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Leseprobe




»Nein, ich würde den Weihnachtsmann nicht verjagen. Ich wollte noch
ganz viele Weihnachten haben. Noch hunderthunderttausende.«

3. Advent



Blühende Fantasie
Oder: Das Geheimnis um ein verfrühtes Weihnachtsfest.




Hört gut zu. Ich will euch ein Geheimnis verraten. Ihr müsst wissen, mir ist etwas ganz Außergewöhnliches widerfahren. Nur kann ich es niemandem erzählen. Warum nicht? Na ganz einfach deshalb, weil es mir keiner glauben würde. Vielleicht Jule, meine Nachbarin, aber die ist im Skiurlaub mit ihrer Familie und da bleiben nur noch meine Eltern übrig. Und die würden es eben nicht glauben. Ich weiß das so genau, weil mir oft außergewöhnliche Dinge passieren und ich schon oft versucht habe, ihnen davon zu berichten.
Dann sagen sie nur so etwas wie »Ja, Luise, das weiß ich doch.« oder »Ach, Kind, es ist so schön, was für eine blühende Fantasie du hast.«
Natürlich ist es schön, was ich für eine blühende Fantasie habe, und ich benutze sie auch gerne, aber das habe ich mir eben nicht ausgedacht.
Ich bin erst sechs. Vielleicht nehmen sie mich deswegen nicht ernst. Oder weil ich zwei Zöpfe mit lila Schleifen auf dem Kopf habe. Oder weil ich noch nicht ganz bis hundert zählen kann. Woran es liegt, das weiß wohl niemand so genau, aber eben deshalb kann ich es ihnen nicht erzählen.

