Intrigante Herzen
Ein Roman von
Uta Dierkes
Epilog
Lautlos, beinahe schwebend, huscht Melanie im fahlen Dämmerschein des aufziehenden Morgens durch die langen, mit Steinfliesen belegten Klostergänge.
Kaltes, silbernes Licht sickert durch die hochgezogenen, gotischen Fensterbögen.
Der klagende, gurrende Ruf einer Wildtaube dringt von der nahe gelegenen Waldung herüber.
Melanie erschauert.
Enger zieht sie das bodenlange, weiße Cape um ihre noch kindlichen, schmalen Schultern.
Eine kleine Kapuze verdeckt fast völlig das ebenmäßige Oval ihres Gesichts und die dunkle Lockenpracht, deren Schimmer an ein blauschillerndes Rabengefieder erinnert.
Einem Schemen gleich, gleitet sie dahin.
Die wuchtige Tür aus Eichenbohlen lässt sich nur widerstrebend und mit leisem Ächzen öffnen.
Über zwei Treppen führt sie auf den alten Kreuzgang, der den quadratischen Innenhof der Klosteranlage umgibt.
Jetzt verharrt Melanie einen Moment im Laufen.
Scheu blickt sie um sich, mustert die Fensterfront des Ehrfurcht einflößenden Bauwerks von außen und zieht dann vorsichtig die Tür hinter sich ins Schloss.
Ein eisiger Windhauch schlägt ihr entgegen.
Im Schutz der Arkaden eilt sie leichtfüßig bis zu jener kleinen Pforte, hinter der - nach Durchquerung eines schmalen, dunklen Ganges - die Freiheit liegt.
Die Freiheit und das Leben.
»Verzeih mir diese sündhaften Gedanken!«, murmelt Melanie und bekreuzigt sich dabei schnell.
Dann horcht sie in sich hinein.
Ist es Sünde, was sie tut - wirklich Sünde?
Gewiss, es ist verboten, und sicher wird sie eine strenge Rüge von den Klosterfrauen erhalten, wenn man sie hier antreffen sollte.
Doch - was hat sie denn schon verbrochen?
Sie muss einfach hierher kommen, um ihn zu sehen.
Das ist wie ein geheimnisvoller Zwang, unter dem sie steht, dem sie sich einfach nicht zu entziehen vermag.
Die Macht der Liebe treibt sie tagtäglich vor Morgengrauen auf diesen verbotenen Pfad.
Doch Melanie van Haltern weiß selbst noch absolut nichts von der kraftvollen, zauberhaften Gewalt, die sich ihrer Sinne bemächtigt hat.
Sie ist siebzehn Jahre, noch blutjung, gewaltig altmodisch und streng erzogen dazu noch völlig unerfahren.
Mit einer seligen Bewegung breitet sie jetzt die Arme aus, lauscht in die Stille und zieht gierig den würzig, herben Duft ein, der von dem nahen Flussufer heraufweht.
Für Sekunden fühlt sie sich frei, wie ein Vogel in der Luft.
Alle Ängste sind von ihr abgefallen.
Am liebsten hätte sie die schützende, verrostete Gartenpforte verlassen, wäre hinausgewandert ins endlose, weite All ...
Plötzlich klingt Hufschlag zu ihr durch.
Unwillkürlich zuckt sie zusammen, zieht das Cape wieder fest um sich und drückt sich eng an die Mauer.
Er, der Reiter, soll und darf sie nicht sehen.
Niemals.
Sie würde sterben vor Scham.
Ganz gewiss.
Aber sie muss ihn einfach sehen.
Von fern.
Heimlich.
Langsam löst sich ein Pferd mit Reiter aus den dunstigen Schleiern, die über dem Tal hängen.
Mit brennenden Augen verfolgt Melanie, das ihr schon längst vertraute Schauspiel.
Der Reiter trägt einen Falken auf der lederbehandschuhten Faust und erscheint ihr auch diesmal wie ein Ritter aus längst vergangener Zeit.
Ihre hellwache Phantasie fragt nicht danach, weshalb Gregor Barau ohne die anderen Falkner, Gefolge und Hunde zum Fluss zieht.
Das ist ihr auch einfach total egal, denn Melanie van Haltern hat längst ihr Herz verloren, ohne es zu wissen, ohne - es zu dürfen!
1. Kapitel
Durch eine Spalte der blattgrünen Vorhänge, die durch eine Unachtsamkeit des Mädchens nicht völlig geschlossen worden waren, drängen sich die Strahlen der Morgensonne, fluten als ein Lichtband zitternd und spielerisch durch den weiten Raum.
