Ich beginne, dies hier zu schreiben, ohne eine wirkliche Ahnung zu haben, wie ich überhaupt anfangen soll, von was ich genau reden will. Ich glaube nicht, dass es sonderlich relevant ist, dass es gerade sieben Uhr morgens ist.
Und dennoch ist dieser Drang in mir vorhanden, eben dies aufzuschreiben.
Die Wörter stehen hier, und sie haben keine wirkliche Bedeutung. Sie verraten rein gar nichts über mich, und trotzdem bin ich froh, dass sie hier stehen. Wenigstens füllen sie eine Leere in mir. Die Leere in mir, welche sich auf dem Papier nur allzu gut wiederspiegelt.
Mein Name ist Elias. Ich bin gerade mal sechzehn Jahre alt, und ich fühle mich bereits jetzt schon so, als ob es nicht mehr weitergehen könnte. Ich sitze auf dem Balkon, mit dem Laptop auf den Knien. Mit der einen Hand tippe ich, mit der anderen halte ich die Zigarette in meiner Hand. Während ich hier einhändig tippe, surfe ich nebenbei im Internet herum. Wieder nichts Neues; so zumindest kommt es mir vor. Den überfüllten E-Mail Posteingang kann ich geflissentlich ignorieren.
Eigentlich will ich momentan von niemandem etwas wissen, doch andererseits habe ich mich noch nie so einsam gefühlt. Es ist ein Teufelskreis, der doch keiner ist. Er beginnt nie, und er endet nie. Es ist aussichtslos.
Ich habe mir vorgenommen, nichts zu löschen, was ich hier schreibe; und doch fällt es mir jetzt schon schwer. Nach den ersten 18 Zeilen.
Irgendwo drinnen klingelt ein Telefon. Es verstummt rasch, und wenige Sekunden später steht meine Mutter hinter mir, streckt mir das Telefon hin.
„Elias? Es ist Anikki!“.
Ob sie wohl erwarten würde, dass ich nun freudespringend aufstehen und all der Last der letzten Tage von meinen Schultern fallen würde? Sie ist so ein Frevel, wie alle anderen es doch auch sind. Ich schüttele nur verneinend den Kopf. Möchte etwas sagen, doch es ist nichts weiter als ein Hauch, der es über meine Lippen schafft: „Nicht jetzt, Mum.“
Sie sagt irgendetwas, doch ich höre es nicht. Versuche, sie zu ignorieren, doch sie tippt mir auf die Schulter: „Mensch, Elias. Sie macht sich Sorgen!“
Wieder einer dieser lächerlichen Versuche, mich aus der Reserve zu locken. Ich lächele nur müde. Dass sie es ernst meinen könnte wird mir in keiner einzigen Sekunde bewusst.
„Wie schön für sie.“, meine Stimme ist fragil, nichts mehr als ein Zittern.
Ich brauche diese geheuchelten Telefon-Freundschaften nicht. Würde Anikki so viel an meinem Wohl liegen, dann wäre sie hier. Würde sich doch nicht mit einem einfachen Telefonanruf zufrieden geben, wo ich doch schon seit zwei Wochen nicht mehr zur Schule gehe.
Ich habe noch keine einzige Zeile gelöscht. Während Mum verschwindet schnipse ich die soeben fertiggerauchte Kippe vom Balkon und überlege kurz, ob ich mir eine Neue anstecken soll. Warum eigentlich nicht? Als ich vor knapp einem halben Jahr mit dem Rauchen begann hatte ich mir zwar vorgenommen, nie mehr als zwei Zigaretten am Tag zu rauchen.
Allerdings war das vergangen. Mindestens genauso vergangen wie du. Und jetzt, wo du weg bist, so konnte ich auch mein Versprechen gehen lassen, dieses fragile Versprechen, das ich doch eh nur mit gab. Niemandem sonst; es sollte mich lediglich schützen. Vor irgendwelchen Krebsarten. Oder sonst irgendwas, das mich dahinraffen würde.
Aber jetzt, jetzt war es doch egal, was genau mich dahinraffen würde, war es das nicht?
Cause without your love my life ain't nothing but this carnival of rust.
Irgendwie war ich wohl beim Herumklicken auf den Internetsites erneut auf die Homepage der Band Poets of the fall gelangt. Wie jedes Mal aufs Neue. Und wie jedes Mal steigen mir Tränen in die Augen. Fast schon trotzig stecke ich die nächste Zigarette an. Inhaliere tief.
Nur wenige Sekunden später ziehe ich die Decke, die um meine dürren Schultern liegt, näher an mich. Es beginnt, zu regnen. Just in dem Moment, in dem ich meinen ersten Satz gelöscht habe. Mir fällt im Traum nicht ein, meinen Balkon zu verlassen.
Ich ziehe lieber die Decke näher an mich, nehme in Kauf, dass mein neues, schwarzes Laptop Schaden nimmt. Es ist nur Maschinerie, und Maschinerie lässt sich ersetzen. Oder?
Vor einiger Zeit hatte ich doch aber auch noch gedacht, dass sich Menschen ersetzen lassen würden. Und dann war es vorbei. Es ging so schnell, und ersetzen konnte ich dich nicht. Oder die Zeit, die du mit mir verbracht hast.
Die Zigarette geht aus, und weit unterhalb unseres Balkons parkt ein Auto. An der lauten und nervigen Stimme der Person A, welche sich lautstark über den Regen beschwert, kann ich problemlos erkennen, dass es unsere Untermieterin ist. Stimme B, welche leise etwas vor sich hinbrabbelt, erkenne ich als ihren willenlosen, schwächlichen Weichei-Freund, der sich ohne sie doch so wie so keinen Schritt vor die Haustüre traut.
Auf einmal vernehme ich schon wieder ihr ätzendes, schrilles Gekicher. Als ich mich vorbeuge, um die Kippe auf dem Holzboden auszudrücken, kann ich durch die freien Stellen zwischen den einzelnen Latten erkennen, dass sie zu mir hochzeigt. Erneut schrill kichert. Ich meine ein: „Schau mal, der Freak sitzt immer noch dort oben.“ vernehmen zu können.
Der Freak sitzt immer noch dort oben. Der Regen peitscht ihm mittlerweile ins Gesicht. Ein starker Wind geht, er raubt dem Freak den Atem. Und der Freak sitzt noch immer dort oben, hofft, dass die durchnässte Decke ihm vielleicht doch noch etwas Wärme spenden würde.
Aber vielleicht ist es mir auch einfach egal, ob die Decke mich noch warmhält? Am Anfang ging ich auf diesen Balkon, um für eine Nacht lang ganz für mich alleine zu sein. Weil ich nicht fassen konnte, was passiert war.
Aber diese Nacht ist jetzt drei Tage her, und noch immer scheue ich mich davor, in die Wohnung zurückzukehren. Einmal am Tag gehe ich hinein. Um zu duschen, um auf Toilette zu gehen. Ein Glas Wasser zu trinken.
Dann gehe ich wieder hinaus, auf den Balkon. Zu meiner durchnässten Decke. Meine Mutter hatte mich bereits dreimal gebeten, die Decke gegen eine trockene auszutauschen, beziehungsweise hatte sie eher darum gebeten, dies tun zu dürfen. Sie hatte mich angebettelt, mir einen Tee bringen zu dürfen. Mich angebettelt, dass ich etwas an Nahrung zu mir nehmen würde.
Aber das will ich nicht. Einmal habe ich sie um etwas gebeten. Ich habe sie aus großen Augen angeschaut. Ich wusste nicht, wie sie reagieren würde. Seufzte nur auf.
„Mum“, habe ich geflüstert, und sie sah mich mit einer solchen unerträglichen Spannung in den Augen an, dass ich mir nur über meinen Arm fahren konnte.
„Mum“, habe ich widerholt, und mich gleichzeitig noch schlechter gefühlt, weil ich nicht mit der Sprache herausrückte.
Sie ging zu mir in die Knie, legte mir ihre Hand auf den Arm, doch ich zog ihn zurück. Sie sollte ihn nicht berühren, sie durfte es nicht.
„Bringst du mir… kannst du mir von irgendwoher Heroin besorgen?“.
Ich hatte gesehen, wie sie gezittert hat. Aber ich hatte es nicht bereut. Sie stand auf, sah mich an. Starrte mich regelrecht an. Dann begannen, Tränen in ihre Augen zu steigen.
„Kommst du… dann wieder rein… w-wenn ich dir Heroin besorge?“ Sie hatte versucht, mit starker Stimme zu sprechen, doch sie war schwach, und brach.
Ich hatte mit den Achseln gezuckt, und im selben Moment waren Tränen über mein Gesicht gelaufen, ohne, dass es in just dieser Sekunde einen Grund dafür gab.
„Ich weiß es nicht.“
Ich kralle meine Finger gegen die schwarzen Stuhllehnen, tippe Sekunden später auf meinem schwarzen Laptop herum. Alles ist schwarz. Sogar meine Fingernägel tragen noch den erbärmlichen Rest schwarzen Nagellackes.
Ich bin mir sicher, dass meine Mutter mit Heroin besorgt hätte, auf irgendeine Weise, hätte ich mich dazu entschieden, in die Wohnung zu gehen.
Ich entschied mich dagegen, und jetzt sitze ich hier. Frierend. Mit meinen Fingern auf der Tastatur des Laptops, mit meinen durchnässten, schwarzen Klamotten. Das alles an mir schwarz ist, wird mir erst jetzt bewusst. Der Laptop ist schwarz, der Stuhl, auf dem ich sitze, ist schwarz, meine Fingernägeln, meine Klamotten. Sogar mein langes, blauschwarzes Haar, welches nass auf meinen Schultern liegt, scheint einfach nur schwarz zu sein. Der Himmel ist grau.
Auf einmal vernehme ich erneut die Stimme meiner Mutter neben meinem linken Ohr. Wieder ihre Finger auf meinem Arm, und wieder ziehe ich meinen Arm zurück: „Fass‘ mich bitte nicht an!“
Wieder Tränen auf meinem Gesicht, sie brennen.
Sie fängt von vorne an zu sprechen. Ich habe sie nicht gehört, und das weiß sie.
„Elias?“, sie nennt meinen Namen, und ich nicke nur. Starre auf die schwarzen Buchstaben in dem geöffneten Microsoft Word Dokument. Der dicke, schwarze Strich hinter dem letzten Zeichen erregt Übelkeit in mir.
„Elias, ich habe Herrn Sallinen angerufen, ja? Er wird bald da sein. Damit du… Bescheid weißt.“
Herr Sallinen. Während ich nicke, mehr als Zeichen dafür, dass ich verstanden hatte, was sie sagte, dafür, dass ich zugehört hatte, fragte ich mich, was Herr Sallinen denn groß an meiner Situation ändern wollte. Ändern konnte.
Herr Sallinen, ein graumelierter Opa wie alle anderen auch. Nichts Besonderes. Mein Psychiater, Therapeut, wie ich ihn nennen soll. Aber ich habe nie sonderliches Vertrauen in ihn gefasst. Er war da, vorhanden.
Wie du das einmal warst. Wie du es jetzt nicht mehr bist. Erneute Tränen, die auf meine Tastatur fallen. Hinab von den Augen, über das Gesicht. Ich bin in Joensuu.
Ich weiß nicht, warum ich das gerade geschrieben habe. Aber es bleibt stehen, weil ich mir selbst geschworen habe, keinen Satz zu löschen. Zwar habe ich diesen Schwur schon einmal verletzt; so wie den Schwur, nur zwei Zigaretten am Tag zu rauchen, aber jetzt… es ändert es doch alles nicht mehr.
Das scheint mir jetzt nebensächlich. Hauptsache ist nun, keine weitere Zeile mehr zu löschen. Ich sehe meinen Fingern dabei zu, wie sie auf dem schwarzen Tastenfeld herum rasen.
Irgendwie finde ich diesen Gedanken widerlich. Das so etwas wie meine beiden Hände, alle meine zehn Finger, meinen Laptop berühren. Erklären kann ich nicht, warum mich plötzlich ein Gefühl starker Übelkeit überkommt, ich mich vorbeuge und den Laptop gerade noch zur Seite halten kann, bevor ich mich übergebe.
Ich stelle den Laptop unachtsam auf den Boden. Sehe meinem eigenen Erbrochenen einerseits fast schon fasziniert, andererseits angeekelt dabei zu, wie es durch die freien Spalten im Holzboden trifft.
Der Frühling meines Herzen gleicht dem totalen Wahnsinn…
Ich gehe zugrunde. Tränen treten mir in die Augen, lassen mich erblinden, schmerzen mich so sehr für etwas, von dem ich keine Ahnung habe, warum.
Warum… Ist eine so gute Frage. Warum bist du nicht mehr hier, bei mir? Es wird alles schwarz, innerhalb von Sekunden weiß ich nicht mehr, wo ich bin.
Als ich wieder zu mir komme bin ich wohl in einem Wagen, in einem Auto vielleicht. Ich nehme kaum etwas wahr. Es ist mein Psychiater, der neben mir sitzt. Oder… liege ich doch?
Ich halte etwas in meinen Händen, und ich muss nicht einmal an mir heruntersehen, um zu erkennen, was es ist. Nur dein Schal verströmt einen solch angenehmen und schmerzenden Geruch zugleich. Ein Schmerz, der in der Brust bohrt. Es war einmal anders; da war dieser Schmerz nicht dabei. Wie oft bin ich mit deinem Schal in der Hand oder um den Hals eingeschlafen?
Ich sitze doch nur auf dem Sofa. Nein, ich liege. Ich darf keine Sätze weglöschen, oder streichen. Ich will schreiben, und schreiben. Doch er redet in mir. In mir redet er. Und mit mir.
„Was ist passiert?“, die Stimme des alten Mannes ist beruhigend und freundlich, zumindest soll sie wohl so wirken. Sie soll einem wohl die Stimmen aus dem Kopf reden. Doch bloße Tatsache ist, dass ich diese Stimme verabscheue.
Verabscheue, noch mehr, wie ich die Stimmen in mir verabscheue, wenn ich meinen Kopf gegen die Wand schlagen will. Ich sage nichts; weil ich nicht mit jemandem rede, den ich verabscheue. Außerdem sehe ich es nicht ein.
Beim besten Willen sehe ich nicht ein, etwas zu sagen. Dieser Mensch will doch gar nicht wissen, was in mir vorgeht, was passiert ist. Dieser Mann weiß absolut gar nichts über mich; nur, welche Medikamente ich nehmen muss. Und das ist es, damit hört es auf.
Mehr hat dieser Mann wohl nicht mit mir zu tun. Alles, was ihn interessiert sind meine Medikamente, damit er weiß, wie er mich foltern kann.
Wie ich diese Medikamente hasse. Ich stehe ständig unter Medikation, und ich will es nicht. Ein normales Leben soll es mir ermöglichen, doch das einzige, was sie wirklich tun, ist, dass ich mich fühle wie ein Aussätziger. Die Medikamente, die mich retten sollen, sie ruinieren mich.
Ich hasse das Gefühl, Medikamente unter meiner Haut zu haben. Ich fühle mich krank, es juckt überall unter meiner Haut. Ich fürchte, dass ich ein anderer Mensch bin, wenn ich meine Medikation durchleide. Falls ich dann überhaupt noch ein lebender Mensch bin; keine existierende Hülle.
Es kommt nicht selten vor, dass ich in einem Moment des hellen Wahnsinns die Medikamente einfach ausbluten will. Es kommt so oft vor, dass ich mir das Messer in die Brust oder in den Arm schlage und hoffe, dass das durch die Medikation verseuchte Blut aus mir austreten würde.
Vielleicht holen diese gottverdammten Tabletten mir die Stimmen aus dem Kopf, aber dafür auch die letzte verbliebende Menschlichkeit, den letzten, verkümmerten Rest Ich.
Ich möchte aus diesem Albtraum erwachen; und ich möchte mich nicht mehr an dieses ärmliche Leben krallen. Das Leben, welches von schwarzen Wolken geradezu durchzogen wird, welches sich ein einziges Mal gelichtet hatte, nur, um dann doppelt so dunkel erneut über mich herein zu stürzen.
Ich kenne mich da aus. Manche Mitschüler behandeln mich umsichtiger; andere rufen mir ‚Psycho‘ lautstark hinterher. Nicht, weil sie Narben sehen. Narben kann ich verstecken. Sondern weil sie wissen, warum ich in der Schule fehle. So oft.
Nur ein offenes Geheimnis, dass ich so oft in die Psychiatrie muss. Nichts weiter, und jeder weiß es. Es ist, als ob mein Leben ein offenes Buch ist. Jeder kennt mich, jeder weiß über mich Bescheid. Die einen respektierten mich für meinen, wie sie es nannten, Lebensmut, die anderen machten sich über mich lustig, weil ich anders war. Weil ich anders bin. Der Psycho. Und die dritten, sie fürchten mich. Gehen mir aus dem Weg, wenn ich in ihre Nähe komme, meiden mich im privaten Leben.
So manches Mal scheint das von Vorteil zu sein. Wenn die Schlange in der Cafeteria auf einmal kleiner wird, wenn die Mitschüler die Lehrer bitten, mir bessere Zensuren zu geben, fühlte ich mich ungerecht benotet, oder, ähnlich, wenn besagte Mitschüler Lehrer bitten, mich vor ihnen dran zu nehmen, sollte ich mich melden.
Und trotzdem hängt dieser fade Beigeschmack immer mit bei, dass sie es tun, weil sie Angst haben. Angst vor mir haben, wie ich schon immer Angst hatte, dich zu verlieren, weißt du?
Tränen laufen mir erneut über das Gesicht, brennen sich wie Feuer in meine Haut. Schmerzen. Ich muss mich zur Seite drehen, muss mich zusammenkauern. Den Schal ganz fest an mich drücken. In derselben Sekunde, in der ich die Augen schließe, jagt mir ein wahnsinniger Schmerz durch den Kopf.
Und langsam muss ich begreifen, dass es wohl kein Zurück mehr gibt. Auch ich bin nur ein Träumer, ein jener, welcher im Mondschein seinen Weg findet. Einer jener, welcher das Morgengrauen vor der schlafenden Stadt sieht.
Einer jener, welcher immer wieder wie ein Phoenix von der Asche aufersteht und doch innständig wünscht, zu fallen. Einer jener, wessen Schmerz stetig ansteigt.
Ein simpler Träumer.
Ich höre, wie meine Mutter mit Herrn Sallinen redet; wie sie ihm erklärt, was Sache ist:
„Elias wurde von seinem Freund… nun ja, nicht verlassen. Sie haben sich gestritten, daraufhin hat Roy zum widerholten Male; zwar nicht in der Zeit der Beziehung mit Elias; versucht, Selbstmord zu begehen. Aufgrund dessen gab es wohl Streit, sicher bin ich mir da auch nicht, und Roy machte Elias ziemlich klar, dass er ihn in Ruhe lassen sollte.“
Roy…
Allein der Name war schon so außergewöhnlich. Mindestens genauso außergewöhnlich wie du. Ich sehe dich vor mir, mit meinen geschlossenen Armen. Wenn ich den Schal näher an mich drücke, dann kann ich dich riechen. Nur berühren, berühren kann ich dich nicht.
Ich versuche, die Augen zu öffnen, doch es brennt so sehr. Mehr Tränen steigen mir in die Augen. Vor dir hatte ich gedacht, ich wäre so furchtbar stark. Dass mich nichts und niemand brechen kann, das habe ich gedacht.
Du kamst neu in die Klasse. Es war nicht so wie diese Klischee-hafte erste große Liebe zwischen zwei jungen Kerlen, welche ihre homosexuelle oder zumindest bisexuelle Ader gerade erst entdeckt hatten. Es war komplett anders; du warst nicht einmal meine erste Beziehung.
„Stimmt das, Elias?“
Ich spüre die Stimme des Psychiaters, außerhalb meines Kopfes. Nicht innerhalb. Ich will schreien.
Dann spüre ich seine Hand, die er, wie er hoffte, beruhigend auf meinen zitternden Arm legte. Und ich zucke zurück. Mutter darf mich nicht anfassen, also darf er das auch nicht. Der einzige, der das dürfte…
Ich will aufspringen, aber ich weiß, dass er mir hinterhergehen würde. Ich würde nie meine Ruhe vor ihm haben; nie. Es sei denn, es ginge mir besser. Aber das tut es nicht. Nicht jetzt. Nie. Nicht in absehbarer Zeit, und nicht, wenn es so weitergeht.
Ich fühle mich, als ob es keinen Ausweg gibt. Vielleicht gibt es auch keinen, und ich bin verdammt dazu, für immer eines dieser trostlosen Daseins zu fristen.
„Ich… Ich glaube…“
Ich höre deine Stimme in meinem Kopf. Ich zucke zusammen, doch es sind nur Erinnerungen. Nicht, als ob du mit mir reden würdest. Nur Stimmen, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Es ist unerträgliche Erleichterung, aber auch dieselbe Trauer, die mich seit Tagen begleitet. Den Stein; den Erleichterung mir vom Herzen nimmt, schlägt Trauer mit doppelter Wucht auf selbiges zurück.
„Das klingt so dumm, Elias. Ich hab‘ … sowas noch nie gesagt, ich weiß nicht einmal, wie ich es sagen soll.“
Ich sehe dich, wie du herumdruckst, wie du dir durch das samtene, schulterlange, braune Haar streichst. Mich mit deinen warmen, braunen Augen musterst, fast schon verlegt. Und ich sehe mich selbst, wie ich deine Hand nehme. Erinnere mich, dass ich dies eigentlich gar nicht tun wollte. Das es mehr eine Reflexhandlung war. Und ich sehe wieder.
Sehe, wie du zuerst meine Hand ansiehst, die deine fest umschließt. Wie du mir in die Augen schaust, dann zu Boden. Wie sich dieser Rotschimmer auf deine Wangen legt, und wie du mich dann plötzlich anstarrst.
Dich losreißen willst.
Der Psychiater sagt etwas, doch ich nehme es nur wahr. Will seinen Worten keine Aufmerksamkeit schenken, die er nicht verdient. Wenn er mich wieder mitnehmen will, dann werde ich schreien. Es wird nichts bringen, es bringt nie etwas.
Aber es gibt mir das Gefühl, nicht aufgegeben zu haben.
Nicht aufgegeben zu haben, während ich in Richtung Unbekannt steuerte, in das tiefe Schwarz fiel, welches sich unter mir auftat. Während ich in Richtung Prophezeiung fiel. Falls es so etwas gibt. Ich wurde geboren, um mehr zu ertragen, als ich kann, und mein Leben geht weiter, um zu enden.
Ich sehe, wie ich dich festhalte, schneller, als du dich losreißen kannst. Sehe mich selbst, wie ich dir in die Augen sehe. Nur flüchtig, und dennoch so wahnsinnig tief. Als ob ich dir mit Worten sagen… nein. Mit Blicken. Als ob ich dir mit Blicken sagen wollte, was tausend Worte nicht konnten.
Es war doch stets so, dass das Piano mein Leben zu Papier schrieb. Mit dem wehleidigen Klang, mit den atemberaubenden Melodien, mit den Kompositionen, die das Herz schneller gehen ließen. Und doch glaube ich, dass das Piano, welches die Titelmusik meines Lebens spielt, völlig verstimmt ist. Dass ihm wohl Tasten fehlen.
Dem süßen Piano.
So süß, wie unser erster Kuss war. Ich hatte dich zu mir gezogen, damit du dich nicht erneut losreißen konntest. Und da war sie wieder; die Reflexreaktion. Schnell lag ein Arm um deine Taille, und meine Lippen lagen auf deinen.
Erneute Tränen, hitzig. Ich kann nicht mehr. Es schmerzt zu sehr. Ich bin nicht länger bereit, den Pfad mit dir zu teilen, den wir zu teilen hatten, für immer und in Verzweiflung. Ich greife neben mich, und greife ins Leere.
Stand auf.
Du schaffst das eh nicht. Du bist zu schwach. Du würdest es nicht einmal schaffen, die Klinge endgültig durch deinen Arm zu ziehen. Zu schwach zum sterben, zu schwach zum leben. Was bist du überhaupt, fragiles, schwächliches Opfer?
Stille.
Würdest du es schaffen, sie alle zu töten? Natürlich würdest du es nicht. Wenn du nicht einmal dich selbst töten kannst. Wenn du stundenlang leidest, weil dein Lover offensichtlich stärker und schwächer zugleich ist. Wer bist du? Wer bist du? Dass du deinen eigenen Lover dafür hasst, dass er…
„NEIN! NEIN!“
Meine eigene, schrille Stimme. Ich stehe. Halte mir den Kopf und werde von meiner Mutter beruhigend gehalten. Ich will das nicht, ich will sie nicht. Ich will meine Ruhe, meine Ruhe vor der Stimme in meinem Kopf, die mich anlügt, und sogleich die Wahrheit spricht.
„HÖR AUF! HÖR AUF!“
Der Schrei gilt meiner Mutter. Sie soll aufhören, mich zu halten. Angst macht sich breit, wenn sie mich anfasst. Wie ich es hasse, sie zu spüren. Ich kann das nicht, sie soll mich loslassen. Soll mich endlich in Ruhe lassen. Damit ich mich aufgeben kann. Mein verdammtes, wehleidiges Leben aufgeben kann. So wie Roy es vorhatte, und meinem Feigling den Mann stehen.
Los. Reiß dich los.
Die Stimme wird euphorisch, und ich beginne just in dem Moment, um mich zu schlagen. Treffe meine Mutter ins Gesicht. Ihre Nase beginnt zu bluten. Doch es ist mir gleich. Sie war daran schuld, dass mein Leben eine bloße Existenz war. Sie hatte mich in die Welt gesetzt, sie sollte aufhör… sie sollte… Sie…
"Mutter... Mutter... Bitte töte mich."
Die Stimme verblasst. Ich hatte verlauten lassen, was sie die ganze Zeit wollte. Was sie forderte, Tag und Nacht.
Der Arzt meint, ich hätte schizophrene Charakterzüge. Weil ich mich manchmal vor Dingen erschreckte, die nicht da waren. Weil ich manchmal in Tränen ausbrach, einfach so, ohne jeglichen Grund. Weil ich manchmal in Ohnmacht fiel, obwohl ich keinerlei Kreislaufprobleme hatte.
Aber der Arzt weiss es ja nicht. Obwohl er mich schon so oft nach Stimmen in meinem Kopf gefragt hatte, ich hatte sie ihm stets verschwiegen.
Manchmal bin ich gar nicht ich selbst. Manchmal bin ich nicht Elias, 16. Aktuell noch in einer eher gescheiterten Beziehung mit Roy MacLaine. Unter oben genannten Umständen sogar ziemlich gut in der Schule.
Manchmal bin ich jemand anderes. Er nennt mich dann Antti. Aber das weiß niemand, und das ist unser Geheimnis. Es ist nur manchmal furchteinflößend, Gesichter zu sehen, genau zu wissen, dass ich sie kenne, sie aber partout nie zuordnen zu können.
Aber das bleibt immer unter mir und Janne. Wir kennen uns nur zu gut. Und auch er hat zwei Gesichter. Aber bei mir, das ist er immer.
Ich schluchze auf. Als ich die Augen öffne, sehe ich, dass ich auf dem Boden sitze. Ich begreife schon wieder nicht, was gerade eben noch in mir vorging.
Juuho…
Es ist alles so fremd. Ich bin mir fremd. Ich kenne mich nicht, und es bringt mich zur Verzweiflung. Wenn mich Menschen bitten, etwas über mich zu erzählen, dann blocke ich ab. Ich weiß, dass ich Elias heiße. Elias Nyström Aatami. Dass ich in Norwegen geboren bin, und dass ich mittlerweile in Joensuu wohne. Dass ich 16 Jahre alt bin. Dass ich auf Männer stehe. Das weiß ich. Dass ich eine Schwäche für brünette Männer habe, dass ich Heavy Metal höre und George Clooney attraktiv finde. Dass ich ein Spielfeld für das Desaster bin, ich gerne lese und ein Faible für ausdrucksstarke Lyrics habe, mich selbst gerne als fragil betitle, und dass ich krank bin.
Du hast mit dem Finger über meine Narben gestrichen, du hast mich angesehen. Dir sind Tränen aus den Augen getroffen. Du hast dich zu mir vorgebeugt, mir tief in die Augen geschaut. Dann vorsichtig die Narben auf meinem Arm geküsst. Jede einzelne. Als ob sie davon schneller heilen würden.
Es herrscht herrlich leichte Dunkelheit um mich herum. Ich nehme Stimmen wahr und bin erleichtert, als ich erkenne, dass sie meiner Mutter und dem Psychiater gehören, nicht mir selbst.
„Ich glaube, Elias kann uns nicht hören!“, meint meine Mutter, und ich würde lächeln, würden meine Lippen das zulassen. Aber sie wollen mich nicht lächeln lassen.
„Nein, er kann uns sehr gut hören. Er nimmt alles wahr. Nur sehen kann er nur Schwärze!“
Und jetzt, jetzt so wie so nicht mehr.
„Ich würde sterben, um für immer mit dir leben zu können!“, du warst der Romantiker. Du warst derjenige, auf den ich mich vollends einlassen konnte. Und das tat ich, und jetzt bereue ich es. Furchtbar.
Ich möchte mich entschuldigen, ab und an wirres Zeug zu schreiben; ich kann nicht anders. Da ich mir vornahm, nie eine Zeile zu löschen schreibe ich, was mir in den Sinn kommt, was meine Finger tippen wollen. Ich denke wirr. Quer durcheinander, und Erinnerungen verwischen manchmal mit der Realität.
„Mein Stolz ist dein Lächeln. Dein Lächeln, das deine Lippen jedes Mal aufs Neue so wundervoll und anders aussehen lässt. Mein Stolz ist, dass du es mir schenkst.“, und ich frage mich, ob du jemals so von der Welt dachtest, wie ich das tue.
Langsam kann ich wieder sehen. Auch wenn ich nicht will. Meine Mutter hat sich über mich gebeugt, streicht mir immer wieder über das Haar. Murmelt etwas von „mein armer Junge.“ Und dann muss ich schlucken. Ich nehme vorsichtig ihre Hand aus dem Haar.
Es ist kein Hass mehr da. Und auch die Stimme ist fort; die Stimme, die mir sagt, ich solle hassen. Die Stimme, dir mir so oft befiehlt, zu töten. Die sich so oft lustig über mich macht. Die mit mir redet, wenn ich einsam bin. Die Stimme, die sich dauernd über Roy amüsiert. Über Roy, und meine Liebe zu ihm.
Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, während ich aufstehe.
Roy kam neu in die Klasse. Er stand vorne an der Tafel, sah immer wieder nervös zur Klasse und dann zur Lehrerin, Frau Keskinen. Eine garstige, alte Frau. Als er sich nach einigen Sekunden noch immer nicht durchringen konnte, etwas zu sagen, fing sie an, mit ihrer schnarrenden Stimme zu sprechen, und Roy errötete immer weiter:
„Das hier ist Roy MacLaine. Seid gnädig mit ihm, er ist neu.“
Es war wirklich aufschlussreich. Ich schüttelte den Kopf, und um den Neuen aus der Situation zu retten meldete ich mich kurz, bevor ich begann, zu reden: „Ich heiße Elias Aatami. Ich bin der Klassensprecher, und ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, wir freuen uns, dich hier begrüßen zu dürfen!“
Daraufhin schien Roy seine Sprache wieder zu finden. Lächelte strahlend, strich sich aber nach wie vor nervös mit der linken Hand über den rechten Ellenbogen.
„Ich heiße Roy MacLaine. Ich bin 16 Jahre alt und Schotte. Meine Mutter ist ihrem Freund nach Finnland gefolgt. Ich entschuldige mich gleich dafür, mein Finnisch ist nicht das Beste. Ich bemühe mich dennoch. Ich wohne hier in Joensuu, in Siihtala. Ist ein Stück weit weg von der Schule. Aber es geht.“
Er biss sich auf die Unterlippe, lächelte mich schüchtern an. Es dauerte eine kurze Weile, ehe ich realisierte, dass sein Lächeln mir galt. Zu sehr war ich von seinem Aussehen und dem breiten, britischen Akzent angetan. Nicht minder schüchtern lächelte ich zurück, ehe sich Anikki meldete: „Was sind denn so deine Hobbies?“
Und wieder das schüchterne Lächeln. Er sah furchtbar gut aus. Das schulterlange, braune Haar leicht gestuft, die Augen braun und warm. Wundervolle Lippen, im perfekten Mittelmaß zu voll und schmal. Die Kleidung stilvoll, ein weißes Hemd und eine schwarze Stoffhose. Vielleicht war dies die schottische Art, sich zu kleiden. Ich konnte es nicht sagen.
Roy lächelte, noch immer nervös: „Ich spiele Gitarre, zumindest habe ich das in Schottland getan. Ich… schreibe viel. In Schottland sind bereits zwei Gedichtbände von mir veröffentlicht. Ich… ich glaube, ich bin ziemlich langweilig!“
Seine Stimme war wahnsinnig angenehm. Ich konnte den Blick kaum von ihm reißen. Meinte in just diesem Moment, sterben zu müssen, wenn ich ihn nicht mehr hören konnte. Oder sehen.
Anikki sah zu mir hinüber, und sie grinste breit. Wahrscheinlich hatte sie mitbekommen, dass mein Herz schneller ging. Mädchen schienen so etwas doch sofort zu merken. Der Fakt war, dass mit diesem jungen Schotten mein wahrgewordener Traum im Klassenzimmer stand. Musiker, schön und gut, aber nicht der springende Punkt. Ich selbst besaß eine Viola zuhause, ein geigenähnliches Streichinstrument. Roy sah wahnsinnig gut aus, wie ein junger Gott fast. Ein anmutiges Gesicht, ein atemberaubendes Lächeln, und das Know-how, sich zu kleiden. Gelassene Augen, auch wenn er alles andere als ruhig war. Und zu allem Überfluss ein Dichter, ein junger Poet. Das, was ich mir immer wünschte.
Frau Keskinen schüttelte den Kopf: „Wir müssen mit dem Unterricht weitermachen. Roy, setzt du dich bitte? Es lässt sich bestimmt ein freier Platz finden.“
Und der Neue schluckte nur, offensichtlich eingeschüchtert von der Lehrerin. Sah sich kurz in dem Klassenraum um. Und sein Blick blieb an mir heften.
Ich musste schwer schlucken, als ich kurz neben mich sah. Völlig in meiner inneren Euphorie über den jungen Briten versunken hatte ich wohl vergessen, dass neben mir ebenfalls ein Platz frei war. Erst, als ich wieder in seine Augen sah, den fragenden Ausdruck erkannte, nickte ich.
Er schien sich sichtlich zu beeilen, von der Lehrerin wegzukommen, wenige Sekunden später saß er dann auch schon neben mir, reichte mir die Hand: „Danke. Ich bin Roy!“
Etwas verwundert sah ich erst zu ihm, dann zu seiner Hand, und dann wieder zu ihm. Ich zögerte, ehe ich ihm ebenfalls meine Hand reichte: „Öh… Ich bin Elias. Aber die meisten nennen mich nur Lias, das passt dann schon!“.
Er lächelte, nickte, drückte meine Hand kurz und lies dann los. Wenige Sekunden später konnte ich mir meine Frage dann nicht verkneifen: „Begrüßt man sich in Schottland so?“
Eine niedliche Mischung aus Lächeln und Lachen zierte sein Gesicht, er biss sich auf die Unterlippe und starrte zu Boden, errötete leicht. So ziemlich in dem Moment war es um mich geschehen.
„Nein. Ich hatte gehofft, in Finnland tut man das so!“
„Liegst du schief!“, ich versuchte, nicht zu erröten. Mir nicht anmerken zu lassen, dass in meinem Gehirn gerade alles drunter und drüber lief.
„Ach, die spinnen, die Finnen!“, er lächelte, fast schon unsicher. Als ob er Angst hätte, dass ich ein haltloser Patriot war, welcher ihn sofort aus seiner Umlaufbahn kicken würde, würde er das Vaterland beleidigen. Stattdessen biss ich mir auf die Unterlippe, musste stumm auflachen.
Roy strahlte, und ich genoss dieses Strahlen: „Beleidige die rückradlosen Penner ruhig, ich bin eh Norweger!“, verstummte kurz, und erinnerte mich dann zurück: „Du wohntest in Siihtala?“
Er nickte, wenn auch leicht verwirrt: „Tue ich… immer noch.“
„So sorry. Ich vergaß, dass du… nicht so perfekt Finnisch kannst. Wie auch immer, ich wohne auch in Siihtala!“
So war die Zeit vergangen. Roy und ich hatten uns immer besser verstanden. Uns oft privat getroffen, und es war mir innerhalb kürzester Zeit klar, dass ich mich wirklich in ihn verliebt haben musste. Nicht wie bei meinem vorherigen Freund, Jani.
Anders als bei Jani hatte ich bei Roy nie wirklich das Gefühl, das Verlangen, ihn andauernd berühren zu müssen. Ich konnte dem Briten stundenlang zuhören, ihm dabei zusehen, wie er mit seinen Händen wild gestikulierte. Ich fand Gefallen an seiner Art, zu erzählen. Als ich mir eines Tages seine Gedichtbände aus dem United Kingdom einschiffen ließ fühlte ich mich fast schon illegal. Er schrieb fantastisch, ich hatte ein solches Talent noch nie in meinem Leben für mich entdeckt. Oftmals hatte ich mich gefragt, warum er stets darauf beharrt hatte, dass ich mir diese Bücher nicht kaufen sollte.
Irgendwann hatte ich nicht mit seinem Besuch gerechnet, und sein zweiter Band lag offen auf meinem Bett. Natürlich hatte er es gesehen, mich gespielt tadelnd angeschaut, in der nächsten Sekunde aber auch schon nach einem Stift gegriffen, die erste Seite aufgeschlagen und mit seiner säuberlichen Schrift etwas hineingeschrieben:
When everything with meaning is shattered, broken, screaming… I’ll be there. Draw my name with your crippled white wings in the sky. We’ll rest in trust.
Yours loving,
Roy.
Seitdem hatte dieses Buch einen festen Platz auf meinem Bett, auf meinem Nachttisch. Das zweite Buch hatte er zum Glück nie entdeckt. Genau dieses zweite Buch, auf das ich jetzt in meinem Bücherschrank zusteuere. Es war immer das erste Buch von allen, nur nicht, wenn Roy da war. Als mir klar wurde, dass er nicht mehr kommen würde, stellte ich es allerdings an diesen Platz, mit der Beabsichtigung, es nicht wieder von diesem Platz wegzutragen.
Ich nehme es in die Hand. Ein wundervoll melodramatisches Cover. Irgendeine wahnsinnig schöne Landschaft, und ich nehme schwer an, dass es Schottland ist, geziert von zwei Schriftzügen. Einem „Roy MacLaine“ und einem „Angels Tears“. Schwungvoll, und ausdrucksstark. Ich schlucke, während ich das Buch an mich nehme. Zum Nachttisch gehe und das andere, signierte Buch ebenfalls an mich nehme. Ich kehre zurück ins Wohnzimmer. Dort, wo sich Mutter und der Psychiater noch immer unterhalten.
