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Manuela Inusa



Mein Engel/Liebe Mama



Mein Engel,
ich schreibe Dir, wohl wissend, dass Du dies erst in ein paar Jahren lesen wirst. Du bist erst fünf Jahre alt und kannst noch gar nicht lesen. Ich werde Deiner Oma sagen, sie soll Dir diesen Brief an Deinem zwölften Geburtstag geben, ich denke, dann wirst Du alt genug sein, dies alles zu verstehen.
Alles Liebe zum Geburtstag!
Lara, wie sehr wünschte ich, jetzt bei Dir zu sein. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Es bricht mir das Herz, zu wissen, dass ich weder an Deinem zwölften, noch an irgendeinem anderen Geburtstag da sein werde. Wenn ich mir Dich vorstelle, sehe ich ein wunderschönes Mädchen, ein hoffentlich immer fröhliches Mädchen, trotz allem, was Du durchmachen musstest.
Du kannst Dir nicht vorstellen, wie gern ich Dir all den Schmerz erspart hätte, den Du sicher durchgestanden hast. Ich kann Dir mit Worten nicht erklären, wie leid es mir tut, doch ich habe es nur Dir zuliebe getan. Um Dir noch größeren Schmerz zu ersparen. Um Dich nicht noch mehr leiden zu sehen.
Du warst gerade einmal vier Jahre alt, als ich krank wurde.
Der Krebs kam ganz plötzlich. Ich weiß nicht, was Deine Großeltern Dir erzählt haben, aber ich habe Leukämie, Blutkrebs.
Das ist eine Art von Krebs, die, wenn sie zu spät entdeckt wird, nicht mehr heilbar ist. Ich fühlte mich wochenlang schlapp und lustlos. Ich war immer ein fröhlicher Mensch gewesen, immer guter Laune und konnte gar nicht verstehen, was mit mir los war. Ich war bei einem Arzt, der aber nur eine Grippe diagnostizierte.
Ich solle mir ein paar Tage Ruhe gönnen, sagte er. Das tat ich dann auch, doch ich wurde immer schwächer und verlor mehr und mehr Gewicht. Dann eines Nachts ging es mir so schlecht, dass ich den Notarzt rufen musste. Deine Oma kam und holte Dich. Seitdem bist Du bei ihr.
In der Klinik stellten die Ärzte fest, dass ich eine akute Leukämie hatte, und zwar schon im Endstadium. Meine Leber war schon schwer angegriffen und es bestand kaum noch Hoffnung auf Heilung.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nicht die letzten Monate oder sogar nur Wochen im Krankenhausbett verbringen.
Ich entschloss mich, das Krankenhaus auf eigene Verantwortung zu verlassen und noch ein paar schöne Tage mit Dir zu verbringen. Ich weiß nicht, ob Du Dich noch an die Ausflüge erinnerst, die ich mit Dir machte: in den Zoo, ins Kino, ins Aquarium, auf den Rummel. Ich hoffe so sehr, das tust Du, wenigstens ein kleines bisschen. Das waren die schönsten Tage
meines Lebens, auch wenn ich wusste, was Schreckliches kommen würde.
Dann habe ich Dich zu Deiner Oma gebracht, Dir gesagt, ich müsse für eine Weile weg, und Dich für immer verlassen.
Bitte, glaube mir, ich habe nur zu Deinem Besten gehandelt.
Ich wollte nicht, dass Du mit ansiehst, wie ich mehr und mehr eingehe. Ich habe Deine Blicke gesehen, ängstlich und verstört, jedes Mal, wenn ich Nasenbluten hatte. Ich wollte Dich davor bewahren, mich am Ende so zu sehen, dürr, blass, krank, nur noch ein Schatten meiner selbst. Ich wollte, dass Du mich in Erinnerung behältst wie ich war. Schön, stark, lachend.
Ich habe Deinen Opa gebeten, mich ans Meer zu fahren. Ich möchte die Zeit, die mir verbleibt, an dem Ort verbringen, der mir immer der liebste war. Die Hütte, in der Dein Vater und ich unsere Flitterwochen verbrachten. Ich fühle mich ihm hier so nah. Ich möchte noch so viele Bücher lesen, die ich immer habe lesen wollen. Und dann werde ich endlich wieder bei ihm sein. Im Himmel werden wir wieder vereint sein und geduldig auf Dich warten, bis irgendwann, in hoffentlich sehr ferner Zukunft, Deine Zeit auf Erden zu Ende geht.
Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich hätte nur furchtbare Angst um Dich, wenn ich nicht wüsste, dass Du gut untergebracht bist. Deine Großeltern waren mir immer wunderbare Eltern und Du wirst immer auf sie zählen können. Sie sind noch jung und können Dir viel mehr ermöglichen, als ich es jemals gekonnt hätte.
Ich hoffe, es geht Dir gut. Ich hoffe, Du bist nicht traurig und verbittert, ohne Eltern aufwachsen zu müssen. Ich hoffe, Du bist gut in der Schule. Ich hoffe, Du hast ein gutes Verhältnis zu Oma und Opa. Ich hoffe, Du hast viele Freunde. Ich hoffe, Du singst immer noch genauso gerne wie früher. Ich hoffe, Du kannst mir irgendwann verzeihen.
Ich möchte, dass Du mir eines versprichst: Hab Freude am Leben! Lebe jeden Tag, ich meine wirklich leben. Mit Freude, Trauer, Wut, Singen, Tanzen, Lachen und Weinen. Sei nur sicher, Du hast gelebt, so gut Du konntest.
Du sollst, wenn Du abends in Deinem Bett liegst, an Deinen Tag zurückdenken können und sicher sein, dass Du ihn voll ausgekostet hast. Dir sicher sein, dass Du Dein Bestes gegeben hast. Du sollst dankbar sein für jede Minute dieses wertvollen Lebens.
Und ich hoffe, manchmal denkst Du auch noch an mich. Ich werde von dort oben auf Dich hinabsehen, mit Stolz und mit einem Lächeln.
Ich werde immer bei Dir sein, bei jedem Schritt, den Du gehst, bei jedem Wort, das Du sagst, bei jeder Träne, die Du weinst.
Ich werde Dich immer lieben.