Sie gleiten über die breite Liege, die wie schwebend auf Schwanenfüßen ruht und mit weit ausholenden Flügeln das Kopf- und Fußende des Lagers schirmt.
Eine Seidendecke, die bunt wie ein Blumengarten leuchtet, ist herabgeglitten.
Auf ihrem Zipfel ruht Aladin, die Siamkatze Charlottes.
Sie schnurrt leise vor sich hin und macht einen sehr zufriedenen Eindruck.
Seit zwei Jahren schon ist dies ihr angestammter Platz.
Zuvor jedoch hatte sie mit einer Felldecke im Ankleideraum vorliebnehmen müssen.
Damals lebte Herrchen noch.
»Pardon, Madame, Herr van Haltern bittet um ein kurzes Gespräch.«
»Lass mich in Ruhe!«
»Sehr wohl Madame!«
Schnell schickt sich Seramis, das Mädchen aus dem Orient, an, die Vorhänge vollends zu schließen.
Sie kennt das aufbrausende, unberechenbare Temperament ihrer Herrin nur allzu gut.
Und - insgeheim lächelt sie darüber schon lange.
In ihren Augen ist Charlotte van Haltern nicht das, was man wirklich eine Dame von Welt nennen kann.
Seramis kennt die Menschen.
Sie hat schon in einigen Häusern gedient, bevor sie hierherkam.
»Sagtest du - Herr van Haltern?«
Wie von der Tarantel gestochen fährt Charlotte plötzlich hoch.
Mit beiden Händen streicht sie sich das dunkle, volle Haar aus der Stirn.
Sie gähnt herzhaft und hält sich - beinahe erschrocken - erst in letzter Sekunde eine Hand vor den Mund.
Dabei verwünscht sie ihre mangelhafte Erziehung aus tiefster Seele und schnauzt deshalb Seramis an:
»Worauf wartest du noch? Bring mir Champagner!«
»Sofort Madame!«
»Und - äh - sage meinem Schwager, ich werde nur schnell noch duschen. Er möchte doch bitte warten.«
»Sehr wohl Madame!«
Charlotte springt so unerwartet aus dem etwas kitschig anmutenden Schwanenbett, dass Aladin wütend zu fauchen beginnt.
Mit der Fußspitze stößt Charlotte den Kater ärgerlich fort.
Dann angelt sie nach ihren hochhackigen Goldsandalen und verschwindet in Richtung Marmorbad.
»Seramis!«
»Ja bitte Madame?«
Charlotte verharrt einen Moment, die Tapetentür offenhaltend.
Sie scheint zu überlegen.
»Lass den Schampus im Wintergarten servieren. Dazu eisgekühlte Austern. Vielleicht kann Madita schnell noch zwei Rüffelomeletts backen, ja?«
»Ich werde es bestellen, Madame.«
»In zwanzig Minuten bist du zurück und hilfst mir beim Ankleiden.«
»Wie Madame befehlen.«
Das Mädchen deutet eine unnachahmliche Verbeugung an.
Ihr Körper scheint nur aus federnden, broncefarbenen Muskeln zu bestehen.
»Soll ich vielleicht das fliederfarbene Morgenkostüm zurechtlegen?«
»Unsinn! Das macht mich älter, als ich wirklich bin. Ich werde die Robe von der Gräfin Leifels tragen.«
Auf dem Gesicht des Mädchens malt sich sekundenlang Entsetzen ab. Sie schaut ihre Herrin fassungslos an.
»... das ... das ... Brustgewand aus Lederband mit Ozelot und Silber, Madame?«, bringt sie schließlich stotternd hervor.
»Genau das! - Übrigens, seit wann wagst du es, Fragen dieser Art an mich zu stellen, Seramis?«
»Ich bitte gnädigst um Verzeihung, Madame. Selbstverständlich werde ich alles vorbereiten, wie ihr es wünscht.«
»Nun verschwinde endlich! Und - nimm Aladin mit. Er stört mich jetzt nur.«
»Jawohl Madame.«
Als Charlotte - atemberaubend anzusehen und duftend nach allen Wohlgerüchen des Orients - ihrem Schwager bald darauf im Wintergarten gegenübertritt, muss sich Volker van Haltern innerlich zur Räson rufen.
Aber nur einen flüchtigen Moment.
Längst hat er die Ränkespiele dieser gefährlichen, noch immer äußerst geschmeidigen Raubkatze durchschaut.
Und er ist, im Gegensatz zu seinem verstorbenen Bruder Rudolf van Haltern, nun ´mal nicht der Mann, der darauf hereinfällt.
Bislang ist es noch keiner Frau gelungen, diesen athletisch gebauten, kraftstrotzenden Enddreißiger an die Kandare zu legen.