Ich lege die beiden Bücher auf den kleinen Beistelltisch des schwarzen Sofas. Und wieder… Schwarz. Dann gehe ich an den beiden vorbei, geradewegs durch das Zimmer auf den Balkon. Doch mir scheint, es ist beiden klar, dass ich wieder in die Wohnung zurückkommen würde. Sonst hätte ich die Bücher nicht auf den Tisch gelegt.
Kaum draußen schlägt mir der Regen ins Gesicht, der Wind scheint mich auszupeitschen. Vielleicht als eine Art Strafe. Eine Strafe dafür, dass ich die Situation so hatte eskalieren lassen. Dass ich die Beziehung zu Roy so hatte enden lassen, obwohl nicht einmal Schluss war. Dass ich lieber auf meine innere Stimme hörte, mir meinen Feigling lieber als meinen eigenen Mann stand.
Ich zünde mir eine Zigarette an. Als ich inhaliere und der Qualm mir in die Lungen geht fühle ich mich ein wenig besser. Meine Hände zittern, das haben sie schon die ganze Zeit getan. Aber es wird langsam besser. Es wird besser, während ich einen Entschluss fasse, welchen ich in wenigen Stunden bereits wieder bereuen werde. Ich weiß es, und doch drücke ich die Kippe, welche ich nicht einmal zu einem Viertel geraucht hatte, aus. Drehe mich um, trete aus dem Regen, als ich wieder in das Wohnzimmer zurückkehre.
Sie sehen mich an. Vielleicht neugierig, vielleicht gespannt. Der Psychiater Sallinen vielleicht unbeteiligt, meine Mutter erwartungsvoll?
„Ich gehe zurück in die Psychiatrie. Unter einer Bedingung – Ich darf mein Handy eingeschaltet lassen.“, als ich diese Worte ausspreche hasse ich mich bereits dafür. Sie werden mich wieder mit Medikamenten vollspritzen, wie immer. Ich werde wieder den Drang haben, mir die Adern aufzuschlitzen, um die Medikation auszubluten. Doch ich werde keinerlei Möglichkeit haben. Und die Stimmen werden fort sein. Das ist das, das mich beruhigt. Ich seufze auf.
Der Psychiater nickt: „Dann lass dein Mobiltelefon eben an. Was auch immer dir das bringen mag. Möchtest du deine Sachen packen?“
Nein, möchte ich nicht. Aber ich tue es trotzdem. Verlasse das Wohnzimmer wortlos. Mir ist klar, dass der Psychiater mit meiner Mutter alleine sein will. Sie ist eine hübsche Frau. Mit Geld und Mitteln. Und er ist ein vertrockneter Opa, offensichtlich doch süchtig nach Bestätigung seiner vermeidlichen Männlichkeit und der Schürzenjägerei.
Noch immer keine Zeile gelöscht, bis auf diese eine, oben genannte.
Ich nehme die Tasche aus dem Schrank, meine spezielle Psychiatrien-Tasche. Ich hatte sie mir damals extra dafür diesen stetigen Reisen gekauft. Nie für etwas anderes benutzt.
Jetzt beeile ich mich jedoch redlich, Klamotten aus dem Schrank zu zerren und in die silberne Tasche zu packen. Einige Bücher. Einen Block, Schreibmaterial. Seit ich Roys Bücher gelesen hatte, hatte mich der Ehrgeiz gepackt. Auch ich will so etwas schreiben können. Und obwohl ich mit Sicherheit weiß, dass ich nie im Leben an Roy heranreichen kann, gebe ich wirklich mein Bestes. Vielleicht findet es dennoch Interessanten.
Falls es mit Roy wieder klappen würde… ich könnte es ihm widmen. Ich… werde es ihm widmen. Wenn es ein Buch wird, egal, ob es wieder klappen wird.
Wenig später stehe ich wieder im Wohnzimmer, die Tasche in einer Hand, die beiden Bücher in der anderen: „Wir können gehen.“
Ich sehe, dass meine Mutter wieder den Tränen nahe ist. Aber sie weiß, dass es das Beste ist. Dass ich das tun muss, damit ich vielleicht wieder ein normales Leben führen kann. Normal. Ohne Medikation die mir meine Humanität nahmen.
Es tut nicht weh, mich von ihr zu trennen. Ich umarme sie kurz und lasse mir ein: „Meld‘ dich mal. Auch, wenn Roy sich gemeldet hat, ja?“, zu hauchen. Ich nicke, fast schon gleichgültig und versuche, mich beim Klang von Roys Namen zusammen zu reißen.
Der Psychiater verabschiedete sich mit einem psychiatrischen Fachgebrabbele, dem üblichen Bla-Bla darüber, dass es mir sicher bald besser gehen würde, und einem Hochziehen der linken Augenbraue von ihr.
Fast wird mir übel. Ich… bin erstaunt, wie flüssig ich auf einmal denken kann.
Der Regen hatte aufgehört, kaum sind wir auf dem Platz vor unserem Haus. Meine Mutter steht nicht auf dem Balkon und winkt; das tut sie schon lang nicht mehr. Weil sie es nicht übers Herz bringt, weil sie mich nicht gehen sehen will.
Und eigentlich will ich auch nicht gehen.
Die Welt zieht an mir, während wir zur Psychiatrie fahren. Ich habe deine Stimme im Ohr:
„Für dich zähme ich die Winde, dann können wir fliegen.“
Immer und immer wieder jagt mir dieser Satz durch den Kopf. Ich kralle meine Finger in das Armaturenbrett, muss mit mir ringen, nicht erneut in Tränen auszubrechen.
Wie du mich zum Abschied küsstest… Wie dir die Tränen kamen, wie du dich an mich kralltest, um mich nicht gehen lassen zu müssen. Und dabei sollte ich gerade mal für vier Tage fort sein. Es war schon genug für dich. Ich hatte dich bedingungslos geliebt, mit jeder einzelnen deiner Facetten. Deiner nicht minder bedingungslosen Liebe mir gegenüber. Den kleinen Schatten von Eifersucht, der sich über deine Augen legte, wenn ich von anderen Kerlen erzählte, den Funken, den du stets zu verstecken versuchtest.
Wie ich mich damals hatte zusammenreißen müssen, als wir nach dem Sportunterricht alleine in der Dusche waren. Wie ich hatte lachen müssen, als du mir drei Wochen später genau dasselbe gesagt hattest.
In dieser Nacht hatte dein Körper mir gehört. Anders als bei Jani hätte ich mich bestimmt noch ewig gedulden können. Jani war… wir hatten viel Sex. Obwohl ich erst 15 geworden und er schon länger 18 war. Er hatte keine Rücksicht darauf genommen, dass ich anfangs gar nicht wollte. Erst mit der Zeit kam dann das Verlangen, und es wurde Tag für Tag stärker. Auch nach der Trennung kam ich oft zu ihm, einfach nur für eine Nacht.
Dann kam Roy, fiel einfach so in mein Leben. Alles war vergessen, ich verdrängte, wer Jani, und was Verlangen war. Stellte mich auf kindlich naiv. Obwohl Roy älter war als ich hatte er zu diesem Zeitpunkt keinerlei sexuelle Erfahrungen gesammelt. Wohl hatte er einmal eine Freundin gehabt; aber mehr als platonische Freundschaft und der ein oder andere Kuss lief damals wohl nicht.
Er hatte sehr nervös auf meine nur unterschwelligen Annäherungsversuche reagiert. Herumgedruckst, sinnlose Wortfetzen vor sich hin gestammelt – Wir waren zu diesem Zeitpunkt ein knappes, halbes Jahr zusammen. Ich hatte nur gelächelt, ihm mit den Fingern über dein Gesicht gestrichen. Er lag unter mir, ich seitlich halb auf ihm. Es war ein schönes Gefühl. Wohl der innigste Moment, den ich in Erinnerung habe, obwohl er nicht weiter spektakulär war.
„Roy… es muss nichts passieren zwischen uns, weißt du? Ich habe dir nur gesagt…“ Jäh wurde ich von ihm unterbrochen: „Nein – ich… Versteh‘ mich bitte nicht falsch. Ich…“, er errötete leicht. Natürlich wusste er, dass wir komplett alleine im Haus waren, und dennoch fürchtete er sich wahrscheinlich davor, dass irgendjemand etwas mitbekam. Er war immer furchtbar umsichtig. Achtete extrem auf die Kommentare seiner Mitmenschen. War dennoch eigenständig und konnte seine Meinung vertreten.
„Ich… will dich doch auch, aber… Ich habe… ehrlich gesagt Angst vor dem ersten Mal, und…“
Als er mir in die Augen sah, schien er zu begreifen, dass er keine Angst zu haben brauchte. Er verstummte.
Wir steigen aus. Der Hof dieser Psychiatrie ist mir nur allzu bekannt. Und mindestens genauso verhasst wie bekannt. Ich umklammere meine Tasche fest. Der alte Psychiater lächelt nur milde: „Gehst du wieder auf dein altes Zimmer? Ich kläre die Formalien dann für dich ab.“
Während ich, mit einem Schlüssel in der Hand, durch die weißen Gänge der Psychiatrie schleiche wird mir quälend bewusst, dass ich mich gerade das erste Mal selbst eingewiesen hatte. Einen Fakt, den ich immer umgehen und vermeiden wollte.
Ich scheine zu fallen…
Mit einem leisen „Klack“ öffnet sich meine Zelle. Ich nenne es Zelle, weil ich mich hier nicht wohl fühlen kann. Obwohl es recht akzeptabel eingerichtet ist. Ich habe einen Fernseher, ich habe ein Bett. Einen Tisch, einen Schrank, sogar Blumen und ein zweifarbiges, langweilig anmutendes Gemälde. Alles ist in warmen gelb gehalten.
Doch wahnsinnig viel Trost spendet es mir in keinster Weise.
Ich beginne, auszupacken. Die Klamotten in den Schrank. Das Schreibmaterial auf den Tisch. Das Handy samt dem Ladekabel an die einzige Steckdose im Zimmer angesteckt. Die Bücher Roys auf das Bett. Die Tasche unter selbiges.
Ich bin fertig, und es sieht immer noch genauso steril und trostlos aus, wie vor fünf Minuten auch. Auf Erkundungstour durch die Psychiatrie will ich mich nicht wirklich machen; ich kenne die armen Kreaturen, die auf den Gängen ihr jämmerliches Dasein fristen, bereits mit aller Güte.
„Elias?“, wenn ich meine Augen schließe, dann bist sofort wieder du in meinem Kopf. Aufgebracht diesmal, verstört. Eine erneute, verblichene Erinnerung an dich. Du hast meine Hand genommen, mich mit ungläubigen Augen angesehen. Sie waren feucht: „Elias. Was… was ist los?“
Ich hatte dich in den Arm genommen, dir beruhigend über den Rücken gestrichen. Tatsächlich ging dein Atem bald langsamer und ruhiger. Du löstest dich aus er Umarmung und sahst mich furchtbar besorgt an: „Jaari… Hat gemeint, du … müsstest fort?! In die Psychiatrie?“
Mir wurde ganz anders, und dennoch versuchte ich, Haltung zu bewahren. Ich lächelte dich an, versuchte, dir dadurch Trost zu schenken. Mir wurde in diesem Moment erneut bewusst, dass ich dein ein und alles sein musste, und du es nicht nur einfach so sagtest.
„Ich wollte eigentlich, dass du es durch mich erfährst…“, das Seufzen, das meine Lippen verlässt ist weitaus mehr als einfach nur traurig: „Hör mal, ich muss… sehr oft in die Psychiatrie. Wenn ich einfach von der Schule fernbleibe, dann bin ich dort. Wenn ich ‚bei Verwandten‘ im Ausland bin, dann bin ich eigentlich auch in der Psychiatrie. Ich wollte es dir sagen, weißt du? Heute, oder morgen oder übermorgen, weil ich in einer Woche wieder für längere Zeit fort muss. Aber… ich hatte einfach Angst vor deiner Reaktion, verstehst du? Vielleicht… Ich hatte Angst, dass du… Angst vor mir bekommst, oder nichts mehr mit mir zu tun haben willst, weil ich doch in die Psychiatrie muss, und…“
Die Tränen, die über mein Gesicht liefen, sie waren nicht gewollt. Du strichst sie mir weg: „Verdammt, Elias. Warum sollte ich Angst vor dir haben? Ich kenne dich doch, ich… Ich liebe dich doch, verdammt.“
Ich seufzte auf. Wir waren mitten im Schulgebäude. Um uns herum hunderte von Leuten, die uns kannten. Und … Roy. Mein Roy, eben dieser, welcher sich sonst einen solchen Kopf um … vor all diesen Leuten hatte er gesagt, dass er mich liebte.
„Küsst du… mich?“
Wieder konnte ich kaum glauben, was ich hörte. Meine Homosexualität war hier an dieser Schule wohlbekannt, aber über Roys Neigungen wusste so gut wie niemand etwas. Ich wusste es. Dabei sollte es eigentlich…
Seine Lippen auf meinen. Ich konnte nicht weiter nachdenken, alles blendete auf einmal aus. Ich schloss die Augen, während Roy mich vorsichtig gegen die kalte Backsteinmauer drückte. Alles, was ich wollte, war, dass dieser Moment nie vergehen würde. Ich überhörte das Getuschel um uns herum, alles, was ich wahrnahm waren seine Lippen, die sich immer und immer wieder mit meinen verschlossen, und das Gefühl schier unendlichen Glückes in meinem Magen.
Ein schweres Seufzen verlässt meine Kehle. Ich schließe die Augen und höre, wie ein kleiner Wagen in mein Zimmer gefahren wird. Eines dieser Mittagessenwägen, wie Sie sie im Krankenhaus benutzten. Und doch sind es nur Medikamente. Ich höre, wie jemand mit mir zu reden versucht, doch ich blende die Geräusche um mich herum aus.
Ich sah die Lust in deinen Augen und sie brachte mich zum Lächeln. So lüstern du mich ansahst, so lüstern du warst, vor lauter Scheu trautest du dich nicht, mich dort anzufassen, wo du wirklich wolltest. Immer wieder strich deine Hand über meinem linken, nach wie vor mit Jeansstoff bedeckten Oberschenkel. Anstelle dessen, die Hand in meinen Schritt hochgleiten zu lassen, sahst du mich an, fragend. Du zögertest und ich biss mir auf die Unterlippe, so angetan war ich von dir in diesem Moment, so gut sahst du dabei aus.
Ich kann heute nicht mehr sagen, warum die seltsame Frage, die wenige Sekunden später über deine Lippen kam, mich so schockierte, dass ich beinahe zu schreien begann.
„Bist du… eigentlich homo…sexuell oder … einfach nur bisexuell?“
Wie kannst du das eigentlich verantworten?
Eine Stimme, und obwohl sie so dicht an meinem Ohr klingt, ist sie doch in meinem Kopf. Ich heiße sie Willkommen, sie ist wunderbar angenehm.
Du weißt doch ganz genau, dass wir wieder keinen Kontakt halten können, wenn du hier bist?
Ich antworte laut, sage dir doch, dass es mir Leid tut.
Ja, ja, sagst du, das sagst du doch immer.
Dann sitzt du auf einmal neben mir auf dem Bett, und ich sehe dich von der Seite an. Sehe in deine tiefblauen, unergründlichen Augen. Sie sind tiefenlos. Ich streiche mir beschämt durch das kurze, blonde Haar.
Ich weiß. Aber du weißt doch selbst, wie schwer ich mit dem Anderen klar komme. Ich will den anderen loswerden. Er tut mir weh, er sagt Sachen, die ich nicht hören will.
Ich sehe, wie du aufseufzt.
Étienne ist doch kein Grund, mit mir den Kontakt abzubrechen. Vor mir Reißaus zu nehmen. Ich bin doch nicht Étienne, ich bin doch jemand anderes. Du tust mir weh, wenn du mich dauernd für Étienne verlässt. Meinst du, ich habe keine Gefühle?
Ich will nach dir fassen, aber du weichst mir aus.
Hör zu, sagst du und stehst auf: Du wirst es bereuen. Und jetzt verlasse ich dich, vielleicht sieht man sich wieder, irgendwann.
Dann verlässt du den Raum. Ich bleibe zurück und seufze schwer.
Jedoch beschließe ich im nächsten Moment auch schon in den Gemeinschaftsraum zu gehen. Vielleicht ist Juuho da. Juuho, mit dem ich bereits zu Zeiten Janis hier so viel Zeit verbracht hatte. Gesehen hatte ich ihn das letzte Mal vor drei Monaten.
Aber kein Wort mit ihm gewechselt. Er schien noch immer furchtbar wütend auf mich zu sein. Auf mich und die Liebe, die mich mit Roy verband. Die mich stetig davon abhielt, mit Juuho zu schlafen.
Ich weiß nicht einmal, ob er je wütend war.
Um genau zu sein weiß ich nicht einmal, ob es je einen Juuho gab.
Oder ihn gibt; ob er hier in dieser Psychiatrie ist, oder war.
Aber als ich ihn kennenlernte erzählte er mir, warum er hier war. Er hatte den Verstand verloren und Menschen umgebracht. Sich darauf völlig verzweifelt der Psychiatrie gestellt. Er hatte noch ein paar Jahre hier zu sein; nach seinem Doppelmord vor drei Jahren.
Ich war mir also sicher, dass er sich noch hier in der Psychiatrie aufhält. Falls es ihn gibt. Versteht sich.
Ich verlasse mein Zimmer und stoße dabei fast den kleinen Rolltisch mit den Medikamenten um. Einige Pillen fallen wohl runter, doch die Mühe, sie aufzuheben, würde ich mir erst später machen.
Auf dem Gang werfe ich einen nahezu verzweifelten Blick … Ich sehe mich um, versuche festzustellen, ob du hier noch irgendwo bist, aber du bist es nicht, und so schlage ich meinen gewohnten Weg in das Gemeinschaftszimmer ein; vorbei an einigen Türen, welche nach wie vor nach außen hin mit … vorbei an einigen Zellen. Von außen getarnt mit hübschen Holztüren, von innen alle dieselben wie meine. Trostlos, obwohl sie genau das Gegenteil bewirken sollen.
Wie die Stimme meines Psychiaters.
Als ich die Tür zum Gemeinschaftsraum aufmache schauen mich alle an. Einige erkennen mich wieder, rufen mir ein fröhliches: Hallo, Elias! zu und machen sich dann wieder daran, was sie bis vor wenigen Sekunden noch machten. Sie redeten; mit anderen Insassen oder sich selbst; sahen fern oder spielten irgendwelche seltsamen Spiele.
Ich lasse meinen Blick durch das Zimmer, ebenfalls in Gelb gehalten, schweifen und erblicke schließlich Juuho. Er sitzt auf einem Sofa, die Hände gefaltet. Er sieht in die Luft, oder gegen die Decke. Bemerkt nicht, dass ich auf ihn zugehe.
„Hallo.“, sage ich leise, und du siehst auf. Du lächelst fast ein bisschen und rutschst ein Stück auf deinem Sofa zur Seite, bedeutest mir damit, dass ich mich hinsetzen soll. Das tue ich. Als ich deine Stimme höre bin ich wahnsinnig erleichtert.
„Elias. Mit dir habe ich gar nicht mehr gerechnet. Wie geht es dir?“
Eine wahnsinnige Erleichterung aufgrund der einfachen Tatsache, dass mir bewusst geworden war, dass ich mir dich nicht eingebildet hatte.
„Naja. Ich habe mich zum ersten Mal freiwillig einweisen lassen. Schon ziemlich dreckig, ich hoffe, dass es bald wieder besser wird. Wie geht es dir?“
Er nickt und lächelt, schüttelt etwas den Kopf und streicht sich sein Haar zurück. Lang, und blond mit einem rötlichen Stich. Manchmal nenne ich dich deswegen Jarno. Du findest es amüsant. Tatsächlich weiß keiner von uns beiden, warum ich dich so nenne.
„Du bist gescheit geworden, Elias. Es wird bestimmt besser, wenn du wieder eine Weile hier bist. Was ist passiert? Warum bist du wieder hier?“
„Ich habe dich gefragt, wie es dir geht.“
„Ich habe gefragt, warum du wieder hier bist. Hast du mich nicht verstanden?“, er übergeht die Frage nach seinem Zustand geflissentlich, weiß genau wie ich, dass dies nur eine Floskel ist, dass alle wissen, wie schlecht es allen hier geht.
Er hatte mich gefragt, weil… weil… wie verzweifelt suche ich nach einer Erklärung, doch es lässt sich keine plausible Begründung finden. Ich will ihn fragen, doch meine Lippen gehorchen mir nicht.
„Ich weiß es nicht. Ich will nicht einmal mehr hier sein; aber irgendwie haben… konnte ich mich nicht mehr kontrollieren, ich habe einfach gesagt, dass ich hier wieder her möchte. Obwohl… ich saß drei Tage lang auf meinem Balkon und bin so gut wie nie hineingekommen. Ich habe die Welt vor meinen Augen zerfallen gesehen. Vielleicht wollte ich, dass diese Illusion endlich aufhört. In der Psychiatrie muss ich die Welt nicht sehen, weißt du? In der Psychiatrie sehe ich die gelben Wände, aber nicht die Welt, die da draußen zerbricht!“
„Sind die Stimmen wieder da?“
Er weiß Bescheid. Ich seufze. Nicke stumm. Greife nach seiner Hand und umfasse sie fest. Er streicht mir beruhigend über den Rücken.
„Es muss furchtbar sein, sie zu hören, nicht?“
Ich schlucke, lehne mich vorsichtig an ihn. Ich bin nur allzu erleichtert, dass er mich nicht von sich stößt. Nichts mehr mit mir zu tun haben will, weil ich…
„Ich hasse ihn. Er sagt mir, ich solle meine Eltern umbringen. Er macht sich lustig über mich. Nennt mich einen Feigling, verspottet mich. Verhöhnt Freunde und Familie, weißt du, wie belastend das ist? Ich kann nachts nicht schlafen, weil er mich nicht in Ruhe lässt. Er will, dass ich sterbe, er will, dass ich mich umbringe, oder dass mich jemand anders umbringt. Er will, dass… ich alles umbringe, was ich liebe, was ich…“
Ich komme nicht weiter. Er streichelt vorsichtig meine Hand mit der feingliedrigen Seiner; seufzt und ich fühle mich schlecht, als ich mich nicht weiter beherrschen kann und mir die Tränen über das Gesicht laufen.
Tatsächlich hatte ich nie darüber gesprochen, wie wahnsinnig mich diese Stimme machte. Und auch jetzt hatte ich das nicht; es waren nur belanglose Worte, die versuchten, nur zu einem geringen Teil auszudrücken, was ich wirklich empfand.
„Ich wollte dich wiedersehen…“
Es verlässt meine Lippen, ohne, dass ich es wirklich sagen wollte. Aber ich weiß, dass diese Worte der Wahrheit entsprechen.
„Das ist aber nicht der Grund, warum du hier bist!“, er nickt, wie, als ob er sich selbst bestätigen möchte. Als ich jedoch schweige, nickt er erneut: „Ich wollte dich aber auch… wiedersehen.“
Er seufzt. Wenig später richte ich mich wieder auf und wische mir die Tränen aus den Augen, versuche, ihn anzulächeln: „Ich habe dich wirklich vermisst. Wir haben jeden Tag hier gesessen. Und nachts bist du immer zu mir gekommen, weißt du noch? Heimlich, damit ja kein Betreuer spitz kriegt, dass er bei mir war.“
Du lächelst, streichst mir die Haare aus dem Gesicht. Es ist dieselbe, wärmende Zärtlichkeit wie immer in deinen Augen, doch anders als sonst machen weder du noch ich Annäherungsversuche.
„Ich liebe deine verkrüppelte Wahrnehmungsstörung, weißt du das?“
„Meine… was?“, ich sehe ihn an, und dann sehe ich durch den Raum. Dort hinten steht er wieder, der Mann. Wieder starrt er mich an. Ich glaube, er ist tot. Und steht nur da, um mich schier in den Wahnsinn zu treiben. Er hat sich nie bewegt. Er macht mir Angst, bei seinem Blick schnürt sich meine Kehle zusammen, und mein Puls geht schneller. Ich will eigentlich schreien, und ich will eigentlich fort, aber es geht nicht.
Ich sinke in mich zusammen. Spüre fast, wie die Welt unter mir zerbricht. Tote können doch gar nicht sehen.
„Du hast mich gerade eben wieder ‚er‘ genannt. Das machst du dauernd. Weil du nicht zwischen Personen unterscheiden kannst.“, er lächelt mich an. Spürt wahrscheinlich, dass ich mich etwas an ihn drückte. Streicht mir sacht über den Rücken und flüstert mir zu: „Er tut dir nichts. Du kennst ihn doch. Das ist Herr Vahtere. Er war doch der erste, mit dem du gesprochen hast. Du fandest ihn sehr nett.“
Juuho kann mich mit diesen Worten jedoch in keinster Weise beruhigen. Eher treibt er mir weiteren Angstschweiß auf die Stirn. Woher weiß er, dass… Ich will aufstehen und mich losreißen. Irgendetwas schnürt mir die Kehle zu, treibt mir ein Hämmern in den Kopf. Es ist der Blick dieses Mannes, es ist die Stimme des anderen, jüngeren Mannes. Er hält mich fest. Es ist Panik in mir, in meinem Kopf, in meinem Körper. Die Kehle ist wie zugeschnürt, ich versuche, nach Luft zu schnappen.
Ich will weg, fort hier. Warum weiß er, wer mir Angst macht? Woher weiß er, dass ich… mit diesem Mann, diesem Toten Kontakt hatte? Warum holt er mich ein, überholt mich und lässt mich in seine weit ausgebreiteten Arme laufen, mitten hinein in das Verderben?
„Verdammte Scheiße, Elias! Krieg‘ dich ein, du hyperventilierst!“
Als ich wieder sehen kann blicke ich direkt in Juuhos Gesicht. Wo wir sind weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass er bei mir ist, und dass es jetzt besser werden muss.
Mein Atem beruhigt sich, und so entspannt sich auch deine Miene: „Du jagst mir jedes Mal aufs Neue einen wahnsinnigen Schrecken ein, Elias. Weißt du das?“
„Wo sind wir?“
Ein wahres Glück, dass er mir nie übel nimmt, dass ich mich nicht bei ihm bedanke, zumindest nicht sofort. Meistens folgt abends der Dank in etwas anderer Variation, zumindest folgte er. Es hat aufgehört, nach dem ich Roy kennengelernt hatte.
Weil ich ihm nie fremdgehen wollte. Obwohl ich hier eben dies am besten gekonnt hätte – Mit Juuho, einem wirklich attraktiven jungen Mann von knappen 17 Jahren. Sein genaues Alter kenne ich nicht.
„Wir sind in meinem Zimmer. Aber wir gehen gleich wieder vor, ja? Es gibt bald Essen, und ich habe es die letzten drei Tage verweigert. Jetzt straft mein Körper mich dafür. Ich könnte sterben.“,
du verziehst das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln sein soll. Aber ich schüttele nur protestierend den Kopf: „Natürlich. Ich habe nichts mehr gegessen seit drei Tagen, und auch nichts mehr gegessen.“
Er lächelte mild: „Es ist nur allzu niedlich, wenn deine Sprache verfällt. Soll ich ehrlich sein, Elias?“
Ich nicke. Mein sechzehnter Geburtstag. Er war so anders geplant, als er schließlich gekommen war.
„Du weckst in mir immer eine Art Beschützerinstinkt. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, dann will ich dich sofort in den Arm nehmen. Ich will auf dich aufpassen, weißt du? Ich will dich nie wieder gehen lassen, ich will für dich da sein, wenn es dir schlecht geht. Du bist so zerbrechlich und kaputt, und ich möchte einfach nur aufpassen, dass es nicht noch viel schlimmer für dich wird. Ich…“
Ich lege meine Arme in seinen Nacken und ziehe mich vorsichtig an ihm hoch. Sehe ihn an und merke, dass ihm Tränen aus den Augen tropfen. Richte mich auf, setze mich neben ihm und streiche ihm die Tränen fort. Versuche, in deinen Augen etwas zu erkennen, das darauf schließen lässt, dass du wenigstens ein klein wenig glücklich bist.
Und die Augen sind leer. Tiefenlos und blau. Doch es ist nicht mehr das strahlende blau, welches es war, als ich dich das erste Mal sah; es ist verschleiert und gleicht einem Grau. Das Grau ist wässerig, droht, zu verschwimmen. Es fleht mich an, dir zu helfen.
„Du bist nicht glücklich!“, es huscht mir über die Lippen, und ich bin mir der Schwere dieser Worte nicht bewusst. Du wendest dich ab. Und ich weiß, dass du weinst. Ich weiß es einfach, lege dir eine Hand auf die Schulter, doch du schüttelst sie ab.
„Juuho…bitte!“, ich kann meine Stimme kontrollieren, sie ist leise, wie ich wollte, dass sie wird. Sie soll dich beruhigen, dich vielleicht darauf aufmerksam machen, dass ich… für dich da sein will. So, wie du es all die Zeit für mich warst. All die Zeit, in der ich dir kein einziges bisschen dankbar war.
Eigentlich wollte ich meinen sechzehnten Geburtstag ausgelassen feiern, große Party machen und Unmengen von Alkohol in mich hineinschütten. Hinterher besoffen und in meiner eigenen Kotze rumliegen oder es mir von einem wildfremden Kerl (beziehungsweise in früherer Ausführung: von irgendeiner Nutte) besorgen lassen.
Und dann kam es doch anders. Drei Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag lernte ich Roy schließlich lieben. Nachdem er mir seine Liebe gestanden hatte legte auch ich alles daran, ihm meine zu beweisen, meine eigene, bedingungslose. Und so kam es, dass ich, drei Monate später, anstelle von abertausenden Leuten und einer gehörigen Menge Alkohol, nur von Roy und – so richtig klischeehaft – einer Flasche Rotwein umgeben war. Wir hatten den Wein getrunken, in edlen Gläsern. Sassen zusammen auf dem Sofa, ich hatte mich an ihn gelehnt. Es wurden schöne Stunden, die im Endeffekt darauf hinaus liefen, dass wir nebeneinander im Bett lagen, uns einfach ansahen. Uns gegenseitig unsere ewige Liebe schworen.
Wir waren so wunschlos glücklich, wir hatten uns, wir konnten uns alle Zeit der Welt lassen. Und ich war mir so sicher, dass du mich genauso liebtest, wie ich dich. Wenn nicht sogar mehr; und dass es wohl für Ewig lasten würde.
Wenn… das Herz doch aber verlangt…
Und dann kam es zu diesem Streit. Zu diesem hirnrissigen Streit, und ich schmiss dir an den Kopf, dass du das letzte wärst. Dass du ein frevelhafter Vollidiot warst, der sich meine Liebe die ganze Zeit doch so wie so nur eingebildet hatte. Aufgrund dieser einen Frage. Diese beschissene Frage, die mein Leben zerstört hatte. Du wolltest dir Deines zerstören, du wolltest dich umbringen. Als es scheiterte machtest du mir klar, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest, und ich begann, zu akzeptieren.
Auch wenn in mir die Lust tobte, mich selbst zu richten, weil ich dir das aufgebürgt hatte. Weil ich dich angelogen hatte, weil ich dich zu nieder gemacht habe und dein eigenes, fragiles Leben auf die Kippe stellte. Wegen einer Frage, weil ich… es nicht fassen konnte.
Heute kann ich nicht fassen, warum ich es nicht fassen konnte. Heute kann ich nicht fassen, was ich dir angetan habe, was ein Unmensch ich war. Natürlich wusstest du, dass in mir etwas vorging, das nicht in Ordnung ist, dass mit mir etwas nicht stimmt. Doch wer zur Hölle denkt an so etwas, wenn man ihm gerade weg frei an den Kopf schmeißt, dass er sich die bedingungslose Liebe seines Partners nur… eingebildet hat?
Du siehst mich an, und du lächelst ein wenig. Dann nimmst du mich kurz in den Arm und drückst mich. Mir fällt auf, dass du gut riechst. Ich streiche dir durch das Haar. Wieder täuschst du vor, stabil zu sein, nur, damit ich mich nicht schlecht fühle. Und Sekunde für Sekunde fühle ich mich schuldiger und schwächer.
Wir sind doch beide fragil und zerreißbar wie Puppen aus Papier. Wir selbst zerreißen uns gegenseitig unsre Herzen von Papier.
Bewusst ist mir, dass ich alles falsch gemacht habe. Und doch begreife ich nicht, warum man mir nach wie vor seinen eigenen stabilen Zustand vorgaukelt, nur um mich nicht zu belasten.
„Lass uns essen gehen, ja?“, ich höre deine Stimme, und auf einmal überkommt mich ein Gefühl, das so wohl noch nie da gewesen war. Dieser Drang, vor Trauer platzen zu müssen. Etwas unternehmen zu müssen.
Bevor du aufstehen kannst lege ich die Hand auf deinen Oberschenkel. Als du mich ansiehst, verwundert, muss ich mich vorbeugen, muss dich küssen.
Das sind nicht meine Handlungen, zweifellos nicht. Sie fühlen sich seltsam an; als ob jemand weit weg einen Knopf betätigt und mich damit dazu zwingt, Handlungen gegen meinen Willen durchzuführen. Wie fremdgesteuert, und mir ist, als ob ich nicht mehr ich selbst bin. Emotionen kann ich keine empfinden. Als ob mein Körper tot wäre. Als ob ich taub wäre.
Als sich unsere Lippen jedoch vereinen verlässt mich dieses Gefühl. Dafür macht sich ein weiteres breit. Ein Gefühl von Wärme, und von einem Band zwischen ihm und mir. Es fühlt sich gut an, wahnsinnig gut, um nicht sogar ehrlich zu sein. Wie sich seine weichen Lippen immer wieder mit meinen verschließen. Der warme Schauer, der sich über meinen Körper legt, während er mit seiner Zunge vorsichtig gegen meine Lippen stößt. Und die Tränen, die schon wieder aus meinen Augen fließen.
Es lag keine besondere Zärtlichkeit in seinem Kuss, noch eine besondere Leidenschaft, und dennoch…
„Ich glaube, wir sollten essen gehen!“,
Er lächelt, als wir uns wieder lösen. Im Grunde genommen war mir das völlig recht, aus moralischen Gründen wahrscheinlich. Weil das… Juuho ist, weil ich ihn nicht liebe. Und weil ich immer noch in einer Beziehung mit Roy bin, zumindest, weil ich das hoffe. Auch, wenn diese Bindung gescheitert war und in Scherben lag.
Allerdings schaltet meine Moral sich relativ rasch aus. Ich seufze, als ich diese Worte höre. Sehe ihn an. Aus feuchten Augen: „Gibt es nicht… Können wir nicht erst in zehn Minuten Essen gehen?
Ich sehe, wie sich deine Lippen zu einem strahlenden Lächeln verziehen. Spüre, wie du mich an dich nimmst, mich in die Arme schließt. Wie gut mir deine Nähe tut. Wie sehr ich Roy vermisse.
„Lass uns lieber jetzt gehen.“
Als wir den Speisesaal betreten schaut niemand zu uns. Alle versuchen sie nur, ihr Essen so schnell wie möglich hinunter zu bekommen, um dann verschwinden zu dürfen.
Der Saal ist gelb und trostlos. Juuho schiebt mich ungeduldig zur Essensausgabe. Dass er Hunger hatte wird in diesem Moment noch um einiges deutlicher, doch kaum stehe ich vor dem kleinen Eck, in dem vier verschiedene Mahlzeiten angeboten werden, schlägt mein Magen um. Mir wird übel, und während Juuho mich nur fragend ansieht, mich mit dem Blick fragt, ob ich nicht auch etwas zu essen möchte, schüttle ich leidgeplagt den Kopf.
Wenn er stirbt…
Als ich wieder denken kann sitzen wir am Tisch. Juuho mir gegenüber. Er isst irgendetwas, das ich nicht identifizieren kann. Bietet mir ab und zu etwas davon ab, doch meine Meinung steht fest. Essen werde ich nichts. Erst mal… erst mal sollte ich leiden.
Ich scheine mich zu irren, als mir auf einmal ein fast schon süßlicher Geruch in die Nase stieg. Ich kenne ihn, ich kenne ihn nur allzu gut. Drehe mich herum, lasse meinen Blick durch den ganzen Raum schweifen, doch dich… dich sehe ich nicht.
„Elias? Ist alles in Ordnung?“, es ist Juuho. Seine Stimme ungewöhnlich laut. Noch einmal: „Elias?!“
Es dröhnt in meinem Kopf. Als ob Juuho den Namen geschrien hätte. Immer und immer wieder. Es hallt in meinem Kopf wie ein Pistolenschuss. Ich presse die Hände gegen den Kopf, verziehe das Gesicht. Es schmerzt. Dröhnt. Etwas in mir schreit: „Elias!“
„Elias!“
„ELIAS!“
„…Lias?“
Die Stimme ist kein Echo, in meinem Kopf ist sie nicht. Sie gehört nicht Juuho. Ich stöhne auf. Nicht schon… wieder eine neue…
Ich schlage die Augen auf. Drehe mich um, versuche, die neue Stimme … Die Stimme war nicht neu. Ich kannte sie. Nur allzu gut. Genau wie den Geruch, den Geruch von…
Er saß hinter mir. Hatte sich wahrscheinlich umgedreht, als er Juuhos Ausruf meines Namens…
Zeile gelöscht.
… gehört hatte. Hatte sich umgedreht, um herauszufinden, wer Elias war. Und jetzt sieht er mir in die Augen. Ich ihm. In seine braunen Augen. Matt. Sie hatten jeglichen Glanz verloren.
„Lias…“, seine Stimme ist so wahnsinnig fragil. Ich beginne zu zittern, als ich sie höre. Als ich wahrnehme, dass du hier bist…
„Was… was machst du hier?“
Ich wende mich ganz zu ihm. Kann sehen, wie er sich nicht mehr kontrollieren kann. Wie er beginnt, heftig zu zittern, wie ihm Tränen aus den Augen treten. Wie er das Gesicht in den Händen versteckt. Und ich sehe mich selbst, umfasse seine Handgelenke und ziehe sie ihm fast schon zärtlich fort vom Gesicht:
„Ich bin hier, weil…“
Er sieht mich an, aus seinen wässerigen, braunen Augen. Sie schimmern, allerdings nur vor Tränen. „Weil…?“, seine Stimme war furchtbar gebrochen. Als ob er ewig nicht mehr gesprochen hätte, und seine Stimmbänder sich erst mal wieder daran gewöhnen mussten, dass er wieder…
„Weil ich nicht mehr kann, nicht ohne dich. Weil ich mir wahnsinnige Vorwürfe mache, weil ich nicht mehr weiterleben will, ohne dich. Weil die Stimmen lauter werden. Ohne dich. Weil ich nicht… weil ich ohne dich nicht kann…“
Er seufzt schwer: „Ich habe mich selbst einweisen lassen, weil ich Angst habe, dass ich mich wieder umbringen will. Weil ich ohne dich… einfach nicht bin.“
Als ich mich zu Juuho umdrehen will ist dieser verschwunden. Es ist zweitrangig. Ich drehe mich wieder zu Roy; bin maßlos glücklich, dass er wieder in meinem Leben ist.