Was geschehen ist? Eine ganze Menge. Der Kalender im Flur wurde umgeschlagen auf Dezember. Mama, Papa und Oma sind heimlich in die Stadt gefahren, um Geschenke zu kaufen und draußen hat es geschneit, viele weiße Flocken. Ja, das geschieht natürlich jedes Jahr. Es ist nur so, dass noch etwas anderes passiert ist.
Am Tag vor Heilig Abend drehen sie alle völlig durch. Mama springt in der Küche auf und ab, Töpfe klappern und alle halbe Stunde geht der Küchenwecker, damit die Gans nicht anbrennt. Papa macht einen furchtbaren Krach im Keller, weil er da die Krippe zusammenbaut und Oma schnürt Päckchen und schreibt Kärtchen, die nachher unterm Baum liegen mit unseren
Namen darauf. Und alle schauen ständig auf ihre Uhren und fassen sich an die Stirn und wirbeln an einem vorbei. So geht das bis zur letzten Minute, wenn es Zeit ist, in die Kirche zu gehen.
Daran habe ich mich längst gewöhnt. Am besten ist es, man verhält sich ganz still und leise. Ich setze mich meist in Ecken oder lasse mich in große Sessel sinken. Da schaue ich dann ein Video oder male ein Bild oder sehe einfach nur zu, was sie alle treiben. Und manchmal lache ich ganz heimlich darüber, wie lustig sie aussehen, wenn sie von hier nach dort und zurück flitzen ohne zu bemerken, dass ich hier sitze und zuschaue.
Fragen darf man an solch einem Tag keinen etwas, denn dann werden sie ganz furchtbar rot, schieben einen durchs Zimmer, setzen einen irgendwohin und geben einem Aufgaben. Nein, das habe ich nicht getan. Darin habe ich Erfahrung. Ich habe nur dagesessen und mir die Flöckchen angesehen, die auf die weiße Schneedecke im Garten fielen. So lange, bis es ganz dunkel wurde draußen. Dann gingen die Laternen an und die Flocken sahen aus wie kleine schwarze Fliegen, die im Sommer im Licht herumfliegen.
Eins, zwei, drei, vier, zählte ich und da hörte ich auf einmal einen riesigen Rums in meinem Zimmer. Erst wollte ich zu Mama in die Küche laufen, aber die hatte sich gerade die Finger am Blech verbrannt und schimpfte ganz laut vor sich hin. Also bin ich den Flur entlang gerannt bis hin zu meiner Tür und habe sie ganz vorsichtig einen Spalt geöffnet. Schnee! Da lag ganz viel kalter, nasser Schnee auf meinem rosa Teppich. Und das Fenster
stand offen. Schnell lief ich hinein und machte es wieder zu. Und da sah es aus, sage ich euch! Der ganze Teppich nass und riesengroße Fußabdrücke mitten drin. Ich tapste mit meinen Strümpfen in einen hinein. Ja, so große Stiefel hat selbst mein Papa nicht! Ich tapste in den nächsten und den nächsten, bis meine Füße nass und kalt und die Spur vorbei war. Genau vor dem Fenster hörte sie auf. Das war doch schon sehr seltsam. So seltsam, dass ich nachschauen musste, wer da einfach so in mein Zimmer gestiegen und alles schmutzig gemacht hatte. Und überhaupt, wer konnte denn so große Füße haben? Ich krabbelte auf die Heizung und machte das Fenster wieder auf.
Vorsichtig beugte ich mich ein Stück raus und lauschte angestrengt. Nichts.
Nur Dunkelheit und weißer Schnee überall auf der Wiese. Schnee, Schnee, Schnee und – Fußstapfen! Mitten durch den Garten bis hin zu der großen Tanne. Ich lehnte mich noch ein Stück weiter raus und musterte den breiten Stamm. Irgendwas war da unter dem Baum und bewegte sich. Und als ich dann erkannte, was da in unserem Garten unter dem Baum stand, könnt ihr euch denken, was für einen Schreck ich bekam. Ein Schlitten. Ein riesiger,
langer Schlitten mit vier Rentieren daran und einem großen, roten Klumpen Mensch darauf. Und der große rote Klumpen hatte ganz kleine, blinkende und funkelnde Augen, die erschrocken zu mir rüber schauten. Ganz schnell stieß ich das Fenster zu, sprang von der Heizung runter auf den Boden und hielt mir die Hände vors Gesicht. Der Weihnachtsmann war in unserem Garten! Aber es war doch noch gar nicht Weihnachten. Ich schaute hinüber zu meinem Adventskalender. Das 24. Türchen in der Mitte war noch fest verschlossen. Nein, Weihnachten war es ganz sicher noch nicht.
Bevor ich weiter grübeln konnte, fiel mir die Gute-Nacht-
Geschichte ein, die mir Oma am 3. Advent vorgelesen hatte. Da ist der Weihnachtsmann vom Himmel gefallen und alle haben ihn angestarrt und auf ihn eingeredet und sich seine Geschenke gekrallt. Ja, und dann, dann war der arme Mann so eingeschüchtert, dass er nicht wieder kam. An keinem einzigen Weihnachtsfest, weil doch niemand je den Weihnachtsmann sehen sollte. Weil es doch sonst nicht mehr geheim wäre und spannend und festlich. Nein, den Weihnachtsmann darf man nicht sehen. Und schon gar nicht, wenn gar kein Weihnachten ist.
Und was nun? Ich saß immer noch ganz still und leise an der Heizung gelehnt in der Schneepfütze auf meinem Teppich. Nein, ich würde den Weihnachtsmann nicht verjagen. Ich wollte noch ganz viele Weihnachten haben.
Noch hunderthunderttausende. Aber jemand musste ihm doch sagen, dass er sich im Tag geirrt hatte. Sonst würde er in alle Häuser kommen und die Menschen überraschen, die ja gar nicht in der Kirche, sondern zu Hause wären, weil ja gar nicht Heilig Abend, sondern erst der dreiundzwanzigste Dezember wäre. Ja, das musste wirklich gemacht werden. Also kletterte ich
wieder hinauf und machte vorsichtig das Fenster auf. Da war er noch, unter der Tanne im Schnee. Ich blinzelte nur ganz vorsichtig, um ihn nicht richtig anzugucken. Dann lehnte ich mich ganz weit vor und flüsterte:
»Du, ich schau dich nicht an, aber du bist zu früh!«
Irgendetwas regte sich unterm Baum und dann war es wieder still.
»Morgen ist erst Weihnachten, aber du kannst ruhig so lange in unserem Garten warten.« [...]


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Texte: Piepmatz Verlag ISBN:978-3942786126
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2011

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