»Ich danke dir für dein Erscheinen zu so früher Stunde, Charlotte«, sagt er mit leisem Spott und zieht ihre Hand an seine Lippen.
»Ich habe mir erlaubt, dir ein paar Blümchen mitzubringen.«
Ihre Bernsteinaugen leuchten auf beim Anblick des kunstvollen Gestecks mit den exotisch, schönen Blütenkelchen.
Seramis hat die teure Pracht bereits geschickt zwischen Kristall und Silber auf dem Frühstückstisch arrangiert.
»Wie lieb von dir, Volker.«
Charlottes Stimme wirkt eine Nuance zu hochgeschraubt, um echt und wohltuend zu klingen.
Auch ihre Art, sich zu bewegen, ist für Volkers Geschmack zu gekünzelt.
»Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen, mein Lieber. Du weißt, ich bin immer für dich da. Zu jeder Stunde.«
»Ganz lieben Dank.«
»Du verwöhnst mich ja geradezu, mich - eine alte Witwe.«
»... und du stapelst ´mal wieder sträflich tief«, geht er auf ihren kokettierenden Ton ein, rückt ihr galant den Sessel zurecht und wartet, bis sie Platz genommen hat.
»Du bist so schön und begehrenswert, wie eh und je, verehrte Frau Schwägerin.«
»Und du bist ein alter Schmeichler. Ich möchte nicht wissen, wie viel Frauenherzen du schon gebrochen hast, Volker.«
»Ich auch nicht«, kommt es schlagfertig zurück, und beide lachen herzlich.
»Soll ich Seramis rufen, oder ...«
»Es ist mir eine Freude, dich bedienen zu dürfen, Charlotte.«
Geschickt entkorkt er den Champagner und lässt das perlende, goldgelbe Nass in die Gläser strömen.
»Außerdem würde ich gern einiges mit dir ohne Zeugen besprechen.«
Unwillkürlich richtet sie sich etwas auf.
Plötzlich ganz angespannt und voll hoffnungsvoller Erwartung glänzen ihre Augen.
Sollte dies nun endlich der so heiß ersehnte Moment sein?
Ist sie nun am Ziel ihrer Wünsche angelangt?
»Wirst du dich auch nicht verkühlen in dieser wenig wärmenden Kreation?«
Diese in fürsorglichem Ron vorgebrachte Frage wirkt auf Charlotte allerdings wie eine kalte Dusche.
Macht er sich womöglich lustig über sie?
Bei Volker weiß man ja nie so recht, wie er so etwas meint.
Sein Sarkasmus wird genauso gefürchtet, wie seine Redegewandtheit und sein, den Partner oft zermürbendes, Verhandlungsgeschick.
Er ist eben der geborene Finanzmagnat.
»Gefällt dir mein Kostüm etwa nicht?«, kommt es anstatt einer Antwort spitz zurück.
»Findest du, ich bin zu alt, um so etwas tragen zu können? Soll ich vielleicht in Sack und Asche gehen, nur weil ich Witwe bin?«
»Aber, aber, meine Liebe! So echauffiere dich doch nicht. Ich weiß Frauenschönheit wohl zu schätzen. Der gute Rudolf hingegen wäre bei deinem Anblick sicherlich rot vor Zorn angelaufen.«
Volker hebt ihr sein Glas entgegen.
»Auf dass dir Mutter Natur noch recht lange deinen makellosen Körper erhalten möge!«
Sich zu beherrschen kostet Charlotte einige Überwindung.
Sie kocht vor Wut und Enttäuschung, dennoch glimmt weiterhin ein Fünkchen Hoffnung in ihr.
Vielleicht ist das große Spiel doch noch nicht verloren.
Sie will Volker heiraten, um jeden Preis.
Nur er kann ihr wieder das Leben bieten, das sie sich erträumt.
Er ist nach Rudolfs Tod alleiniger Besitzer der weltweiten, millionenschweren Firma.
Und Charlotte ist wohl die Erbin, aber sie bezieht lediglich eine Zuwendung, die, gemessen an ihren hochtrabenden Ansprüchen, verhältnismäßig bescheiden ist.
Sie hat es leidlich satt, in ihrem goldenen Käfig zu versauern.
Schließlich ist sie mittlerweile fünfunddreißig - die Zeit drängt.
Durch das Trauerjahr hat sie den Anschluss an den internationalen Jetset verloren.
Sie kann auch finanziell nicht mehr mithalten, und das schmerzt die nicht gerade bescheidene Frau zutiefst.
Die ersehnten Einladungen zu den Tummelplätzen der High Society bleiben aus.