„Bist du… fertig?“,
Seine warme Stimme. Sie erinnert mich an Regentage, welche von der plötzlich einfallenden Sonne unterbrochen werden. Ein Lichtschimmer.
Ich nicke, wir stehen beide auf. Er sieht mich an, seufzt schwer: „Gehst du … mit mir auf mein Zimmer? Vielleicht… sollten wir reden!“
Ich nicke, und wenig später spüre ich, wie seine Hand nach meiner greift. Als ich ihn ansehe lächelt er zögernd. Unsicher, und ich weiß, dass er Angst vor Abweisung hat.
Ich umgreife seine Hand nur allzu gern.
„Welches ist deine Zimmernummer?“, frage ich leise, und sehe dich an. Sehe, wie du dir mit der freien Hand durch das leicht wellige Haar streichst.
Du hast es früher doch immer geglättet. Kannst du dich nicht einmal mehr dazu aufraffen, dir die Haare zu glätten? Geht es dir so schlecht?
Ist das hier… so eine Hölle für ihn? Ich beschließe, mich um ihn zu kümmern. Ich beschließe, ihn wieder genauso bedingungslos zu lieben, wie ich das noch immer tue. Und ich beschließe, Reue zu zeigen, mich bei ihm zu entschuldigen. Tausende Male, bis er es nicht mehr hören will.
„Ich liebe dich.“
Mein Herz macht den Eindruck, stehen zu bleiben. Ich wollte nur seine Zimmernummer wissen, jetzt gestand er mit seine Liebe erneut. Obwohl mein Herz eben noch stehen zu bleiben schien, so pocht es jetzt mit ungewöhnlicher Schnelle.
Ich nehme seine freie Hand in meine, ziehe ihn nahe zu mir. Mache eine Hand von seiner los, legte sie ihm um die Taille. Wir stehen noch immer im Speisesaal, doch es stört uns nicht. Nicht im Geringsten, zumindest mich nicht.
„Ich liebe dich. Immer noch. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Auch wenn ich das gesagt habe. Es tut mir so wahnsinnig leid. Roy. Bitte, verzeih es mir. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr ich dich liebe.“
„Ist schon gut!“, dann küsst du mich. Fast unerträglich schüchtern, und mein Herz droht, aus der Brust zu springen. Du löst den Kuss, lächelst mich schüchtern an.
„Ich hoffe, es war in Ordnung.“, du packst meine Hand fast schon zu fest und gibst mir damit zur Bedeutung, dass du verschwinden möchtest.
„Deine Zimmernummer?“, ich lächle dich an, so sanft und liebevoll es geht. Ich meine, mich in deinen Augen wieder zu erkennen.
„365“, du stößt die Tür auf und wir treten auf den Flur. Zusammen, Hand in Hand. Du und ich, endlich wieder vereint. Eine knappe Woche waren wir getrennt. Erst der Streit, dann dein Suizidversuch. Einen Tag, an dem ich nichts von dir hörte. Meine drei Tage, die ich auf dem Balkon verbrachte. Ich dachte, diese sechs Tage würden für immer weilen, dass ich dich nie wieder sehen könnte. Jetzt stehst du neben mir, hältst meine Hand und siehst mich fragend an.
„Ha… ttest du was gesagt?“
Du strahlst.
„Ich habe dich nach deiner Zimmernummer gefragt. Schön zu sehen, dass du immer noch ganz der alte bist. Du bist ein kleiner Träumer….“
Ich lächelte. Ein Träumer war immer Roys Eigeninterpretation für einen sehr unaufmerksamen Menschen gewesen, einen Menschen, der sich vor allem flüchtete. In seine eigene Traumwelt, und obwohl er genau wusste, dass es bei mir nicht anders ist, hatte er mich immer beiseite genommen. Mir ein: „Ich hasse Träumer. Aber dich, dich liebe ich!“, ins Ohr gemurmelt.
„657“, meine Stimme spricht, ohne, dass ich es kontrollieren kann. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt, aber ich lasse mir nichts anmerken; genieße nur, dass du wieder für mich lächelst. Vorsichtig ziehe ich meine Zimmerkarte aus der Hosentasche.
456. 456. 456. 465. Die Zahlen verschwimmen. 356. 356. 356. Wieder. 456. 456.
Mir wird schwindelig, und ich stütze mich gegen eine dieser gelben Wände. Du nimmst mir die Karte aus der Hand: „die 290 ist definitiv näher als die 365… Elias?“
Du bist bei mir, ich kann deinen Atem spüren. Wenig später, wie du mich in deine Arme nimmt. Mich festhältst. Ich bin sicher. „Der Himmel… er hat uns doch gewarnt, als wir im Hafen des Albtraumes einfuhren!“, ich stöhne, mir wird auf einmal schlecht. Aber ich bin in deinen Armen, und das ist gut so.
Wenig später komme ich wieder vollends zu mir. Sehe, dass dein Gesicht starr von Tränen ist und mache mir im selben Moment wahnsinnige Vorwürfe. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du mich hattest so sehen dürfen.
Wie kannst du das verantworten?
Ich schrecke zusammen. Frage mich, was Janne auf einmal…
„Verzieh‘ dich!“, ich … kann mich nicht beherrschen. Kralle mich fast schon panisch an dich, während ich den schemenhaften Mann hinter dir starr fixiere.
Schau doch, was du ihm angetan hast!
„Hör auf, geh weg! Verzieh dich. Ich…“, ich breche in Tränen aus, kann meinen Körper nicht kontrollieren und panische Angst macht sich ohne irgendeine Vorwarnung breit, als ich auf einmal beginne, nach Luft zu schnappen. Meine Stimme ist nichts mehr als ein verzweifeltes Schluchzen: „Lass uns in Ruhe! Hau ab, Verzieh dich, ich hass…“, die Worte bleiben mir im Hals stecken.
Ich sehe, wie Roy sich umdreht. Wie er hinter sich sieht, niemanden erkennen kann. Wie ihm die Tränen in die Augen treten, sich verzweifelt weiter umsieht. Spüre, wie seine Arme um mich herum fester werden und vernehme seine leise Stimme:
„Elias, Elias. Bitte… was ist los…? Wer… Wer ist da?“
Der Moment, in dem ich wieder zu mir komme. Ich richte mich wieder auf, sehe dir in die Augen. Du bist kleiner als ich. Mindestens zehn Zentimeter. Wieso ist mir das eigentlich nie bewusst geworden?
„Es ist alles in Ordnung, Roy. Du weißt doch, dass ich…“
„Dass du krank bist, ja. Ich weiß. Tut mir leid, ich habe immer... so eine wahnsinnige Angst um dich.“
Ich streiche dir über den Arm, welcher wie immer von einem weißen Hemd bedeckt ist. Du besitzt nur weiße Hemden. Zumindest macht es mir so den Anschein. Ich habe dich nur selten in etwas anderem gesehen. Und wenn; dann war es ein blaues Langarmshirt mit weißem Hemdkragen, welches von einem kleinen Print, einer Art Distel in Kombination mit einem Rugby-Ball und dem darunter stehenden ‚Scotland‘, geziert wurde.
Das war alles, was ich an deinen Klamotten finden konnte und kein Hemd war. Ich fand es furchtbar niedlich, dass auch deine Fanshirts einen edlen Touch haben mussten.
Wir waren in meinem Zimmer angelangt, während ich über Roys Kleidungsstil philosophierte. Mit einem Lächeln ziehe ich den Schlüssel – so sehr diese Psychiatrie auch auf Hotel gemacht war, es gab trotzdem Schlüssel und keine Zimmerkarten. – aus meiner Hosentasche und schließe auf.
Wenig später schließt du zu. Lächelst mich an und ziehst mich an der Hand zum Fenster. Lächelst dein, nein, unser, Spiegelbild an und streckst deine Hand aus und berührst das Glas nur vorsichtig mit deinen Fingerspitzen. Lächelst mich über das Glas an. Dann drehst du dich zu mir um, öffnest die Lippen leicht und schließt sie wieder, als ob du etwas sagen wolltest, und doch verstarben die Wörter, noch ehe sie die Chance bekamen, zu leben.
Und alles Weitere gleicht dem bodenlosen Nirgendwo. Während ich hier mit dir stehe und in deinem Lächeln versinke. Deinem Lächeln, einem unvergleichlichem Utopia.
Ich lege meine Hand ebenfalls auf die Fensterscheibe. Nur vorsichtig, und doch bekomme ich es nicht hin, es so leicht aussehen zu lassen, wie du es tust. Über das Spiegelbild kann ich sehen, wie deine Augen meinen Händen folgen, und wie du dann aus dem Fenster hinaussiehst.
„Es ist wirklich dunkel heute Nacht. So dunkel war es… lange nicht mehr!“
Ich sehe, wie du schluckst, als ob dir unwohl ist. Ich folge deinem Blick, der sich aus dem Fenster meines Zimmers richtet, hinaus in die Freiheit, hinaus, auf die Straße. Sehe, wie dein Blick den Autolichtern der Fahrzeuge, welche sich nur selten hier blicken lassen, folgt.
„War es wirklich lange nicht mehr. Ich habe die letzten zwei Nächte draußen auf dem Balkon verbracht, auch die letzten drei Tage. Von…“
„Warum hast du es getan?“
Ich sehe, noch immer nur im Angesicht unseres Spiegelbildes, wie deine Augen sich von der Straße abwenden. Als du dich zu mir drehst wende ich mich ebenfalls dir zu.
„Anfangs wollte ich nur raus gehen und eine Nacht darüber nachdenken, was ich zu dir gesagt habe, was ich zu verantworten hatte, was ich dir angetan hatte, weißt du? Und dann kam ich mir so unsagbar dreckig vor, so furchtbar und… dann habe ich gar nicht mehr eingesehen, rein zu gehen. Dann habe ich mir gedacht… dass ich leiden muss. Ich habe…“
Er sieht mich an, und seine Augen sind tot. Ich… erkenne nichts in ihnen, rein gar nichts, so sehr ich mich auch bemühe. Sie sind matt, und sie waren es vorher noch nie. Ich erkenne keinen Halt in ihnen, nur bodenlose Ttiefe. Augen einer tiefen Apathie, und dennoch erkenne ich an seiner tiefschweren Stimme, dass es ihm nicht egal ist.
„Was hast du… getan?“
Die leise Stimme, mit Nachdruck. Weder vorwurfsvoll, noch entsetzt. Wie auch? Du weißt ja nicht, was los ist.
Ich zeige ihm meine Hand, hebe den Arm, und er streift den Ärmel meines Pullis zurück. Stockt. Seufzt dann schwer auf und sieht mich an. Zieht meinen Ärmel wieder zurück, lässt den Arm behutsam los, sodass er zurücksinken kann. Dann wendet er sich wieder zum Fenster, starrt erneut auf die Straße zurück.
„Und… warum?“
„Ich… habe es nicht getan, weil ich dachte, dass es mir gut tut und dass ich dadurch den inneren Schmerz überdecken könnte oder so. Ich habe es getan, weil… ich dir so viel angetan habe, Roy. Weil ich das irgendwie ausgleichen musste. Weil ich der Meinung war, sterben zu müssen für das, was ich tat.“
„Tu so etwas nie wieder, ja?“, du drehst dich zu mir um und umschließt beide meiner Hände fest mit deinen. Drückst sie mir gegen die Brust. Dein Blick verrät mir, dass du kurz vor den Tränen stehst. Ich stocke, verstumme, obwohl mir gerade eben noch die Worte auf den Lippen lagen.
„Weißt du, Wolken töten keine Menschen. Menschen aber töten Menschen. Menschen veranlassen Menschend dazu, sich zu töten. Und… du hättest dich fast wegen mir getötet. Ich wollte… zuerst einfach nur leiden, weißt du? Und dann wollte ich mich umbringen, das war alles geplant. Ich habe… meine Medizin nicht mehr genommen und musste mich der Stimme in meinem Kopf vollends hingeben. Aber das war… Roy, du weißt hoffentlich, dass es nicht stimmte, als ich sagte, dass ich dich nicht liebe, und dass du dir das alles einfach nur eingebildet hast.“
„Natürlich weiß ich das. Jetzt zumindest, denn… die Wahrheit liegt meist tief unter diesen großen Lügen versteckt, die Menschen zu all diesen Dingen veranlassen.“
„Ich liebe dich. Und das tue ich wirklich. Ich hasse mich für all die Lügen, die ich dir aufgetischt habe.“
„Würdest du mir…“, du lässt meine Hand los und lehnst dich gegen die Fensterbank, die Hände in die Hosentasche gesteckt und die Schultern vorgeschoben, wie eine Art Schutz, als ob du Angst hättest vor… „…gestatten, dass ich die Nacht heute bei dir verbringe?“
Fast schon muss ich lächeln. Da war sie wieder, deine alte, gediegene und offensichtlich schottische Ausdrucksweise. Einer der vielen Gründe, warum ich mich in deiner Nähe so wahnsinnig gut fühlte. Ohne schnöde und banale Komplimente machst du mir immer wieder aufs Neue klar, dass du mich respektierst. Dass du…
„Natürlich.“
„Ich bin so wahnsinnig froh, wieder bei dir sein zu dürfen. Wieder die Zeit mit dir verbringen zu dürfen. Es war eine furchtbare Zeit ohne dich. Weißt du, warum ich mir den Schnitt so tief gesetzt habe? Nicht etwa, weil du mir gesagt hattest, dass du mich nicht mehr liebst, oder nie geliebt hast, und dass ich mir das alles eingebildet hatte. Sondern weil… es alles vorbei sein sollte, weißt du? Ich hatte gedacht, das wäre der Schlussstrich unter allem, und deswegen habe ich auch versucht, meinem Leben einen Schlussstrich zu ziehen.“
Ich trete einen kaum merklichen Schritt auf dich zu, lege dir die Hände auf die Taille und beuge mich weit zu dir vor: „Ich liebe dich. Es ist nicht aus. Es wird dann aus sein, wenn du es sagst, oder wenn…“, meine linke Hand findet ihren Weg zu deinem linken Handgelenk, wo ich mit Zeige- und Mittelfinger vorsichtig unter die Hemdärmel rutschte und deine Narbe nur vorsichtig berührte.
Du verstehst, und musst lächeln: „Nenn mir den Weg, den wir gehen sollen. in Richtung des Ungewissen.“
„Ich liebe dich!“, ich lasse von deiner Taille ab und nehme dich an der Hand. Ziehe dich mit leichtem Nachdruck auf das Bett, wo ich dich vorsichtig auf die Matratze stoße, sodass du dich hinsetzt. Noch stehe ich vor dir, doch wenige Sekunden greifst du nach meiner Hand und ziehst mich zu dir:
„Wir müssen eine Seite unseres Buches umschlagen, um mehr sehen zu können!“
Als ich neben dir sitze greifst du nach hinten. Ziehst etwas hervor und hältst es mir vor die Augen: „Wusste ich es doch!“, es ist ein Lächeln, fast schon ein Grinsen, welches deine perfekten Lippen ziert. In der Hand hältst du das Buch, welches ich so lange vor dir geheim halten konnte. Du grinst mich an, legst das Buch wieder zurück, strahlst mich an. Ich kann sehen, dass du glücklich bist. Wenigstens etwas.
„Ich habe es irgendwie im Gefühl gehabt. Wow. Das ist… ich meine…“, er errötet. Fährt sich mit der feingliedrigen Hand unsicher durch das braune Haar, senkt den Blick. Er ist sichtlich berührt. Und der andere muss lächeln, nimmt seine Hand aus dem Haar und schüttelt sich dann sein eigenes, schwarzes zu Recht: „Ich war einfach so begeistert von deiner Art zu schreiben. Ich konnte nicht nur dieses eine besitzen, ich musste das Zweite auch haben.“
„Ich… ich habe etwas neues geschrieben und bereits eine Anfrage an meinen alten Verlag geschickt, ob sie es nicht wieder verlegen wollen. Es heißt ‚Gib mir den Tod, gib mir den Schlaf‘… Elias, wenn du möchtest… Ich möchte, dass du es vor allen anderen lesen kannst. Nicht einmal der Verlag hat es bisher gesehen, also… du wärst…“
Wieder lächelt der Schwarzhaarige und greift nach der Hand des Anderen: „Natürlich möchte ich. Ich… das wäre so eine wahnsinnige Ehre für mich.“
Ich bin wieder in meinem Körper. Ich spüre deine Hand, die auf meiner lastet. Ich spüre den wahnsinnigen Drang, dich zu küssen. Diesen Blick, der auf mir lastet.
„Roy? Ist… da jemand hinter mir?“
„N… Nein?! Was ist los? Hörst du… wieder Stimmen?“
Ich schüttle den Kopf und spüre, wie du mich in die Arme schließt. Es ist nur zweitranging, ich starre die Wand mir gegenüber an. Das Gelb scheint zu tanzen, sich in seine verschiedenen Bestandteile aufzulösen.
Und dann wieder deine Stimme: „Elias? Ist alles in Ordnung?“
Ich schüttle den Kopf und versuche, wieder zur Besinnung zu kommen. Nicke und blinzle einige Male. Noch einmal. Ich versuche, dieses ätzende, schummerige Gefühl aus meinem Kopf zu bekommen.
Während meine Sinne sich langsam wieder ordnen versuche ich, mich komplett dir zu widmen. Du siehst mich an. Wieder liegt Sorge in deinen Augen. Ich versuche, dir mit der Hand über die Wange zu streichen, doch meine Hand lässt mich nicht. Sie friert ein.
Mein Magen krampft sich zusammen, und mir wird schwarz vor Augen. Als ich mich bewegen will kann ich nicht. Alles, was ich kann, ist, nach Luft zu schnappen. Meine Kehle schnürt sich zu, und von einer Sekunde auf die Andere wird mir übel. Die Schwärze schwindet, doch sehen kann ich nur verschwommen. Ich falle wohl vom Bett, kippe wohl vornüber. Denn ich komme auf dem Boden an. Stöhne auf. Die Magenschmerzen sind nicht aufzuhalten, drücken mich von innen zusammen, als ob ein innerer Schraubstock sein Werk leisten würde.
Ich ächze und fürchte, mich übergeben zu müssen. Von irgendwoher sehe ich ein Licht, ein rotes Licht. Eine Art Laser, bestimmt. Sie spionieren mich aus, sind hinter mir her.
Der Druck auf dem Magen wird schlimmer, wahrscheinlich ächzte ich lauter. Ich muss aus diesem Raum, brennt es in meinem Kopf, ich muss weg. Ich kann mich nicht bewegen, und doch scheine ich irgendwie vorwärts zu kommen. Ich muss… in das Bad. Dort.
Dort würden sie mich mit Sicherheit nicht ausspionieren. Bestimmt nicht. Außerdem weiß ich, dass ich kotzen muss. Oder sterben. Die verschwommenen Farben tanzen vor meinen Augen. Ich umfasse etwas, es ist wahrscheinlich die Klobrille.
Als ich mich vorbeugen will, um mich zu übergeben, steigt nur saure Galle in mir auf. Lässt mich würgen, aber übergeben muss ich mich letzten Endes nicht. Mir wird heiß und kalt gleichzeitig. Ich schaudere heftig, stöhne auf. Wieder und wieder. Meine Finger krallten sich an das weiße Plastik.
Ich kippe nach hinten weg. Liege auf dem Rücken wie ein Käfer. Komme mir genauso hilflos vor, während die Farben vor meinen Augen tanzen. Da oben ist er wieder. Der Laser. Zwischen all den tanzenden, verschwommenen Farben bleibt er konstant und scharf. Wieso beobachten sie mich? Warum…
Ich begreife, dass es die Entzugserscheinungen sind. Die Entzugserscheinungen des Heroins. Seltsam, denke ich mir in einem kleinen Moment der Geistesgegenwart, ich habe doch nie Drogen genommen. Dann wird mir klar, dass es keinen Moment der Geistesgegenwart gab. Wahrscheinlich nie gegeben hatte. Ich hatte mein Leben gelogen.
Mein Leben gelogen und nicht existent. Ich stöhne auf und versuche, mich zu bewegen. Wippe auf dem Boden von links nach rechts, und von rechts nach links. Versuche, mich zur Seite kippen zu können. Als es gelingt versuche ich, mein Gesicht unter meinen Armen zu verstecken. Es will nicht klappen. Ob sie meinen Körper wohl manipuliert haben? Ob sie es gewagt haben, die, die es sogar wagen, mich in meiner Psychiatrie-Zelle zu beobachten?
Haben sie mir das Heroin gespritzt?
Moment, denke ich, ich habe nie Kontakt mit Heroin gehabt. Und aus mir schreit es anders heraus, es schreit und stöhnt und ächzt. Ich klinge wie ein Tier: Woher willst du das wissen? Wenn sie es dir im Schlaf gespritzt haben, dann kannst du es doch gar nicht mitbekommen haben.
In meinen Gedanken weine ich, ich schlage um mich. Die Stimme in meinen Gedanken, meine eigene Stimme mit den seltsam hohen Nuancen, versucht vergebens gegen meine andere Stimme anzukommen: Wie sollen sie dir im Schlaf denn Heroin gespritzt haben? Du wärst doch aufgewacht, du wärst doch aufgewacht. Du hättest die Drogen spüren müssen.
Wieder schreit die andere Stimme aus meinem Körper heraus: „Frevel, Frevel! Es ist doch längst zum Alltag geworden, dir fällt es doch nicht auf, wenn du auf Droge bist!“
Ich habe die Arme über meinem Kopf zusammengeschlagen, obwohl ich mich gar nicht bewegen kann. Heftige Krämpfe durchfahren meinen Körper und lassen mir den Schweiß aus den Poren treten. Und gleichzeitig eine Gänsehaut über die Haut fahren. Ich kann nicht mehr, ich will schreien, doch ich habe keine Stimme.
Sie haben mir die Stimme genommen, ist mein erster Gedanke, und darauf folgt: Seit wann denke ich? Ich kann nicht denken, sie haben mir doch das Vermögen genommen, das Denkvermögen, ich kann mich nicht bewegen, weil sie mir das Bewegungsvermögen nahmen und ich kann nicht schreien, weil sie mir meine Stimme nahmen.
Mein Blick wandert hoch zur Decke, und der rote Punkt scheint noch gleißender auf mich hinab zu brennen. Ich wimmere auf, es ist ein furchtbar befremdendes Geräusch, nicht einmal mit meiner eigenen Stimme. Sie haben mir meine Stimme geraubt und mir Stimmbänder eines anderen Menschen eingetauscht.
Ich will mich bewegen, aber es geht nicht. Ich starre weiter in das Licht, in den roten Punkt, und der Punkt, er spricht zu mir. Lacht mich aus. Es ist eine schrille und nervige Stimme. Ich will mich übergeben bei ihrem Laut, aber es besteht keine Möglichkeit.
Wir haben dir deine Körperteile genommen, schreit die schrille Stimme, und ich bekomme Kopfschmerzen. Es wummert in mir, es droht, mich aufzufressen. Nicht es - er. Der Schmerz. Ich will um mich schlagen und meine Ohren zuhalten, doch meine Gliedmaßen wollen mir nicht gehören.
Aber ich habe doch einen Körper, schreie ich, und ich bin voll Panik und Hass. Ich könnte schreien vor Wut, dass dieser Punkt nicht weggeht, dass er mit mir redet, obwohl er mich doch nur beobachten soll, und ich habe Panik, dass er nie wieder fortgeht. Er geht nie wieder fort. Er wird konstant mit mir reden. Ich habe doch einen Körper, wieder meine panische Stimme, so schrill. Und nicht meine, Ich kann meine Körperteile doch spüren!
Ja, ruft der rote Punkt mir zu und lacht dabei schallend. Ein ätzendes, schrilles Lachen, und die Schmerzen in meinem Kopf und der Schmerz in meinem Bauch werden stärker, unerträglicher. Doch die Stimme hört nicht auf, zu lachen, sie verhöhnt mich und will mich in den Wahnsinn treiben.
Ich will das nicht, schreie ich, ich kenne den Wahnsinn. Er ist furchtbar. Und die schrille Stimme hört auf, zu lachen: Natürlich kannst du einen Körper und Glieder spüren. Es sind doch aber nicht deine. Wir haben dir deine eigenen abgetrennt. Wir haben sie den räudigen Straßenkötern vor die Füße geworfen, das haben wir getan.
Nein! schreie ich: Nein, das kann nicht sein! Das könnt ihr nicht gemacht haben! Du bist ein Punkt, du bist ein gottverdammter Punkt.
Der Punkt grinst, höhnisch, springt von der Decke, direkt vor mich, und er entfaltet sich dort zu einem Menschen. Einem furchtbaren Menschen mit einem Gesicht voller Narben und Zähne voller Löchern, mit leeren Augenhöhlen und bleichen Lippen. Der Punkt hat sich in den Mann aus dem Gemeinschaftssaal verwandelt.
Es gibt alles einen Zusammenhang, und ich stöhne auf. Der Punkt ist der Mann aus dem Gemeinschaftssaal, und ich habe mein Schicksal einst besiegelt, in dem ich mir von dem Mann hatte die Psychiatrie zeigen lassen. Ich hatte ihm damit meine Einverständniserklärung gegeben, mich weiter zu beschatten.
Ich will meine Hände über meine Augen legen, doch sie wollen mir nicht gehorchen, und so muss ich den Mann weiter anstarren. Muss ihm dabei zusehen, wie er seine grauenhaften Lippen zu einem breiten, zahnlosen Grinsen verzieht. Wo waren seine Zähne hin?
Ich hatte recht, er war tot. Er ist tot. Ich will schreien, doch die Laute ersticken alle in meiner Kehle. Und der tote Mann lacht, er lacht schrill auf. Er ist wahnsinnig. Ich will mich von ihm wegstoßen, und obwohl er steht und ich vor ihm auf der Seite liege, kann er mich festhalten.
Du wirst nicht gehen, grinst du, zuerst musst du wissen, was wir gemacht haben, nachdem die Hunde deine Körperteile gefressen haben. Weißt du, was wir gemacht haben?, fragt die Stimme und ich schreie Nein, nein, das will ich nicht wissen!
Doch der Mann zeigt nur erneut seine zahnlose Mundhöhle und strahlt mich breit an: Wir haben dir die Körperteile von schwerbehinderten Menschen angenäht.
Nein, nein!; schreie ich: Das ist gar nicht möglich, das ist allein medizinisch nicht möglich! Ich könnte sie nicht bewegen, ich könnte nicht. Ich kann doch nicht die Körperteile anderer Menschen haben, ich…
… Ich bin doch nicht Frankensteins Monster!
Der Mann vor mir schwindet auf einmal. Der Druck auf meinem Magen blendet aus und auch der Kopfschmerz schwindet allmählich. Ich spüre, wie erneute Kraft in meine Glieder strömt und ich mich wieder bewegen kann, wie der rote Punkt über mir verschwindet.
Ich rapple mich wieder auf und stöhne auf. Halte mir den Bauch, während ich versuche, die Augen zu öffnen. Ich schaffe es, doch es brennt wahnsinnig. Tränen verschleierten meine Sicht, ließen mich erblinden. Ich blinzle einige Male. Nehme meine Hand und wische die Tränen fort. Versuche aufzustehen.
Taumle und drohe zu fallen, doch ich werde von dir aufgehalten. Als ich mich zu dir umdrehe, sehe ich, wie starr von Tränen dein Gesicht ist. Du streichst mir durch das Haar. Küsst mich immer wieder auf Stirn und Lippen, dann hilfst du mir, den Weg zurück auf mein Bett zu finden.
„Du.. hast geschrien.“
Es ist deine Stimme, und sie ist so wahnsinnig beängstigend fragil, dass ich schlucken muss. Du hattest mich auf die Matratze gebettet und dich über mich gebeugt. Streichst mir immer wieder das schweißnasse Haar zurück, küsst meine Lippen immer noch vorsichtig.
„Was habe ich gesagt?“
Wahrscheinlich habe ich es wirklich vergessen und muss deshalb fragen. Du seufzt auf und lässt deine Finger vorsichtig auf meiner linken Schläfe liegen. Sie sind furchtbar angenehm. Lindern die Reste meines Kopfschmerzes ungemein.
„Ich weiß es nicht. Du hast… total absurd und in den unterschiedlichsten Tonlagen geschrien. Ich wusste nicht, was vorgeht. Ich war total in Panik, ich hatte so Angst um dich. Du lagst auf dem Boden und hast dich gekrümmt, du hast um dich geschlagen. Und du hast… in einer anderen Sprache geschrien. Auf Italienisch vielleicht, oder spanisch.“
Ich schlug die Augen nieder: „Ich kann doch gar kein Spanisch.“
„Verdammt, Elias. Weißt du, wie beschissen unwichtig das ist, ob du spanisch kannst oder nicht? Vielleicht war es Italienisch, Französisch, Latein, Deutsch, Suaheli oder sonst was! Ich hatte so panische Angst, dass du stirbst. Dass dir die Luft wegbleibt oder so!“
Ich hebe meine Hand und streiche dir das Haar vom Gesicht: „Tut mir Leid, dass du das mitbekommen musstest. Ich sagte doch, ich habe meine Medizin verweigert. Ich… du solltest es nicht sehen.“
Ich sehe dir dabei zu, wie du aufstehst und das Bad betrittst. Vielleicht, um dein Gesicht zu waschen. Um die widerliche Tränenstarre loszuwerden. Doch im Grunde genommen ist es irrelevant. Ich seufze schwer während ich mich mit einigen umständlichen Bewegungen unter die Decke schlage. Noch voll bekleidet. Jeans und Shirt lasse ich an.
Wenig später stehst du wieder vor dem Bett, siehst unschlüssig darauf und dann zu mir, und erst als ich lächle und dich mit einem kurzen Nicken bitte, dich zu mir zu legen, setzt auch du dich zuerst auf die Bettkante, um dir deine seltsamen Psychiatrienschuhe auszuziehen.
Ich beobachte deine Bewegungen, und sie kommen mir vor wie… in Slow-Motion. Wie du dir erst die seltsamen Hausschuhe von den Füssen streichst und dann innehältst, ehe du dir das Hemd aufknöpfst und es von deinen Schultern gleiten lässt.
Erwähnte ich, dass du einen wundervollen Rücken hast? Einen Rücken, der mir schon damals im Klassensaal regelmäßig den Verstand raubte, wenn du vorne an die Tafel musstest. Oder wenn du dich zu Pekka, dem Nerd rechts von dir, umdrehtest. Dein Rücken, welcher sich so fließend bewegt.
Du drehst dich wieder zu mir um und lächelst mich an, ehe du die Bettdecke anhebst und ebenfalls darunter schlüpfst. Es ist nur ein Einzelbett und der Platz ist beengt, aber es ist mir egal. Immerhin kann ich so näher bei dir sein, kann…
„Darf ich…“, du zögerst und schaust mich fragend an. Ich spüre, wie sich deine Hand auf meinen Bauch legt, auf das Shirt, um genau zu sein. Ich muss lächeln: „Roy, du weißt, dass du mich berühren kannst, wo du willst. Ich habe dir doch schon mehrmals gesagt, dass du mit mir machen kannst, was du willst. Du kannst mich stundenlang totschwafeln, und du kannst mich vergewaltigen, es ist mir alles egal.“
Deine Hand schiebt sich vorsichtig unter mein T-Shirt, während du mich ansiehst, aus fast schon ungläubigen Augen. „Stehst du… auf sowas?“
„Auf was – so etwas?“, ich lege meine Arme um seinen nackten Oberkörper, rutsche ein Stück näher an dich. Atme deinen Geruch ein. Es ist zu lange her gewesen, mit jeder verstreichenden Sekunde stelle ich das weiter fest.
„Auf sowas halt… wenn ich dir wehtue oder… Dinge mit dir mache, die du nicht willst, weißt du, was ich meine? Ich will nicht, dass ich… dass du irgendwie… sexuell frustriert bist, wenn ich … nicht…“
Ich beiße mir auf die Unterlippe um nicht grinsen zu müssen. Ein vorsichtiges Lächeln schleicht sich über meine Lippen und ich streiche dir vorsichtig über das Gesicht. Du schließt deine Augen, wahrscheinlich beschämt. Ich kenne dich doch nur zu gut.
„Mach dir darum keine Sorgen, das passt alles perfekt so. Bloß weil dir irgendjemand gesteckt hat, dass homosexuell orientierte Menschen stets auf der Suche nach neuen Abenteuern und irgendwelchen Spielchen sind, muss sich dies nicht zwangsläufig auf jeden beziehen, weißt du? Ich bin absolut zufrieden mit der Situation und mit dem Sex den wir haben. Um nicht zu sagen, ich bin glücklich damit.“
Ich rede, als ob nie etwas gewesen wäre. Als ob wir nie Streit gehabt hätten. Ich habe das Gefühl, ich könnte die Situation einfach nur zerstören, wenn ich jetzt so etwas wie ‚vor unserem Streit‘, einfügen würde. Es würde dich verletzen – es würde mich verletzen.
Du lächelst und küsst mich vorsichtig. Deine Hand bleibt konstant auf ein und derselben Stelle ruhen, und du sagst kein Wort mehr. Bevor ich mir den Kopf unnötig zerbreche und mich in irgendwelche Selbstzweifel stürze, stelle ich dir die Frage, die mir auf den Lippen liegt:
„Stehst du auf so etwas?“
Ich sehe, wie du deine Lippen zu einem Lächeln verziehst, die Augen aber kein Stück weit öffnest: „Ich kann es dir nicht sagen, weißt du? Mit mir hat noch niemand so etwas gemacht, und obwohl es mich eventuell doch irgendwo reizen würde, im Endeffekt hatte ich kein sonderliches Verlangen, danach zu fragen.“
„Wenn du willst, dann…“, obwohl sich in mir alles gegen diese Vorstellung strebt rede ich weiter, versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass mir dieser Vorschlag nur allzu nichtig erscheint, und dass ich es mir im Leben nicht vorstellen wollte, Roy noch einmal zu verletzen. Ob psychisch, oder physisch mal dahingestellt, „…dann können wir das mal ausprobieren…“
„Irgendwann vielleicht, Liebling. Heute nicht. Die nächste Zeit nicht, ich will erst einmal die Woche ohne dich nachholen. Noch mehr Schmerzen kann ich nicht vertragen, und du auch nicht. Lass uns doch einfach wieder so glücklich sein, wie vorher. Lass uns bitte diesen beschissenen Streit vergessen. Ich liebe dich zu sehr, als dass ich jetzt noch ein unsinniges Wort daran verschwenden möchte, verstehst du?“
„Ich liebe dich“, ich zögere, ehe ich fortfahre: „Und du willst nie wieder darüber sprechen? Roy, ich bitte dich, so sehr ich dieses Thema auch hasse, aber ich… wir müssen uns doch nochmal darüber ausspreche…“
Ich werde unterbrochen: „Gar nichts müssen wir, Elias. Wir kehren das vom Tisch. Ich liebe dich, und du liebst mich. Die Zeit war Scheiße, und jetzt… haben wir beide gemerkt, dass wir nicht ohneeinander können, jetzt lass uns dieses beschissene Thema endlich vom Tisch kehren.“
Ich seufze auf: „Nun gut.“
Du lächelst und berührst mich mit deiner freien Hand vorsichtig an den Schläfen, streichst mit deinen Fingern vorsichtig mein Gesicht entlang. Ich schließe die Augen, kann deine warme, tiefe Stimme nun umso deutlicher hören. Es heißt ja, wenn der eine Sinn ausfällt, wird der andere dafür umso stärker.
„Nimm bitte wieder deine Medizin, tu‘ mir den gefallen, ja? Ich habe ansonsten Angst, und zwar wahnsinnige Angst. Nicht vor dir, sondern um dich.“
„Ich nehm‘ sie ab morgen wieder. Versprochen!“,
ich spüre, wie du mich näher an dich ziehst, doch deine Hand bleibt noch immer auf meinem Bauch liegen. Es soll mir recht sein. Normalerweise lief es auf Sex aus, wenn du anfingst, mich zu berühren. Heute nicht, dessen war ich mir gewiss.
„Ich muss immer an dich denken, wenn es regnet“, wieder deine Stimme, so nah an meinem Ohr, Ich halte die Augen noch immer geschlossen, muss aber lächeln. „Weil ich den Regen immer mit einer gewissen Fragilität verbinde, und mit dieser Fragilität dich. Ich habe immer… wahnsinnige Angst um dich, wenn du fort musst, weißt du? Ich kenne dich. Ich weiß doch, dass du dich von außen hin mehr als nur … stabil gibst, weißt du? Und dass du vor mir zu verstecken versuchst, wie oft du mit dir am ringen bist, wie oft du am Rande balancierst und fast in Tränen ausbrichst. Glaub‘ bitte nicht, das bleibt mir verborgen. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Ich versuche, dir da zu helfen, weißt du? Ich will einfach… immer bei dir sein, ich will…“, er stockte: „Dieser Typ vorhin, das war Juuho?“
Ich nicke nur, murre widerwillig etwas vor mich hin, etwas, von dem ich selbst keinerlei Ahnung habe, was es eigentlich bedeuten soll, und öffne die Augen: „Mensch Roy, die Frage hat grad alles kaputt gemacht.“
Er strahlt mir entgegen: „Also, war es Juuho?“
Ich nicke. Auf einmal drängt sich mir die Frage auf, wohin er verschwunden war, nachdem sich Roy in dem Speisesaal zu erkennen gab. Und in der gleichen Sekunde verfällt der Gedanke wieder, ich würde ihn einfach morgen besuchen kommen, seine Zimmernummer war mir nach all den Jahren mehr als bekannt geworden. Ich hatte jetzt nicht im Geringsten Lust, aufzustehen. Nicht im geringsten Lust, das warme Bett zu verlassen oder Roys Nähe zu missen.