Deine Mama
- September 2004 -


Liebe Mama,
heute ist mein zwölfter Geburtstag. Heute hat Oma mir Deinen Brief gegeben.
Ich habe ihn bestimmt zwanzig Mal gelesen und habe soviel geweint wie noch nie.
Ich wusste von Deiner Krankheit, Oma und Opa haben es mir vor ein paar Jahren erzählt, nachdem ich immer und immer wieder gefragt habe, wo Du bist und wann Du wiederkommst.
Ich habe Dich niemals vergessen.
Ich habe jeden Tag an Dich gedacht, habe jeden Abend für Dich gebetet. Habe auf Dich gewartet. Habe Hunderte Bilder für Dich gemalt, die ich Dir alle geben wollte, wenn Du wiederkommen würdest. Ich habe mich in der Schule angestrengt, war immer brav zu den Großeltern, damit Du stolz auf mich sein würdest. Und die ganze Zeit wusste ich nicht, dass Du schon nicht mehr da warst.
Ich habe Dich so sehr vermisst. Ich hatte keinen Vater mehr und nun auch keine Mutter. Wenn die Kinder nach der Schule ihren wartenden Müttern in die Arme liefen, hatte ich jedes Mal Tränen in den Augen. Ich konnte es nicht verstehen, wieso hattest Du mich nur verlassen?
Doch seit heute verstehe ich. Du hast es nur für mich getan.
Dir muss es noch viel mehr wehgetan haben als mir. Du wusstest, dass Du mich nie wieder sehen würdest. Du wusstest, dass ich ohne Dich aufwachsen würde.
Ich kann Dich beruhigen: Es geht mir gut. Oma und Opa sind toll und immer für mich da. Ich habe eine beste Freundin und sogar schon einen festen Freund, seit vier Monaten. Ich bin gut in der Schule und will später Fotografin werden. Das liegt wohl an den vielen Fotos von Dir, die Oma im ganzen Haus verteilt hat. Du bist überall, damit ich Dich nur ja nicht vergesse. Wie könnte ich Dich je vergessen?
Ich erinnere mich an Dein Gesicht, an Deine Schönheit, an Dein Lachen, daran, dass Du mich immer »mein Engel« genannt hast. Ich erinnere mich an jeden Augenblick mit Dir, an die Ausflüge auf den Rummel, ins Kino, ins Aquarium und in den Zoo.
Den Plüsch-Waschbären habe ich immer noch und ich kuschel jede Nacht mit ihm.
Ich möchte, dass Du weißt, dass ich Dir nicht böse bin. Das war ich nie. Traurig ja, verletzt, aber niemals böse.
Ich wünschte, ich hätte nur einen einzigen Tag mit Dir. Ich habe Dir so viel zu erzählen. Aber wenn Du mich nicht angelogen hast und wirklich auf mich hinabschaust, weißt Du ja eh schon alles. Das hoffe ich sehr.
Ich werde diesen Brief nehmen und zerreißen. Dann werde ich Opa fragen, ob er mit mir zu der Hütte am Meer fährt, und werde die Stücke aufs Meer hinaus schicken. Ich hoffe sehr, er wird Dich erreichen.
Ich liebe Dich so sehr. Und ich vermisse Dich an jedem einzelnen Tag. Ich liege jeden Abend in meinem Bett und denke an Dich. Und von nun an werde ich sicherstellen, dass ich jeden Tag wirklich gelebt habe. Versprochen!
Wir sehen uns wieder,

Deine Lara

- Juli 2011 -


Copyright © piepmatz Verlag


Impressum

Texte: piepmatz Verlag ISBN: 978-3942786102
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2011

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