrte er plötzlich in seinem nervösen Schritt und drehte seine Ohren in meine Richtung. Dann war es still, bis Mary sich auf uns zu bewegte. In diesem Moment verfiel der Wallach wieder in Bewegung. Als er sich auf die mir bisher verborgene Seite drehte, konnte ich erstmals seine Verletzungen erkennen. Mir stockte der Atem. Seine komplette rechte Seite war vernarbt, seine Brust noch immer verbunden. Wenn ich ehrlich war, wollte ich lieber gar nicht wissen, wie es darunter aussah. Auch am Kopf hatte er Blauspray, welches Entzündungen vorbeugen und Fliegenbefall verhindern sollte.
Doch irgendetwas stimmte nicht...
„Mary?“, begann ich mit gerunzelter Stirn. „Hattet ihr nicht gesagt, er hätte sich ein Bein angeknackst?“
„Das rechte Vorderbein. Aber es ist zum Glück nur ein feiner Riss im Knochen. Trotzdem sollte er sich noch eine Weile so wenig wie möglich bewegen.“
Nun sah ich es auch. Besagtes Bein hatte einen steifen Verband umgebunden und wurde etwas von Diabolo nachgeschleift.
„Sei ehrlich, wird er wieder?“, fragte ich sie leise, jedoch ohne große Hoffnung. Ich kannte die Antwort.
„So wie früher? Nein. Aber ich denke das weißt du. Sein Bein wird noch etwas brauchen, aber der Tierarzt gibt Grund zur Hoffnung. Seine Seele jedoch...“
„Ist und bleibt geschädigt..“, beendete ich ihren Satz im Stillen.
„Lass ihn nicht hängen“, hörte ich plötzlich eine mir sehr bekannte Stimme im Hinterkopf flehen. „Du hast es mir versprochen..“
In diesem Moment traf ich eine Entscheidung.


8.


Zwei Tage später lief eine lange Menschenreihe in schwarzen Klamotten und mit gesenkten Köpfen hinter dem Sarg aus der Kirche. Allen voran Mr und Mrs Davis, gefolgt von mir und all Jodies Angehörigen. Sie alle weinten. Ich nicht.
Wie durch eine milchigweiße Wand sah ich zu, wie Reden gehalten und der Sarg meiner Freundin in das tiefe, dunkle Loch hinab gelassen wurden. Noch immer weinte ich nicht.
Als das Grab verschlossen und Blumenkränze daraufgelegt worden waren, entfernten sich immer mehr Leute. Irgendwann stand ich allein mit ihren Eltern davor und starrte auf den kalten, weißen Stein. 'Jodie Davis'.
Ich spürte, wie mir jemand auf die Schulter klopfte und hörte die immer leiser werdenden Schritte auf dem langen Kiesweg.
Langsam sank ich vor Jodie auf die Knie und hockte mich auf die Fersen. Ich zündete die Kerze an und ganz langsam sickerte alles zu mir durch. Eine stille Träne lief mir über die Wange. Dann vernahm ich ein Geräusch. Ace ließ sich neben mir nieder und jaulte unglücklich auf, bevor er mir seine feuchte Schnauze auf die Wange drückte. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und ich lehnte meinen leicht darauf. So saßen wir, der Wind fuhr durch meine langen Haare und trieb mir weitere Tränen übers Gesicht.