„Wieso ist er hier?“
„Vor knapp drei Jahren hat er seine Mutter und seine kleine Schwester umgebracht. Ihm sind anscheinend alle Sicherungen durch geknallt, ich weiß es nicht. Wir haben nie viel darüber gesprochen, er wollte es nicht. Er wollte immer nur über mich sprechen. Er war fast schon… besessen von mir. War davon besessen, mich zu beschützen, immer bei mir zu sein. Von meiner Krankheit, von mir. Von einfach allem. Wir verbrachten jede erdenkliche Sekunde miteinander. Morgens nach dem Aufstehen bis abends zum Einschlafen, meistens haben wir uns auch – verbotenerweise – nachts getroffen und er hat dann bei mir gepennt, aber das war… vor deiner Zeit. Danach wurde er… irgendwie kälter.“
„Weiß er von unserem… Von dem Streit, den wir hatten?“
„Ich glaube nicht. Juuho weiß eigentlich so gut wie alles über mich, und wenn ich es ihm nicht sage, dann kann er es sich erdenken. Er kennt mich, glaube ich, besser als du und ich zusammen. Auch… wenn ich… Fast nicht glauben kann, dass er mich besser kennt als du…“
„Er ist sehr hübsch, nicht?“, du lächelst, schließt dann deine Augen und drehst dich auf deinen Rücken, sodass du zur Decke sehen würdest, würdest du deine Augen offen halten. Du nimmst deine Hand unter meinem T-Shirt hervor und schiebst mir den Arm unter dem Hals durch, legst die Hand auf meine Schulter. Es macht mir möglich, näher an dich heran zu rücken. Ich lächle.
„Er ist hübsch, ja. Und seine Haare sind wundervoll. Dieser Rotstich ist klasse, ich hab‘ so etwas noch nie gesehen!“
Du drehst dich zu mir, siehst mich verwundert an: „Reden wir von demselben Typ? Dieser… Juuho hat doch schwarze Haare, Elias!“
Ich stocke. Sehe ihn an. „N…nein. Juuho hat… rotblonde Haare. Du meintest diesen Kerl mit der schwarzen Jeans und dem weiß-schwarz gestreiftem Shirt, nicht?“
Du nickst tonlos, dann drehst du dich wieder zur Decke: „Ach, vielleicht habe ich ihn nur falsch im Kopf. Du wirst ihn ja besser kennen.“, du schließt die Augen wieder, lächelst. Sieht so wahnsinnig gut aus, wie dir deine welligen Haare halb um die Schultern und halb um das Gesicht fallen. Wie du lächelst, zur Decke hinauf. Deine geschlossenen Augen.
Ich beuge mich über dich, streiche dir mit den Fingern vorsichtig über die geschlossenen Lider. Zu lächelst nur noch breiter, drehst dich dann wieder zu mir.
„Du hattest mal was mit ihm, oder?“
Ein Lächeln schleicht sich über meine Lippen. Du scheinst mich viel besser als alle anderen Menschen auf der Welt zusammen zu kennen.
„Bevor wir uns kennenlernten hatte ich was mit ihm, ja. Das war zu Zeiten meines Ex-Freundes. Jani, du weißt ja…“
Zeile Gelöscht. Gottverdammte Scheiße, ich will hier raus!
„…Und Jani hatte mich wohl damals zu jemandem abgerichtet, der ich nicht sein wollte. Ich war nahezu süchtig nach Sex, ich brauchte es so ziemlich jeden Tag, und dann… kam mir Juuho ganz recht, weißt du? Ich habe mich an ihn rangeschmissen, und er ist drauf angestiegen. Am Anfang konnte ich ihn auf den Tod nicht ausstehen; aber nach zwei- drei Wochen ist eine recht seltsame Art Freundschaft daraus geworden. Wir haben uns wirklich gut verstanden, aber jeden Abend miteinander geschlafen. Allerdings möchte ich noch einmal betonen, dass dies aufhörte, als ich dich kennenlernte. Und das fand Juuho nicht sonderlich toll. Ich glaube, er hatte sich schon daran gewöhnt, oder…“
„Elias, du bist dumm.“
„Hö?“, ich drehe mich zu dir, und du hast dich ebenfalls zur Seite gestützt. Grinst mich an, streckst deine Hand aus und streichst mir vorsichtig mit den Fingern über das Gesicht.
„Ist doch eigentlich klar, dass der Kerl auf dich steht, oder?“
Als ich den Kopf schüttle, muss ich wirklich verwirrt aussehen. Mindestens genauso verwirrt, wie ich auch bin.
„Hallo? Wie er dich die ganze Zeit angesehen hat, wie er auf einmal verschwunden ist, als ich aufgetaucht bin, was du mir gerade erzählt hast. Der steht doch einhundert pro auf dich, Elias! Aber… du hättest es wahrscheinlich auch nie mitbekommen, dass ich auf dich stehe, hätte ich es dir nicht gesagt. Ich habe dir dabei doch die ganze Zeit irgendwelche Andeutungen rübergespielt, ich hatte im Unterricht nur Augen für dich, ich habe die ganze Zeit versucht, dich unauffällig zu berühren und … Im Endeffekt bin ich fast wahnsinnig geworden, weil du überhaupt nicht drauf reagiert hast.“
Ich muss auflachen, das Thema Juuho ist wieder vom Tisch.
Seltsam, mir kommt es vor, als ob ich gesund bin, jetzt, wenn ich so hier liege, mit dir.
„Ich dachte, ich muss wahnsinnig werden. Das war ja nicht auszuhalten, bei jeder deiner Berührungen bin ich fast ausgerastet, weil sie mir… nun ja, wie zufällig vorkamen, und alles, was ich wollte, war, dass du mich wirklich berührst.“
„Du hättest dennoch nie bemerkt, dass ich mich in dich verliebt habe, wenn ich es dir nicht gesagt hätte. Wahrscheinlich hätten wir ewig aneinander vorbei geschmachtet. Wahrscheinlich hätten wir es uns nicht gesagt, es nicht bemerkt, nicht einmal, wenn wir alte Opas gewesen wären.“
Ich grinse, küsse dich. Und doch, du willst ganz offensichtlich mehr, ziehst mich auf dich, auf deinen warmen Körper, und stößt mit deiner Zunge vorsichtig gegen meine Lippen. Ich öffne sie, und dennoch macht sich dieses seltsame Gefühl in mir breit. Du hattest doch noch nie die Offensive ergriffen.
Es dauert lange, bis deine Lippen sich das letzte Mal mit meinen verschließen. Du schiebst deine Hände unter mein Shirt und küsst mich dann erneut, allerdings nur flüchtig. Mit einer kurzen Berührung deiner Lippen auf meinem Hals bedeutest du mir, dass ich den Kopf zur Seite legen soll.
Im selben Moment, in dem ich es tue und deine Lippen sich auf meinen Hals niederlegen, dringt von irgendwoher Musik an mein Ohr. Verdammt, mein Handy.
Jedoch mache ich keine Anstalten, abheben zu wollen.
„Geh‘ ran.“, Roy stößt mich von sich und tatsächlich mache ich mich in der nächsten Sekunde auf, um mich unter der Bettdecke hervor zu schälen. Nur murrend gehe ich zur anderen Seite des Zimmers, bücke mich und hebe das noch immer klingelnde Handy vom Boden auf. Ich mache mich in Windeseile daran, das Handy vom Ladekabel zu lösen und die grüne Taste zu drücken, um das Gespräch anzunehmen.
„Elias Nyström Aatami?“
„Elias, hier ist Mum!“
Als ich ihre Stimme höre grinse ich Roy zu, er begreift und verdreht die Augen, lächelt, ehe auch er sich aus dem Bett erhebt. Zuerst hege ich die Hoffnung, dass er sich zu mir stellen würde, doch er macht sich nur daran, sein Hemd, welches noch auf dem Boden liegt, von selbigem aufzusammeln und auf umständlichste Art und Weise zusammen zu legen.
„Wie geht es dir, mein Junge?“
„Mum, ich bin erst seit ein paar Stunden hier. Ich habe noch keine Therapie gehabt, ich hab‘ keine Medizin genommen, ich hab…“
„…hast du was von Roy gehört? Ich meine, er könnte ja…“
Mein Blick fällt auf dich. Du bückst dich gerade, hebst etwas auf. Es ist dein Buch, welches wohl irgendwann zwischendrin heruntergefallen sein musste. Dein Körper ist nur allzu perfekt. Mit der Zeit hast du dir Bauchmuskulatur antrainiert, kein richtiges Sixpack, aber angedeutet. Genau, wie ich das immer wollte.
„Er ist hier, Mum.“
„Er ist… was?!“
Roy hebt den Kopf, lächelt. Kommt dann auf mich zu, schnappt mir das Telefon aus der Hand und ignoriert meinen Protest geflissentlich.
„Wunderschönen guten Abend, Frau Nyström. Ist ja reichlich spät, wieso sind sie der Überzeugung, dass Elias noch wach ist?“
Ich protestiere, doch wieder ignoriert Roy mich. Hört nur aufmerksam zu, was meine Mutter zu sagen hat, nickt immer wieder kurz und lacht dann auf:
„Nein, vergewaltigt habe ich ihn nicht. Und auch sonst geht es mir gut, danke der Nachfrage.“
Stille. Er lehnt sich gegen die Wand, legt den einen Arm auf die Beuge des Armes, mit dem er das Handy gegen sein Ohr hält. Sieht zu mir hinüber, lächelt. Als meine Mutter scheinbar den Eindruck macht, ihn wohl noch endlos bequatschen zu wollen, hält er seine Hand kurz über die Sprechöffnung und haucht mir ein: „Ich bin gleich wieder bei dir, Liebling“, zu.
Irgendwann stockt er: „Frau… Nyström? Elias hat da gerade… einen anderen Anruf auf der Leitung, wenn ich sie also kurz auf die andere Leitung drücken dürfte…?“
Zuerst bin ich der Meinung, dass er den Anruf auf der anderen Leitung nur vortäuscht, doch als er wenig später auf dem Handy rum tippt und es mir in die Hand drückt, verfliegt dieser Gedanke schnell.
„Elias Nyström Aatami am Apparat, mit wem spreche ich?“
„Elias? Hör‘ mal, hier ist Juuho!“
Ich stocke. Auf einmal überkommt mich das schlechte Gewissen. Ich beginne, zu zittern. Meine Stimme scheint brüchig zu werden, und ich seufze leicht auf.
„Juuho. Wo bist du vorhin auf einmal gewesen?“
Roy tritt an mich heran, legt seine Arme um meine Hüften, wiegt mich vorsichtig hin und her. Ich seufze auf, ehe ich der Stimme des dritten am anderen Ende der Leitung lausche. Lehne mich etwas gegen Roy, während Juuho zu erklären begann.
„Ich musste weg. Das hat nichts mit dir zu tun, oder mit deinem Freund. Ich hab‘ einfach zu viel gegessen gehabt und wollte… naja, dir nicht unbedingt vor die Füße kotzen, wenn du verstehst, was ich meine. Vielleicht… wäre es besser, wenn wir die Tage nochmal miteinander reden können. Ist mir eigentlich egal, ob dein Freund dabei ist oder nicht.“
Ich nicke, mehr für mich selbst als für Juuho, welcher das am anderen Ende der Telefonleitung so wie so nicht erkennen kann.
„Willst du rüberkommen?“
„Ist das in Ordnung für Roy?“
Ich versuche, mich zu ihm um zu drehen. Er jedoch hält die Augen geschlossen und summt etwas vor sich hin, und ich beschließe, meine Entscheidung ohne seine Einwilligung zu treffen.
„Ist doch egal, der wird halt leiden müssen. Die Zimmernummer hast du?“
„Ich bin in 5 Minuten da.“
„Lass dich nicht erwischen!“
„Bis gleich.“
„Kommt Juuho?“, Roy lässt mich los, sodass ich mich zu ihm drehen kann. Ich nicke flüchtig und stelle Verbindung mit meiner Mutter an der anderen Leitung her, bedacht darauf, sie möglichst schnell ab zu wimmeln.
In der Zwischenzeit grinst Roy nur: „Der will dir also etwas gestehen, ja? Ich wette mit dir, er ist in dich verliebt. Einhundert pro.“
Ich schüttle nur den Kopf und verpasse ihm einen sachten Hieb in die Seite, ehe die Verbindung zu meiner Mutter vollständig wieder her gestellt ist.
„Mum? Du, Juuho ist auf dem Weg, er wollte…“
„Juuho?“
„Ja. Hab‘ ich dir doch erzählt. Der Junge, der seine Familie umgebracht hat.“
Ich merke, wie sie schwer schluckt. Natürlich würde sie mir den Kontakt zu besagtem Juuho am liebsten gründlich verbieten, auch, nachdem sie erfahren hatte, was ich damals mit ihm alles getrieben hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes.
„Ach so, ja.“
„Also, was wolltest du genau wissen? Er wollte… mit mir über irgendwas reden, sonst würde ich noch länger mit dir telefonieren, aber…“
„Schon gut. Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht! So Mutterkram eben!“
Ich muss lächeln, verziehe aber dennoch leicht das Gesicht. Roy beißt sich auf die Unterlippe, muss sich zusammen reißen, um nicht hell aufzulachen, amüsiert er sich doch immer königlich über meine Grimassen.
„Also, mir geht es blendend. Ich habe Roy hier, ich habe Juuho hier. Ich werde mich ab morgen wohl wieder irgendwelchen behinderten Tests unterziehen müssen und abertausende Medikamente…“
„Zwischenfälle?“
Mutter abricht mich abrupt. Ich schlucke schwer, überlege, ob ich ihr von dem Aussetzer vor wenigen Minuten noch berichten soll. Im Grunde entscheide ich mich dagegen, ohne wirklich argumentieren zu können, doch als Roy nickt – offensichtlich verstand er unser Gespräch blendend – entscheide ich mich dann doch dafür. Seufze schwer auf.
„Ja, da war was vor einigen Minuten. Ist aber jetzt zu schwer und zu langwierig, es zu erklären.“
„Kannst du es mir grob erzählen?“
„Mum, ich habe hier Psychiater. Die müssen das wissen, reicht es dir nicht, dass–“
„Nein, reicht es nicht!“
Ihre Stimmtonlage ist harsch, lässt mich regelrecht zusammenschrecken. Wieder beginnt Roy, mich vorsichtig zu berühren. Am Nacken diesmal, mit beiden Fingern streicht er beruhigend über die Haut, über welche sich – gerade durch seine Berührungen – eine Gänsehaut zieht.
„Ich hab‘ keine Ahnung, was los war. Roy meinte im Endeffekt, ich habe auf Spanisch geredet - und nein, ich kann kein Spanisch – ich hätte wie wild um mich geschlagen und geweint und geschrien gleichzeitig.“
„Geht doch. Warum nicht gleich so. Was hast du dabei gesehen?“
„Mum, das ist nun wirklich nicht relevant!“
„Wenn ich sage, dass es relevant ist, dann ist es das wohl.“
„Keine Ahnung, ich habe Stimmen gehört und so, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, und ich will es auch gar nicht.“
Milde ausgedrückt. Es klopft an der Tür. Roy lässt von mir ab, nur, um die Tür rasch zu öffnen. Wahrscheinlich hat auch er schon begriffen, dass es hier einzig und allein darum ging, sich nicht erwischen zu lassen.
„Er ist da, Mum. Ich rufe dich morgen nach der Therapie an.“
Damit lege ich auf, lasse ihr keine Möglichkeit, noch etwas hinzuzufügen. Werfe das Handy in der nächsten Sekunde unachtsam auf das Bett und wand mich dann Roy und Juuho zu, welche gerade damit beschäftigt sind, sich einander vorzustellen.
Sekunden später schließt Juuho mich in die Arme. Nur flüchtig, wahrscheinlich liegt es an Roy. Er sieht mich an, sieht dann auf den Boden. Errötet leicht. Erinnert sich vielleicht just in diesem Moment an den…
Er hat doch schwarze Haare. Ich stöhne auf. Wieder wird mir schwindelig, doch diesmal soll es keine Folgen haben. Als ich mich auf das Bett setze ist das Gefühl bereits wieder fort. Ich wende mich Juuho zu, sehe ihn fragend an:
„Was ist los bei dir, warum wolltest du mich sprechen?“
Ich bemerke, wie sich Roy von ihm distanziert. Von uns beiden. Und wie Juuho mir immer näher kommt, sich im Endeffekt auf dem niederen Tisch niederlässt.
Verdammt. Ich lösche definitiv zu viele Zeilen momentan. Oder Wörter.
„Ich… wollte dir sagen, dass ich… krank geworden bin, in der Zeit, in der wir nichts mehr miteinander zu tun hatten. Sehr krank wahrscheinlich. Ich weiß nicht, der Arzt hat gemeint, ich müsse auf jeden Fall… etwas dagegen unternehmen.“
Dafür füge ich auch immer wieder neue Wörter ein.
Roy verzieht das Gesicht; das ist wahrscheinlich nicht die Art von Unterhaltung, die er sich gewünscht hatte. Wahrscheinlich hatte er wirklich gehofft, dass Juuho reinplatzen und mir seine Liebe gestehen würde.
Ich seufze schwer. Unentschlossen, ob ich nach Juuhos Hand greifen soll, ob ich sie halten soll. Der innere Drang ist da, genauso wie Roy. Ich entscheide mich dafür, ihm eine Hand auf die Knie zu legen, mich zu ihm zu beugen und ihn ernst anzusehen.
„Inwiefern… krank?“
„Krank war ich ohnehin schon, das wissen wir ja beide, aber… diesmal ist es etwas, das meine Gesundheit betrifft, weißt du?“
Ich schüttle den Kopf und Juuho lächelt. Das schwarze Haar fällt ihm über das Gesicht, und obwohl unter seinen Augen wahnsinnig tiefe Schatten liegen und die Lippen längst all ihr Blut verloren haben, trotz alledem sieht er wahnsinnig gut aus.
„Natürlich, du kannst es ja auch noch nicht wissen!“, er lächelt bitter, wahrscheinlich ein eher missratener Versuch, seine Tränen zu unterdrücken. Denn diese fangen trotz alledem an zu fließen, und er wischt sie sich weg, ehe er eine seiner Hände auf die meine auf seinem Knie legt.
„Ich… habe eine ganz seltsame Krankheit. Sie ist nicht selten oder so, aber ich kann mir ihren Namen partout nicht merken. Fakt ist, dass ich keinerlei Essen mehr in mir aufnehmen kann. Mein Magen stößt es komplett ab. Deswegen musste ich vorhin auch so schnell fort, als ich etwas gegessen habe. Deswegen hatte ich vorher drei Tage nichts gegessen. Eigentlich wollte ich es dir heute sagen, und dann… aber jetzt…“
Er stockt. Ich überlege nicht lange und ziehe ihn rüber, zu mir aufs Bett. Roy macht keinerlei Anstalten, zu protestieren. Auch nicht, als Juuho erneut seine Hand mit der meinen verband und sie sich auf die Knie legte.
Ich weiß einfach, dass er innerlich tobt. Oder er tut es nicht. Weil er sieht, dass Juuho die Tränen über das Gesicht rinnen und dass es ihm schlecht geht. Oder gerade deswegen, weil ich mich lieber um die Sorgen und Probleme einer Ex-Affäre kümmere, als Zeit mit ihm zu verbringen. Sein Lächeln kann ich nicht deuten.
Ich spüre, wie Juuho seinen Kopf auf meine Schulter legt. Ich selbst lege einen Arm um seine Taille, ziehe in ein Stück näher an mich. Ich weiß, dass ihm Nähe gut tut. Ich kenne Juuho, und zwar sehr gut.
Roy setzt sich nun ebenfalls in Bewegung, setzt sich uns gegenüber auf den Tisch. Ich spüre, dass er helfen will. Dass er nicht wütend ist, dass ich wieder so nahen Umgang mit Juuho habe. Dass er mitleidet, mit ihm und wahrscheinlich auch mit mir. Obwohl wir beide keinerlei Ahnung haben, was los ist.
„Sh…“
Juuho seufzte auf, wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht.
„Tut mir leid, ich bin wieder ein bisschen hypersensibel, die letzten Tage…“
Er versucht, abzulenken. Als weder Roy noch ich darauf eingehen, sieht er sich wohl dazu gezwungen, weiter zu sprechen. Erneut seufzt er schwer auf.
„Wie bereits gesagt, mein Magen ist unfähig, irgendwelche Nahrung aufzunehmen. Selbige werden sofort abgestoßen. Sprich: Ich muss mich übergeben. Das war auch der Grund, warum ich vorhin so plötzlich weg war. Eigentlich wollte ich Bescheid sagen, aber andererseits wollte ich euch euer Wiedersehen nicht kaputt machen…“
Roy nickt. Zeigt ganz offensichtlich Verständnis:
„Ist nun aber auch nicht wirklich wichtig. Viel wichtiger ist – und da bin ich mir ganz sicher, dass Elias eben diese Meinung mit mir teilt – Was genau nun mit dir los ist.“
Ich nicke ihm dankbar zu, doch er konzentriert sich mit starrer Miene nur auf Juuho. Sein plötzliches Mitleid ist mir noch suspekt, jedoch weiß ich auch, dass Roy ein sehr emotionaler und vor allem auch ein Mensch mit einem wahnsinnigen Mitgefühl ist.
„Naja. Das Problem liegt in der Tatsache, dass der menschliche Körper ohne Nahrungsmittel nicht weiter bestehen kann. Sprich: Ich muss sterben, wenn das weiter so geht, weil ich nichts essen kann. Und da der Arzt sich ziemlich sicher ist, dass ich eben eine Weile nicht mehr essen kann, ist es eigentlich ziemlich gewiss, dass ich … sterbe.“
Ich beginne, zu zittern. Verdammte Scheiße. Ich hätte jetzt wirklich mit allem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Wieder kann ich meinen Körper nicht kontrollieren, und wieder beginnen die Tränen, sich ihren Weg aus meinen Augen über mein Gesicht zu bahnen.
So sehr mein Körper zittert, so sehr zittert auch meine Stimme. Zwar versuche ich, meine Fassung zu behalten, doch so recht gelingen will es mir nicht.
„… Aber? Du hast ‚eigentlich gesagt‘. Es gibt… eine Möglichkeit, oder wie…?“
Ein Lächeln schiebt sich Sekunden später über Roys Lippen, und daraus schließe ich, dass wohl auch Juuho leicht gelächelt haben musste. Oder genickt, oder…
Mein Körper beruhigt sich wieder einigermaßen.
„Es gibt tatsächlich eine Möglichkeit. Allerdings würde diese bedeuten, dass ich die Psychiatrie wechseln muss, vielleicht sogar das Land. Wahrscheinlich nach Deutschland, in die Charité. Dort scheint es Ärzte zu geben, die gleichermaßen meine psychische und meine gesundheitliche Störung heilen können.“
„Geh‘ da hin.“, meine Stimme, zwar noch immer brüchig, festigt sich langsam und klingt wieder recht stabil, doch Juuho seufzt auf, bewegt sich nur unruhig und schüttelt meinen Arm dann von seiner Taille. Lässt meine Hand los, steht auf.
„Natürlich, das wäre doch auch die beste Möglichkeit, nicht wahr? Dann könnte ich weiterleben und würde wahrscheinlich noch besser betreut werden. Aber… mir stellt sich da eine rein moralische Frage, weißt du?“
Während er beginnt, durch den Raum zu tigern, setzt sich Roy neben Elias auf das Bett, Greift dessen Hand und drückt sie beruhigend. Murmelt etwas, das mir unverständlich ist.
Dann wendet Juuho sich zu den beiden auf dem Bett, sieht sie unverwandt an.
„Ich bin ein Mörder, und man kann es verdammt nochmal nicht leugnen. Ich habe zwei Menschen umgebracht, zwei unschuldige, gottverdammte Menschen. Sie haben mich nicht mal in eine forensische Klinik gesteckt. Sie haben einfach gedacht ‚so was passiert eh nie wieder, stecken wir ihn in eine normale Psychiatrie, der kriegt sich wieder‘, und getan, was sie gesagt haben. Aber ich glaube… dass so etwas ein eindeutiges Fehlverhalten ist. Dass man mich einfach nicht mehr kurieren kann. Dass jeder Mörder fähig ist, wieder zu töten. Hunde werden getötet, wenn sie kleine Babys tot beißen. Meine Schwester war nichts weiter als ein unschuldiges Baby. Und mir tut sich einfach diese gottverdammte Frage auf, ob ich überhaupt noch leben darf, moralisch gesehen. Ich habe zwei Menschenleben auf dem Gewissen, jetzt sollte doch eigentlich auch ich sterben müssen, nicht wahr?“
Mir stockt der Atem.
Ich war eben nicht ganz… ich selbst gewesen, glaube ich.
Ich stehe rasch auf, lasse Roy auf dem Sofa sitzen und haste zu meiner Medizin. Wenn ich diesen Mist auch noch so sehr verabscheue, ich habe das Gefühl, dass gleich wieder etwas passieren wird, wenn ich nicht diese gottverdammten…
Hastig schluckte ich die Pillen. Allesamt, wie sie portioniert auf dem kleinen Wagen lagen. Stürzte das beigestellte Glas Wasser hastig hinunter. Fühle mich besser, zumindest für die nächsten Sekunden. Minuten.
Ich setze mich erneut zurück. Nur, um dann wieder aufzustehen und Juuho in die Arme zu schließen. Erst jetzt wird mir die gravierende Schwere seiner Wörter bewusst. Was er gesagt hatte, dass er sich mit einem Tier – mit einem räudigen Köter – verglichen hatte.
Ich lege die Hände auf seinen Rücken, ziehe ihn nahe an mich. Er riecht so verdammt gut. Ich seufze schwer, hebe eine Hand dann doch an und webe sie in das Haar seines Hinterkopfes, in sein samtenes, schwarzes. Drücke den Kopf fast schon zärtlich zu mir herunter. Auf meine Schulter. Hatte ich mich doch immer bei ihm ausgeweint, so sollte er nun auch seine Chance bekommen.
Er nutzt sie. Schluchzt auf, in seiner Verzweiflung. Krallt sich regelrecht an mich und lässt den Zuckungen… dem Zucken seines Körpers freien Lauf.
„Juuho, bitte, setz‘ dich nicht mit einem aggressiven Tier gleich. Ich… du bist ein Mensch, verdammt. Ein Mensch, der die Nerven verloren hat, weil er psychisch krank ist. Sie geben dir Medizin, Juuho, sie therapieren dich. Du brauchst im Grunde genommen nicht einmal mehr zu fürchten, einen Menschen umbringen zu können. Oder zu müssen, verstehst du, was ich meine? Ich bitte dich – ich flehe dich an – geh‘ in diese Klinik und wehr‘ dich nicht. Bitte, lass dir dort helfen. Du wirst niemanden mehr töten. Du wirst… irgendwann bestimmt lernen, mit dieser Schuld auf deinen Schultern zu leben, nicht nur bestimmt, du wirst es tun. Ich bin mir so wahnsinnig sicher, dass du das tun wirst. Du bist doch stark, Juuho. Und … ich könnte das nicht durchstehen, wenn du… nicht mehr da bist. Du bist mir so wahnsinnig wichtig, dass du dir das gar nicht vorstellen kannst. Und wenn du dich jetzt wegen einer deiner behinderten Gedankengänge auf so eine Art und Weise selbst justieren würdest, ich könnte das nie im Leben durchstehen. Ich… du bist einfach… ein so wundervoller Mensch, Juuho. Du bist ein Mensch, kein Tier, und schon gar kein aggressiver Hund. Ich…“
Mir kommen selbst die Tränen, ich muss schwer schlucken. Ich redete in einer so atemberaubenden Geschwindigkeit, dass ich mich einige Male zu verhaspeln drohte. Jedoch dann rechtzeitig wieder die richtigen Wörter fand.
Dann herrscht Stille. Roy sagt nichts, vielleicht, weil er sich dazu nicht berechtigt fühlt. Vielleicht, weil er nicht mitreden kann. Vielleicht, weil …
„Ich brauche dich, Elias.“, es ist Juuhos fragile Stimme. So unwahrscheinlich leise, dass ich zweimal hinhören muss. „Ich brauche dich wirklich. Nur du kannst mir dieses Gefühl geben, dass ich brauche, um weiter zu machen. Das Gefühl, dass ich genauso menschlich bin, wie jeder andere auch. Das Gefühl, dass es nach wie vor noch jemanden gibt, der sich Gedanken um mich macht, der mich nicht ausgrenzt. Der mich… noch gerne hat…“
Seine Stimme bricht. Während ich ihm nach wie vor noch über den Rücken streichle, küsst er mich vorsichtig. Auf den Hals, im Schutz der Haare, damit Roy es nicht mitbekommt. Ich erschauere, über meinen Rücken zieht sich eine Gänsehaut.
„Ich habe dich wirklich gerne, Juuho. Und ich kann nicht ohne dich – da kann ich einen noch so tollen Freund haben, ohne dich stehe ich das doch alles gar nicht durch.“
Er nickt, wenn auch nur leicht. Dann löst er sich aus der Umarmung und wischt sich all die Tränen aus seinem Gesicht fort, senkt den Kopf zu Boden und schüttelt sich sein Haar zu Recht.
„Ich bin so froh, dass ich dich damals angesprochen habe, weil du neu warst…“, er lächelt mich an, doch mir gefriert auf einmal das Blut im Körper.
Ich weiche einen Schritt zurück. Ein dunkles Gefühl überkommt mich. „Du… hast mich angesprochen… du hast doch… gesagt, dass Herr… der alte Mann aus …“
Bevor ich überhaupt die Chance dazu bekomme, zu denken, dass die Tabletten mich doch nur wieder in den Wahnsinn treiben, lächelt Juuho mild, streicht mir vorsichtig mit ausgestreckter Hand über den linken Arm: „Natürlich, das war ja auch dein erster Kontakt. Aber ich habe mich doch dann wenig später mit dir beschäftigt, weil ich gesehen habe, dass du dich mehr als nur unwohl bei ihm gefühlt hast. Kein Grund zur Panik. Es ist alles in Ordnung.“
Ich nicke, fast schon dankbar. Als dann auch auf einmal Roy wieder neben mir steht, nickt Juuho resignierend.
„Ich gehe dann auch wieder zurück auf mein Zimmer, ja?“
An der Tonlage seiner Stimme begreife ich, dass es ohnehin zwecklos wäre, ihn dazu zu überreden, noch weiter hier zu bleiben. Wahrscheinlich musste er sich nun erst mal hinlegen und schlafen, das gesagte verarbeiten. Wie bereits gesagt, ich kenne ihn gut.
Daher nicke ich nur, schließe ihn erneut in den Arm: „Ich wünsche dir eine gute Nacht, Juuho. Wann sehen wir uns morgen?“
Er zögert, murmelt dann aber ein leises: „Beim Frühstück um Acht. Ich denke, Roy wird etwas essen wollen, und du musst etwas essen, Elias. Vier Tage ohne Nahrung geht echt nicht in Ordnung.“
„Ja, Mama!“
„Das ist mein voller Ernst. Das hat bei mir auch damit angefangen, dass ich nichts mehr essen wollte, oder nichts mehr essen konnte.“, Juuho salutiert und dreht sich dann zur Tür ab. Dreht sich noch einmal zu mir und Roy um, wünscht uns eine gute Nacht und huscht dann, stumm wie ein Schatten, durch die Tür nach draußen in den Flur. Darauf bedacht, nicht erwischt zu werden.
Kaum fiel die Tür ins Schloss – mindestens so leise, wie Juuho auch verschwunden war – seufzt Roy auf, fast schon gequält. Nimmt mich an der Hand, zieht mich aufs Bett.
Wir schweigen beide, ehe Roy das Wort erhebt: „Er ist echt arm dran, oder?“
Stumm nicke ich nur, zu mehr bin ich nicht fertig. Vorsichtig greift Roy nach meiner Hand, streicht mit seiner eigenen darüber, doch aus meiner eigenen Welt kann er mich mit dieser Geste nicht holen. Stattdessen lasse ich mir die Begegnung von eben noch einmal durch den Kopf gehen, ehe ich ihm dann doch antworte.
„Das kannst du laut sagen. Zumal der Kerl so wahnsinnig viele Probleme hat. Wenn ich nicht hier in der Psychiatrie bin, dann ist er völlig auf sich alleine gestellt. Weil jeder eigentlich Angst vor ihm hat. Weißt du, Mörder sollten in einer Psychiatrie nichts sonderlich seltenes sein, sind sie hier aber doch. Die meisten Mörder werden – oder wurden zu der Zeit, in der Juuho eingewiesen wurde – in eine forensische Klinik verfrachtet, für psychisch Kranke mit dem ‚gemeingefährlich‘-Stempel. Juuho ist also, glaube ich zumindest, so ziemlich der einzige von seiner Sorte hier. Deswegen haben auch alle Angst vor ihm. Wahnsinnige Angst. Mir war’s von Anfang an eigentlich scheiss egal, was er war und was nicht. Mir ging‘s ja anfänglich nur um den Sex. Erst im Endeffekt habe ich in Juuho einen wirklich wahnsinnig guten Freund gefunden. Aber er ist…“
Ich schüttle den Kopf, und Roy versteht: „Themenwechsel. Was war mit deiner Mum vorhin am Telefon los? Reagiert die immer so seltsam, wenn du ihr nichts von deinen Anfällen erzählen willst?“
Mir ist es recht, dass das Thema Juuho nun vorerst vom Tisch ist. Ich fand die Nähe, oder besser, das Gefühl, welches ich empfand, wenn ich Juuho in der Nähe hatte, nur allzu seltsam. Es war nicht dieses Gefühl, woran man erkennen könnte, dass ich in ihn verliebt wäre oder sonst irgendetwas, es war einfach diese tiefe, innere Verbundenheit, welche mir jedes Mal erneut den Schreck in die Glieder fahren lässt.
„Besser gesagt, sie reagiert immer so, wenn ich hier in der Psychiatrie bin. Weil sie eigentlich ja komplett gegen die Medikation ist und so, und weil sie weiß, dass ich es hasse, hierhin zu gehen. Und wenn ich dann schon hier bin und nichts zu erzählen habe, dann tickt sie meistens komplett aus.“
Roy nickt und lächelt, dann knippst er mit einer Hand das kleine Nachttisch Licht an, ehe er aufsteht, um das Große zu löschen.
Als ich ihn, etwas verwundert, ansehe, lächelt er nur mit seinem strahlenden Lächeln. Er könnte eigentlich Werbung für eine Pasta machen. Also, für eine Zahnpaste.
„Ich bin müde“, erklärt er, und ich nicke nur. Natürlich. Was sonst.
Müde war ich allerdings gar nicht mehr. In meinem Kopf schwebten die Worte Juuhos herum, wie er sich mit einem Tier verglichen hatte. Menschliche Vergleiche mit Tieren waren mir natürlich nicht fremd, stimmten sie in mancher Hinsicht natürlich voll und ganz und waren mehr als nur korrekt.
Doch diese Worte von Juuho zu hören…
Das Gefühl ist unerträglich. Juuho will und will nicht mehr aus meinem Kopf; und seine Worte tun es ihm partout gleich.
„Hunde werden getötet, wenn sie kleine Babys tot beißen. Meine Schwester war nichts weiter als ein unschuldiges Baby.“
Ich seufze schwer auf, versuche, die Gedanken irgendwie vertreiben zu können. Lege meinen Kopf auf die sich hebende und senkende Brust Roys. Schließe die Augen.
„Wann hast du denn morgen Therapie?“
„Direkt nach dem Essen morgen früh.“
„Hättest du was dagegen, wenn ich in der Zeit nochmal zu Juuho gehen würde? Ich muss einiges klar machen, ich verstehe die Hälfte immer… noch nicht.“
„Was soll ich denn dagegen haben Klar, geh‘ nur. Muss ja nun auch nicht sein, dass du ganz alleine durch dieses Haus schleichen musst. Wo wohnt Juuho?“
„Ein paar Zimmer weiter. Er hat immer abends Therapie, deswegen frage ich…“
„Von mir aus hält dich nichts zurück. Wann hast du denn eigentlich deine Stunde?“
„Ich weiß es nicht, mein Therapeut holt mich dann von hier ab. Aber irgendwann abends.“
Nachdem Roy nur nickt und irgendetwas vor sich hin murmelt seufze ich erneut auf. Rutsche etwas auf seiner Brust zu Recht und schloss dann erneut die Augen:
„Gute Nacht, Roy. Lass uns schlafen, ja?“
An der Art, wie er durch meine Haare streicht, erkenne ich als Zustimmung. Ich muss lächeln, während ich ein letztes: „Gute Nacht, Liebling.“, hauche.
„Gute Nacht, mein Engel. Träum schön. Ich liebe dich.“
In derselben Sekunde, in der er das sagt, vibriert mein Handy. Er bekommt es schon gar nicht mehr mit. Es ist doch aber immer so mit ihm, er kann wach sein wie er will und stundelang nur Mist machen, sobald es heißt ‚schlafen‘ ist er innerhalb von Sekunden weggetreten.
Ich knipse das Licht aus und greife in der nächsten Sekunde nach meinem Handy, welches sich nach wie vor noch auf dem Bett befand, mittlerweile dann doch aber drohte, in der Spalte zwischen Mauer und Matratze zu versinken.
Öffne die soeben eingegangene SMS und kneife die Augen zusammen. Das grelle Licht blendet.
Es dauert einige Sekunden, bis ich den Absender und den eigentlichen Text erkennen kann.
Von Juuho. Mit zwei Wörtern.
„Verdammte Scheiße.“
Schneller als ich überhaupt irgendwie nachdenken konnte hatte ich mich bereits aus dem Bett geschält und das Zimmer verlassen. Roy würde vor morgen früh so wie so nicht mehr aufwachen.
Leise lasse ich die Tür ins Schloss fallen. Auch, wenn wir mittlerweile gut ein Uhr morgens hatten, waren die Anstandswauwaus nicht weit. Vorsichtig schleiche ich mich über den Flur, auch, wenn Juuhos Zimmer nur knappe acht Nummern entfernt liegt.
Es scheint, als ob mir plötzlich alles Gefühl aus dem Körper strömt, als ob ich auf einmal alle Kraft verloren würde. Bevor ich mir überhaupt denken kann, dass die Medikamente wieder nicht wirken, so wird mir doch noch um einiges schneller klar, dass das wieder dieses Gefühl ist… dass unter mir Stoffe sind, die mir nicht gehören. Die daraus müssen, die mich erneut zu einem gefühlskalten Menschen machen. Oder zu einem Menschen, der nichts mehr von mir selbst hat, der…
Als ich die Tür aufstoße will, steht sie offen.
„Juuho? Juuho, was ist los?“
Von irgendwoher aus dem Zimmer ein Schluchzen. Lange muss ich nicht überlegen, es ist wohl Intuition, dass ich weiß, dass er auf dem Bett sitzt.
Das tut er. Den Kopf gesenkt und die eine Hand über das Handgelenk der anderen gelegt. Nein, gepresst. Blut dringt zwischen seinen Fingern vor. Mir wird übel.
„Verdammter Mist, Juuho! Was ist los?!“
Ich schließe die Tür, während er nur langsam den Kopf hebt. Das Gesicht von den Tränen nur allzu starr. Das schwarze Augen-Make-up, welches er stets zu benutzen pflegt, über sein ganzes Gesicht verteilt. Das Haar nach wie vor so seidig wie zuvor. Ein absolut skurriler Anblick.
