Mara
„Es geht kein Mensch über diese Erde, den Gott nicht liebt.“ So begann ich mein Tagebuch, denn so formulierte einst Friedrich von Bodelschwingh einen Leitgedanken Bethels. In Bethel, hebräisch für „Haus Gottes“, achten wir die Würde jedes Einzelnen und schützen sein Recht auf persönliche Entfaltung.“ Ja, das habe ich gespürt. Also, meine Diary-Aufzeichnungen schildern meinen Aufenthalt dort. Was fällt euch bei Bethel ein? Behinderung und wenn ich dieses Wort genauer deute, dann das Wort Epilepsie. Diese Krankheit hatte ich seit meiner Pockenschutzimpfung im Alter von einem Jahr. Kindheit mit Anfällen, Tabletten einnehmen, Untersuchungen und so weiter. Ich hatte ab dem Alter von neun Jahren dann mal eine Ruhepause damit, aber Ärzte erwähnten schon, dass es wiederkommen könnte, vor allem dann, wenn ich mich verlieben würde. Das war kein Scherz, es traf wirklich so ein. Zehn Jahre Pause, ein viertel Jahr, nachdem ich meinen Führerschein gemacht hatte (Gott sei Dank, heute als 47 jährige würde ich ihn nicht machen wollen). Und gerade während des Autofahrens hatte ich diesen ersten Anfall nach der großen Pause, ich war gerade 19, verschaltete mich und führ rückwärts in einen Gartenzaun. Aber hatte ich nicht einen Schutzengel, da nicht mehr passiert war?
Also begann alles von vorne, Neurologen, EKGs, Tabletten. Ich fiel um, stand wieder auf, akzeptierte die Krankheit, lebte damit, ohne mich zu beschweren. Meistens bemerkte ich kurz vorher, wenn so ein Anfall kam und setzte mich hin, wenn ich die Möglichkeit hatte. Trotz Tabletteneinnahme hatte ich nie Ruhe davor. Irgendwann schlug man vor, mich einmal zu einer größeren Untersuchung nach Bethel zu schicken. Meine Eltern schilderten mir den Aufenthalt nicht so toll und somit lehnte ich – ja sogar den Termin nach Antrag meines Arztes – ab. Ich akzeptiere die Tatsache, nicht mehr Auto fahren zu dürfen, es gab ja öffentliche Verkehrsmittel. Nur – fünf Jahre später geschah etwas, was ich nicht akzeptieren konnte. Es war Spätsommer und ich fuhr mit der Bahn ins nächste Schwimmbad. Ich ging für mein Leben gern schwimmen, ich bemerkte rechtzeitig, wenn Anfälle kamen und schwamm an die Seite, klammerte mich für ein paar Sekunden am Beckenrand fest und wartete einfach ab, bis alles vorüber war. Aber an diesem Tag war der Beckenrand zu weit weg….Ich kam in das nächste Krankenhaus in die Neurologie. War verzweifelt, als eine Ärztin sagte, ich dürfte nie wieder in meinem Leben schwimmen gehen. Und wieder war von Bethel die Rede, dieses Mal war mir alles egal und ich stimmte zu. Das war im September 2002. Im Dezember hatte ich schon die erste Einladung zu einem Tagesaufenthalt mit Vorstellung, Untersuchungen und Chefarztgespräch. Dieser Bereich Bethels, indem ich aufgehoben war, nannte sich Mara. Ich könnte operiert werden und hätte gute Chancen, danach keine Anfälle mehr zu haben. Also kam ich auf die Warteliste und im Sommer 2003 bekam ich die Einladung zu einer genauesten 14tägigen Voruntersuchung mit Anfalls- Beobachtungen und EEG-Aufzeichnungen. Nach diesem Juli-Aufenthalt gönnte ich mir gerade noch den Nordseeurlaub, in dem ich auf den Sandbänken hockte und durch Priele watete anstatt im Meer zu schwimmen und im September wurde es dann ernst. Ich traute mich also, sie stand unmittelbar bevor: die Kopf Operation am linken Schläfenlappen. Wieder war ich in Mara! Es kamen die Tage der Vorbereitung: Gerinnungstest und Blutabnahme, Eigenblutspende und Narkosegespräch MTC mit Gedächtnisübungen und Bestimmung, welche Gehirnregionen aktiv dabei sind. Außerdem hatte ich eine lange Liste zu lesen bekommen, was alles bei so einer OP passieren könnte und einen Tag später mich vom Arzt wieder beruhigen lassen, der erklärte, wie gering die Wahrscheinlichkeit der aufgezählten Begebenheiten ist, na ok! Hab ich gerade mal noch so hingenommen. Am letzten Tag vor der OP noch einen langen Spaziergang mit meinem Liebsten gemacht, sämtliche Wertsachen, auch mein Tagebuch, schon einschließen lassen und Baldrian für die Nacht bekommen.
