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Nicole Schröter



Die Decke



Papa holte mich von der Schule ab. Das tat er fast nie. Aber heute war ein besonderer Tag. Heute fuhren wir zu Tante Johanna.
Bis letzte Woche hatte ich gar nicht gewusst, dass es eine Tante Johanna gab. Ich hatte auch nicht gewusst, dass es noch ein Stück deutsches Land gab, wo man aber nicht so einfach hin konnte. Die Deutschen, die dort lebten, waren mal eingesperrt worden, vor langer Zeit. Man hatte eine hohe Mauer gebaut, damit sie nicht weglaufen konnten. Davor hatte man zur Sicherheit noch einen Streifen, mit kleinen Bomben unter der Erde, geschaffen. So jedenfalls hatte ich es verstanden.
Ich sah unseren metallic-grünen Audi 80 schon von Weitem.
Mama saß auf dem Beifahrersitz. Sie sah irgendwie angespannt aus. Nicht so, wie wenn wir in den Sommerurlaub fuhren. Gestern Abend hatten wir noch bis spät komische Sachen gemacht: Während Papa schwitzend in seiner Schallplattensammlung herumsortierte, hatte Mama erst ihren und dann meinen Schrank durchgesehen. Alles, von dem sie nicht sicher war, ob es mir noch passte, musste anprobiert werden. Das hatten wir ewig nicht getan. So kam am Ende ein großer Karton mit Sachen dabei heraus, den Papa noch fluchend versuchte, im Auto verstaut zu kriegen. Es hatte nicht geklappt und so stand er jetzt hinter Mamas Sitz auf der Rückbank. Ich würde also mit einem Wäschekarton neben mir reisen müssen. Na toll! Und ich würde mich auch nicht zum Schlafen auf die Rückbank legen können.
Als ich einstieg, sagte nur Papa: »Hallo!«
Mama fragte stattdessen ohne Umschweife nach meinem Portemonnaie.
»Wozu?«, fragte ich.
»Ich muss es zählen«, antwortete Mama. Sie drehte sich halb zu mir nach hinten um und fuchtelte mit einem grauen Zettel vor meiner Nase herum.
»Was ist das? Sieht aus wie das Klopapier, das wir in der Schule haben«, stellte ich fest.
»Hier muss man jeden Pfennig West-Geld eintragen, den man mit in die Ostzone einführt.«
»Ostzone darf man nicht sagen!«, wies Papa sie zurecht.
Ostzone? West-Geld? Ich verstand gar nichts mehr. Bis jetzt hatte unser Geld immer D-Mark geheißen.
Inzwischen hatten wir die Autobahn erreicht und Papa erklärte mir, dass Deutschland aus zwei Teilen bestehe: Westdeutschland – das war, wo wir wohnten. Und Ostdeutschland – das war, wo Tante Johanna wohnte.
»Aha!«, sagte ich gelangweilt und verstand immer noch nichts. Ich wühlte in meinem Schulranzen, den ich aus Platzmangel zwischen meinen Füßen hatte parken müssen. Dann setzte ich die Kopfhörer meines nagelneuen Sony-Walkmans auf und drückte auf die Play-Taste, die sofort wieder hochsprang.
Ich drückte auf Eject und drehte die Kassette um.
»Den müssen wir aber unbedingt auch vermerken«, befand Mama. »Nicht, dass die den am Ende noch dabehalten wollen.«
Und schon notierte sie etwas auf einem der anderen grauen Zettel, die auf ihrem Schoß und im Fußraum verstreut lagen.
Ich lehnte mich zurück, stellte die Musik lauter und schaute aus dem Fenster. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, war die Musik aus. Das laute Klickgeräusch, als sich der Walkman am Ende der Abspielzeit ausschaltete, musste mich geweckt haben. Denn sonst war alles wie vorher: draußen immer wieder Kühe auf Weiden. Drinnen Mama, die in einer Zeitschrift blätterte. Papa, der das Lenkrad hielt und seine gelben Lieblings-Wrigleys kaute.
Irgendwann fuhr Papa von der Autobahn ab. Die Landschaft war hügeliger geworden. Und als wir nun durch eine kleine Stadt kamen, fand ich die Häuser ziemlich altmodisch. Sie waren gelblich, manche rotbraun, durchzogen von dicken Holzbalken.
Andere Häuser wiederum waren nur schlicht und alt und grau.

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Texte: piepmatz Verlag ISBN: 978-3942786096
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2011

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