Nur langsam hebt er auch die blutige Hand von seinem anderen Handgelenk. Augenblicklich beginnt das Blut wieder zu pulsieren, hinaus aus der Wunde an seiner Hauptschlagader.
„Heilige Scheiße, Juuho. Was zur Hölle hast du getan?“
Ein apathisches Kopfnicken. Dann beginnt er zu sprechen – mit einer Stimme so rau und zerbrechlich, wie sie nie im Leben von ihm stammen könnte.
„Ich habe… total die Kontrolle verloren, Elias. Ich … ich wollte einfach nur noch elendig verrecken, weißt du? Ich hatte kein Messer oder keine Klinge oder so… Ich habe mich selbst aufgebissen, bis das Blut kam. Ich fühle mich so… schwach. Danke… dass du hier bist.“
Unfähig auch nur an irgendetwas zu denken setze ich mich neben ihn. Das gelbe Bettzeug ist von Blut getränkt, aber das ist irrelevant in diesem Moment.
„Mach sowas nicht nochmal, ja?“,
Ich erkenne, dass ich stark mit meiner Stimme kämpfen muss. Dass sie mir immer wieder aus dem Ruder laufen will, selbst bei diesem nur allzu kurzen Satz.
Juuho nickt.
By the tears of broken men.
Machine Men. Ich seufze schwer und fahre mit Zeige- und Mittelfinger vorsichtig über das Kinn des Anderen. Drücke es sanft zu mir, sodass er mich ansehen muss.
„Ich kann doch nicht ohne dich Leben, verdammt. Warum machst du so einen Mist?“
Er schaut an sich herunter. Sieht, dass die Wunde aufhört, zu bluten. Das Blut fließt noch immer, nicht mehr so stark jedoch. Wahrscheinlich schöpft er daraus neuen Mut. Hebt beide Arme an, legt sie mir auf die Taille.
Ich seufze, dieser Druck fühlt sich nur allzu gut an. Gut, und gleichzeitig widerstrebt sich alles in mir. Letzteres hatte sich dann jedoch auch erledigt, als Juuho sich zu mir vorbeugte, und seine Lippen nur allzu vorsichtig auf die meinen legt.
Sie schmecken blutig, allerdings… der sanften Druck, mit dem sie auf meinen lasten, lässt mich vergessen. Es kostet einige Zeit und Überwindung, ehe ich erwidere. Ich sehe, wie er seine Augen schließt, wie er…
Ich will mich eigentlich wieder losreißen, doch er hat etwas an sich, das mich einfach an ihn fesselt. Etwas, das ich nicht beschreiben kann. Etwas, das mich zwingt, seine zärtlichen Küsse immer und immer wieder zu erwidern. So lange, bis ich nur allzu freiwillig meine Hände unter sein Shirt schiebe.
Als er jedoch den Druck meiner Hände auf seiner nackten Haut spürt, scheint er zur Besinnung zu kommen und seufzt schwer auf: „Lassen wir das… Elias.“, mein Name mit Nachdruck.
Die Handgelenke mittlerweile zwar blutverschmiert, doch hatten sie aufgehört zu bluten. Du schaust an dir herunter, an das Blut, das überall ist. Auf dem Bett, auf dem Boden, auf deinem Shirt und auf deinen Händen.
Du hattest dir deine Blutung wohl selbst gestoppt.
Als du deinen Blick hebst verstummen sogar meine Gedanken. Mein Atem bleibt mir weg nicht weil… Dein Blick. Dann deine Hand, die Blutverschmierte, wie sie meinem Gesicht langsam näher kommt. Wie ich sie wenige Sekunden später auf meiner Wange spürte und… wie du mich zu dir ziehst, noch immer unter diesem konstanten und furchteinflößend starren Blick.
Du verziehst deine vollen Lippen zu einem fast schon diabolischen Grinsen, als unsere Gesichter nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt sind.
Unmittelbar darauf beginnt mein Herz, viel zu schnell zu gehen. Du musst gar nichts mehr tun, ich kann gar nicht mehr anders als dich zu küssen. Ich sehe, wie du die Augen schließt. Genießend. Ich kenne dich. Und ich kenne uns. Ich weiß, dass es kein Zurück mehr gibt.
Immer und immer wieder lösen sich meine Lippen von deinen, vereinen sich erneut mit ihnen. Lasten jedoch nie länger als fünf Sekunden auf dir.
Erneut spüre ich deine Hände auf meinen Hüften, wie sie auf meinem T-Shirt ruhen. Es ist schwarz, das Blut würde man eh nicht sehen. Während du beginnst, den Kuss langsam leidenschaftlicher werden zu lassen, immer wieder mit der Zunge gegen meine Lippen stößt, so lange, bis ich dich schließlich meiner annehme, lässt du auch deine Hände unter mein T-Shirt gleiten.
Gänsehaut legt sich über meine Haut. Deine Hände sind wahnsinnig kalt. Deine Küsse wahnsinnig gut. Du seufzt hingabevoll in den Kuss hinein, während ich dich auf die Matratze drücke.
Wenn schon, warum dann nicht gleich alle Register ziehen?
Wir lösen den Kuss und du lächelst mich an. Dein seidiges Haar wirr auf dem weiß-roten Laken um deinen Kopf. Ich beuge mich zu dir herunter, knie ich doch mit einem Bein links und mit einem Bein rechts von deinem über dir.
Deine Hände erneut auf meiner Taille. Dein strahlendes Lächeln lässt dich von oben herab wirken wie ein Engel. Ein gefallener Engel in den letzten Atemzügen. Gebettet auf dem eigenen Blut. Ich muss lächeln.
Deine Stimme ist rau, nicht unbedingt engelsgleich, eher wohl eine Raucherstimme: „Keine Sorge, wir sagen Roy nichts davon, ja? Es bleibt unter uns.“
Eine deiner Hände findet ihren Weg in meinen Nacken, zwingt mich mit einem gewissen Druck, mich erneut zu dir hinunter zu beugen. Wieder küssen wir uns. Nur vorsichtig diesmal, zärtlich. Aber es ist unbeschreiblich, was in diesen zwei, drei Sekunden in mir vor geht.
Nicht, dass mir auf einmal klar wird, dass ich in ihn verliebt bin oder ähnliches. Beim besten Willen nicht. Aber diese… dieses Glitzern in seinen Augen, in den Augen, aus denen man die Lust nur lesen konnte.
„Wie lang ist‘s her?“, du lehnst dich etwas zu mir auf, sodass ich deine kratzige Stimme direkt an meinem Ohr habe. Deinen warmen Atem. Gänsehaut legt sich erneut über meinen ganzen Körper. Du strahlst.
Manchmal bist du wie ein kleines Kind. Wenn es um mich geht freust du dich wirklich über jede noch so kleine Kleinigkeit. Du kannst dich darüber freuen, wenn ich eine Gänsehaut bekomme. Wenn ich strahle. Wenn ich dir über neue Erfolge einer Therapie berichten kann.
Und jedes Mal rennen dir stumme Tränen über das Gesicht, wenn ich wieder gehen muss. Obwohl wir beide wissen, dass wir uns wieder sehen werden. Der Abschied ist jedes Mal nur allzu schmerzhaft.
„Ein Jahr bestimmt schon, hm?“, ich lächle, während ich vorsichtig über dein feines Gesicht streiche. Du bist wirklich wunderhübsch. Feine Gesichtszüge, blaue Augen. Sie glänzen wieder. Volle Lippen und eine feine Nase. Etwas feminines Gesicht.
Damals hattest du mir erzählt, dass du eine Weile lang ernsthaft über eine Geschlechts-Operation nachgedacht hattest. Weil du dich im falschen Körper gefühlt hattest.
Dein damaliger Freund hatte dir den Gedanken ausgeredet. Und ehrlich gesagt, ich danke ihm noch heute dafür.
Ich glaube, du fühlst dich heute noch unwohl. Aber ich glaube auch, dass es dir mittlerweile egal geworden ist. Für dich zählt nur noch, wie du einen Tag überstehst. Das ist das, was ich glaube. Was ich weiß. Du sagst es nie. Aber ich kenne dich doch.
„Ich hatte ein ganzes Jahr keinen Sex mehr?“, es war nichts weiter als ein ungläubiges Murren. Und dennoch, es treibt mir wieder ein Grinsen auf die Lippen.
Während einer meiner Hände sich nach wie vor auf der feuchten Bettdecke abstützt findet die andere ihren Weg unter dein T-Shirt. Ich muss grinsen: „Vielleicht sollten wir die Tatsache ändern.“
„Vielleicht sollten wir das tun, ja.“
Von deinem Blick kann ich ablesen, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als dass meine Klamotten endlich fallen. Als ich mich wieder aufrichtete und mir das Shirt über den Kopf ziehe tust du es mir gleich.
„Du hast immer noch denselben, schmächtigen Körper wie damals“, du feixt und fährst mit deinen Fingern meinen Brustkorb entlang.
„Und du siehst magersüchtig aus.“, ich will nicht kontern, in keinster Weise. Dein Kommentar hatte mich nicht gestört. Das, was mich stört ist allerdings dein dünner, abgemagerter Körper unter mir. Nicht, dass ich mich daran stören würde, wenn ich es dir besorgen sollte. Es stört mich nicht als Lover. Es stört mich als Freund. Dass ich dich so abgemagert sehen muss.
„Ich sagte doch, ich habe diese Krankheit.“, fast lässt du deinen Kopf hängen, doch ich tue den Gedanken mit einer unwirschen Geste ab.
„Ist egal. Zumindest jetzt. Wir können nachher weiter darüber reden.“
Du nickst. Es ist ganz offensichtlich, dass du mir mehr als nur zustimmst. Dann streichst du mit deinem Daumen vorsichtig über meine Unterlippe. Ich beuge mich zu dir herunter, küsse dich sanft. Nur flüchtig. Lasse dann mit Absicht von dir ab.
Bevor du auch nur irgendein unzufriedenes Geräusch von dir geben kannst lege ich dir den Zeigefinger auf die Lippen. Ich möchte, dass du verstummst. Natürlich möchte ich, dass du genießt. Allerdings kannst du das auch stumm tun.
Meine Lendengegend zieht bis hoch zu meinem Magen. Mir ist natürlich bewusst, was ich hier tue, in welchem Begriff etwas zu tun ich stehe. Mir ist nicht minder bewusst, dass nur wenige Zimmer weiter mein Freund friedlich schläft.
Und mir ist bewusst, dass mich spätestens in zwei Stunden ein absolut diabolisch schlechtes Gewissen plagen wird. Dass ich mich im Spiegel nicht mehr ansehen kann.
Aber all diese Bedenken schiebe ich mit einem Mal zur Seite. Ich weiß nicht, wie lange er noch hier sein wird. Ob ich ihn überhaupt nochmal sehen werde.
Ich werde einfach nicht mehr umdrehen.
Sekunden später hast du mich mit nur einer allzu geschickten Bewegung dazu gezwungen, nun unter dir zu liegen. Ich muss begreifen, dass du die Oberhand übernehmen willst.
Du grinst. Es ist dasselbe verschlagene Grinsen wie ein jedes Mal in solch einer Situation. Du beugst dich zu mir hinunter: „An mir rumfingern kann ich selbst, weißt du? Ich übernehme dann doch lieber die aktive Rolle.“
Deine Finger streichen über meinen Brustkorb. Immer wieder senken sich deine weichen Lippen auf ihn herab. Immer wieder ziehen deine Zähne ein Stück meiner empfindlichen Haut mich sich, hinterlassen eine leicht gerötete Stelle. Siehst du es, so leckst du vorsichtig mit der Zunge darüber. Wie, um zu entschuldigen.
Deine Finger fahren flink immer wieder meinen Oberkörper entlang, auf und ab. Bescheren mir jedes Mal eine Gänsehaut, immer wieder aufs Neue.
Längst halte ich die Augen geschlossen, doch ich kann mir vorstellen, dass es dich freut zu sehen, dass ich unter wohligen Schauern leide, dass du lächelst.
Egal welche Anstalt ich mache, dich zu berühren, du wimmelst ab. Sagst immer wieder, dass sei alleine deine Aufgabe. So sehr ich mich auch dagegen sträube, immer wieder schlägst du mir die Hände von deinen Hüften und siehst mich wohl nicht an, wenn ich etwas dies betreffendes sage.
Deine Finger bleiben auf meinen Brustwarzen liegen. Du lässt von meiner Brust ab und … schlägst mich. Wenn auch nur sanft und auf die Wange, deine flache Hand ermahnte mich dazu, die Augen zu öffnen.
„Mh…?“
„Sieh‘ mich gefälligst an, wenn ich dich ansehe.“
Eine absolut unnötige Bemerkung, und das wissen wir beide. Eigentlich wolltest du nur deine dominante Ader raus lassen, ohne mich wirklich zu verletzen.
Seine Finger fahren weiter über meinen Oberkörper, hinauf zu meiner Kette. Er hebt sie an, und das kalte Silber nimmt eine unwahrscheinliche Last von mir.
„Was haben sie damals nur mit dir getan?“, du seufzt schwer auf, lässt das Silber wieder auf meinen Körper zurückfallen. Obwohl der Anhänger unwahrscheinlich klein ist schmerzt er höllisch. Fühlt sich an wie Zehntausend Kilo Stein und brennt wie Feuer.
Ich lege den Kopf beiseite. Stöhne gequält auf. Jedes gottverdammte Mal wenn dieses Silber sich von meiner Haut ablöst. Wenn es wieder aufkommt. Es tut jedes Mal aufs Neue höllisch weh, und jedes Mal aufs Neue tauchen längst vergessene, nicht minder höllische Erinnerungen auf.
Ich spüre, wie du dich auf einmal neben mich setzt. Wie deine Wärme von mir weicht. Wie du mit deinem Finger vorsichtig über meine Bauchdecke streichst. Begreife, dass ich… dass mich diese gottverdammte Kette gerade aus einer Situation gerettet hatte, welche ich noch abertausende Jahre später bereuen würde.
Ich lege meinen Kopf auf die andere Seite. Sehe durch meine schmerzenden, tränenverschleierten Augen wie Juuho aufsteht, zum Kleiderschrank geht und sich einen Pulli überzieht.
Dann wieder zu mir zurückkehrt und sich wieder neben mich sieht. Meine Hand nimmt.
Er beugt sich zu mir hinunter und küsst mich vorsichtig. Hält inne, als ich den Kuss erwidern will. Dann lässt er von mir ab: „Das ist nicht richtig, Elias. Lassen wir das einfach.“
Ich nicke. Enttäuscht bin ich nicht. Vielleicht erleichtert. Aber um genau zu sein macht sich keinerlei Gefühlsregung in mir breit. Bis auf diesen unerträglichen Schmerz in meinen Augen, in denen sich die Tränen sammeln.
„Was ist damals passiert, Elias?“, erneut streicht er über meine Brust, berührt mit den Fingern kurz die Silberkette, ohne den Anhänger anzuheben. Ich bin im dankbar, und doch kann ich es ihm nicht zeigen, zu auffällig.
Ich schüttle nur den Kopf. Ich will nicht darüber reden, ich will nicht daran denken, ich will mich nicht mehr erinnern. Es war vorbei, und …
„Verdammt, Elias. Erzähl mir, was sie dir angetan haben!“, seine Stimme klingt nicht mehr freundlich. Keineswegs. Ein befehlsherrschender Ton. Derselbe Ton wie… damals… Ich muss schlucken. Kann meinen Körper zum gefühlten hundertsten Male an diesem Tag nicht mehr kontrollieren, noch mehr Tränen finden ihren Weg hinab auf das Laken.
Sekunden später Schritte im Raum. Juuho zuckt zusammen, doch mir wird leichter ums Herz als ich die warme Stimme Roys vernahm. Wenn auch sie sehr verschlafen war. Vielleicht könnte er… vielleicht würde er…
„Juuho? Ist Elias bei dir? Ich hab… Keine Ahnung wo er steckt.“
Ich sehe, wie Juuho nickt und dann auf mich zeigt. Sekunden später sehe ich Roy. Furchtbar verschlafen. Die Haare verstrubelt, die Augen dafür umso weiter geöffnet.
„Scheiße, was ist hier passiert?“.
Er sieht das Blut. Wie ich auf dem Bett liege. Versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Sich die Situation zu erklären. Versteht es falsch. Ich will die Hand ausstrecken. Will ihn zu mir ziehen. Will ihn bei mir haben, hier. Ihn und seine Nähe. Doch ich bin zu schwach, um überhaupt seinen Namen zu nennen. Die Kette schwächt mich jedes Mal aufs Neue.
Ich schließe die Augen, während ich Juuhos Stimme höre, welche versucht, Roy die Situation zu erklären. Versucht, zu erklären, warum ich hier bin. Wem das Blut gehört. Ich glaube, ich höre, wie er seinen Pulloverärmel zurückschiebt. Höre aber auf jeden Fall, wie er flucht. Wahrscheinlich hatte die Wunden erneut angefangen zu bluten.
Juuho steht auf, seine Schritte entfernen sich. Vielleicht geht er ins Bad, oder in die Krankenhaus-Abteilung der Klinik. Neben mir setzt sich jemand. Es wird Roy sein.
Es ist Roy. Nur er riecht so wahnsinnig gut. Es scheint mir, als ob der Geruch einen Teil des Schmerzes lindert. Aber es ist einfach nur eine Illusion, wie…
Die Humanität? Kann es nicht sein, dass wir… Dass jeder einzelne Mensch nur für sich existent ist? Dass er sich seine Freunde und Familie alles einbildet, weil er… Illusionist ist? Dass jeder Mensch für sich lebt, sich seine ganze Welt nur erträumt?
Dass ich mir einbilde, dass ich hier liege. Dass ich mir einbilde, dsas Roy an meiner Seite sitzt, beruhigend auf mich einredet und vorsichtig immer wieder mit seiner Hand über die Meine streicht? Seine Berührung fühlt sich so wahnsinnig gut an.
Ich will nicht, dass dies alles Illusion ist. Denn Illusionen sind da, um zu verschwinden. Ich will nicht, ich habe Angst davor, dass dieses Gefühl je verschwinden könnte. Wieder kommen neuen Tränen auf. Ich will … ich könnte es doch nicht verkraften, wenn Roy nicht…
In meinem fragilen Zustand. Ich möchte ausbrechen. Ausbrechen aus dieser Hölle. Medikamente sind doch nichts weiter als Drogen. Sie haben mich abhängig gemacht. Sie… sie sind … und mein Psychiater. Was, wenn mein Psychiater genau derselbe Mensch ist wie… der alte Herr, der… der rote Punkt?
„Elias?“, Roys Stimme. Von ganz weit weg her dringt sie an mein Ohr. Lässt mich aufseufzen. Weg, fort mit den Gedanken. Ich rühre mich nicht. Vielleicht, weil ich nicht kann. Schließlich bin ich doch Frankensteins Monster, und…
„ELIAS! Hör auf mir der Scheiße, das ist nicht mehr lustig!“
Nur Roy…
Ich schlage die Augen auf. Noch immer bin ich tränenblind, aber ich kann meinen Arm bewegen. Hebe ihn an, um mir die Tränen vom Gesicht zu wischen. Richte mich auf. Blinzle, bis das letzte bisschen Flüssigkeit aus meinen Augen verschwunden ist.
Sekunden später nur werde ich auf Roys Schoss gezogen. Er legt seine Arme um meine Taille und haucht mir einen Kuss in den Nacken.
“Verdammt, Elias, was ist los mit dir?“
Wieder Juuho. Ich muss schlucken. Er steht vor mir, hält sich einen Stofffetzen – das verblutete T-Shirt von vorhin – gegen die Wunde an seinem Arm. Schaut mich an. Nicht wütend. Nicht traurig, und auch nicht verängstigt. Alles, was seine Augen zeigen ist… Leere.
Sie sind komplett leer. Ich senke den Kopf. Lehne mich etwas gegen Roy und schließe meine Augen. Es tut so wahnsinnig gut, seine Haut so direkt an meiner zu spüren. Was hätte ich uns da vorhin angetan…
„Verdammt!“, meine Stimme ist nichts weiter als ein fragiles Zittern. Doch Juuhos Gesichtszüge entspannen sich. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, gar keine Antwort mehr zu bekommen.
„Sie… ich …“, Obwohl meine Worte nicht mehr als ein einziges Stammeln sind, beginnt Roy, am Kettenverschluss herumzufingern. Löst die Öse und zieht mir die Kette vom Körper. Lässt den kleinen Anhänger auf seine Hand sinken, dann das Silberband dazu. Schließt die Augen und verstaut das Ganze in einer Tasche seiner Stoffhose.
Das Atmen fällt mir leichter. Meine Brust hebt und senkt sich um einiges schneller. Erneut legt Roy seine Arme um meine Taille. Zieht mich noch näher an sich. Haucht mir ein „Ich liebe dich“ ins Ohr und stützt seinen Kopf dann nur allzu vorsichtig auf meiner Schulter ab.
„Sie haben… mich gefoltert. Damals. Mit grauenvollen Methoden. Mal war ich das Opfer, mal durfte ich mir die Opfer unter meinen engsten Freunden aussuchen.“, meine Stimme ist zwar nach wie vor unwahrscheinlich fragil, doch mittlerweile hat sie sich wieder gefestigt.
„Ich hatte mich schon immer gefragt, warum du ein Satanistenkreuz trugst, Liebling. Ich habe dir nie geglaubt, dass du es aus Religionsgründen oder als Modeaccessoire trägst.“
Es war wieder Roys Stimme, so sanft und warm wie immer.
Ich nicke, schüttle dann aber gleichzeitig wieder den Kopf: „Ich… doch, schon aus Religionsgründen. Aber nicht freiwillig. Um ehrlich zu sein bin ich … Mitglied einer satanischen Sekte, ja.“
Juuho weicht keinen Zentimeter zurück. Roy zieht mich nur noch fester an sich. Er zittert jedoch, das ist unschwer zu erkennen. Ich weiß nicht ob er jetzt Angst vor mir hat, oder ob… Allerdings weiß ich, dass ich es auch nicht mehr länger hätte mit mir rumtragen können. Dieses Wissen, dieses ungeteilte Wissen.
„Ich… bin kein freiwilliges Mitglied. Ich meine… in meinen Augen ist es definitiv einfacher, an einen Satan zu glauben, als an einen Gott, doch aber… Mum und Dad, sie waren beide dieser Sekte. Vielleicht hast du dich gefragt, warum ich keinen Vater habe, Roy?“
Ich spüre, wie er hinter mir stumm nickt, kurz darauf aber ein fast unhörbares ‚Ja‘ über seine Lippen gleiten lässt: „Du hast es mir nie gesagt.“
Ich nicke wieder: „Weil … mein Vater tot ist. Und daran ist diese Sekte Schuld. Mein Vater wollte austreten. Das hat dem geisteskranken Anführer wohl aber nicht gepasst. Wenig später musste meine Mutter meinen Vater opfern. Ich war dabei, als klei–“, weiter muss ich nicht reden.
Tränen sprechen für sich. Von irgendwoher dringen Roys und Juuhos Stimmen an mein Ohr, doch sie blenden aus. Ich kann sie nicht hören. Ich kann sie nicht sehen, so sehr ich das auch will. Es legt sich ein neues Bild vor meine Augen.
Der dunkle Keller, in dem ich und meine Schwester gefangen gehalten wurden. In der Mitte ein Altar, um diesen Altar herum abertausende von Sitzmöglichkeiten. Stühle. Kissen.
Als die Tür aufgerissen wird, begriffen Ivonne und ich. Mit hastigen Bewegungen eilten wir zu zwei der Kissen. Es ging wieder von vorne los. Ich hielt ihre Hand. Wir waren beide jung. Sie war sieben, ich war gerade mal vier. Zwei Jahre später würde ich sie töten müssen, doch das war mir noch nicht bewusst.
Und so hielt ich ihre Hand, während eine Person in dunkler Kutte in den Raum gestoßen wurde. Unachtsam, wie dies an der Tagesregelung war. Dann vernahm ich auf einmal ein schrilles Schluchzen – die Stimme meiner Mutter.
Und ich war nicht der einzige. Ivonne klammerte sich fest an mich. Flüsterte ein leises, verängstigtes: „Mama?“
Doch ich konnte nichts weiter tun, als ihr durch das Haar zu fahren. Ich selbst durch litt in diesem Moment panische Angst - mein Atem kam nur stoßweise, meine Hände schwitzten, mein Magen krampfte. Mir blieb die Luft weg, wurde schwindelig. Ich hatte überhaupt keine Ahnung was vor sich ging.
Erst als sich alle der Leute, die meine Mutter und den Mann in Kutten begleitet hatte, gesetzt hatten, wurde mir klar, warum meine Mutter noch immer stand.
Ich musste markerschütternd aufgeschrien haben. Und Ivonne musste geheult haben. Sie hatte noch keine Ahnung, warum, aber sie hatte es wohl im Gefühl, dass etwas passieren musste.
Mutter versuchte, uns zur Ruhe zu bringen, aber sie zitterte selbst so sehr und konnte nicht sprechen. Zu groß die Angst vor dem, was kommen würde.
Dann tritt ein weiterer Mann ein. Unter einer schwarzen Kutter verhüllt. Symbolisch hält er eine Sense in der Hand. Ich hörte mich selbst schreien, und dann beginnt der Mann zu sprechen.
Ich verstumme. Der Mann ist mächtig, das weiß ich.
„Meine Satansschüler. Wir treffen uns heute hier um zu vergelten, was vergolten werden muss. Roald Nyström, rechtlich angetrauter Ehemann von Inari Aatami und Vater von Ivonne und Elias Nyström Aatami hat vor weniger als drei Tagen verkündet, er möchte aus der Gemeinschaft der Satanisten austreten. Wie wir jedoch wissen fordert Satan jeden seiner Söhne ein. Junge Menschen werden von uns zurückgeholt, Menschen wie Roald jedoch, die weit über zwanzig Jahre im Dienst des Satans standen, solche Menschen fordert der Herr, unser Satan, vollends. Heute versammeln wir uns, um Roald Nyström mit dem zu sühnen, was er auch verdient. Seine Frau Inari ist für die Tat vorgesehen. Gibt es weitere Freiwillige?“
Es herrscht Stille. Der Mann mit der Sense tritt hinter den anderen Mann in Kutte. Zieht ihm die Kapuze vom Gesicht und entlockt Ivonne somit ein ohrenbetäubendes Heulen. Was ich in dem Moment fühle …
„Elias…“, Roys sanfte, beruhigende Stimme. Ich will sie hören, doch sie ist so unglaublich weit weg. Ein erneutes „Elias!“, lässt sie immer weiter kommen, immer näher. Ich flehe. Ich flehe, dass die Stimme mich erreichen kann. Dass ich nicht hier in dieser Welt aus…
„ELIAS!“, ich werde durchgerüttelt. Roys Stimme ist nicht mehr ganz so sanftmütig, mehr von Angst und Furcht gezeichnet.
Schnappe nach Luft. Höre, wie Roy aufseufzt.
„Verdammt, Elias. Was machst du für Sachen?“, er atmet hektisch, panisch schon fast.
In seine innere Welt zu versinken und seine Ängste auf tausende von Meilen zurückzulassen.
Hier rennt die Zeit nicht. Hier rennt die Zeit nicht.
So oft haben sie mich doch verlassen, alleine im Mondlicht. Mich, den Mann. So fragil und ohne eine Realität, wie er hier steht. Alles, was kam, waren die schwarzen Wolken.
Sie brachten die Hoffnung.
Ich klammere mich an ihn. Merke erst jetzt, dass ich fast die ganze Zeit über nicht geatmet hatte. Schnappe immer wieder nach Luft, schluchze zwischendrin auf. Meine Mutter musste meinen Vater töten. Ich habe es gesehen, ich war dabei und hatte assistieren müssen. Ich hatte mich mehrmals übergeben, aber das hatte niemanden interessiert. Alles, was wichtig war, war, Satan seinen Sohn zurück zu geben.
Ivonne hatte geweint, und es war in panisches Geschrei ausgeartet. Obwohl sie älter war als ich konnte sie nicht begreifen, was von statten ging. Wahrscheinlich war sie seelisch oder psychisch behindert gewesen. Geistig zurückgeblieben, einfach, wie viele Kinder das waren. Heutzutage.
Aber diese Behinderung, diese Art, wie sie war, sollte auch sie später in den Tod treiben. Im Alter von Sechs Jahren hatte ich meinen ersten Mord an einem Menschen begangen. Jahre vorher schon an Tieren. Ich musste meinen Hamster töten. Musste ihn vor der Menge hinunterschlucken.
Hätte ich mich erbrochen, hätte ich meine eigene Kotze trinken müssen.
Mutter hatte den Grotto so oft angefleht. So oft angefleht, dass Ivonne und ich von der Satanskirche freikommen dürften. Er hatte gelacht und gemeint, würde sie ihre Tochter opfern, dann käme der Junge frei.
Sie wurde später nicht mehr gefragt. Irgendwann wurde Ivonne von den Ketten genommen, die uns Tag für Tag daran hinderten, weiter im Raum herum zu laufen wie bis zu den Sitzkissen. Sie wurde fort genommen aus dem Raum. Erst hatte ich mich gewundert.
Dann waren sie wieder alle eingetreten, fein säuberlich und in Reihe. Und dann kam ein Kind herein. In Kutte – in derselben Sekunde wird mir wohl klar, dass es sich um Ivonne handelt. Ich wurde von den Ketten losgemacht. Bekam ein Messer in die Hand gedrückt.
Alle um mich herum sassen. Nur ich stand alleine herum. Sah mich panisch um, doch niemand war bereit, mir zu helfen. Meine Mutter hatte das Gesicht hinter ihren Händen versteckt. Wollte nicht sehen, was passieren würde.
Wahrscheinlich liefen mir Tränen über die Wange, als der Sprecher, der Mann mit der Sense, ein „Töte!“ von sich gibt.
Und frei, frei war ich doch trotzdem nicht.
„Hej, Hej! Elias!“, anscheinend hatte Roy mich von sich gestoßen, war aufgestanden und hatte sich vor mir niedergekniet. Jedenfalls fühle ich bald, wie er mich in die Arme schliesst. Die Wärme ist ungalublich. Zum ersten mal seit langem fühle ich, dass es wieder besser wird.
Einfach alles.
„Sh, Liebling. Ist ja gut.“, wieder seine Stimme, so warm und angenehm, dass sie schon fast eine hypnotisierende Wirkung auf mich hat. Ich kann gar nicht anders, als mich zu beruhigen. Als mich langsam wieder besser zu fühlen.
Ich lasse mich vollends in deine Arme fallen, schluchze erneut auf. Um das letzte, noch so tief versteckte, schlechte Gefühl los zu werden. Dann verebbt das Meer von Tränen in meinen Augen, während Roy mir noch immer beruhigend über de Rücken streicht.
Als er mir einen Kuss auf die Lippen drückt, furchtbar zärtlich, erwidere ich nicht. Danke ihm aber mit einem Nicken. Mit einem Nicken mit geschlossenen Augen. Er versteht.
Lässt mich los. Setzt sich erneut neben mich und greift nach meiner Hand. Lächelt mich an, und ich bringe ein schwaches Lächeln als Erwiderung zustande. Wenigstens…. Konnte ich…
Juuho nimmt auf dem Tisch vor dem Bett Platz. Es ist alles genau wie in dem Zimmer, das ich bewohne. Exakt die gleichen Bilder, exakt die gleiche Einrichtung. Wahrlich interessant, dass mir das erst jetzt auffällt.
Er legt mir die Hand auf das Knie, Juuho. Seufzt und sieht mich an, alles, was seine Augen widerspiegeln ist tiefenloses Bedauern und schier grenzenloses Mitleid.
„Also bist du nach wie vor bei den Satanisten, obwohl du eigentlich… den Sold gezahlt hattest und hättest austreten sollen?“
Ich nicke.
„Aber sie lassen mich nicht. Ich muss weiter dort hin, weißt du? Ich muss weiterhin dort hin, ich muss weiterhin irgendwelche Opfer leisten. Ich muss weiterhin mit diesem Blut an meinen Händen leben, das ist nicht vorzustellen, wie das ist. Ich vergesse es oft, aber ich muss… und ich kann… Zum Beispiel auch kein Fleisch essen, weil ich weiß, wie es ist, wenn man… einen Menschen tötet. Es ist doch so, dass in der satanischen Sekte kein Unterschied zwischen Mensch und Tier gehalten wird. Deswegen würde ich mich so fühlen, als ob ich… Einen Menschen…“
Ich stocke. Es kommt mir unsinnig vor, was ich von mir gebe. Obwohl ich genau weiß, dass es stimmt, was ich sage. Und dass es mir jedes Mal aufs Neue zu schaffen macht. Jedes Mal, wenn ich jemanden sehe, der Fleisch isst, dann… habe ich dieses Bild vor meinen Augen. Dieses irrsinnige Bild, dass dieses Stück Fleisch von einem Menschen stammt.
Wie dieser Mensch getötet wird, wie ihm das Messer in die Kehle gerammt wird, während man ihm in derselben Sekunde den Bauch aufschneidet, um sich an den Innereien zu weiden. Wie dieser Mensch schreit, während man auf ihn einredet, dass er in wenigen Stunden bei einem seiner Mitmenschen auf dem Teller liegt.
Roy seufzt schwer, drückt meine Hand nur fester: „Es tut mir so wahnsinnig Leid für dich. Aber ich habe das alles nicht gewusst. Ich… - natürlich wäre es dir schwer gefallen, darüber zu reden, aber… Elias, ich wusste gar nicht, was du… noch durchgemacht hast, zu deiner Krankheit, zu deinen … Es tut mir wahnsinnig Leid, aber wenn ich das gewusst hätte, ich hätte doch… so einiges ändern…“
Seine Stimme bricht, und als ich mich zu ihm wende, sehe ich, wie ihm die Tränen nur so über das Gesicht strömen. Dabei war das nicht das, was ich bezwecken wollte. Ich wollte… doch eigentlich gar nicht… über dieses Thema sprechen, und nun…
Der Hass kommt auf. Der unwahrscheinliche Hass auf mich selbst. Jedes Mal aufs Neue, wenn ich ihn weinen sehe. Wenn ich weiß, dass ich das hätte verhindern könnte. Gekonnt hätte. Wenn ich seine Tränen fließen sehe, wenn ich weiß, dass ich ihn hätte trösten können. Wenn ich Dinge gesagt habe, die ihn zum Weinen brachten.
Ich bin ein furchtbar egoistischer Mensch, und ich bin es auch schon immer gewesen. Ein Egoist. Ein Egoist ist ein Mensch, der von seinem hassenswerten Ich flieht. Ein Egoist versucht nicht, so zu leben, wie er das will. Ein Egoist versucht tatsächlich eher, andere dazu zu bewegen, zu leben, wie er will.
Ich habe immer versucht, andere zu ihrem Glück zu zwingen. Konnte nie mit ansehen, dass es Menschen schlecht ging. Zuerst hielt ich dies für einen edlen Charakterzug – wie alle anderen um mich herum auch. Bis ich begriff, dass ich die Leute nicht leiden sehen kann, weil ich das nicht will.
Ich will nicht sehen, dass es anderen Menschen schlecht geht. Ich will nicht sehen, dass Menschen Probleme haben. Ich war nie der Typ Mensch, der versucht hat, mit seinen Freunden über ihre Probleme zu reden.
Ich war schon immer der Typ Mensch gewesen, der den Menschen aus dem Weg ging, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatten, bis sie ihre Probleme vergessen hatten.
Ich konnte mir nie anhören, warum es ihnen schlecht ging. Nicht, weil mich das nur allzu sehr hinuntergezogen hätte, sondern weil es mich gelangweilt hat. Ich wusste doch, dass niemand meiner Leute mit unerkannter Schizophrenie zu kämpfen hatte.
Mit dieser Schwere.
Dieses endlose Herzschmerzdrama anderer Menschen ging mir schon immer wahnsinnig gegen den Strich. Sollten sie doch froh sein, dass sie leben durften, und nicht grausam hingerichtet wurden, wie die Opfer meiner Taten.
Es würde immer ein Mensch kommen, der den Partner vor sich ersetzen konnte. Es war wie mit Maschinen. Ging der vorherige Computer zu Bruch, kam wenige Tage ein neuer, besserer daher. Im Grunde genommen konnte man Menschen also mit Maschinen vergleichen.
Man kann es noch immer. Nur, dass Menschen Gefühle besitzen. Gefühle, die in der heutigen Gesellschaft so wie so entweder viel zu überbewertet oder unterdrückt werden.
Es hat mich noch nie sonderlich interessiert, ob Menschen Stress mit anderen Menschen hatten. Denn Menschen waren doch wie Maschinen. Loggte ich mich in meinen Messenger ein und sah in den Statusnachrichten diverser Personenüberaus aufschlussreiche Nachrichten wie:
„Oh Schatz, ich liebe dich für immer, nichts wird uns trennen.“
Oder:
„9.5.2010, bester Tag für immer, lieb dich so sehr, aber jetzt haben wir Streit und alles ist Scheiße, aber ich liebe dich doch so!“,
und wenige Minuten später das unmittelbar darauffolgende:
„Jetzt ist alles aus, und ich liebe dich auch nicht mehr, Arschloch.“
Konnte Persona A mit Sicherheit den Kontakt mit mir an diesem Tag vergessen. Mag sein, dass es ignorant rüberkommt. Ignorant, und egoistisch und…
Womit wir wieder am Anfang wären. Jeder Mensch ist Egoist. Allein mit Aussagen wie „Wenn ich du wäre, würde ich X und Y aber eher wie A und D machen“, zeigt Mensch, dass er das Leben eines anderen lieber mit seinen eigenen Regeln unterdrücken will.
Träumt nicht jeder Mensch zum Zeitpunkt XY davon, wie es wäre, wenn er die Welt besitzen würde? Warum auch nicht, immerhin könnte man dann ja eine Welt nach seinen eigenen Regeln entwerfen.
Im Grunde meines Herzens hasse ich Menschen. Verstehe nicht, warum ein Menschenleben so oft an erster Stelle gestellt wird.
Um genau zu sein ist der Mensch eine Missbildung, eine Entartung der Natur. Weiter auf meine misanthropische Ader möchte ich allerdings nicht einsteigen. Grob gesagt bin ich ein Mensch wie alle anderen, grausam, egoistisch und mit Blut an den Händen. Wahrscheinlich bin ich noch schlimmer, weil ich es erkenne. Weil ich zudem das Böse im Menschen erkenne.
Natürlich hat auch… Roy seine Fehler, ist ein genau solcher Frevel wie jeder weitere Mensch auch. Doch er bemüht sich, er hat erkannt, wo seine Fehler liegen. Versucht, diese zu verdecken. Versucht, besser zu sein, als er sein kann.
Vielleicht ist dieser Reichtum an Wissen der Grund, warum ich ihn lieben kann.