Sechs Tage nach der OP dieses Büchlein wieder in die Hand genommen und Eintragungen gemacht. Erst einmal noch Zurückliegendes festgehalten. OP überstanden! Sehe doppelt, muss ein Auge zuhalten, schreibe krakelig, aber trotzdem schreibe ich. Schwindelig war mir die ersten Tage, mein Tablettenwirkstoffspiegel war zu hoch, obwohl die Dosis nicht verändert wurde, es war eben alles durcheinander, der Blutverlust durch die OP usw. Meinen Kiefer konnte ich auch nicht richtig bewegen und hatte deswegen Krankengymnastik. Mit dem Sehproblem, das würde noch einige Zeit dauern, wurde mir gesagt, na dann Prost Mahlzeit! Aber das Personal hier ist sehr, sehr nett und immer hilfsbereit. Elf Tage blieb ich hier, bevor ich ins Nachbarhaus in die Reha kam. Auch dort habe ich mich sehr wohl gefühlt. Die Tage waren gefüllt mit Anwendungen wie Krankengymnastik, Reaktionstests am PC, Entspannungsstunden, Kreativteil mit Werken, Gedankenaustausch und auch einigen Stadtbummeln in Bielefeld selbst. Sehr wertvolle Gruppen- und Einzelgespräche, die halfen, trösteten und aufbauten. Ich habe Sonntags wieder die Kirche besucht. Zu Hause, 500 km entfernt hatte meine jüngere Tochter Konfirmandenvorstellungsgottesdienst. Und ich war hier und konnte nicht dabei sein. Aber es war der Auslöser für Kirche in Bethel, das hieß Kirche mit Behinderten. Das war so etwas Beeindruckendes! Mitten unter uns, nicht abgeschoben, sondern Anteil genommen. Mitgewirkt haben sie sogar! Ich mit meiner Glatze und Kopfnarbe hatte mich nicht getraut, in der Kirche meine Kappe abzusetzen, wie es sich eigentlich gehört. Doch was sagte die Krankenschwester in der Reha: Stehe zu dir! Ab diesem Zeitpunkt war ich stolz auf meine Narbe. Stolz, den Schritt gewagt zu haben und einfach nur glücklich. Glücklich, in Bethel zu sein und gut aufgehoben in Mara. Unter Menschen, die mir beistehen.
Der Abschied fiel mir schwer. Zu Hause hatte ich nie so viele liebe Menschen um mich. Ja natürlich, meine Familie, aber war das nicht etwas anderes? Mit diesen zwei Bethel-Aufenthalten war das Kapitel noch nicht abgeschlossen. Ich müsste- oder dürfte - noch mehrmals zu Nachuntersuchungen. Und auch die Aufzeichnungen in diesem Tagebuch gehen dann weiter. Einiges würde sich jetzt ändern, das wüsste ich. Es ist der schönste Neubeginn meines Lebens, den ich nie zu hoffen wagte. Einmal keine epileptischen Anfälle mehr zu haben. Nie mehr! Das hätte ich mir nie träumen lassen, weil ich mir immer eingeredet hatte, dass ja doch nichts dagegen helfen könne. Aber es gab noch etwas Verborgenes in mir, was ich spürte! Spieltenicht Gott eine Rolle in meinem Leben? Das Bedürfnis, weiterhin Gottesdienste zu besuchen, das blieb bestehen, auch in meiner Heimat! Denn wenn ich mein Leben so zurückspule, dann kommt mir alles vor wie ein Plan Gottes. Als die schulisch wichtigste Zeit war mit Abitur, Führerschein und so allem, hatte ich Pause mit dieser Krankheit. Somit konnte ich wichtige Abschlüsse ablegen und einen Ausbildungsplatz finden. Erst nachdem das gesichert war, begann diese Krankheit wieder. Während meiner Kindheit und Jugend gab es noch keine Kopfoperationen, die dem Ganzen einen Schluss-Strich setzen würden. Aber als es dies dann durch die ständig medizinische Weiterentwicklung gab und bei den Ärzten zur Routine wurde, wollte Gott mich in Bethel haben. Die Tatsache nicht mehr Autofahren zu dürfen schockte mich nicht genug. Ich lehnte den Antrag für Bethel ab, in welchem es hieß, ich solle mal so richtig durchgecheckt werden. Ich hatte wohl Angst, dass man mich dort behielt. Also misslang dieser Versuch, mich deswegen dorthin zu schicken. Jahrelang, seit meiner Kindheit war ich eine Wasserratte. Nie hatte ich einen epileptischen Anfall im Wasser, immer hatte ich einen Schutzengel. Und erst nachdem mehrere Kopfoperationen mit Erfolg gelungen waren, ja dann passierte der Unfall beim Schwimmen, dann fiel das Wort Bethel noch einmal, dann erwähnten Ärzte schon etwas von Operations- und Heilungsmöglichkeiten und ich lehnte nicht mehr ab! Ich bin heute noch überglücklich, wieder alleine und ohne irgendwelche Ängste schwimmen zu können. Ich genieße das Element Wasser mit allen Sinnen! Auch bin ich glücklich über die Tatsache, vor allem wieder Auto fahren zu dürfen. Denn heute sind einige auf meine Hilfe als Autofahrer angewiesen und ich kann vielen Menschen in meinem Umfeld Gutes tun. Genau ein Jahr nach meiner Operation fuhr ich mit dem Auto nach Mara, besuchte das Personal, das mich so liebevoll betreut hatte und machte anderen Patienten Mut. Ein großer Neuanfang war geschafft, nach vielen Ängsten und Hürden. Ich nehme mittlereile am Vereinsleben teil und treibe Mannschaftssport. Aber vor allem bin ich ein lebendiger Christ geworden, der zu seinem Glauben steht und aktiv in der Kirchengemeinde mitwirkt. Gott sei Dank! Denn auch ich fühle mich von Gott geliebt!
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2011
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