»Köstlich, wirklich ausgesprochen köstlich!«
Genussvoll schlürft Volker van Haltern eine der von ihm bevorzugten Austern.
Ohne Zitrone, um - wie er sagt - das köstliche Aroma nicht zu verfälschen.
Er spült mit Champagner nach und greift zur nächsten Muschel.
Es folgt ein gutes Dutzend dieser Meeresfrüchte mit ebensolchen Geräuschen.
Schweigend labt sich der Genießer - sein holdes, fröstelndes Gegenüber dabei heimlich aus den Augenwinkeln beobachtend.
Mag sie ruhig schmoren, die berechnende, kleine Bestie!
Schließlich kann es Charlotte nicht länger aushalten.
Seine Gelassenheit zerrt an ihren überreizten Nerven.
Ihr untrüglicher, weiblicher Instinkt sagt ihr zwar, dass es unklug ist, Volker zu drängen, aber sie kann nicht anders und tut es trotzdem:
»Du ... mhm ... du wolltest etwas ... ohne Zeugen mit mir besprechen?«
»Richtig.«
Er taucht die Fingerspitzen in die silberne Wasserschale und trocknet sie dann kurz an der Damastserviette ab.
»Es handelt sich um Melanie? Genauer gesagt, um ihre weitere Ausbildung.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Das macht nichts«, sagt er wie beiläufig und legt seinen ganzen männlichen Charme in ein entwaffnendes Lächeln.
»Ich halte die Zeit für gekommen, mein Mündel den frommen Damen zu entziehen. Melanie endlich ihren versponnenen Jungmädchenträumen entreißen, Liebste. Weiter nichts. Sie wird nach Lausanne wechseln, dort das Abitur machen und anschließend studieren.«
»... und ... wozu das alles?«
»Der Firma wegen natürlich. Schließlich ist Melanie nicht nur dein einziges Kind, sondern auch Alleinerbin des Konzerns.«
Charlotte schluckt an dieser bitteren Pille recht schwer.
Ihre Gedanken überstürzen sich.
Sie muss Zeit gewinnen, einen Ausweg finden, zumindest einen Aufschub erzielen.
Dabei geht es ihr einzig und allein um ihre persönlichen Interessen.
Melanie, die so völlig anders geartete, wohlerzogene, lammfromme Tochter, spielt in ihren Überlegungen faktisch keine Rolle.
Echte Muttergefühle sind Charlotte fremd.
Die ihr eigene, egoistische Art, ihrer früher so hektischen Lebensweise zufolge, hat sie sich nie die Zeit genommen, Melanies Wesen zu ergründen oder gar ihre Liebe zu erringen.
»Wäre meine Tochter auch dann noch die Alleinerbin, wenn du ... eines Tages heiraten und selbst Kinder haben würdest, Volker?«, fragt sie jetzt lauernd.
»Dann nicht mehr.«
»Aber ... das ist doch nicht ausgeschlossen, nicht wahr? Ich meine, du bist zwar ein alter Sturkopf, aber immerhin, Volker ... wer weiß?«
»Tja Liebste, wer weiß das schon?«
Er hat das Gemüt eines Nilpferds, registriert Charlotte ärgerlich bei sich, ohne jedoch die Segel zu streichen.
So schnell gibt sie nicht auf.
So schnell nicht!
»Du ziehst also auch diese Möglichkeit noch in Betracht, mein lieber Schwager?«
»Dein Name ist Neugierde, Weib«, gibt er trocken zurück.
»Verzeih!«
Charlotte gelingt es, direkt verschämt die Lider zu senken.
Sie kann jedoch nicht ahnen, dass der Held ihrer Träume dieser wohleinstudierten Geste keinerlei Bedeutung beimisst.
»Ich bin indiskret gewesen. Das wollte ich wirklich nicht. Ich ... ja ... ich habe dabei nur an das Wohl meines Kindes gedacht, Volker.«
»Wie zartfühlend! Und, wie reimt sich das zusammen, wenn ich fragen darf?«
»Ganz einfach. Melanie hat mir kürzlich anvertraut, dass sie den Schleier nehmen möchte. Sie will auf ihr Erbe verzichten«, sprudelt es jetzt förmlich aus Charlotte hervor.
»Da staunst du, was? Auch die ehrwürdige Äbtissin ist von Melanies Berufung überzeugt. Wir hatten vor nicht allzu langer Zeit deshalb ein langes, sehr, na ja, ergreifendes Gespräch und, mhm, ich habe, widerstrebend natürlich, schließlich meine Zustimmung gegeben. Schließlich geht es dabei um das Glück meines Kindes, Volker, verstehst du?!«
Donnernd kracht seine Faust auf den zierlichen Teetisch.