Meine Gedanken kehren erst wieder vollständig in den Raum zurück, als die Tür ein erneutes Mal aufgestoßen wird. Dass es keiner der Betreuer ist, ist mir klar. Dieser würde anders in den Raum kommen. Nicht still. Nicht so leise.
„Juuho?“,
Der Besitzer der Stimme muss furchtbar schüchtern sein. Als er mich und Roy sieht, bleibt er stehen. Sperrt die Augen weit auf und errötet. Wirft einen schüchternen Blick zu uns, lächelt zaghaft und dreht sich dann zu Juuho. Verharrt Wortlos.
Ich habe ihn noch nie gesehen. Schade, im Grunde genommen, denn der Fremde ist wirklich hübsch. Tiefschwarze Haare mit einem blonden Absatz bis kurz über die Ohren, nach hinten hin kürzer werdend. Die Ohren gepierct. Zwei Piercings rechts, drei Piercings rechts.
Selbst um diese Herrgottsuhrzeit ist der Fremde geschminkt – die Augen mit schwarzem Kajal dunkel untermalt, die Lippen ungewöhnlich rot, wobei nicht wirklich zu sehen ist, ob sie geschminkt oder einfach nur gut durchblutet waren.
Gekleidet komplett in Schwarz. Es ist doch ein recht seltsames Outfit für diese Uhrzeit, denn tatsächlich trägt er selbst jetzt noch eine schwarze Jeans mit Silberketten an der Seite und nichts weiter als ein dünnes Netzoberteil mit undurchsichtigen Longshirt-Armen.
Er hat ein hübsches Gesicht. Tiefblaue Augen, die jetzt allerdings etwas müde wirken. Eine schmale, hübsche Nase und nur allzu wohlgeformte Lippen, die wie die Roys im perfekten Gleichgeweicht zwischen schmal und voll pendelten. Gepierct. Ein schlichter Ring am linken Mundwinkel.
Er heißt Sauli. Sauli Heinonen und ist gerade Sechzehn geworden. Vor drei Tagen war er noch fünfzehn. Spontane Eingebung. Aber ich weiß, dass es stimmt.
Juuho lächelt, tritt von hinten an den Jungen heran. Legt ihm die Arme um die Taille. Er scheint glücklich, und ich kann mich für ihn freuen. Ich möchte nichts an seinem Zustand verändern. Es passt gerade nur alles allzu perfekt.
„Das ist Sauli“, er lächelt, während er den schmalen Jungen noch etwas näher an sich zieht. Auch Sauli lächelt, lässt ein stummes: „Hallo.“, über seine Lippen gleiten. Er hat eine wahnsinnig melodische Stimme.
Dann ein: „Ich glaube, ich bin ziemlich ungelegen gekommen, oder?“
Roy wischt sich die Tränen vom Gesicht. Versucht, zu lächeln und schüttelt dann den Kopf. „Ungelegener hättest du nicht kommen können. Hey. Ich bin Roy!“, er streckt Sauli die Hand entgegen.
Komisch. Wahrscheinlich hatte er immer noch nicht gelernt, dass man sich in Finnland nicht so begrüßt. Oder man tut es in Schottland so. Und er wollte es nicht zugeben. Damals.
Sauli gibt ihm die Hand, schüttelt sie kurz. Und lässt sie dann wieder los.
Lächelt mich an. Noch nie in meinem ganzen Lächeln habe ich ein so schüchternes Lächeln gesehen. Wahnsinnig zurückhaltend. Lässt ihn unwahrscheinlich hübsch aussehen.
Ich wage es nicht, ihn anzufassen.
Lächle, lasse ein fast schon stummes: „Ich bin Elias“, über meine Lippen gleiten. Er macht mich verlegen. Unwahrscheinlich verlegen und nervös. Irgendetwas zieht sich in mir zusammen.
Er nickt nur, lächelt und schlägt die Augen nieder. Juuho sagt irgendetwas, das klingt wie: „Von ihm habe ich dir ja bereits erzählt.“
Dann wird mir schlecht und ich muss aufspringen. Mein Körper, meine Füße, sie tragen mich. Vom Bett weg, an Sauli und Juuho vorbei. In das kleine Bad.
Ich muss mich übergeben. Während mir das Erbrochene immer und immer wieder wie stoßweise über die Lippen läuft, kommen auch die Tränen wieder.
Meine Hände krallen sich an die Klobrille. Ich zittere. Weiß nicht, ob ich wütend oder traurig bin. Oder beides.
Dann sind da eine Hand auf meinem Rücken und eine Stimme an meinem Ohr. Es ist Roy. Seine Stimme kommt mir auf einmal unnahbar und weit entfernt vor. Vielleicht will ich seine Stimme nicht hören.
Ich richte mich auf.
Ich will fort, ich will raus. Raus aus meiner Haut. Raus aus der Psychiatrie. Raus aus meinem Leben. Eigentlich will ich mich umbringen. Aber hier gibt es nichts, wie… womit…
Als ich die Hand anhebe, um meine Zähne im Gelenk zu versenken, schlägt Roy mich. Nicht sanft, nicht vorsichtig. Mit der geöffneten Hand mitten ins Gesicht. Ich stöhne auf.
Es tut weh.
„Hör auf mit der Scheiße!“, wieder weint Roy. Zumindest treten ihm Tränen in die Augen. Im Grunde genommen ist es mir egal. Wenn er doch ein Mensch ist, wie alle anderen auch, so soll er genauso leiden müssen wie die anderen.
Ich leide doch auch. Wieso sollte ich… und wieso sollte er nicht?
Ich gehe wortlos an ihm vorbei. Sehe keinen Grund, mit ihm zu sprechen. Als ich das Zimmer verlassen will, stellt sich Juuho vor mich.
Versperrt mir den Weg.
Ich schlage die Augen nieder. Ich will ihn nicht sehen.
Dann Sauli. Ein zaghaftes: „Also…“, doch dann scheint er nicht zu wissen, was er sagen will. Es reicht. Ich öffne die Augen wieder. Wische mir die Tränen vom Gesicht. Schüttle den Kopf.
Beiße mir auf die Unterlippe. Es beginnt zu bluten, und ich begreife, dass sie eine Erklärung wollen. Oder eine Entschuldigung.
Ich will sie ihnen abgeben. Will ihnen erklären, was gerade vorging. Will mich entschuldigen. Aber ich weiß nicht, wofür. Ich habe keinerlei Ahnung, was gerade passiert. Was passiert war. Warum ich…
Es ist Sauli, der zögernd eine Hand auf meinen Oberarm legt. Ich beginne zu zittern. Es ist mir egal. Sauli zittert auch. Ich sehe ihn an, und ich sehe, dass er etwas sagen will. Seine Unterlippe zittert.
Ich greife nach seiner Hand, als er mich loslassen will. Lasse den Blick sinken und schließlich Saulis Hand dann doch los.
Murmle ein leises ‚Sorry‘ und versuche dann, möglichst unbemerkt, den Raum zu verlassen. Dann wieder – Saulis Hand auf meinem Oberarm. Er hält mich zurück.
Ich drehe mich um, mustere ihn genau. Er ist wahnsinnig schmächtig. Nicht magersüchtig, dennoch bedenklich dürr. Und nur ein Netz über seinem Oberkörper. Er friert mächtig, die Gänsehaut auf Brust und Bauch verrät das nur allzu deutlich. Wie die harten Brustwarzen. Ein flüchtiger Blick auf seine Hose. Er friert nur.
Das Blut, das mir in den Mund läuft schmeckt salzig, nicht metallisch, und in der nächsten Sekunde schließt Sauli mich in seine Arme.
Unbeschreibliche Wärme umschließt mich. Als ob wir uns schon ewig lange kennen würden. Diese innere Bindung ist unbegreiflich stark. Er streicht mir mit der flachen Hand über den Rücken. Lehnt sich gegen mich. Er spürt sie auch, die Bindung.
Er seufzt auf, ich schließe die Augen. Drücke ihn vorsichtig noch etwas näher an mich heran. Er fühlt sich gut an, so wahnsinnig gut. Die Schauer, die seinen zierlichen Körper durchziehen, sie lassen nach.
Wir verharren. Zwar sehe ich es nicht, doch vorstellen kann ich mir nur allzu gut, wie entgeistert Juuho und Roy nun dreinschauen müssen.
Es ist mir egal. Ich atme seinen Duft ein – Kein Parfum, nur ein wohlige Körperduftnote.
Er lässt mich los. Sieht mit an und lächelt stumm. Als ich sein Lächeln nicht erwidern kann dreht er sich zu Juuho, welcher ihn endgeistert anstarrt.
„Kennt ihr… euch?“,
Wir schütteln beide den Kopf.
Wieder berührt er mich. Nur flüchtig streifen seine Finger mein Handgelenk. Als ich ihn ansehe, zuckt er zusammen. Lächelt scheu.
Ich muss lächeln. Er steht da, schaut mich an, aus großen Augen und mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen. Er macht mir den Eindruck wie… Kommt mir… Sein Anblick lässt sich mit dem eines Rehs vergleichen. So schmächtig, scheu und großäugig.
Sein Blick pendelt zwischen mir und Juuho hinterher. Dieser lacht auf und legt erneut seine Arme um die Taille Saulis.
„Du kannst deine Augen wohl nicht von Elias lassen, was? Ich habe dir doch schon gesagt, dass er wahnsinnig gut aussieht.“
Ich erröte, und Roy feixt. Weil ich es ihm immer ausrede, wenn er mir sagt, dass ich gut aussehe. Weil ich keine Komplimente hören will. Mich immer wieder hinter XXL-Sonnenbrillen und vorhängenden, langen Haaren verstecke.
„Komm aber gar nicht erst auf falsche Gedanken, mein Lieber!“, nun zieht auch Roy mich nahe an sich heran: „Der gehört schon mir.“
Ich will mich abwenden, von ihm los sein und ihn fragen, was er sich einbildet. Ob ich sein Eigentum bin, ob er das wirklich denkt? Ich bin ein freier Mensch. Ein Mensch, der ihm vielleicht die Liebe geschworen hat. Weil ich ihn wirklich liebe. Aber nie, nie habe ich gesagt, dass ich ihm gehören würde. Dass er frei darüber entscheiden dürfe, mit wem ich Umgang habe und mit wem nicht.
„Nee.“, Sauli grient, dreht sich vorsichtig, dann legt er seine Arme ebenfalls um die Taille Juuhos: „Wäre ja nicht so, dass ich nicht auch vergeben bin. Mach dir um Elias… mal keine Sorgen.“
Sie küssen sich. Beide schließen sie die Augen, doch der Kuss währt nicht lange. Sie lösen sich rasch, doch dieser eine Kuss, er… lässt mir die Galle hochkommen. Mir wird übel und schwarz vor Augen zugleich. Nur allzu gerne hätte ich…
Stimmen. Von ganz weit entfernt. Sie kommen immer näher, und so tun es auch die drei verschwommenen Gesichter vor meinen Augen. Ich höre Roy:
„Er hat die letzte Zeit wohl wenig Schlaf bekommen. Drei oder vier Nächte war er draußen auf dem Balkon – ich denke nicht, dass er bei dem Regen und der Eiseskälte sonderlich gut geschlafen hat.“
Dann Juuhos:
„Gegessen hat er auch nicht sonderlich viel. Und sich dann vorhin doch auch noch übergeben. Vielleicht ist es einfach nur ein Schwächeanfall – vielleicht hängt diese Schwäche zusammen mit dem, dass er heute einen Anfall nach dem nächsten durchleidet.“
Und dann Sauli, zögernd nur, mit zitternder Stimme:
„Er… Es… wird ihm doch wieder besser gehen, oder? Geht es ihm… immer so schlecht?“
Ich blinzle. Richte mich auf. Anhand des Handys, dass auf dem Bett liegt, erkenne ich, dass ich in meinem Zimmer bin – weiß der Teufel wie ich dorthin gelangt war. Vielleicht hatten sie mich getragen.
Kaum nehme ich meine Umgebung wieder deutlich wahr, schwafelt Juuho auch schon auf mich ein:
„Du, uns reicht’s. Wir holen den Arzt und nehmen den ganzen Scheiss auf uns, den wir uns damit eingebrockt haben. Mir Sauli können wir dich alleine lassen, oder? Er frisst dich schon nicht.“
Ich nicke wie betäubt und lasse ein lautloses ‚Okei‘ über die Lippen gleiten. Mit Sauli alleine – dem stimmte ich nur allzu gerne zu. Endlich eine Tatsache am heutigen Tage, mit der ich mich problemlos abfinden kann.
Sie verlassen den Raum und der zierliche Junge setzt sich neben mich. Sieht mich an, und als ich den Blick erwidere, senkt er den Kopf. Errötet. Vielleicht schämt er sich, weil er mich angesehen hat. Vielleicht denkt er, so etwas tut man nicht und er hat sich gerade … blamiert oder geniert, zum Affen oder schlechten Menschen gemacht.
„Wie alt… bist du eigentlich?“
„Ich bin vor ein paar Tagen Sechzehn geworden. Ganz jung also noch. Wie alt bist du?“, seine Stimme ist leise und gedrückt. Ein durchaus interessantes Verhalten, habe ich doch keine Ahnung warum. Wir sind alleine und sprechen nur über das eigene Alter.
„Sechzehn, aber auch noch nicht sonderlich lange.“, ich nicke, um meinen Worten Bekräftigung zu schenken. Als ob sie das nötig hätten, als ob Sauli mir das nicht glauben würde, was ich erzählt habe.
„Du siehst älter aus…“, er faltet seine Hände unruhig, schaut immer wieder von ihnen zum Boden, vom Boden zu seinen Händen, von seinen Händen zu mir und dann wieder zu seinen Händen. Ich muss erneut lächeln.
„Das sagen viele. Aber glaub’s mir ruhig.“
Stille. Dann…
„Ich glaube, dass ich … dich gern habe, weißt du? Es ist einfach beschissen zu erklären, aber… da ist was, ich hab‘ was gespürt, so eine tiefe, innere…“
Er errötet als er es sagt. Ich jedoch beginne, ihn unverblümt an zu starren.
„Also hast du es auch gemerkt, ja?!“, eine rein rhetorische Frage, schließlich kenne ich die Antwort ja schon allzu gut.
Vielleicht klinge ich zu harsch.
Dann greift er nach meiner Hand. Umschließt sie mit den beiden seiner. Zögert, lächelt dann. Die Tränen schimmern in seinen Augen, doch zu stören scheint es ihn nicht. Im Gegenteil beugt er sich zu mir vor.
„Es tut mir Leid, was ich jetzt mache. Hab‘ bitte keinen falschen Eindruck von mir. Normalerweise mache ich sowas nicht. Aber bei dir – das muss ich einfach tun, ich kann nicht an…“,
Er kommt nicht weiter. Zuvor hatte ich ihm schon meine Lippen auf die seinen gelegt. Sehe ihn nun an, resigniere, dass er die Augen schließt und spüre, wie er den Druck, den meine Lippen auf seine ausüben, sanft erwidert.
Mein Herz klopft, geht ungewöhnlich schnell. Ich lege meine freie Hand, die, die nicht von den seinen umschlossen wird, auf seinen Rücken und ziehe ihn vorsichtig zu mir. Es ist nicht falsch, wir tun das Richtige.
Beide haben wir gespürt, dass da eine innere Bindung war. Beide waren wir überzeugt, dass sie tiefer liegt. Und jetzt, jetzt sind wir hier.
Dann lässt er von mir ab: „Wann hat Roy morgen Therapie?“
Ich zögere, versuche, mich daran zu erinnern, was er sagte. Murmel dann ein: „Weiß nicht. Auf jeden Fall direkt nach dem Frühstück.“
„Genau wie Juuho also. Hast du… willst du…“, erneut beginnt er zu stottern, errötet noch mehr, als er es vorhin ohnehin schon tat.
Dann lässt er meine Hand los. Krallt sie in seine dünnen Oberschenkel. Scheint sich ein Herz zu fassen und lächelt erneut schüchtern: „Hast du nicht Lust, dich dann mit mir zu treffen? Im Gemeinschaftssaal zum Beispiel? Ich hätte… ich würde dich einfach näher kennen lernen.“
Ich nicke, vielleicht etwas zu hastig. Das Lächeln auf seinen Lippen wird breiter, er scheint meine Hektik also richtig gedeutet zu haben.
Sekunden später nur habe ich erneut seine Lippen auf den meinen. Ich genieße es, genieße die Nähe, die der kleine Körper mir spendet.
Stoße ihn jedoch recht bald von mir, nur vorsichtig: „Wenn Roy und Juuho… Lass uns lieber… Morgen, wenn die beiden in Therapie sind…“
Er begreift und lächelt, streicht sich nervös durch das Haar. Es bringt nicht viel – das Haar fällt erneut auf seine alte Stelle zurück.
“…Treffen!“, vervollständige ich, und Sauli nickt nur. Errötet leicht, schaut hinab auf seine dünnen Knie. Ich merke deutlich, dass er nervös ist. Dann seufzt er.
„Morgen bei mir im Zimmer nach dem Frühstück? Ich hab die Nummer Einhundert-Achtundzwanzig. Weißt du, wo das liegt?“
Ich nicke: „Das hier ist schon mein zweites Zuhause geworden. Ich kenne mich hier aus wie in meiner Hosentasche – nee, sogar noch mehr.“
Sauli beißt sich auf die Unterlippe, lächelt verlegen und überschlägt die Knie. Von Anfang an hatte ich sofort bemerkt, dass er nicht ganz straight ist. Die Art, sich zu kleiden und die Art, sich nervös aus dem Gespräch raus zu halten machten dies mindestens genauso auffällig wie seine Art, sich zu bewegen und auch jetzt, seine Art zu sitzen.
Ein junger, sehr unsicherer Homosexueller. Nicht auf der Suche nach Liebe oder Anerkennung, sondern nach…
Seine Finger streichen vorsichtig über meine Hand. Er schaut mich an. Beißt sich auf die Unterlippe – lächelt nervös.
Er greift nach meiner Hand, hebt sie an. Haucht mir einen Kuss auf den Handrücken. Sieht mir in die Augen, lässt mir einen warmen Schauer über den Rücken laufen.
Beugt sich vor und küsst mich. Nur vorsichtig, aber er gibt mir erneut das Gefühl einer ungeheuren Wärme.
Sein Daumen ruht auf meiner Wange, und als sich seine Lippen von meinen lösen streicht der Finger erneut darüber. Wenige Sekunden später küsst er mich erneut. Wieder und wieder.
Dann lässt er von mir ab, murmelt etwas, das in etwa wie ein „Lass aufhören damit, ja. Wegen… den beiden Anderen.“, klingt und schaut dann wieder zu Boden.
Wenige Sekunden später schaut er mich wieder an; es ist faszinierend wie oft er die Blickrichtung wechselt, wie oft er …
„Isst du morgen… wieder?“, das Haar fällt ihm ins Gesicht, und bevor er es zurückstreichen kann hat sich meine Hand schon ausgestreckt. Ihm die seidige Strähne hinters Ohr gestrichen.
Als sich mein Blick gegen Boden senkt stutzt er.
Dass ich nicht mehr essen kann scheint er nicht zu begreifen. Jedes Mal wenn ich etwas zwischen die Zähne nehmen soll schlägt mein Magen um. Sagt mir, dass ich nichts essen darf – dass ich in der Vergangenheit zu viel falsch gemacht hätte.
Und er… er sagt mir so wie so, dass ich zu viel wiegen würde, dass ich schlicht und einfach zu fett bin. Ich weiß doch, dass er Unrecht hat, dass ich stark untergewichtig bin und dass auch Roy seit Monaten an mich heranredet, dass ich doch bitte mehr essen sollte.
Aber er, er ist stärker, da oben in meinem Kopf – er kann so laut werden, dass alles andere übertönt wird. Dass…
Saulis feingliedrige Hand findet ihren Weg auf meinen Unterleib, streicht vorsichtig hinauf, über den Bauchnabel hinauf zur Halsbeuge. Jeder Zentimeter meiner Haut, die er mit seinen Fingern berührt, scheint zu brennen.
Er lässt die Hand in der Halsbeuge ruhen, zieht mich zu sich hinunter, und ehe ich etwas sagen kann küsst er mich vorsichtig. Berührt meine Lippen immer wieder mit seinen, verharrt nach einer kurzen Zeit und beißt dann vorsichtig in meine Unterlippe.
Lässt mich unter dem nur allzu süßen Schmerz leise seufzen. Fast will ich nach mehr verlangen, dann jedoch verwerfe ich den Gedanken.
Ich will etwas sagen, als er wieder von mir ablässt. Will ihn fragen, warum er eigentlich hier ist – und zwar offensichtlich das erste Mal. Seine Orientierungslosigkeit und der Nervosität zufolge – er wäre der einzige, der schon eine Weile oder bereits das zweite Mal hier ist, ohne seine Scheu verloren zu haben.
Aber meine Lippen und die Zunge machen sich selbstständig. Anstelle der Frage, die ich ihm stellen will kommt…
„Hattest du schon Sex?“
Er ist mindestens genauso von dieser Frage verwirrt wie ich – doch er nickt. Nimmt seine Hand von meiner Halsbeuge und faltet sie in seinem Schoss zusammen.
Er errötet, nickt dann aber: „Schon oft. Auch schon vor meinem Aufenthalt in der Psychiatrie hier, da war ich mit einem Kerl aus meiner Schule… nun ja, nicht zusammen, aber wir… hatten regelmäßig Sex, so drei bis vier Mal in der Woche. Und seit ich hier bin auch vermehrt. Es gibt hier einen Typ, der…“
„Juuho?“
„Um Gottes Willen, doch nicht Juuho. Juuho ist nicht so – nur für Sex, ich bin mit ihm zusammen, aber er möchte das nicht. Ist schon in Ordnung.“
Ich stutze, sehe Sauli noch einmal an. Wie, um mich zu vergewissern, dass er das tatsächlich gerade gesagt hatte.
„Juuho und ich - das war früher nicht einmal eine Beziehung. Oder einer Freundschaft, wir haben uns einfach nur getroffen, um…“
„Shh.“, Sauli legt mir einen Finger auf die Lippen, dann beugt er sich zu mir vor und küsst mich. Sieht mich an, verzieht die Lippen zu etwas, das ein Lächeln darstellen soll – und trotzdem ist es furchtbar missraten: „Ich will‘s gar nicht wissen. Ich… darf ihm wehtun, aber Sex will er nicht. Also… lassen wir das Thema … bitte?“
Ich nicke. Erröte. Es ist mir unangenehm, und trotzdem weiß ich nicht warum.
Ich darf ihm wehtun, aber…
Die Narben an seinem Hals, an Juuhos Hals. Die Wunden und die langen Narben, die sich über den Hals und den Nacken erstrecken. Sie sollen also von… Sauli sein?
„Wenn du willst...“, er errötet, schaut zu Boden, während er weiterspricht: „Ich hätte nichts dagegen, wenn ich … wenn du willst, dass wir…“
„Miteinander schlafen?“, vervollständige ich. Dass ich dabei nicht rot werde oder irgendwie herumdruckse. Wie sonst auch.
„Ja, also… Ich hätte nichts dagegen. Also… ich… Ich würde gerne mit…“
Meine Hand greift nach seiner, und er hebt den Kopf. Sein Gesicht ist rot, wahrscheinlich war ihm alles Blut aus sämtlichen Körperregionen gerade in den Kopf geschossen.
Er schlägt die Augen nieder.
„Lass uns irgendwann einen Zeitpunkt finden, ja?“
Sekunden später habe ich erneut seine Lippen auf den meinen, und seine Zunge gegen der meinen. Ich spüre, wie er all seinen Elan in den Kuss legt, wie er leise aufkeucht, wenn ich erwidere, wie sein Körper sich anspannt.
Ich erkenne allein an seiner Körperhaltung, dass er am liebsten geradewegs über mich herfallen würde.
Ich lege meine Hände auf seine Taille, er beugt sich über mich. Hält die Augen geschlossen und…
Schritte und Stimmen. In Lichtgeschwindigkeit hat Sauli von mir abgelassen. Sitzt nun wieder neben mir und sieht mich mit einer aufgesetzten Leidesmiene an. Er ist ein wahnsinnig guter Schauspieler. Sogar die Röte ist aus seinem Gesicht gewichen, und die Lust aus seinen Augen.
Sekunden später stehen sie im Raum: Roy, Juuho und Dr. Sallinen.
Roy beugt sich zu mir vor, küsst mich vorsichtig. Eigentlich will ich ihn wegstoßen, will nicht, dass er so nahe an mich heran kommt, aber meine Kräfte schwinden und ich werde immer schwächer.
Vielleicht blendet alles aus, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich ein neues Bild vor meine Augen legt.
Erst ist es nur schwarz. Dann kommen langsam Stimmen hinzu. Keine Stimmen, mehr Chöre. Gesänge – und als ich die Augen wieder aufschlage bin ich nicht länger in dem gelben Zimmer, sondern ich bin wieder da, dort, und hier gehöre ich nicht hin.
Ich will schreien und mich aus dem Griff des Mannes wenden, doch ich bin zu klein und schwach, und der Griff des Mannes ist zu fest.
Die eine Hand habe ich zu einer Faust geballt, kralle mir mit meinen eigenen Fingernägeln den Handballen blutig. Die andere Hand hatte ich fast schon verzweifelt an meinen Körper gepresst. Die Augen viel zu weit geöffnet. Ich wünsche mir in just diesem Moment, sie geschlossen zu halten.
Der Mann drückt mir ein Messer in die Hand, und ich kenne diesen Mann. Viel zu oft war er nachts bei mir. Er zählt zu diesen Männern, die man nie kennen lernen wollte – zahnlos und alt, mit Glatze und einem dennoch überall behaartem Körper.
Fast jede Nacht ist er bei mir; jede Nacht muss ich Geräusche hören, deren Existenz ich nie erfahren wollte – aber ich durchleide, weil ich muss. Sonst würde er sich an Ivonne vergreifen, und das… kann nicht, und das darf nicht…
Aber jetzt sind wir nicht alleine, und jetzt ist es auch nicht dunkel. Alles ist in ein Dämmerlicht gehüllt. Und alle 135 Menschen anwesend.
Irgendwo wimmert Ivonne. Ich versuche, es nicht zu hören, und es scheint tatsächlich zu gelingen. Da ist er wieder, da ist er, Étienne. Er redet mit mir.
Schau, jetzt darfst du töten, sagt er, und er redet mit mir wie mit einem Kind. Richtig. Ein Kind. Ich bin erst drei Jahre alt, und ich will doch nicht töten.
Ich betrachte das Messer in meiner Hand und muss weinen. Ich bin erst drei, ich bin doch erst drei. Ich schluchze, doch Étienne möchte das nicht hören.
Du verdammtes Frevelkind. Möchtest du deinem Herrn nicht den Respekt zollen, den er verdient? Bist du zu feige, um ein einziges Rind zu töten? Es ist ein Tier, ein gottverdammtes Tier!
Ich will schreien, schreien, dass doch ansonsten auch kein Unterschied zwischen Tier und Mensch gemacht wird, aber die anderen, sie hören ihn ja nicht. Vielleicht schreie ich auch, ich weiß es nicht, aber es wird alles zu viel.
Ich schreie, dass ich sterben will, dass ich nicht töten will, dass ich nicht töten kann. Dass sie meinen Körper zerreißen sollen, und dass sie mich den Tieren zum Fraß vorwerfen sollen.
Dann werde ich geschlagen.
Nicht von dem Mann ohne Zähne, sondern von irgendwoher. Niemand steht in meiner Nähe, und doch spüre ich die Schläge so real; blinzle, schlage die Augen wieder auf.
„Verdammt, was sagst du für einen Mist?“, es ist Juuho. Konnte er es einst so gut, so scheint er nicht mehr mit meiner Krankheit umgehen zu können. Jemand hält meine Hand, und es ist Roy. Roy ist es auch, der durch mein Haar fährt und etwas vor sich hin murmelt.
Es klingt beruhigend, aber mir ist nicht wirklich klar, ob er sich oder mich beruhigen will. Und Sauli steht da, gegen die Wand gelehnt. Er zittert, kaut auf den Fingernägeln der linken Hand herum und hält den linken Arm mit dem rechten an der Beuge fest.
Mittlerweile trägt er mein Stam1na-Shirt – wahrscheinlich hat einer der Anwesenden es aus dem Schrank geangelt und ihm aufgedrängt. Er musste erbärmlich gefroren haben.
Herr Sallinen stellt sich an den Rand des Bettes. Wahrscheinlich erwartet er von mir, dass ich mich jetzt zu ihm aufrichte, aber ich bin zu schwach, und außerdem hätte ich das auch nicht getan, wäre ich bei Kräften. Mit Sicherheit nicht.
Und so muss der Psychiater auf mich herunter sehen. Ich schließe die Augen. Er stört sich zwar wesentlich daran, verliert aber kein Wort darüber.
„Ich habe gerade noch mit Herrn Honkanen gesprochen, dem Arzt. Es scheint alles in Ordnung zu sein, aber er will dich morgen lieber noch einmal untersuchen. Das machen wir dann am besten nach der Therapie. Ich hole dich übrigens so zirka um zwölf Uhr ab.“
Stille, dann schlage ich die Augen auf. Der Psychiater befindet sich auf halber Strecke aus dem Zimmer heraus. Genau wie Juuho. Roy sitzt nach wie vor bei mir, und nach wie vor steht Sauli zitternd an der Wand.
„Eine gute Nacht wünsche ich allerseits, und ich hoffe, dass dieses Mal das letzte ist, in dem sie sich nachts gegen die Vorschriften treffen.“
Roy antwortet nur allzu hastig mit einem „Gute Nacht“, und auch ich murmle etwas, das in die Richtung geht.
Nur kurz nachdem der Psychiater den Raum verlassen hat legt auch Juuho die Hand auf den Türgriff: „Ich wünsche euch allen dann noch eine gute Nacht. Und ich denke, wir sehen uns dann morgen früh um acht beim Frühstück. Beziehungsweise, nachher?“
Ich nicke, hauche ein stummes: „Gute Nacht“, doch Juuho scheint es zu hören, nickt mir zu. Auch Roy murmelt ein „Bis morgen dann.“, ehe er sich wieder mir zuwendet, mir einen Kuss auf die Lippen schenkt.
Ich sehe hinüber zu Sauli. Er steht noch immer an der Wand und kaut noch immer an den Fingernägeln herum, sein Blick ist zu Boden gesenkt und er macht keinerlei Anstalten, Juuho zu folgen.
Als dieser ihn mit einem: „Kommst du?“, darauf anspricht, schüttelt Sauli nur den Kopf.
„Nun gut.“, es macht den Anschein, als ob Juuho nur liebend gerne etwas hinzugefügt hätte, doch er schweigt.
„Ich möchte mit Elias noch einmal reden – unter vier Augen dann. Noch was fragen. Soll ich… danach zu dir kommen?“
Juuho schüttelt den Kopf: „Ist schon gut, Liebes. Wir treffen uns dann einfach morgen früh beim Essen, ja?“
Dann verlässt er das Zimmer. Ohne einen weiteren Blick auf uns zu werfen, ohne eine weitere Gestik oder ein weiteres Wort.
Und in derselben Sekunde, in der auch die Tür ins Schloss fällt, steht Roy auf und geht vor dem Bett auf die Knie. Ich richte mich auf, greife nach seiner Hand. Er lächelt, streicht mir durch das Haar. Hin- und hergerissen bin ich, ob ich seine Hand nicht einfach doch festhalten soll, aber…
„Ich lass euch alleine, wenn Sauli noch etwas mit dir besprechen will. Außerdem muss ich ja aufpassen, dass man mich nicht erwischt. Immerhin muss ich ganz ans andere Ende. Also, Ich wünsche dir eine gute Nacht, ja? Träum was Schönes, und vielleicht kann ich ja morgen mal bei dir übernachten, wenn du willst!“
„Ich liebe dich.“, mehr kann ich nicht über die Lippen bringen. Ein erneutes „Ich liebe dich!“, nur gehaucht und kaum hörbar. Meine Hand streicht über seine Wange.
„Ich liebe dich auch, Elias. Mehr als alles andere, ja.. Oh, Elias. Jetzt…“
Mein Körper beginnt, unkontrolliert zu zittern. Mir wird schlecht und die Farben verschwimmen vor meinen Augen. Ein leises Stöhnen verlässt meine Kehle, wo es doch eigentlich „Nicht schon wieder“, hätte bedeuten sollen.
Roy ist schneller, schließt mich in seine Arme und fährt mir mit den Händen vorsichtig über den Rücken. Tatsächlich hört mein Körper bald wieder auf, zu zittern. Dann lässt Roy von mir ab. Streicht mir mit seinen Fingern erneut über das Gesicht und lächelt.
„Wir beide, wir machen das schon. Wir sehen uns dann morgen beim Essen, ja?“,
Roy haucht mir einen Kuss auf die Lippen, will aufstehen, verharrt dann aber: „Und Liebling, es tut mir Leid, dass ich dich geschlagen habe. Ich weiß nicht, was passiert ist…“
Ich winke ab. Vergesse nur allzu schnell, nur, um bald wieder daran erinnert zu werden. Spüre erneut seine Lippen flüchtig auf den meinen, dann sehe ich, wie er das Zimmer verlässt.
Und dann sind wir alleine, Sauli und ich. Er steht noch immer an der Wand, lässt seine Arme aber langsam sinken. Schaut mich an, lächelt.
„Er liebt dich wirklich. Aber du hast ihn kaputt gemacht. Du hast recht offensichtlich etwas gesagt, dass ihn total aus der Bahn geschmissen hat, und jetzt versucht er zwar, sich seine Verzweiflung und Angst, dich zu verlieren, nicht anmerken zu lassen. Er hat sich nicht unter Kontrolle, deswegen wird er laut oder ihm rutscht die Hand aus. Du musst ihm einfach verzeihen, er kann nichts dafür.“
Ich antworte nichts, habe keinerlei Ahnung, wie ich damit umgehen sollte, dass Sauli offensichtlich verstand, was…
„Vergiss was ich gesagt habe. Deswegen wollte ich nicht hier bleiben.“
Er lächelt, dann kommt er zu mir herüber. Greift nach meiner Hand, setzt sich neben mich auf das Bett. Seine Finger finden ihren Weg zwischen die meine, und er lächelt mich an.
„Warum bist du denn hier geblieben?“
Er verzieht die Lippen zu einem Lächeln und streicht sich mit der freien Hand durch das schwarze Haar: „Dreimal darfst du raten.“
„Hm. Erste Möglichkeit: Du findest den Weg nicht zurück.“
Sauli grinst schief, nimmt sich die Hand aus dem Haar und macht eine unwirsche Geste. Ich fahre fort. Eine wirkliche Ahnung habe ich nicht, und dennoch weiß ich, dass alle meine Möglichkeiten nur allzu weit her gegriffen sind.
„Zweite Möglichkeit. Du hast Angst im Dunklen.“
„Auch falsch.“, er grinst und beugt sich zu mir vor.
„One Chance left.“
Perfektes, akzentfreies Englisch, wie ich es vorher noch nie gehört hatte. Nicht einmal von Roy, selbst dieser sprach mit einem schottischen Dialekt.
Saulis Hand streicht über meinen Nacken, er grinst. Kommt mir mit seinem Gesicht nur allzu nahe. Wieder fühlt sich die Nähe, die ich in seiner Gegenwart empfinde, nur allzu verboten gut an.
„Also willst du Sex.“, stelle ich mit ernüchternder Stimme fest, bin aber selbst schockiert von meinen Worten – dies war immerhin nicht meine Stimme, die sprach. Nicht meine Worte, nicht meine Gedanken. Nicht meine Art, so etwas zu sagen.
Die Worte gehören nicht mir.
Und Sauli schreckt zurück. Erkennt, dass das wohl nicht ich bin, so wie er alles erkennt. Oder auch nicht. Er streicht sich das Haar zurück.
Ich kann nicht erkennen, ob er nervös ist, oder ob er sich schämt. Oder Angst hat, weil ich nicht ich bin, in diesem Moment. Oder doch. Und eine andere Stimme für mich spricht.
„Wir müssen doch nichts überstürzen. Eigentlich will ich dich nur kennen lernen, vorerst vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich möchte wissen, wer du bist.“
Also doch das zweite. Es ist mir irgendwie gleich, was er will. Über alle anderen weiß er sofort Bescheid – über mich nicht. Seltsam ist das, das finde ich, doch in der Tat ist es das nicht wirklich.
Er sollte Psychologie studieren. Leute fragen, was sie bei einer Sache fühlen. Und mit seiner außergewöhnlich tiefen, und doch schon fast gespielt wirkenden Stimme fragen, was der Patient bei diesen Umständen empfand.
Wieder schreckt er zurück, als ich meine Hand heben will. Dann lässt er die andere bereitwillig los. Hat er Angst, dass ich ihn schlagen will?
Eine … Jemand schlägt auf meinen Kopf. Schreit zu mir, schlägt auf mich ein.
Ich starre auf die Wand. Die gelben Raufasern scheinen zu tanzen, bewegen sich vor meinen Augen. Verändern ihre Farbe nicht – seltsam. Das tun sie doch sonst immer. Warum nicht? Warum jetzt nicht?
Ich muss aufstehen, um mich nicht hypnotisieren zu lassen. Von den Raufasern. Ich gehe zum Spiegel, und Sauli bleibt sitzen.
Mein Spiegelbild ist blass. Ich streiche mir durch das Haar. Sehe im Spiegel, dass es lang und glatt und schwarz ist. Es glänzt. Wenn ich den Spiegel nicht hätte, ich wüsste nicht, wie ich aussehe. Ich weiß nur, wie ich aussehe, wenn ich in den Spiegel sehe.
Meine Augen sind ungewöhnlich groß und hellblau. Geben den starken Kontrast zu meinem Haar. Ich bin unglaublich blass, aber das war ich schon immer. Es war immer eine gute Unterstützung, wollte ich Krankheit vortäuschen.
Eigentlich würde ich mich nur zu gerne überleben, doch ich weiß, dass ich sterben muss. Wenn nicht heute Nacht, dann doch bestimmt morgen. Oder in einer Woche. Jetzt. Jetzt ist es zu früh.
Ich kann mich nicht auf den Boden legen und hoffen, zu sterben. Das geht einfach nicht, dafür bin ich noch zu stark. Obwohl ich eigentlich viel zu schwach bin, um die Last meiner bloßen Existenz weiter auf meinen Schultern zu tragen.
Meine Lippen sind blass. Blass und rissig. Es ist kein Blut in ihnen, und sie sind kaputt. Kaputt wie alles hier im einen herum. Wer nicht wahnsinnig in die Psychiatrie eingeliefert wird, den macht sie wahnsinnig.
All den Tod um sich herum. Den seelischen Tod. Wir Gestörten bringen die Pfleger um, ohne weiteres. Wir bringen uns selbst um, bei jeder Gelegenheit, die sich bietet. Da gibt es genug. Die Psychiatrie ist nicht sicher – es werden doch so wie so immer die Patienten mit den kleinsten Problemen in die Geschlossene verfrachtet.