Die Ferien hatten bereits begonnen, so dass ich täglich stundenlang im Stall verbringen konnte. Mr und Mrs Davis waren zwar sehr skeptisch gewesen, doch ich hatte sie zumindest so weit überzeugen können, dass sie Diabolo am Leben ließen und mir die Chance gaben, mit ihm zu arbeiten. Majestic hatte ich mittlerweile neben den grauen Wallach gestellt, um die beiden durch die Gesellschaft zu beruhigen.
Wie so oft, saß ich auch an diesem warmen Tag vor den Boxen der beiden Pferde. Sie waren total verschmutzt, niemand hatte sich gewagt, ihnen näher zu kommen als unbedingt nötig. Heute jedoch wollte ich das ändern, zumindest bei Majestic wollte ich einen Versuch starten. Langsam erhob ich mich und ging auf seine Box zu.
„Majestic! Hey Süßer, wie siehst du denn aus?“, begann ich mit ihm zu reden. Aufmerksam richtete sich erst das eine, dann auch das andere Ohr in meine Richtung.
„Na komm schon Großer, das ändern wir jetzt!“
Nun hatte er mir den ganzen Kopf zugewandt und sah mich schief an. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen schnappte ich mir den Strick und öffnete die Tür.
„Soo, alles okay, na komm her..“, sprach ich mit tiefer, beruhigender Stimme. Es funktionierte, mein Pferd kam einen kleinen Schritt auf mich zu und ließ sich von mir den Strick anmachen. Zufrieden hielt ich ihm ein Stück Apfel entgegen, das er dankbar entgegennahm.
„Na also.“
Vorsichtig drehte ich mich um, doch der schwarze Hengst bewegte sich keinen Zentimeter. Im Gegenteil: Er stemmte die Hufe in den Boden und hielt seinen mächtigen Kopf hoch erhoben, während er mit aufgerissen Augen verängstigt schnaubte.
„Heee, Majestic, na komm, alles gut!“, redete ich auf ihn ein. Doch er wollte sich einfach nicht vorwärts bewegen.
„Bitte Majestic, es ist doch alles in Ordnung!“
Und siehe da, nach einigen Minuten des Gut-Zu-Redens lief er mir hinterher. Auf der Stallgasse blieb ich stehen und band ihn links und rechts fest. Diabolo hatte das Ganze neugierig beobachtet und legte seinen schönen Kopf schief. Bei seinem Anblick hätte ich beinahe wieder lachen können. Beinahe.
„So Schatz, dann fangen wir mal an.“
Ich holte Striegel und Kardätsche und machte mich an seinem verdreckten Fell zu schaffen. Anfangs hatte Majestic die Putzaktion kritisch beäugt, vor allem als ich auf die Seite kam, die verletzt war, doch nun genoss er es sichtlich. Die Augen halb geschlossen stand er friedlich da und ließ sich überall von mir anfassen. Nachdem ich einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis war, kamen noch Hufe, Mahne und Schweif an die Reihe.
Plötzlich stand der wunderschöne, pechschwarze Friesenhengst vor mir, den ich kannte.
„Siehst du, das war doch gar nicht so schlimm, oder?!“
Tatsächlich war das ein großer Schritt in Richung Vertrauen gewesen, welches ich mir erst wieder zurückgewinnen musste. Doch wahre Freunde vergeben.


9.


Schon bald hatte ich Majestic so weit, dass er sich problemlos von mir putzen und spazierenführen ließ. Nach und nach bauten wir wieder gegenseitiges Vertrauen auf und machten fast täglich Fortschritte.

Diabolo war jedoch eine andere Sache. Der Wallach hatte den Stall aufgrund seiner Verletzung noch immer nicht verlassen, was ihm überhaupt nicht passte. Jedes Mal, wenn ich mein Pferd aus seiner Box holte, wieherte Diabolo uns laut nach und riss unwillig seinen Kopf in die Höhe, ein Zeichen seines Unmutes. Er war es allmählich leid, alleine stehengelassen zu werden, was durchaus verständlich war, denn so ein feuriger Araber will schließlich bewegt werden. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis er den Stall wieder verlassen dürfte.

Majestic hingegen wurde nun wieder behutsam daran gewöhnt, mich auf ihm reiten zu lassen. Seine anfängliche Skepsis wandelte sich schon bald in eifrige Mitarbeit und so konnte ich wieder regelmäßig mit ihm trainieren.

„Izzie, wir müssen los!“, rief meine Mutter von unten zu mir herauf.

Meine Koffer waren im Auto verstaut, die Pferde verladen. Alles war bereit zur Abfahrt.

Nur ich stand noch in meinem fast leeren Zimmer und drehte mich um mich selbst. Plötzlich verharrte ich ich in meiner Bewegung und lief langsam auf die Kommode zu.

Dort stand ein gerahmtes Bild von Jodie und mir mit unseren Pferden, welche wir zu diesem Zeitpunkt gerade erst bekommen hatten. Am Rand stand '4-Team 4ever'.

Vorsichtig nahm ich es in die Hand und betrachtete diese zwei glücklich lächelnden Mädchen mit ihren Pferden. Es kam mir vor, als wäre das noch ein anderes Leben gewesen, ein glücklicheres, leichteres.

Und vor allem ein vollständiges.

Als ich merkte, dass ich angefangen hatte zu weinen, sah ich in den Spiegel an der Tür und blickte in das Gesicht eines blassen, kränklich aussehenden Mädchens mit müdem und leerem Blick. Alles ausdrucksvolle war aus ihnen gewichen.

Doch ich hatte meiner Freundin ein Versprechen gegeben. Ein Versprechen, das ich einhalten wollte, es zumindest versuchen wollte.

So wischte ich die Tränen weg und atmete tief durch, bevor ich mich ein letztes Mal umsah und das Haus verließ. ~Fortsetzung folgt..~

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Tag der Veröffentlichung: 26.08.2010

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