Die Adern an seinen leicht angegrauten Schläfen treten hart hervor.
Jeder Muskel in dem markanten, sonnengebräunten Gesicht ist angespannt.
»Cherchez la femme!«
Charlotte schaut nicht eben geistreich drein, sie versteht kein Französisch und kann sich den völlig unerwarteten Gemütsausbruch des Schwagers nicht erklären.
Sichtlich verlegen zupft sie an den spärlichen Ozelotstreifen herum, die ihr äußerst gewagtes Ledergehänge zieren.
Die silbernen Kettchen und perlenbesetzten Broschen klirren leise.
»Habe ich es doch geahnt, da steckt ein Weib dahinter!«, gibt er schließlich eine sehr freie Übersetzung ab.
»Ich wünschte, man dürfte Hexen noch verbrennen!«
»Du sprichst wirklich in Rätseln, Volker.«
Es klopft.
Unwirsch sagt Charlotte:
»Herein«, worauf alsbald Seramis mit einer verdeckten, schweren Silberplatte erscheint.
»Was willst du? Ich habe dich nicht gerufen!«
»Das Trüffelomelett, Madame.«
»Wirf es den Hunden vor!«
»Natürlich, wie Madame befehlen!«
Lastendes Schweigen breitet sich aus.
Volker van Haltern brütet düster vor sich hin, und Charlotte zittert förmlich an allen Gliedern.
Hat sie alles falsch gemacht?
Hat sie einen zu hohen Einsatz gewagt?
»Ich fahre zu Melanie.«
»Du?«, fragt sie entsetzt.
»Ja ich. Schließlich habe ich es Rudolf auf dem Sterbebett in die Hand versprochen, dass ich mich um sein Kind kümmern werde. Und ich werde diesen Schwur halten! Melanie ist mir lieb wie eine eigene Tochter. Niemals werde ich es zulassen, dass man mit ihr ein böses Spiel treibt.«
»Ein ... böses Spiel?«
»Noch selten hat mich eine Ahnung getrogen, Frau Schwägerin.«
Er steht abrupt auf.
Um ein Haar wäre der zierliche Sessel umgekippt, doch Volker rückt ihn schließlich energisch zurecht.
Seine Miene drückt Entschlossenheit aus.
»Sobald ich aus Venezuela zurück sein werde, fahre ich nach Sankt Cäcilien.«
Zerstreut zieht er die Großvateruhr aus gehämmertem Silber aus der Westentasche, lässt sie aufschnappen und schüttelt dann missmutig den Kopf.
»Ich muss mich beeilen. Meine Maschine geht in zwei Stunden. Pardon Liebste.«
»Gute Reise!«, wünscht Charlotte und lächelt dabei in sich hinein.
»Es hat mich gefreut, dich hier begrüßen zu dürfen.«
»In spätestens drei Tagen werde ich zurück sein.«
»... wenn dich die glutäugigen Schönen nicht länger festnageln, mein lieber Schwager«, erwidert sie mit einem Anflug von Bosheit.
»Ach je, was bist du doch witzig!«, kontert er ärgerlich und küsst zum Abschied Charlottes wohlmanikürte Rechte.
»Zieh dir was über, Schwägerin! Es wäre wirklich sehr schade um dich!«
»Du Ekel!«
Volker van Haltern kümmert sich nicht mehr darum.
Er stürmt hinaus aus dieser parfümgeschwängerten, für seine Begriffe stillos anmutenden Umgebung.
Erst Venezuela, dann Melanie!
Er vergisst dabei, dass er Charlotte soeben drei Tage Vorsprung eingeräumt hat.
2. Kapitel
Und wieder reitet Gregor Barau im Morgengrauen zum Flussdelta.
Diese gestohlene Stunde zwischen Sonnenaufgang und sich zerteilenden Nebelschwaden gehört ihm.
Ihm ganz allein.
Und er braucht diese Stunde dringend, um atmen zu können, um leben zu können.
So mögen einst seine Vorfahren auf Falkenjagd gegangen sein.
Seine Vorfahren ...
Verblasst ist der einstige Glanz.
Nichts davon ist mehr übrig geblieben.
Absolut nichts.
Plötzlich scheut die schöne Stute.
Sie steigt und tänzelt dann, als ob eine Giftschlange im Gras liegen würde.
Nur mit Mühe gelingt es Gregor, das Pferd in den Griff zu bekommen.
Dann richtet er sich etwas im Sattel auf.
Weit schweift
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Uta Dierkes
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Tag der Veröffentlichung: 31.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0557-6
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