Die wahren Kranken, die erkennen sie doch gar nicht… mehr.
Mein Spiegelbild blutet. Die Hand, die in meinen Haaren liegt, blutet. Ist rot. Mein Gesicht ist rot. Ich sehe, wie mein Spiegelbild zittert, wie es das Gesicht verzieht, und wie es weint.
Ich kann mich nicht mit meinem Spiegelbild identifizieren – ich sehe mich nicht selbst. Ich kann nicht so… aussehen, wie es der Spiegel mir zeigt. Das in dem Spiegel bist du, das bin nicht ich. Du.
Meine Arme bluten, all die Narben sind aufgerissen, alles ist rot, das kann nicht sein, will ich schreien, doch kein Laut verlässt meine Kehle. Ich blute doch nicht, ich blute doch nicht. Meine Arme sind trocken, kalt, und nicht warm.
Aber mein Spiegelbild wird immer blasser, und ich will mich übergeben.
Du im Spiegel wirst immer blasser, das Blut läuft stärker, strömt aus den Wunden. Du verziehst das Gesicht und schreist, aber kein Laut ertönt.
Du hebst die Faust, das Spiegelbild tut es nicht. Du hörst, wie der Fremde auf deinem Bett etwas sagt, vielleicht sogar ruft, doch das Spiegelbild schreit einfach nur lautlos weiter.
Deine Faust fliegt durch die Luft, wird nicht zurückgehalten und trifft das Glas. Das Glas splittert, du schreist, und das Spiegelbild zerberstet. Deine Faust blutet stark, das Glas bohrt sich in die Haut und reißt sie auf.
Dich stört es nicht, du schreist, du weinst, du willst Erlösung. Du blutetest, gehst auf dem Boden zugrunde, deine offene Hand streicht über den Boden, durch die Scherben, durch das Blut. Greift nach einer Scherbe, einer großen. Du steckst sie in die Hosentasche, bevor der Fremde es merkt, und dann bin ich wieder ich.
Der Schmerz ist ernüchternd und fixiert all meine Empfindungen auf sich. Es scheint mir, als ob ich exakt fühlen kann, wo das Blut aus den Wunden tritt.
Und doch kann ich es nicht. Es ist suspekt. Die Scherbe in der Tasche meiner Hose brennt mehr, als das Kreuz auf meiner Brust es je getan hatte.
Aber ich fühle mich sicher, sicherer denn je. Und fragil. Ich bin selbst zu schwach, um aufzustehen. Eine Hand greift nach der meinen. Der, die nicht blutet. Ich werde hochgezogen, schaffe es, mich wieder auf meine zitternden Beine zu stellen.
The world‘s going under.
Alles fällt nach unten. Die Wände scheinen sich nach unten lang zu strecken und mich in einer schwarzen Schwerelosigkeit zurückzulassen. Ich will fallen, doch ich kann nicht. Ich werde gehalten.
It’s gone completely wrong.
Dann bleibt alles stehen. Und es kommt mir so vor, als ob alles, was gerade eben noch so rasant nach unten sank, mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit hoch rast. Zum Halt kommt. Mir wird schwindelig, doch wieder kann ich nicht fallen.
Ich spüre, wie Sauli mich näher an sich zieht. Es ist doch Sauli, nicht? Ich kann nichts sehen. Vielleicht bin ich blind. Vielleicht ist mit dem Blut mein Sehvermögen aus mir hinausgeströmt. Es tut wirklich höllisch weh.
Meine Füße tragen mich, und ich weiß nicht wohin. Dann Wasser über meiner Haut. Und dann eins stechender Schmerz, als ob jemand etwas aus mir heraus zieht.
Wie durch eine Röhre. Ich fühle nicht, erleide nur. Sehe nicht. Höre nicht. Und dann doch wieder. Spüre, wie ich in Saulis Armen liege. Von Gedanken überflutet, unfähig, sie zu identifizieren. Ich sehe Dinge, die ich nicht sehen will. Die grausam tanzende Raufaserwand. Wieder wechselt sie ihre Farbe.
Fühle Dinge, die ich nicht fühlen will. Und dann küsst er mich. Nur zärtlich, schüchtern, aber ich erwidere sofort. Ich weiß, dass ich mehr von diesem Jungen will.
Und brauche.
Vielleicht ist es eine Art Liebe, die sich da zwischen uns drängt, doch vor allem ist es wahnsinnig schwer, zu beschreiben.
Es ist da, dieses Wohlgefühl, wenn er mich berührt, und es ist da, dieses tiefe Gefühl der Verbundenheit, wenn er mich ansieht. Doch er ist auch da – Étienne.
Beginnt, wieder zu sprechen, obwohl er eigentlich gar nicht da sein dürfte. Obwohl ihn die Medikamente eigentlich hätten vertreiben sollen.
Hallo.
Da sagt er, und mehr ist es nicht. Und dennoch muss ich von Sauli ablassen. Taumle zurück, falle gegen die Wand. Sehe Saulis entsetztes Gesicht, während ich meine Augen schließe. Er hat es nicht geschafft, mich zu halten. Gut so, gut so. Ich will ihn nicht sehen, will Étienne nicht ins Angesicht blicken müssen.
Ich würde sterben, um endlich wieder richtig leben zu können.
Ich bin krank, halte mein Leben versteckt.
Träume sind aus Glas.
Ich will ihn nicht sehen, den Mann in meinem Kopf, der nur allzu bald wieder Gestalt annimmt.
Willst du mich denn gar nicht begrüßen?
Nein!, denke ich, und vielleicht sage ich es auch. Ich weiß es nicht, weil meine Augen geschlossen sind und ich Saulis Reaktion nicht erkennen kann.
Warum denn nicht?,
fragt er Mann in meinem Kopf, der Fremde in mir.
Hast du mich etwa nicht vermisst?
Erneut denke ich NEIN, ich sage Nein, schüttle dabei energisch meinen Kopf.
I see things I don’t want to see, I feel things I don’t want to feel.
Wieder Machine Men. Die Herren haben sich prägnant in meinen Kopf gesetzt.
Vergleichst du wieder Dinge mit Songtexten, Liebling?
Mindestens genauso hartnäckig wie Étienne also.
Roy willst du also betrügen, ja? Denjenigen, der sich so um dich gekümmert hat? Ich vergass, du hast schon.
HALT DIE SCHNAUZE.
Ich werde wohl laut.
Du kannst Roy doch selbst nicht ab, also waru-
Diese Nutte kann ich aber noch viel weniger leiden – schau ihn dir doch mal an, wie er sich angezogen hat, wie er sich schminkt. Wie für den Strich, findest du wirkl-
Ich muss mich zur Seite schlagen, drehe mich um. Lehne den Kopf gegen die Wand. Möchte, dass es aufhört, dass Étienne aus meinem Kopf verschwindet, ich will…
Ihn ausbluten.
Ich höre nicht darauf, was er sagt. Nicht jetzt. Schlage die Augen auf, drehe mich erneut zu Sauli um. Dort hinten, im hinteren Eck des Zimmers, steht Étienne. Start mich an, doch ich… kann ihn ignorieren.
Schließe meine Arme um Sauli, spüre, wie sehr er wieder zittert. Ziehe ihn näher zu mir, hauche ihm einen Kuss auf den Nacken. Er seufzt auf, krallt seine dünnen Fingern in meine Hüften.
Seltsam, dass ich nicht friere. Ich trage doch auch kein Shirt, und ich blute.
Étienne wird uns schon nicht verraten – er kann es doch gar nicht.
„Weißt du was?“, Sauli senkt den Kopf, sieht mich dennoch an. Von unten zu mir hoch, es ist ein lustiges Bild. Und traurig. Irgendwie.
Er schiebt mich vor sich her, gibt mir dann einen leichten Stoß, sodass ich auf das Bett falle. Beugt sich zu mir vor.
Ich kann spüren, dass Étienne sauer wird. Dass er flucht, auf mich einredet. Aber ich blende es aus, will es nicht hören. Will mich vollständig auf Sauli einlassen.
Als sein Gesicht dem meinen immer näher kommt lege ich ihm noch meinen Zeigefinger auf die Lippen. Schaue ihn an. Murmle ein: „Ich liebe Roy. Das muss dir bewusst sein.“, und nehme den Finger von seinem Gesicht.
Er nickt, lächelt. Weicht meinem Gesicht aus, sodass seine Lippen meinem linken Ohr nun ganz nahe sind.
Sein warmer Atem lässt mir eine Gänsehaut über den Körper fahren, dann seine Stimme. So warm, dass es fast schon furchtbar ist.
„Ich glaube, ich liebe dich.“
Die Worte sind verheerend, aber sie lassen mich kalt. Fast schon war mir bewusst geworden, dass es so war, dass dieses Gefühl, welches sich zwischen uns drängt, zu diesem Punkt führen musste.
Dass es so schnell geht, habe ich nicht gedacht. Aber jetzt sind wir hier, er und ich, du und er, und … Eine Hand ruht auf meiner Hüfte, die andere streicht über meinen Hals. Ein Knie zwischen meinen beiden Beinen, das andere links davon.
Er erwartet keine Antwort, er weiß, was ich denke. Das ist mir klar, natürlich. Er hat wohl schon gelernt, sich damit abzufinden. Warum er hier ist?
Er küsst mich. Lässt dann von mir ab, lächelt.
Wenn auch nur missglückt. Es interessiert mich brennend, warum er hier ist.
Ich kann nicht darauf reagieren, als er beginnt, meinen Hals zu küssen. So sehr es mir auch gefällt – wie er vorsichtig in das weiße Fleisch beißt – ich kann keinerlei Regung zeigen.
Während sich meine Hände unter sein dünnes Netzhemd schieben, muss ich ihn ansehen. Die ganze Zeit. Unverblümt. Und er bemerkt es.
„Willst du wissen, warum ich hier bin?“
Und ich nicke, zu mehr bin ich nicht fertig. Ich will ihm das Hemd hochziehen, will mehr von der makellosen Haut sehen, doch sie ist nicht… und… rote Narben, am ganzen Körper.
„Selbstgeißelung. Sadomasochismus. Nenn mich krank, mich macht’s geil. Pain Slut, kennst du den Begriff? Wie auch immer, sie sind der Meinung, sie könnten mich Kuriereren. Mit Medikamenten, so was eben. Ich habe schon Menschen getötet, aber sie sagen, ich bin unzurechnungsfähig. Keine Ahnung, wenn die Schlampen sich auch von mir ficken und hinterher abmurksen lassen, soll mir das doch grad recht sein.“
Er versucht, zu lächeln. An der Art, wie er zittert, merke ich, dass es ihm nicht so richtig recht ist. An seinem Blick ist unschwer zu erkennen,
„Ich habe meinen ersten Freund getötet. Aber er war nicht derjenige, der mich krank gemacht hat. Ich war damals in… ich bin es immer noch. Mitglied in so einer Sekte. Ich sage nicht, dass ich dort nicht gerne Mitglied bin, aber zum damaligen Zeitpunkt war ich das definitiv nicht. Sie haben von mir abverlangt, dass ich ihn umbringe. Ich war damals Acht, musste jeden Tag Sex mit ihm haben. Ich habe ihn nicht geliebt, natürlich nicht. Ich hatte Angst von ihn, und er hat mich aufgeschlitzt. Meinen Rücken, immer wenn die Narbe verheilte aufs Neue. Damals wollte ich ihn nicht töten, aber irgendwas in mir hat gesagt, dass es das richtige ist.“
„Hörst du Stimmen?“
„Nein. Das denken die meisten, dass ich das tue. Aber in meinem Kopf ist Leere, auch wenn ich manchmal meine Gedanken als ungewöhnlich laut vernehme. Du hörst Stimmen, nicht wahr?“
„Zwei Stück. Aber ich hab gelernt, damit umzugehen… zumindest meistens.“
Er nickt, richtet sich dann auf. Schiebt sich das Shirt am Körper herunter und sieht mich an. Als ich mich nicht erhebe greift er nach meiner Hand, zieht mich zu sich hoch.
Schließt mich in seine Arme, küsst mir den Nacken. Ob es ihn Überwindung kostet, mir den Nacken nicht einfach aufzureißen?
Noch in der Umarmung zieht er mich zurück auf die Beine. Lässt mich aus der Umarmung los, sieht mich an und verzieht das Gesicht:
„Halte bitte Juuho von mir weg, ja? Ich kann mir vorstellen, dass es mich überkommt, wenn ich… Weißt du, er will keinen Sex. Das ist eigentlich in Ordnung, das stört mich überhaupt nicht, aber… Er bittet mich, ihm weh zu tun. Und da kann ich mich manchmal einfach nicht… zurückhalten. Die Narben an seinem Hals sind schon verdammt tief, fast schon zu tief.“
Er zittert. Ich nehme ihn an der Hand, ziehe ihn erneut zu mir. Fahre mit der Hand über seinen Rücken. Sein Zitternd wird immer heftiger, er legt seine Arme auf meine Hüften. Die Finger krallen sich in meine weiße Haut.
„Du hast ihn gerne, nicht? Ich gebe mein Bestes und halte dich erst mal von ihm fern.“
Heiße Tränen auf meinem Schulterblatt, ein zitternder Körper in meinen Armen. Die fragile Stimme an meinem Ohr: „J-a…“
Stille. Dann:
„Ich habe ihn wirklich gern. Fast schon… zu gern, aber… ich komm nicht damit klar. Er ist ein guter Mensch, und… Ich könnte ihn töten, so ohne weiteres, einfach so. Verstehst du, was ich meine?“
Ich nicke. Muss ihn los lassen, ein zu gewaltiger Druck in seinem Körper baut sich auf; er streicht mit seinem Zeige- und Mittelfinger der linken Hand über meinen Nacken. Dann über meine Halsbeuge.
Seine Lippen berühren sie sanft. Dann sieht er mich wieder an. Legt seine Finger erneut auf den Hals.
„Ich könnte dich auch einfach töten, weißt du? Ich kann… Verdammt, Elias. Es ist so einfach, jemanden zu töten, den man gerne hat. Ich könnte… einfach so tief in deinen Hals beißen, dass du verblutest, weißt du?“
Ich nicke. Eigentlich… will ich das Thema nicht weiter ausweiten, aber in mir ist dieses hämmernde Gefühl, dass es Sauli gut tut, das er reden muss.
Er greift nach meiner Hand. Sieht mich an, sein Blick dann fragend auf den Kleiderschrank gerichtet. In seinem Blick die Frage, ob er sich etwas nehmen kann.
Ich nicke, dann lässt er mich los. Geht zum Kleiderschrank, wirft einen Blick hinein und sieht mich dann an. Zittert noch immer wahnsinnig stark: „Ich möchte mit dir raus gehen, Elias. Was möchtest du anziehen?“
„Gib‘ mir bitte den schwarzen Pullover. Ansonsten kannst du dir was aussuchen, ich hab‘ nochmal so einen.“
„Darf ich den anziehen?“, er wirft mir den Pullover zu, und noch während ich ihn auffange, zieht er denselben Pulli aus dem Schrank und hält ihn sich vor. Sieht mich fragend an. Ich nicke.
Er schließt die Schranktür, will sich den Pullover schon überstreifen. Hält dann inne, kommt auf mich zu und legt mir die Hände auf die Taille.
Ich lasse mich an ihn ziehen und ergreife die Initiative, noch bevor er das tun kann. Küsse ihn vorsichtig auf die Lippen, seine Hand wandert über meinen Rücken hoch zu meinem Nacken. Verharrt dort, ehe sie mich mit nur leichtem Druck dazu zwingt, mich nur minimal zu ihm vor zu beugen.
Wieso zur Hölle braucht Dr. Sallinen einen weiteren Arzt? Mussten Psychiater kein vierjähriges ‚Praktikum‘ als Allgemeinmediziner machen? Was es nicht so?
Das Piercing an seiner Unterlippe drückt gegen meine eigene Unterlippe, ich muss fast schon lächeln. Er stößt mit seiner Zunge gegen meine Lippen, löst den Kuss dann aber doch schon bald.
Greift erneut nach meiner Hand, nur, um sie Sekunden später wieder los zu lassen. Beugt sich vor und hebt den Pullover vom Boden auf.
Streift ihn sich über, und bevor ich weiter nachdenken kann, tun meine Arme bereits dasselbe. Dann greift er wieder nach meiner Hand.
Die ganze Wärme ist fort, und irgendwie doch noch da. Aber seine Hand fühlt sich kalt in der Meinen an.
Wir verlassen leise das Zimmer. Laufen rasch und lautlos über den langen Flur, stehlen uns durch den unbesetzten Eingangsbereich. Nur das Büro ist um diese Herrgottszeit noch besetzt. Im zweiten Stock oben, und am anderen Ende der Psychiatrie.
Er drückt meine Hand fester, und wir verlassen den Eingangsbereich durch eine Tür noch vor der Haupteingangstür.
Die Tür zum Garten.
Draußen ist es eiskalt. Mir fröstelt es, dem dicken Pullover zum Trotz. Auch Sauli zittert, wahrscheinlich sogar unwesentlich mehr.
An der Hand zieht er mich weiter in den Garten hinein, lässt mir keinerlei Möglichkeit, mich umzusehen. Allerdings brauche ich diese Möglichkeit nicht wirklich.
Ich kenne mich doch bereits aus.
Als wir bei der Bank angekommen sind, die sich in der Mitte des Parks befindet, ist diese, wider unseres Erwartens, nicht leer. Sauli lässt meine Hand los, schaut mich fragend an.
Der Fremde murmelt etwas vor sich hin; und er ist kein Fremder mehr.
Er spricht Englisch mit schottischem Akzent, mit zitternder Stimme. Ich lasse mich neben ihm auf die Bank fallen und bedeute Sauli mit einer Geste, es mir gleich zu tun.
Lege meine Hand auf Roys Rücken, und er schreckt zusammen.
Hebt das Gesicht, sieht mich an. Und er sieht furchtbar aus, das sonst so hübsche Gesicht tränenstarr, die Lippen blutrot und leicht geöffnet, während die Augen beschlagen und die Haut leichenblass waren.
„Roy?“,
wahrscheinlich ist meine Stimme mindestens genauso fragil wie seine. Wie wahnsinnig schnell er mich verunsichern kann.
Er wischt sich die Tränen aus den Augen, sieht kurz und entschuldigend zu Sauli, ehe er sich dann wieder zu mir wendet. Nach meiner Hand greift. Er zittert wahnsinnig, trägt nur ein kurzes Shirt.
Seine Lippen senken sich zu den Meinen herab, unglaublich weich. Fast schon surreal. Ich kann den Kuss nicht erwidern, obwohl er mir Wärme durch den ganzen Körper jagt.
„Was machst du hier, Roy?“
Er lässt von mir ab, zittert.
Schüttelt dann den Kopf, schließt die Augen und seufzt:
„Ich weiß es nicht. Irgendwie haben mich meine Füße hierhin getragen. Ich habe… mich auf die Bank gesetzt, und jetzt sitze ich hier.“
Ich ziehe den kalten Körper an mich, streiche mit meinen Armen vorsichtig über die Seinen. Hoffe, wenigstens so ein kleines bisschen Wärme schenken zu können.
Seine Hände krallen sich in meine Handgelenke. Er seufzt. Sein Körper zittert weiterhin, vielleicht sogar etwas heftiger.
„Ich habe das Gefühl, du driftest mir immer weiter weg.“, belegte Stimme, und so ein Zittern. Mir wird übel, und doch lasse ich ihn nicht los. Kann ihn nicht loslassen.
„Ich habe das Gefühl, du interessierst dich immer mehr für andere Kerle, Elias. Dass du mich… außen vor lässt. Wir sind eine ganze Weile zusammen. Das wird bestimmt langsam langweilig – für dich. Für mich nicht, aber… Elias. Ich liebe dich, nur dich. Manchmal komme ich mit deiner Krankheit nicht klar, aber dir muss klar sein, dass ich für niemanden sowas empfinden kann, wie für dich. Du weißt, dass… warum ich hier bin. Ich kann mittlerweile einfach nicht mehr ohne dich, du hast mir einfach über so viel weggeholfen. Halt‘ mich für einen Freak, wenn du willst und ich dir sage, dass ich dich für immer lieben kann. Dass ich mir das ohne weiteres vorstellen kann.“
Sein Zittern wird immer ungebändigter, und noch bevor ich ein leises ‚Ich mir… doch auch‘ über die Lippen schieben kann, spricht er weiter. Seine Stimme zitternd, weinerlich. Er kann jede Sekunde aufs Neue beginnen, zu weinen.
„Ich… liebe dich einfach, und wenn du… das nicht mehr tust, dann… oder wenn du… Dir nicht mehr vorstellen kannst, mit mir… Ich weiß doch, dass ich nicht damit umgehen kann, dass du manchmal so… Dass du manchmal Dinge siehst, dass du Panikattacken durchleidest oder mich nicht mehr als den erkennen kannst, der ich bin. Aber ich liebe dich trotz allem; Elias. Jeder Mensch hat seine Fehler, und bei dir ist es die Krankheit.“
Sauli senkt den Blick zu Boden. Errötet. Schuldbewusstsein. Dabei hat er es doch gewusst. Von Anfang an.
„Ich liebe dich, Roy. Ich kann mir Vorstellen, dass wir… noch wenn wir alte Opas sind, zusammen die Nächte durchmachen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ohne dich wäre. Ich danke dir dafür, dass du… mich so ernst nimmst, und zwischen Wahn und…“
Ich komme nicht weiter, und das muss ich auch nicht. Er hat bereits begriffen. Krallt nicht mehr so in meine Hand, lehnt sich etwas weiter gegen mich.
Sauli erhebt sich, will uns alleine lassen, und als er an uns vorbei geht, nehme ich einen Arm von Roys Körper und halte ihn noch zurück. Er sieht mich an, verzieht die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln.
„Gute Nacht, Elias.“, er verwendet einen Nachdruck, und dennoch weiß ich, dass er nicht sauer ist. Vielleicht…
Ich weiß es nicht.
„Sehen wir uns morgen dann beim Essen?“
Er nickt, streicht mir flüchtig durch das Haar.
„Ja. Und du isst bitte was, ja?“
Er zögert.
„Eine angenehme Nacht wünsche ich euch beiden noch.“, flüstert er dann schon fast.
„Ich dir auch.“
Und Roy ist unfähig zu sprechen. Als die Tür, die draußen von drinnen trennt, sich schließt, beginnt Roy, sich wieder zu bewegen.
Windet sich aus meinen Armen, dreht sich um, stützt sich mit einer Hand am Rand der Sitzfläche der Bank ab. Sieht mich an. Er weint nicht mehr, es sind keine Tränen mehr da.
Mit der freien Hand nimmt er meinen Arm hoch, den, mit den Narben. Schaut mich an, mustert die Narben. Küsst sie vorsichtig.
Wie eine Mutter die kleinen Wehwehchen ihres Kindes, damit das Kind im Glauben bleibt, dass diese dadurch schneller verheilen und weggehen.
Punkt.
„Was hat er gemacht?“, seine Stimme ist belegt, als er mit dem Zeigefinger die Schnitte nachfährt. Dann erneut seine Lippen darauf senkt.
„Das war ich selbst.“, meine Stimme ist ernüchternd, und Roy schreckt zurück.
„Wie… meinst du das?“
„Ich… hab wieder den Verstand verloren, glaube ich. Ich habe den Spiegel in meinem Zimmer mit der Faust kaputt geschlagen. Das ist dabei passiert.“
Er seufzt schwer auf, nimmt meine Hand, steht auf.
„Mir ist kalt. Lass uns nach oben gehen, in mein Zimmer.“
Ich sehe dich an, wie du vor mir stehst. Dir durch das Haar streichst, sanften Druck auf meine Hand ausübst. Du siehst furchtbar aus, obwohl dein Gesicht doch eigentlich so schön ist – so anmutig wie das Gesicht eines jungen Gottes – siehst du so furchtbar aus.
„Komm.“, nur ein einziges, fast schon gehauchtes Wort. Und ich stehe auf. Will dir folgen, doch du bleibst schon bald wieder stehen, schaust hoch in den Himmel, und deine blutroten Lippen verziehen sich zu einem Lächeln.
Nicht blutrot. Blutig. Warum, Warum? Mutter…
Das Blut fließt langsam von seinen Lippen, hinab und seinen Nacken entlang.
Wunderschön sieht er aus, wie er so da steht. Den Blick gen Himmel gerichtet, die Lippen zu einem Lächeln verzogen und blutend.
Das Hemd… wird rot.
„Stirbst du?“
Schon oft hatte Roy geschildert, wie er am liebsten gestorben wäre. Einmal romantisch und in meinen Armen, und einmal… mit einer Wunde am Hals, die ihn langsam und unscheinbar verbluten ließ. Er konnte weiterleben, und starb trotz allem langsam. Und das Blut würde über seine Unterlippen fließen.
„Was… NEIN!“, du drehst dich zu mir herum, so hastig, dass das Blut zu spritzen beginnt. Du lächelst jedoch nur, ziehst mich an der Hand nahe zu dir: „Ich habe mir die Unterlippe zerbissen.“
Ich lege meine Arme um deine Hüfte, und meinen Kopf auf deine Brust. Höre dein Herz, welches schnell schlägt. Schnell, wie immer, wenn wir so verharren.
Schnee beginnt zu fallen.
„And with the first snow we’ll be gone.“,
Roy lächelt, zumindest sagen mir das seine Lippen. Seine Augen weinen jedoch. Tränen und Blut mischen sich bald zu einem seltsamen Anblick. Dieser jedoch hält mich nicht davon ab, dich zu küssen.
Der seltsame Geschmack von Metall und Salz lässt mich erneut würgen. Deine Unterlippe ist so kaputt, blutet bei jeder Berührung nur noch stärker.
Und plötzlich begreife ich, dass heute… Dass diese Nacht…
Und mit einem Blick in deine Augen weiß ich, dass es dir auch nicht verborgen bleibt.
Du umschließt meine Hand fester, und wir verschwenden keine weitere Zeit mehr damit, in den Himmel zu sehen.
Zu irrelevant scheint er uns. Dem wir, dem du und ich, dem er und du.
Von der Zeit, in der wir zu deinem Zimmer zurückgehen, bekomme ich kaum etwas mit. Ich weiß nur, dass wir nicht hetzen, dass wir ruhig gehen. Ruhig und Hand in Hand, sicher, so musste es von statten gegangen sein.
Du schließt deine Zimmertür auf, Roy tut das, und dann treten wir ein. Roy zuerst, dann die Person, die wohl ich bin.
Seltsam, wieso denke ich so? Die Medikamente müssten doch eigentlich… und…
Er stößt meine Person gegen die Wand. Fast schon brutal, nicht nach seiner Art. Heute sollte jedoch alles erlaubt sein.
Gott hatte es erlaubt, und die Mutter. Die Mutter.
Entschuldigung Mutter, aber ich bin Sünder.
Der Mensch wird geboren, um ein Sünder zu sein. Von der ersten Sekunde seiner kläglichen Existenz an sündet er, und er wird seine Sünden zu Grabe tragen.
Es ist doch sonst nicht seine Art, denkt er, als er bemerkt, wie der Schotte ihm das Knie zwischen die Beine drängt und sich an dem bleichen Hals seiner Gestalt zu schaffen macht.
„Wie weit würdest du gehen, wenn ich dich lassen würde?“
Die Frage hängt in der Luft, bedarf keiner Antwort mehr.
Roy lächelt, und der Person, die wohl ich darstellen soll, wird schlecht. Er will sich abwenden, der Mensch. Der Mensch mit meinem Gesicht, der Fremde. Der andere hält ihn fest.
Denkt wohl, es ist ein Spiel.
Nicht ein Spiel. Sein Spiel
Dann bin ich wieder ich, und ich drücke den anderen von mir. Die Worte, die noch eben meinen Mund verlassen haben, kommen mir jetzt so unrein vor.
Mir ist schwindelig, ich taumle. Taumle in Richtung Bad, ich glaube, ich muss mich übergeben. Ich will das nicht, ich will das doch alles nicht. Er hat mich doch, und…
Ich muss mich übergeben. Die dickflüssige, braungrüne Substanz quillt nur allzu langsam über meine Lippen, lässt mich erneut aufstoßen. Widerlich, widerlich. Und doch war ich nicht minder Übelkeitserregend. Vielleicht noch viel mehr.
Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt noch bis über die Kloschüssel geschafft habe. Ich halte die Augen geschlossen, während der widerliche, süß-saure Sud über meine Lippen trifft. Und dann Galle. Brennend. Ich würge, doch nichts kommt mehr. Nur noch… diese…
Ich öffne die Augen, stelle fest, dass ich es tatsächlich noch geschafft hatte. Wische mir die kläglichen Reste meines Mageninhaltes mit dem Handrücken von den Lippen, komme gegen das Würgen an, welches sich wieder breit macht. Zu widerlich der Geschmack auf meinen Lippen. In meinem Rachen, in Mund.
Meine Füße tragen mich zum Waschbecken, die Hände öffnen das Wasser und schlagen es mir gegen das Gesicht. Ich beginne, zu frieren. Drehe das Wasser ab und lasse das kalte Wasser von meinem Gesicht laufen.
Ich stolpere zurück auf das Bett. Lasse mich fallen und schließe die Augen. Mir ist nicht mehr schlecht, mein Magen drückt nur noch. Ich rolle mich zur Seite und will ihn nicht sehen, nicht Roy. Die Situation ist seltsam geworden.
„Was ist nur los mit dir?“, es ist Roys Stimme, so sanftmütig wie immer.
Ich bin mir sicher, wenn ich ihn wieder ansehe, dann wird er genauso göttlich aussehen, wie immer. Ich muss es vermeiden, darf ihn nicht ansehen. Es würde… vielleicht meinen Tod bedeuten, oder mein Überleben. Sagen kann ich es nicht.
Als ob ich blind und stumm wäre. Ich schweige, und ich halte die Augen geschlossen.
Es kann so doch nicht weiter gehen.
Und dennoch traue ich mich nicht, ihn an zu sehen. Würden meine Hände nicht meinen schmerzenden Bauch halten, so würde ich sie mir gegen den Kopf pressen.
Seine Hand berührt mich vorsichtig an der Schulter, und ich schrecke zurück.
„Fass mich nicht an, Roy.“
Ich kann mir selbst nicht erklären, warum ich das tue. Ich reiße die Augen auf, und auch hier weiß ich nicht, warum. Und sein entgeistertes Gesicht, ich weiß genau, warum.
„Elias. Elias. Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich leid, ich weiß nur nicht… was ist los?“
Ich schüttle den Kopf. Er tut gerade so, als ob ich es wissen würde. Vielleicht weiß ich es.
„Es sind die Medikamente. Sie müssen raus, sie wissen, dass sie raus müssen, und sie finden ihren Weg. Ich kann sie nicht im Körper behalten, sie machen mich unmenschlich, ich bin doch kein Mensch mehr. Roy, ich bin ein Monster, die Tabletten verändern mich, verändern mich nur und wirken nicht. Ich kann das nicht, ich …“
Er streicht mir sanft über die Wange, und ich zucke zusammen. Seine Berührung brennt. Aber ich sage nichts, will ihn nicht schon wieder verletzen.
„Elias, das bildest du dir nur ein. Du bist genauso menschlich wie ohne die Medikamente, und sie helfen dir… vielleicht nicht beim ersten Mal, auch nicht beim zweiten Mal. Du weißt doch, dass Dad Professor war, Medizin. Diese Medikamente wirken erst nach … einem viertel bis halben Jahr der Einnahme. Solang musst du – “
„Ich kann solang nicht warten. Vielleicht sagst du, dass die Medikamente mich nicht verändern, aber der Körper sagt etwas anderes. Ich werde vom Menschen zum Monster, und andersrum. Deswegen müssen die Medikamente raus. Ich hoffe jedes Mal aufs Neue, dass die Medikamente diesmal wirken, und doch tun sie es nicht.“
„Du nimmst sie doch auch viel zu spät, Lias. Du musst sie morgens nehmen. Verdammt.“
Seine Stimme bricht, und sein ganzer Körper zittert. Ich begreife, dass ich es wieder falsch gemacht habe, doch meine Hand weigert sich, sich nach seinem Körper auszustrecken.
Als wir in dieses Zimmer gelangt waren, war alles, was ich wollte, er, und alles, was er wollte, ich. Und dann kam… und ich machte alles kaputt.
Wie immer doch.
Er kommt zu mir mehr, bewegt sich auf mich zu. Setzt sich auf die Bettkante und gibt mir ein ungutes Gefühl. Ich will ihn küssen, so, wie …
Damit dieses Gefühl wieder kommt, das Gefühl, dass ich nicht falsch bin. Wie bei unserem ersten Kuss, dem, bei dem er noch nicht wusste, was ich bin.
Ich konnte es ihm erst so viel später sagen. Erst so viel später wusste er, wie krank ich bin. Und ich würde seinen Gesichtsausdruck nie vergessen können. Er hatte nicht geweint, weil er so selten weint. Aber er zitterte, und seine Lippen bebten.
Er wusste offensichtlich nicht, was er sagen sollte. War sich unsicher, und ich fürchtete, er würde die Beziehung beenden. Konnte in seinen Augen nichts lesen, und dann schloss er sie. Was mir blieb war er. In einem Hemd und schwarzer Hose, am ganzen Körper zitternd, mit niedergeschlagenen Augen und halb geöffneten Lippen.
Und dann kam dieser Satz.
„Deswegen… musst du also so viele Tabletten nehmen.“
Ich hätte ihn ohrfeigen können, mich doch aber auch. Und so verharrte ich, tat nichts, außer zu nicken. Aus Angst, was als nächstes kommen würde.
„Wieso zur Hölle… Und warum nicht… früher?“
Und da hatte alles aufgehört. Die schlechte Zeit brach an. Zwar warst du immer für mich da, versuchtest, mich zu beruhigen, wenn… aber die Zeit, in der ich dich mit einem einfachen ‚mir geht es nicht gut‘, loswerden konnte, spürte ich, dass Étienne wieder auftaucht, war vorbei.
Meine Tränen finden ihren Tod.
Während Roy sich über mich beugt sterben sie unaufhörlich. Seine Lippen berühren die Meinen zärtlich, und da ist es wieder, dieses Gefühl der Reinheit.
Ich kann nicht anders, muss meine Hände auf seinen Rücken legen und ihn zu mir ziehen. Ich muss ihm dankbar sein, für all das, was er tat. Noch immer tut.
Für mich durchleidet.
In jeder Sekunde, die ich mit ihm verbringen durfte, habe ich ihn geliebt. In jeder Sekunde, die er nicht bei mir war, ist diese Liebe gestiegen. Meine Welt würde sich ohne ihn nicht mehr drehen.
Er weiß das. Beteuert mir jedes Mal, dass es ihm nicht anders ergeht. Und doch…
Ich habe Angst. Davor, dass es irgendwann aufhört. Aber es wird nicht aufhören, meine Angst ist unbegründet.
Weil es heute Abend…
Seine Küsse schmecken so süß und unschuldig, wie sie es am Anfang taten. Als er sich noch nicht gewiss war, ob, und wenn nicht, warum.
Wir haben uns eigentlich immer ohne Worte verstanden. Waren in der ersten Sekunde hin und weg voneinander. Er hat es gesehen, gemerkt – und ich nicht. Und da kamen dann Zweifel. Zweifel, die er wegwischen konnte wie Staub.
Roy war immer psychisch stabil gewesen, und das war gut so. Sonst wären wir beide zugrunde gegangen, und so war nur ich es. Aber physisch war er zerstört. Sein ebener Körper war von innen her eine Ruine, tausende Knochenbrüche hatte er hinter sich.
Warum ich das erzähle, weiß ich nicht.
Ich weiß nicht einmal mehr jetzt, was ich erzählen soll. Roy liegt auf mir, zumindest halb. Haucht mir immer wieder zärtliche Küsse auf die Lippen, während seine Hand auf meinem Hals verweilt. Das ist alles, mehr tut er nicht.
Doch dafür…
Nach seinem ersten Selbstmordversuch… Warum? Warum? Wir kannten uns doch kaum!
Wieder will ich ihn von mir stoßen, doch etwas in mir hält mich zurück. Sagt mir, dass ich es nicht darf. Nicht ihn. Nein!
Dieses Gefühl, dass mich stärker an ihn zieht und…
„Ich kann nicht mehr ohne dich leben.“
Er lässt von mir ab, sieht mich an. Große Augen. Braun, so wahnsinnig schön und… seine Lächeln verziehen sich zu einem Lächeln.
„Hätte ich getan, was ich getan habe, würde ich das können?“
Ich muss den Kopf schütteln, will protestieren. So meine ich es gar nicht, aber…
Es schnürt mir die Kehle zu.
„Ich… hätte aufpassen müssen, Roy, ich wusste, dass ich… dich so wie so schon wahnsinnig liebe, viel zu sehr eigentlich, aber … es ging weiter. Ich konnte nicht… aufhören, weißt du? Ich bin… süchtig nach dir geworden, nach allem an dir. Ich kriege Entzugserscheinungen ohne dich. Mein Atem geht schneller, mir wird schlecht. Ohne dich… ich krieg Schwindelanfälle, sowas.“
Totale personenbezogene Abhängigkeit.
Er sieht mich an, richtet sich auf, und er lächelt.
Streicht mir mit der ausgestreckten Hand durchs Haar, nimmt mich bei den Händen und zieht mich hoch. Küsst mich vorsichtig, während er mit seiner Hand unter meinen Pullover gleitet, sie auf meinen Rücken legt.
Sieht mich an, lächelt. Beißt sich auf die Unterlippe.
Und wieder sieht er aus wie ein junger Gott. Streicht sich mit der freien Hand das Haar zurück. Entblößt einen Teil einer Silberkette an seinem Hals.
Zögernd strecke ich meine Hand aus, öffne die ersten Knöpfe seines Hemdes nur langsam – den Ersten, dann sehe ich wieder in seine Augen. Den zweiten, wieder Blickkontakt. Er lächelt, ermutigt mich damit schon fast, weiter zu machen.
Den Dritten öffnen meine Finger nicht so schnell wie die ersten, zittern sie doch in diesem Moment nur allzu heftig.
Dann ist er offen. Der weiße Stoff hat sich von dem Perlmutt-Knopf gelöst. Dann streifen meine Finger den Vierten. Ich seufze schwer auf.
Eine Hand wandert Roys Hals hinauf, während ich mit der anderen Hand unruhig über den vierten Knopf reibe. Meine Augen verbieten mir, ihn an zu sehen.
Schreien mich an, nur den Knopf, nur den Knopf.
Oder Étienne.
Das Hemd ist blutig.
Der vierte Knopf löst sich quälend langsam vom Stoff. Ich nehme meine Hand von Roys Hals, lege sie auf die Hemdleiste mit den Löchern. Die andere Hand legt sich auf einen der Knöpfe.
Ich weiß es schon, und doch will ich es nicht wissen.
Die beiden Hände ziehen wie von selbst den Stoff auseinander, den weißen. Entblößen die blasse Haut Roys. Und die Kette, meine Kette.
Die Silberne, die, mit dem schweren Satanistenkreuz. Warum? Warum er, warum für mich?
Ich richte mich auf, beuge mich ein Stück weit vor, recke mich, und meine Finger fassen hinter seinem Rücken den Verschluss der Kette.
Er sagt kein Wort. Atmet nur schwer. Die Kette belastet ihn wie mich. Sie muss weg. Weg von seiner Brust, weg von meiner Brust. Weg von uns beiden. Es ist vorbei, es soll vorbei sein.
Wir sind doch beide so jung.
Ich öffne den Verschluss, und wahrscheinlich beginnt meine Hand, zu bluten, die Fingerspitzen, warum auch immer. Das Blut rinnt über meine Fingerkuppen hinunter auf Handfläche und –Rücken, über mein Handgelenk, meinen Arm entlang.
Dann halte ich die Kette in die Hand, muss fast schon lächeln.
Sie schwimmt in meinem Blut, in der Pfütze, die sich auf meinem Handrücken bildete. Auf dem kleinen Kreuz Wörter eingraviert. Mir wird schlecht, aber ich muss sie lesen. Wieder und wieder.
Ianus Nazarenus Rex Infernorum. Ianus Nazarenus Rex Infernorum.
Janus aus Nazareth, Herrscher der Hölle. Ianus Nazarenus Rex Infernorum.
Ich schlage die Augen nieder. Will davon Abschied nehmen. Balle die blutige Hand über dem Kreuz zu einer Faust zusammen und spüre, wie Roy seine Hand fast schon zärtlich auf meine Faust legt.
Mich anlächelt, als ich den Kopf hebe.
„Lass uns damit ein für alle Mal abschließen, Elias. Sie werden dich nicht mehr kriegen, sie werden dir nichts mehr antun können. Ab jetzt bin ich bei dir. Und mich werden sie genauso wenig kriegen wie dich. In wenigen Stunden sind wir frei.“
Dann nimmt er seine Hand von meiner Faust, schiebt zwei Finger zwischen die Meinen und stemmt die Faust entzwei. Lächelt, als er das Kreuz aus dem Blut nimmt, mit seinen langen Fingern, und es vor uns auf das Bett legt.
Mich zärtlich küsst, sich dann vorbeugt und das Blut aus der Handfläche trinkt.
Und dann berührt er rohes Fleisch.
Ich stöhne auf, ungehalten. Der Schmerz ist riesig, noch nie in meinem Leben musste ich so etwas fühlen.
Warum rohe Fleisch, warum zur Hölle?
Schmerz. Ich keuche gequält auf, reiße Roy die Hand weg, drehe mich um. Mein Körper zwingt mich, mich unter dem diabolischen Schmerz zu winden, die Hände an den Körper zu pressen, zu stöhnen. Ich will, dass es aufhört. Weiß nicht, warum, woher …
Ich schließe die Augen, presse sie zusammen, schlage sie auf. Alles brennt, der Schmerz ist höllisch. Immer und Immer mehr Blut verlässt mein Körper, wie das gequälte Stöhnen meine Lippen. Und die Tränen. Sie sterben, und ich sterbe.
Ich will sterben.
Spüre Roys Berührungen an meiner Schulter, sie lindern es nicht. Meine Augen brennen, und aus meinen Händen blutet es. Nicht aus den Fingerspitzen, aus den Händen. Aus den Augen. Aus dem Sinn.
Jemand richtet mich auf, es ist Roy, es muss Roy sein. Er zieht mich hoch, zieht mich hoch zu sich. Schließt mich in seine Arme und legt seine Arme um meine Hüften.
Er kann mich nicht halten, ich kippe vornüber. Alles was ich will ist sterben. Dieser grässlichen Qual entrinnen.
Meine Stimme schreit, und ich schweige.
We are… like dreamers.
Seine Hände wischen mir die Tränen fort, die zarten Finger gleiten über die gereizte Haut unter meinen Augen, über die Augenringe.
Sie nehmen die Tränen von meinen Augen, die Finger.
Meinen Verstand nehmen sie mir nicht; können sie mir nicht nehmen. Aber ich bin nicht mehr blind, und wenigstens der Schmerz lässt nach… etwas.
Ich kann wieder sehen, und ich stöhne auf. Die Wunde an meinen Händen scheint sich tiefer zu graben,
I want… I need… I burn inside… For the rest of my time.
Ich hebe die Hände, richte mich auf, wieder. Wieder aufs Neue, so oft. Wir erheben uns, und dann wünschen wir uns doch, fallen zu dürfen, fallen zu können.
Im Endeffekt sind wir beide nur diese Träumer, die du immer fürchtetest, von denen du uns immer schützen wolltest.
Ich kann die Hände heben, und ich sehe die brennenden Wunden, aus denen das Blut fließt. Stigmata an meinen Händen, die Narben Gottes, ich trage sie nun.
So muss ich wohl büßen, meinen Sold begleichen.
Und die Brücken, sie brennen alle. Fallen hinter uns in sich zusammen. Es ist das Zeichen, und wir müssen uns beeilen – vielleicht bleibt uns diese letzte Stunde.
Dein warmer Atem an meiner Haut. Es ist dir auch bewusst, du weißt es, unsere letzte Zeit.
„Es ist vorbei, Elias. Die Stigmata lösen sich bereits, sie lösen sich los von dir.“
Ich will beruhigt sein, doch ich kann nicht – woher weiß Roy von den Stigmata, und wer… warum…? Und wieso ich?
Ich drehe ihn an, und er lächelt mich an. Aber seine Augen sind nicht braun, sie sind blau und kalt. Dann werden sie grau. Und seine Haare… schwarz, schwarz und lang.
Seine Lippen blutrot, seine St… und aus den Lippen quillt langsam Blut, dickflüssig und… Er streckt seine Hand nach mir aus. Die Hand, die … Krallen?
Stigmata an seinen Händen, und er also… auch. Kein Gedanke in meinem Kopf, nur der Drang, weg sein zu müssen. Seine Hände bluten, wie die meinen, doch er leidet nicht, leidet keine einzige Sekunde.
Angst, und er soll mich nicht… darf mich nicht… berühren. Ich muss ihn anfassen, ich kann nicht, und ich will nicht… glauben. Ich muss… das Blut spüren, dass aus seiner Narbe Luft, aus den Wunden, aus den beiden. Und von seinem Kopf. Die kleinen Wunden. Die Dornenkrone, die kläglichen Überreste.
Dein Gesicht verzieht sich, es grinst.
Die Kette, die Kette trägt die Schuld daran. Die Kette.
Ich stöhne auf. Das Blut läuft dir aus den Augen, läuft aus den Augen, ungehalten. Das Blau ist verschwunden, alles ist weiß.
„Komm her, Antti. Komm her, mein Bester.“
Ich zucke zusammen. NEIN, NICHT!, will ich schreien, doch es geht nicht. Meine Stimmbänder sind wie gelähmt. Bitte, bitte nicht. Er konnte doch nicht, wie zur Hölle…
Die Haare wieder blond. Er muss es sein, aber das kann doch nicht…
Ich heule auf. Das ist es,. Das Ende, und nur ich werde…
Er hatte es gewusst, ohne dass ich es ihm gesagt hatte. Die ganze Zeit über terrorisierte er mich, stand neben mir im Zimmer und… trieb mich in den Wahnsinn, trieb mich hierher. Dann… und jetzt, wir beide zusammen. Das wird das Ende sein, aber ohne ihn. Roy, und Etienne. Es war dann wohl alles dasselbe.
Ich, der Träumer. Und der Schmer wird größer. Und ich bin… wir sind…
Dein Name… Mein Name, wie ein Fremder, aufgedrückt auf meinen Körper, das bin nicht ich.
Ich blute nicht aus den Fingern, ich stehe… nebenan, und ich beobachte. Étienne streckt die Hand aus, berührt mit seinen blutigen Fingern Anttis Wange.
Doch Antti spürt nicht. Ich spüre, und ich zucke zusammen, und ich schreie, aber ich bin außenstehend, Dritter, und man hört mich nicht.
Es gibt nur die beiden, und mein Weg führt ins Ungewisse, oder doch nur zurück in Elias‘ Körper.
Eingedrückt, eingebrannt, abgebrannt, ausgebrannt.
Es ist zu spät, zu spät. Ich will seine Finger von meiner Wange reißen, und ich will schreien, doch er verzieht seine blutigen Lippen nur zu einem Lächeln, einem blutroten lächeln. Das Lächeln, das den Tod widerspiegelt.
Den Spiegel sollst du nicht zerschlagen, ferner siehst du dem Teufel in sein Antlitz.
Den Spiegel sollst du nicht zerbrechen, fernerhin wirst du dein eigenes Grab sehen.
Gib mir den Namen des Weges, den ich einschlagen will. Richtung des Ungewissen. Segne… bete für meine Seele. Segne mich.
„Vielleicht fühlt es sich etwas seltsam an…“,
Der Fremde, den ich doch kenne, er strahlt mich an, feixt. Er will mich berühren, aber er kann es nicht. Meine blutige Hand, sie streift immer wieder mein kurzes Haar, durchstreift es. Ich will renn, ich will schreien, ich will weg, und ich möchte… ich ersehe den Tod, mit seiner unendlichen stille.
Bitte, bitte töte mich.
Ich schreie, und meine Kehle schnürt sich zu. Nie empfand ich so, ich fürchte, und ich erwarte. Nie war …
Ich möchte fallen!, ich schreie, Töte mich, töte mich! Ich bin… nur ein Träumer, ich bin Sünder, töte mich, töte. Mich. Keine weitere Chance, es muss zu Ende gehen, Étienne, Vater, Janus, Tod. Tu dein Werk, ich muss… Ich will… Ich brenne, verglühe. Sehne mich nach dem Tod. Vollstrecke dein Werk.
Sein Antlitz kommt dem meinen immer Näher, und ich begreife. Vater Satan weiß, dass ich fliehen will. Dass ich das immer wollte. Gottvater, Vater Satan schickt seinen Sohn Janus auf die Erde, hinab zu mir. In Gestalt Roys, des gefallenen Engels. Und jetzt, jetzt sind wir hier, alleine, und er wird mich… er wird mich sühnen lassen, wird mir meine Gerechte Strafe zuteilen, meinen Sold zahlen lassen, und…
Seine Lippen legen sich vorsichtig auf die meinen. Kein metallischere Geschmack, kein Blut, gar nichts.
Ich öffne die zusammengehaltenen Augen, und es ist Roy, der sich zu mir vorbeugt.
Haucht ein leises: „Alles wir gut, Elias. Alles ist gut.“ Und streicht mir über die Wange.
Ich will… ich brauche… ich brenne in mir. Ich kenne meine Stärke nicht, und jetzt…
„Elias, beruhige dich.“, Roy streicht mir die Tränen vom Gesicht und schließt mich in seine Arme. Ich fühle mich gut, geborgen, warm, und es darf nicht sein.
Sauli. Ich sollte… soll ihn, und….
Ich hebe meine Hand vor die Augen, beide Hände. Sie sind frei von Narben, frei von Wunden, keine der beiden trägt ein Stigma.
Ich sehe zu Roy, und sein Körper ist ebenfalls makellos. Keine Stigmata an der Stirn, an den Händen. Keine blutroten Lippen, seine Zähne strahlend und weiß, wie eh und je. Und seine Augen wieder braun, sein Haar wiedergewellt und...
„Elias, Elias. Alles wird gut. Ich bin bei dir, und ich werde für immer bei dir sein. Mach dir keine Sorgen, keiner will dir etwas Schlechtes. Ich bin bei dir, ich beschütze dich. Das war nur deine Krankheit, Elias. Da war nicht mehr, es wird alles gut.“
Die Wahrheit hält sich in den sterblichen Seelen versteckt, stirbt hinter den größten Lügen.
Seine Hand streicht über meinen Oberschenkel, welcher noch immer in der Jeans steckt. Eben und blau, kein Fleck roten Blutes oder…
„Sollen wir noch einmal zu… Sauli und Juuho gehen?“, Roy sieht mich an.
Ich kann nicht anders, als den Kopf zu schütteln. Ich will nicht, nein. Uns bleibt weniger als eine Stunde, und die möchte ich mit ihm alleine verbringen.
Aber das sage ich nicht. Ich sage nur letzteres.
„ich möchte die Stunde mit ihm verbringen!“
Und er lächelt, belächelt wieder meine Krankheit, vielleicht auch mich, wie Juuho bereits sagte, meine Personifikations-Störung war doch nur allzu niedlich. Das sagen sie alle, und sie haben doch keine Ahnung, einfach gar keine Ahnung.
„Ich wollte deine Seele nie haben, Elias. Und jetzt wird sie mir gehören, nicht wahr?“
Ich kann nichts mehr tun, als zu nicken.
„Sie wird dir gehören. Roy. Vielleicht tut sie das jetzt schon. Versprich mir, dass du mich nie verlässt.“
„Ich verspreche.“, er hält die Hand hoch,, er schwört, wahrscheinlich auf Gott.
Selten traf ich einen so gläubigen Menschen wie Roy. Jeden Tag betete er, er tut es immer noch. Er betet zu Gott, und er dankt ihm für mich. Vor mir, hat er gesagt, er hätte vor mir nie gebetet. Und nach mir, da war er dankbar, mit mir, und er musste dafür Dank zeigen. Seitdem betet er an den Herrn.
Ich kann nicht beten, ich darf nicht beten, es ist mir nicht gestattet. Würde Gott meine Gebete erhören, wo ich doch seit sechzehn Jahren Anhänger des Satans bin? Ich glaube, die Satanischen Gesetze sind um einiges besser als die Göttlichen. Man sollte doch zwischen Mensch und Tier nicht so viel Unterschied machen, wie es heutzutage gemacht wird.
Der Gottvater ist eine Lüge, und die Lüge versteckt die Wahrheit.
Der Schmerz… er wird grösser, und die Sehnsucht nach…
„Wir sollten ihnen doch aber etwas hinterlassen, Elias.“,
Roy steht auf, und er sieht mich ernst an. So steht er vor mir, vor dem Bett. Die Miene ernst, so ungewohnt ernst, dass ich sie nicht von ihm kenne.
Und wieder schüttle ich nur den Kopf.
„Nein Roy, nein.“
„Was willst du tun?“, in seinen Augen liegt Kritik, schmerzende Kritik.
Und dann bin ich wieder der kleine Junge, dem seine Beziehung mehr wert ist, als alles andere. Der sich nachts in den Schlaf weint, weil er fürchtet, seinen Freund zu verlieren. Der kleine Junge, der ohne psychische Krankheiten leben kann, zumindest für ein paar Minuten.
„Ich will, dass du hier bist.“,
Der kleine Junge, der weint, weil er seinen Freund nicht verlieren will, der ohne ihn nicht leben kann. Ohnehin nur der kleine Junge, dem das Leben so furchtbar trist vorkommt, wenn er niemanden hätte, bei dem er.
„Ich bin hier.“, Roys Blick ist kalt, und seine Augen verlieren ihre letzte Wärme.
„Aber ich weiß, was ich hier lassen werde. Wenn wir nachher einfach abhauen.“
Ich muss lächeln, bin beruhigt, als ich ihn wieder an meiner Seite habe, als ich wieder der kleine Junge sein kann, der glücklich ist, wenn sein Freund bei um ist. Für den es nichts Schöneres gibt, als Momente, in denen sein Freund in den eigenen Armen, in den seinen Armen, einschläft.
„Was denn?“
Er lächelt, und er zieht mich zu sich. In seine Arme. Ich scheine überglücklich zu sein.
„Etwas, das ich für dich geschrieben habe. Sie werden den Hintergrund der Sache bestimmt nicht begreifen, aber…“
„Wenn wir sie alleine zurücklassen, weißt du, was dann passieren wird?“
Ich sehe Roy fragend an, und er streicht mir das Haar zurück:
„Was passiert dann, Liebling?“
„Sauli wird Juuho töten.“
Roy verzieht die Lippen, lächelt nicht mehr. Die Miene ist ernst, doch er schreckt auch nicht zurück, sieht in die Luft.
„Wieso wird Sauli Juuho… umbringen?“
„Er ist hier in der Psychiatrie wegen Sadomasochismus. Er hat mich gebeten, ihn von Juuho fern zu halten. Weil Juuho ihn bittet, ihm Schmerzen zu zufügen. Sauli weiß genau, dass er sich nicht unter Kontrollehaben wird, dass er die Wunde in Juuhos Hals irgendwann ZU tief ziehen wird, und das Juuho verbluten wird.“
Roy schweigt.
Dann seufzt er schwer. Macht Anstalten, mich von ihm weg zu schieben. Aber es ist Okei, er macht es schließlich nicht.
„Wir nehmen eine große Schuld auf uns, Elias. Wir werden eine Wahnsinns Last zu tragen haben.“
Ich nicke stumm, Schließe die Augen. Drücke mich noch etwas gegen den wärmenden Körper. Es ist doch eigentlich alles immer dasselbe. Aber wir werden ausbrechen, er und ich, du und er, ich und du.
„Wirst du damit umgehen können?“
Ich stelle die Frage nicht aus Neugier, sondern um mein eigenes Unwohlsein zu überbrücken.
„Ich … könnte das … wahrscheinlich. Die Frage ist, ob du das kannst, oder ob…“
Er seufzt auf und legt den Arm um mich. Zieht mich noch näher an sich, insofern das möglich ist.
„Oder sollen wir rübergehen, rüber zu Sauli, um ihn… mit zu nehmen?“
Ich schüttle den Kopf. Nein, ich will das nicht.
„Du würdest damit alles kaputt machen, Roy.“, murmle ich jedoch nur leise
„Dann gäbe es kein ‚wir zwei‘ mehr, dann wäre… Ich… Ich will das nicht, Roy. Und was ist, wenn Juuho sieht, dass wir drei weg sind? Wenn er begreift, dass wir ihn alleine gelassen haben? Das… er würde doch… Roy, lass uns das nicht tun. Vielleicht…“
„… entscheiden sich Sauli und Juuho sich ja dazu, es uns gleich zu tun. Oder… Sauli bittet Juuho, ihn auch um zu bringen. Damit er seine letzten Sekunden mit ihm verbringen kann. Vielleicht… die beiden sind ja immerhin auch ein Paar, und…“
Ich kralle meine Hände in…. Und ich kann es nicht mehr, und…
„Sauli meinte zu mir, dass er…“
„Dass er was?“
Roy sieht mich an, und mir schießen die Tränen in die Augen - ich bin sie, ich bin Eli, ich bin das kleine Mädchen, das weint, weil sie ein schlechtes Gewissen hat. Ich bin das kleine Mädchen, das nachts weinend aufwacht, weil sie einen Albtraum hatte, und ich bin das kleine Mädchen, dass nachts zu ihrer Mutter will, weil ihr kalt ist.
„Sauli meinte zu mir… weißt du, Roy, da war von Anfang an diese tiefe Verbundenheit zwischen mir und ihm, und da war dies Gefühl, dieses seltsame, welches sich partout nicht abschalten ließ und… Sauli meinte zu mir, dass er glaubt, dass er mich lieben würde, und er… dann sind wir… raus, in den Garten, und da haben wir dich getroffen, und jetzt sind wir hier. Und ich weiß nicht, was mit Sauli…“
Wahrscheinlich laufen mir viel zu viele Tränen vom Gesicht herab, er streicht mir beruhigend über den Rücken. Er macht sich nicht darüber lustig, warum auch?
„…. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil er gesagt hat, dass… und ich einfach… mit dir…“
„Er hat Juuho, Liebling. Er wird über dich hinweg kommen. Wenn er aus der Psychiatrie freikommt, dann wird er einen netten Herren, oder auch eine nette Dame, finden, die das Leben mit ihm teilen will, und…“
„Sauli gehörte ebenfalls einer Sekte an, er tut es immer noch. Ich weiß nicht, welche Sekte es ist, doch es sind keine… Satanisten, Roy. Er trägt das Kreuz nicht, und…“
„Du trägst es auch nicht mehr, Liebling.“
„Ja aber ich musste es tragen. Du hast es mir abgenommen, und…“
„Reden wir doch nicht weiter über das Thema, Elias. Vergiss Sauli bitte, er wird sich sein eigenes Leben aufbauen können, er hat sein eigenes Leben, und du bist nur… ein Mensch darin. Kümmere dich nicht allzu sehr um ihn. Du wirst ihn nie wieder sehen, und vielleicht irgendwann, wenn ihr beide tot seid. Schau mich an, Elias. Du bist keine Person in meinem Leben, du bist mein Leben.“
Gänsehaut schleicht sich über meine Haut. Nie hätte ich gedacht, dass diese Liebe so weit gehen könnte, dass sie so… und dass wir es gemeinsam wagen würden, in eine neue Freiheit zu ziehen, oder zumindest in eine neue Art der Freiheit.
Und es würde noch lange nicht vorüber sein.
„Vielleicht… werden sich irgendwann unsere Wege trennen.“
Ich murmle es nur, und ich schließe die Augen. Ich lasse die Tränen versiegen, denn sie sagen mir, wie schwach ich bin.
„Wie meinst du das?“
„Du … bist so gläubig, Roy. Und ich bin Satanist. Wenn wir sterben, dann werden sich unsere Wege trennen, und…“
„Nein, bestimmt nicht, Liebling.“, er küsst mich vorsichtig.
„Aber… wie meinst du das?“
„Ganz einfach, mein Engel. Im Endeffekt werden alle gläubigen über einen Haufen geschert. Und wenn du die gläubige und biblische Version hören willst: - wir sind Homosexuelle, wir sind schwul. Schwule kommen in die Hölle.“
Er entlockt meinen trockenen Lippen ein Lächeln, und ich küsse ihn vorsichtig.
„Ich liebe dich, Roy.“
„Ich liebe dich, Elias.“
Dann entsteht Stille, die sich nicht füllen lassen will. Ich komme mir vor, als wäre ich normal. Ein normaler, homosexueller Junge mit seinem Freund auf dem Bett. Es gab Streit, man hatte sich versöhnt. So kam es mir vor, das war alles.
Seine Hand streift über meinen Hals, dann lächelt und sieht mich an. Beginnt dann vorsichtig, sich die Knöpfe, die noch zu waren, auf zu machen, und streift es sich dann von Schultern.
Bittet mich mit einem Blick, mir den Pullover aus zu ziehen. Der Bitte leiste ich nur allzu gerne Folge. Nicht nur, dass es in dem Saal warm geworden, war, auch…
„Ich liebe deinen Körper. Egal wie dürr und abgemagert und vernarbt du bist, Liebling. Für mich gibt es nichts Schöneres auf der Welt als dich.“
Ich erröte, wie ein Junge. Wie ein kleiner, unschuldiger Junge, der sein erstes Kompliment bekommt. Er resigniert es, beißt sich auf die Unterlippe:
„Du bist so wahnsinnig süß. Ich bin so stolz darauf, dich Mein nennen zu dürfen, dass du… dich mit mir, und dass ich…“
Ein Lächeln schleicht über meine Lippen, und zum erstem mal gelingt es mir, einen mehr oder minder schlechteren Spruch über meine eigene Krankheit ab zu lassen.
„Na, Na. Sprachzerfall ist die Aufgabe des Schizophrenen, also überlasse sie bitte auch mir.“
Vorher war mir meine missliche Situation doch immer nur allzu ernst gewesen. Und jetzt… Du … Roy tut mir gut, Wahrscheinlich merkt er nicht, wie sehr, aber…
„ich bin froh, dass du dich mit einem… Freak wie mir… und… Roy, du bist perfekt. Alles an dir ist perfekt. Bei dir… - ich kann über die Tatsache, dass du Mensch bist, so wahnsinnig gut hinwegsehen, wie bei niemand anderem auf der Welt.“
„Das nenne ich Liebesgeständnis.“
Roy lächelt, dann beugt er sich zu mir vor und küsst mich. Nur sanft, zärtlich schon fast, und seine kalten Finger finden ihren Weg über meine Brust in meinen Nacken.
Gänsehaut überzieht meine ganzen Körper, ich erschauere. Jede seiner Berührungen ist wie die erste. Jedes Mal aufs Neue lässt er mich mir vorkommen wie ein kleiner Schuljunge. Er tut das mit Bravour, seine einfachste Disziplin.
Ich lege meine Hände vorsichtig auf seine Brust, küsse ihn immer wieder vorsichtig, lasse meine Lippen nie länger als drei Sekunden auf den seinen ruhen.
Drücke ihn vorsichtig zurück auf die Matratze, sehe ihn von oben herab lächeln an, als ich die Augen wieder öffne.
Er gehört zu der Sorte Mensch, bei der man die Augen bei jedem noch so kurzen Kuss schließt. Er gehört zu der Sorte Mensch, die einen mit jeder seiner Berührungen glücklich macht, er gehört zu der Sorte Mensch, die man bedingungslos lieben kann, mit denen man keine Sex braucht, mit denen…
Roy ist ein Mensch, eine Person, ein Leben, mein Leben, und meine Liebe, die einfach alles perfekt macht.
„Was willst du Sauli hinterlassen?“
Ich küsse ihn nur flüchtig, und seine Händefahren von meinem Nacken herab auf meine Brust, stoßen mich sanft von ihm.
Er erhebt sich, greift in seine Hosentasche und hält einen Zettel in die Luft.
Als ich danach greifen will zieht er ihn mir weg, lächelt, und haucht mir einen Kuss auf die Lippen.
„Gleich darfst du lesen.“
Fast schon muss ich lächeln.
„Also, was willst du dafür?“
Und auch er kann sich das Lächeln nicht verkneifen. Fraglich nur, ob wir aus demselben Grund lächeln, oder ob nicht.
„Ich möchte, dass du mir … dass du für mich singst, Elias.“
Damit hätte ich mit Sicherheit nicht gerechnet. Aber schon damals, als er mich das erste mal singen hörte, schien er begeistert gewesen zu sein. Absolut angetan von meiner Stimme, das war es, was Anikki wenige Minuten später berichtete.
Anikki… ob sie wohl…
Mutter wird ihr Bescheid gesagt haben. Mutter sagt alles weiter. Mutter würde…
Mutter würde zu schweigen lernen.
„ During seasons rush,
The time just passed us by.
And at the end of our day
Is cold heart too weak for beatin’.
And for this I was given Birth.
Pain grows further in our hearts,
Still we felt cold breeze inside,
But our every little failure
Mend our Night to fall.”
Der spontane Einfall.
„Du klingst wie Joonas. Joonas von SaraLee“, Roy lächelt, er weiß genau, dass ich diese Band nicht kenne, und trotzdem schmeichelt mir das Kompliment. Weil alles schmeichelt, was Roy sagt, sofern es nett ist.
„Willst du mir jetzt sagen, was du zurücklassen willst?“,
Vielleicht nerve ich, doch in dem Moment ist es mir egal. Die Neugierde ist stärker, und Roy beißt sich auf die Unterlippe.
„Okay. Aber ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird. Du weißt doch, dass ich ein neues Essay- und Lyrikprojekt beendet habe, nicht wahr? Eine der Geschichten habe ich spezifisch für dich geschrieben.“
Mein Herz geht schneller, und meine Finger zittern, während Roy mit den Zettel hinhält.
Nur zögernd kann ich ihn entgegen nehmen, und mein Herz klopft schneller, als es die ordentlich geschrieben Zeilen Roys sieht.
Secret Nightmare.
All dieser Erzählungen, mir wohlbekannt.
Und bitte, Vater…
so läute doch keine Glocke für mich.
Doch bitte, nimm‘ all dies Leid von mir.
In meinen Träumen öffnet der gefallene Engel
Mein Grab.
Lässt den Sonnenschein hinein.
Kannst du nicht sehen, wie ich zugrunde gehe?
Wie ich weine, um zu haben, was ich fürchte, zu verlieren?
Deine Augen.
Sie waren mein Paradies.
Doch niemals werde ich dich mehr sehen.
Kannte dich nie zuvor.
Doch… ohne dich,
ist mein Alles verloren.
Und der innere Poet, er stirbt.
Ich Weine.
Um die niemals enden wollende Geschichte erzählen zu können.
Und niemals sollte ich geboren sein.
Nimm dieses Leid von mir.
All diese Last, sie tötet mich.
Wie ich weine, um dieses Leid zu ertragen.
Auf Wiedersehen.
Szenario so wunderschön aus schmerz gemalt.
Je nur nach der perfekten Seele verlangt.
Und keine Augen können ihn sehen,
den Himmel um uns.
Das Jahrhundert.
Es schwindet.
Mein Weg von Unkraut bewuchert.
Nimm den Schmerz von mir.
Deine Worte…
Sie haben die Stille gemacht.
In meinen Träumen öffnet der gefallene Engel
Mein Grab.
Und lässt den Sonnenschein hinein.
Doch ohne dich…
So soll es in meinem Herzen fortan
Für immer Winter sein.
Frag mich, woher der Wind weht.
Nimm‘ meine Hand,
kannst du nicht sehen, wie ich sterbe?
Komm, und sterbe mit mir.
Für immer scheint uns dies Verlangen.
Vereint, wir beide, bis wir fallen.
Und unsere Zeit wird vergangen sein,
noch bevor wir es wissen.
In deinen Träumen
Öffnet der rottende Engel dein Grab,
er lässt den Sonnenschein hinein.
Bis wir fallen.
Komm, komm und stirb mit mir.
Und ich muss schlucken.
„Du hast es von Anfang an gewusst?“
Und Roy nickt, nimmt mir die drei Blätter aus der Hand. Ordentlich geschrieben, und doch irgendwie gequetscht.
„Gefällt es dir?“
Ich muss nicken, zu mehr bin ich nicht fähig, nicht in diesem Moment. Und er lächelt. Haucht mir einen Kuss auf die Lippen.
„Danke.“
Mehr sagt er nicht, Doch es reicht schon, um mir seine Dankbarkeit zu zeigen. Obwohl ich doch eigentlich viel dankbarer sein sollte…
…hatte er mir das doch geschrieben.
„Sie werden das ganze Material finden, bei mir im Koffer. Es liegt ziemlich offensichtlich drauf, selbst ein Blinder würde es finden. Sie werden den ganzen Trash zusammen fassen, an den ausgemachten Verlag schicken und es veröffentlichen lassen, wie alles von mir“
Es wird drinstehen: Von Roy MacLaine, 1993 bis 2010.
„Für Elias Nyström Aatami.“
Er vollendet meine Gedanken und steht dann auf. Legt das kleine Bündel Blätter ordentlich auf den kleinen Holztisch vor dem Bett, dann setzt er sich auf die Bettkante. Lächelt mich an.
Er will meine Hand nehmen, ich sehe es. Doch ich sitze zu weit… bin zu weit weg.
Also sieht er mich an, und sein Lächeln wird aufmunternd.
„Also, unser Fluchtplan.?“
„Ich erfülle dir beide deiner Wünsche.“
Ich muss lächeln, als ich mit dem Zeigefinger erst auf mich deute, und dann mit selbigem Finger meinen Hals vorsichtig entlangfahre.
„Und für mich…“, ich zögere, dann greife ich in meine Hosentasche.
Ziehe die Scherbe hinaus, sehe sie an, dann lächle ich Roy an.
Es war also doch keine Illusion. Dass du im Spiegel war existent.
Und ich kann dem allem entgehen, dem Fluch.
Es liegt an mir.
Komm, so sieh‘ doch das lodernde Feuer.
Roy steht auf, lächelt, klettert über das halbe Bett zu mir hinüber. Schließt mich in seine Arme, küsst mich zärtlich. Der Kuss, die Berührung. Sie fühlt sich an wie die erste. Wie die erste und die letzte.
Sieh‘ doch mal, unsere gemeinsame Welt.
Er nimmt mir die Scherbe aus der Hand. Belächelt sie.
Inmitten all des lodernden Feuers.
„Gerissen. Doch, wirklich gerissen. Meinen Respekt, Elias.“
Hebt sie an, schneidet sich testhalber in den Finger.
Eine Weile geschieht nichts, dann quillt dickflüssiges, rotes Blut aus dem kleinen Schnitt. Er lächelt. Ist offensichtlich zufrieden.
Sein Blick wandert zuerst zu mir, dann zu der Scherbe in der Hand. Wieder lächelt er. Tränen laufen über seine Wange, und ich weiß, dass er glücklich ist.
„Wer… zuerst?“
Seine Stimme ist nichts mehr als ein Hauch, doch ich muss lächeln. Er macht mich wahnsinnig glücklich in der Sekunde. In den Sekunden, und in denen, die folgen werden.
„Ich fange an. Ansonsten bin ich zu schwach.“
„Oder aber…“, er dreht die Scherbe in seinen Händen, begutachtet sie, und sein Spiegelbild darin. dann lächelt er. Wendet seinen Blick dann zu mir, strahlt mich an:
„Oder gleichzeitig, Liebling. Du fängst an, und wenn ich spüre, dass das Blut kommt, dann ziehe ich dir die Scherbe durch.“
Ich nicke, meine Mundwinkel ziehen sich nach oben.
„Aber hör dann nicht auf, ja? Du musst immer tiefer gehen. Selbst wenn ich… schreie, dann… halt mir den Mund zu. Dann läuft mir… dein Blut in den Mund, vermischt sich mit dem… das mir aus dem Mund läuft, und…“
Er strahlt, beugt sich zu mir vor, küsst mich vorsichtig.
Ich nicke erneut, beiße mir auf die Unterlippe, der Schmerz, der sich durch mein Gesicht zieht, wird verdrängt.
Angst an dieser Stelle ist unangebracht.
Ich lege meine Hand auf seine Hüften, und er legt seine Finger um die Klinge. Die Klinge auf das Handgelenk, zugehörig der Hand, welche auf seiner Hüfte liegt.
Die andere Hand meiner liegt auf seinem Rücken. Zieht ihn näher zu mir.
Das Blut schießt mir in den Kopf. Mein Herz geht irrsinnig schnell. Ich stöhne leicht gequält auf, als ich mit den Lippen vorsichtig seinen Hals berühre.
Ohne Widerworte legt er den Hals frei, legt den Kopf zur Seite und gibt mir damit Fläche, das weiße Fleisch mit sanften Küssen zu benetzen.
Den wundervollen, ungeschundenen Hals.
Meine Lippen berühren ihn nur flüchtig. Ziehen sich zurück. Ich blecke die Zähne. Kein Zweifel mehr, ich muss das tun. Ich will das tun. Unsere Flucht, unsere Chance. Dann nochmal nur die Lippen, sein Fleisch ist warm, das Blut pulsiert wahnsinnig schnell.
Fast schon will ich zurückschrecken, doch es geht nicht, und ich darf nicht. Der Hals lockt. Mit seiner Weiße, mit dem Geruch, mit dem einzigen brünetten Haar, welches sich auf ihm verirrt.
Mit den Zähnen stupse ich das Fleisch nur an. Nehme den ersten Hautfetzen fast schon allzu zärtlich zwischen die Lippen. Die Zunge schlägt gegen das Fleisch, und Roy seufzt auf. Vielleicht gefällt es ihm doch. Für Zweifel sind keine Zeit mehr.
Es kostet Überwindung, die Zähne weiter auseinander zu nehmen. Und doch weiß ich – die Fläche muss möglichst weiträumig sein. Es klingt furchtbar stumpf, die Formulierung. Wie auf einer Baustelle.
Meine Zähne streifen das Fleisch. Es ist wahnsinnig heiß. Nicht minder erregt, wie ich es bin.
Bald, nur allzu bald.
Ein letztes Mal streift meine Zunge sein Fleisch.
Und ich beiße zu.
Es kostet ungeheure Kraft, das Fleisch, und…
Ich spüre, dass Roy schreien will. Und er lässt es dann dennoch. Ich konzentriere mich, jage meine Zähne immer tiefer in das Fleisch.
Das Blut quillt hervor, trifft in meinen Mund. Roy stöhnt laut auf, ungehalten, und er bäumt sich kaum merklich in meinen Armen auf, will seinen Kopf zur Seite werfen, doch er lässt es. Beginnt, zu schwitzen. Stöhnt, während mir das Blut in den Mund läuft. Sein Blut.
Und ich muss mich wahnsinnig zusammenreißen – sein Stöhnen erregt mich. Nur allzu sehr. Weil mein Körper keinen Unterschied macht zwischen gequältem und erregtem Stöhnen. Oder ihm beides gefällt.
Dann spüre ich den stechenden Schmerz, der mein Handgelenk durchzieht. Verkeile mich noch tiefer in Roys Hals, lasse all meinen Schmerzen, den ich nicht herausschreien kann, an Roys Hals aus. Immer tieferer komme ich mit meinen Zähnen, immer stechender wird der Schmerz in meinem Handgelenk.
Dann habe ich Fleisch im Mund. Roys Fleisch. Und Blut. Wahnsinnig viel Blut.
Ich lasse vom Hals ab und spucke das Stück Fleisch auf die Matratze. Das Stück Fleisch und all das Blut. Den Rest in meinem Mund schlucke ich hinunter.
Es ist Roy, es ist Roys Protoplasma, ich trage es in mir.
Lasse von ihm ab, und er lässt meine Hand los.
Das Blut schwindet rasend schnell aus meinem Körper. Ich habe nicht bemerkt, dass er mir die zweite Pulsader ebenfalls aufgeschnitten hat.
Fast schon muss ich lächeln, als ich meine Arme um seinen Körper lege. Doch er stößt mich nur von sich, so schwach er auch ist. Rutscht ein Stück weiter nach hinten, nimmt meinen zitternden Körper zwischen seine Beine.
Mein Wahrnehmungsvermögen schrumpft gewaltig. Während er seine Arme um meine Hüfte legt, drehe ich mich noch einmal zu ihm um. Das Blut läuft aus seinem Hals, aus seinem Mund. Seine Augen sind halb geschlossen, und er stirbt. Er stirbt, genau wie ich.
Immer wieder tauche ich in kurze Schwärze, und mir wird schwindelig. Der Körper, der mich gefangen hält, wird kälter. Kälter und schwächer, Sekunde für Sekunde.
Ein letztes Mal küsse ich Roy auf die blutigen Lippen.
„Ich liebe dich, Roy.“
Es ist kein Ton da, und dennoch hat er verstanden.
„Ich liebe dich, Elias.“
Und dann schließe ich die Augen. Schließe die Augen und leide die letzten Sekunden meines Lebens.
Sonntag, 02.05. 2010 / 22:53:54 - Sonntag, 16.05.2010 / 22:53:54
Texte: Pia Katri
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Es ist schwer. Es ist schwer, mit so etwas umzugehen.
Und ihr, ihr habt es geschafft.
Ich will keine Widmung schreiben. Weil es an euch alle geht. Danke für alles.
Auf weitere Zeit. Auf Zukunft, die in Ferne liegt.
Pia Katri, 02.11.2010